Israel als Urgeheimnis Gottes? - Lukasz Strzyz-Steinert - E-Book

Israel als Urgeheimnis Gottes? E-Book

Lukasz Strzyz-Steinert

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Beschreibung

Erich Przywara SJ (1889-1972) gehört zu den wichtigsten und innovativsten katholischen Denkern der Zwischen- und Nachkriegszeit. Diese Studie widmet sich Przywaras Beschäftigung mit dem Thema Israel in seiner biblischen als auch zeitgenössischen Dimension. In Anlehnung an die analogische Grundstruktur seines Denkens wird Israel als durchgängiges Motiv für Przywaras Religionsphilosophie und Theologie aufgezeigt. Seine Ansichten über die dynamische Einheit von Altem und Neuem Bund als Mitte des Christlichen sowie über das Miteinander von Judentum und Christentum im Lauf der Geschichte regen zum Weiterdenken oder zum Widerspruch an. Auf diese Weise leistet die vorliegende Arbeit einen Beitrag zur Vertiefung der theologischen Reflexion über das christlich-jüdische Verhältnis.

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Lukasz Strzyż-Steinert

ISRAEL ALS URGEHEIMNIS GOTTES?

 

Bonner

Dogmatische

Studien

Band 59

Lukasz Strzyż-Steinert

ISRAEL ALS URGEHEIMNIS GOTTES?

Die Analogik des christlich-jüdischen Verhältnisses bei Erich Przywara

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

© 2018 Echter Verlag GmbH

www.echter-verlag.de

Umschlag: Crossmediabureau – xmediabureau.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim – www.brocom.de

ISBN 978-3-429-05311-6 (Print)

ISBN 978-3-429-04997-3 (PDF)

ISBN 978-3-429-06407-5 (ePub)

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Februar 2017 an der Päpstlichen Lateranuniversität in Rom als Dissertation angenommen und verteidigt. Für den Druck wurden einige Stellen stilistisch überarbeitet sowie die unterlaufenen Fehler korrigiert.

Die Beschäftigung mit der Vision des christlich-jüdischen Verhältnisses bei Erich Przywara regte mich nicht nur wegen der sperrigen Sprache und der nicht selten äußerst verwinkelten Gedankengänge dieses aus Kattowitz stammenden Autors an. Sie wurde auch zur spirituellen und existentiellen Herausforderung. Mit Erich Przywara verbindet mich, auch wenn durch einige Jahrzehnte getrennt und unter veränderten Bedingungen, die oberschlesische Heimat. An vielen Stellen glaubte ich spüren zu können, wie das, was Przywara sagt oder zu sagen versucht, mit der Erfahrung dieser Brücke zwischen Ost und West, die sich ständig neu als Gegensatzspannung zwischen verschiedenen Kulturen, Mentalitäten und Sprachen ereignen muss, zu tun hat. Dass jegliche gegensätzliche Spannung christlich nur im Blick auf das Verhältnis zwischen Christen und Juden verstanden und gelebt werden kann, ist mir zur Überzeugung geworden.

An dieser Stelle möchte ich allen danken, die die Entstehung dieser Arbeit ermöglichten und mittrugen. In besonderer Weise gilt dieser Dank meinem Doktorvater, Herrn Prof. Achim Schütz, der mich in diesen Jahren stets engagiert, wohlwollend und fachlich begleitete. Bereichernd und wegweisend war für mich immer der Austausch mit Herrn Prof. Michael Fuss. Des Weiteren danke ich allen Dozenten und der ganzen Gemeinschaft der Lateranuniversität.

Meinen Ordensoberen danke ich für die Freistellung zur Promotion. Dank empfinde ich auch meinen Mitbrüdern gegenüber, die mir in der internationalen Gemeinschaft Seminarium Missionum in Rom und im Kloster Reisach am Inn ein Zuhause schenkten.

Mein herzlicher Dank ergeht an die Angehörigen der Pfarreien in Neubiberg und München-Waldperlach, die das Studium ihres ehemaligen Seelsorgers mit regem Interesse verfolgten und auf vielfache und großzügige Weise unterstützten, an Herrn Dr. Clemens Brodkorb, Leiter des Archivs der Deutschen Provinz der Jesuiten in München, der meine Recherche wohlwollend begleitete, an Frau Dr. Celia Speth und Frau Barbara Villani, die die mühsame Aufgabe der Durchsicht dieser Doktorarbeit auf sich nahmen, sowie an meine Familie und an alle Freunde, die mir mit praktischer Hilfe und ermutigenden Worten beistanden. Vergelt’s Gott!

Rom, im Frühling 2018

Lukasz Strzyz-Steinert OCD

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungen

Einleitung

0.1 Fragestellung

0.2 Aufbau und Methode

1. Erich Przywara – der Denker und seine Welt

1.1 Welt der Brüche und Gegensätze

1.1.1 Gegensätzliche Geburtserde

1.1.2 Gesellschaft Jesu zwischen Kirche und Welt

1.1.3 Abgrund

1.2 Denkweg und Denkfiguren

1.2.1 Erich Przywaras eine Frage: Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Welt

1.2.2 Polarität

1.2.3 Analogie

1.2.4 Theologia crucis et tenebris

1.2.5 Denken zwischen Dialog und „ungerechter Klassifikatorik“

1.2.6 Exkurs: Perplexität

1.3 Das christlich-jüdische Verhältnis in Przywaras Welt und Denken

2. Religionsphilosophische und offenbarungstheologische Verortung des christlich-jüdischen Verhältnisses

2.1 Hinführung: Religiöser Wettstreit angesichts der Herausforderung der Weimarer Zeit

2.1.1 „Katholische Wende“ und Przywaras Auseinandersetzung mit dem Protestantismus

2.1.2 Die jüdische Religionsphilosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts

2.2 Religionsphilosophische Auseinandersetzung in Przywaras Artikel „Judentum und Christentum“ (1925) und in der anschließenden Debatte

2.2.1 Die Hauptthesen Przywaras

2.2.2 Jüdische Reaktionen

2.2.2.1 Oskar Wolfsberg

2.2.2.2 Max Dienemann

2.2.2.3 Aussprache in Frankfurt

2.2.3 Schlusswort (1929) und Weichenstellung

2.2.3.1 Polarität und das Rätsel der innerweltlichen Existenz Israels

2.2.3.2 Korrelation als jüdische und protestantische forma mentis im Gegensatz zur katholischen analogia entis

2.2.3.3 „Gläubiger“ und „ungläubiger“ Antisemitismus

2.2.4 Exkurs: Jüdisch-christliche Zeitschrift „Die Kreatur“

2.3 Zwischen Religionsphilosophie und Offenbarungstheologie: Przywaras Interpretation von Quellen und Tradition des nachchristlichen Judentums

2.4 Offenbarungstheologische Verortung von Juden und Heiden im Bund Gottes mit dem Menschen

2.4.1 Analogia entis und offenbarungstheologisches Denken

2.4.2 Admirabile commercium als Mitte des Christlichen

2.4.3 Admirabile commercium als Prozess

2.4.4 Juden und Heiden als die eine Menschheit im Bund mit Gott

2.4.5 Christentum als Verhältnis zwischen Gott und Welt im Verhältnis zwischen Juden und Heiden

2.5 Zwischenbilanz und Ausblick

3. Analogia fideials Methode der Schriftauslegung von Altem und Neuem Bund

3.1 Hinführung: Krise der Theologie und Frage nach der Schriftauslegung

3.2 Hintergründe von Przywaras Schriftauslegung: Das Alte Testament als Herausforderung

3.2.1 Das Alte Testament zwischen Allegorese und Wortsinn bei den Kirchenvätern

3.2.2 Joachim von Fiore und die Concordia zwischen Altem und Neuem Testament

3.2.3 Das Alte Testament zwischen liberaler und dialektischer Theologie

3.2.4 Das Alte Testament und der nationalsozialistische Angriff

3.2.5 Franz von Hummelauer und das Alte Testament im Strudel des Modernismusstreites

3.2.6 John Henry Newman als Neuinterpret der patristischen Exegese

3.3 Der Zusammenhang von Altem und Neuem Bund als „je immer größere Unähnlichkeit“ in „noch so großer Ähnlichkeit“

3.3.1 Analogia fidei als altchristliche Praxis und aktuelle Kontroverse

3.3.2 Analogie zwischen Altem und Neuem Bund „gemäß Christus“

3.3.3 Alter und Neuer Bund als Verheißung und Erfüllung

3.3.4 Alter und Neuer Bund im Zueinander von Gesetz und Kreuz

3.4 Die unauflösliche Einheit von Altem und Neuem Testament als Richtmaß des Christlichen

3.4.1 Die Einheit der Erlösungsordnung von Altem und Neuem Bund als „Kanon“

3.4.2 Einheit der Schrift und Einheit zwischen Gott und Welt in Bild und Symbol

3.4.3 Einheit im Logos

3.4.4 Einheit im Mysterium der Trinität

3.5 Die Schriftauslegung und ihre Sprache

3.5.1 Die ‚Juden‘ in der Schrift

3.5.2 Übersetzung

3.6 Der Rhythmus des Alten und Neuen Bundes als letzter Beweg-Grund der Theologie

4. Kirche in Bezug auf Israel

4.1 Hinführung: Die Eckpfeiler von Przywaras ekklesiologischem Entwurf

4.2 Israel, Christus und Kirche zwischen Typus und Erfüllung

4.2.1 Kategorien der Verhältnisbestimmung

4.2.2 Israel und Kirche im Geheimnis des Todes und der Auferstehung Christi

4.2.3 Israel und Kirche als „Braut-Hure“ der einen Hochzeit

4.2.4 Israel und Kirche als Typus und Erfüllung im Kreuz

4.3 Israel und die inkarnatorische Logik der Kirche

4.3.1 Leibhafte Gestalt

4.3.2 Messias und messianisches Volk: Gefahr der Verwechselbarkeit

4.3.3 Israel und Kirche zwischen Geist und Fleisch

4.3.4 Israel und Kirche als Werkzeug und Repräsentation Christi

4.4 Israel und die Einheit der Kirche

4.4.1 Die Kirche des Ursprungs zwischen Einheit der Agape und Streit

4.4.2 Die jüdische Verwurzelung und die Katholizität der Kirche

4.4.3 Ur-Riss und eschatologische Einigung

4.4.4 Ökumene der Gegensätze

4.4.5 Die Kirche und der Dialog mit dem Judentum

4.5 Edith Stein und Simone Weil: Zwei Jüdinnen und Christinnen als Symbol der Kirche im Geheimnis Mariens

5. Geschichtstheologie – „das Mysterium zwischen Jude und Heide als das Geheimnis jedes Weltalters“

5.1 Hinführung: Geschichtliche Krise und Krise der Geschichtstheologie

5.2 Geschichte als medium divini im Lichte der Offenbarung

5.2.1 Die Frage nach der geschichtlichen Offenbarung im Streit zwischen Integralismus und Modernismus

5.2.2 Hegel und Kierkegaard auf der Suche nach dem Sinn der Geschichte

5.2.3 Baeck und Tillich: Offenbarung in der Geschichte als kairos, oikonomia oder toledot?

5.3 Die Analogie von Altem und Neuem Bund als Grundsatz der Geschichtsinterpretation

5.3.1 Die Auslegung der Schrift und die Frage nach Gestalt und Gestaltung der Geschichte

5.3.2 Geschichte der Menschwerdung in der Apokalyptik von Altem und Neuem Bund

5.3.3 Geschichtlicher Umbruch als relative Endzeit von Altem und Neuem Bund

5.3.4 Trinitarische Spuren in der realgeschichtlichen Versöhnung der Gegensätze als Überwindung der trinitarischen Geschichtsspekulation

5.3.5 Verlauf der Geschichte als sich steigernde Analogie

5.4 Geschichtstheologie als Reichstheologie

5.4.1 Hintergründe: „Wo ist das Reich?“

5.4.2 Die „Metaphysik“ des Reiches

5.4.3 Reich, Volk und die „deutsche Frage“ im Lichte Israels

5.4.4 Künftiges Europa aus der Tradition des Reiches als „Jerusalem, das Tor der Völker“

5.5 Symbol Israel als Theologie der Stunde?

6. Ertrag in kritischer Wertung

6.1 Israel und die Frage nach dem analogischen Einheitsverhältnis zwischen Gott und Welt

6.2 Das christlich-jüdische Verhältnis und der interreligiöse Dialog

6.3 Israel im Christentum und Christentum angesichts Israels

6.4 Die Analogie von Altem und Neuem Bund als Mitte des Christlichen

6.5 Israel und Christentum an der Schnittstelle zwischen Religion und Politik

6.6 Begegnung mit dem Urgeheimnis Gottes?

Epilog

Literaturverzeichnis

Personenverzeichnis

Abkürzungen

Die Abkürzungen – außer den folgenden – richten sich nach R. SCHWERTNER, Theologische Realenzyklopädie. Abkürzungsverzeichnis, Berlin – New York 1994.

1. DIE HÄUFIG ZITIERTEN WERKE VON ERICH PRZYWARA

ANB

Alter und Neuer Bund. Theologie der Stunde, Wien – München 1956.

Aug

Augustinisch. Ur-Haltung des Geistes, Freiburg im Breisgau 22000.

CEx

Christliche Existenz, Leipzig 1934.

ChrJoh

Christentum gemäß Johannes, Nürnberg 1954.

CM

Crucis Mysterium. Das christliche Heute, Paderborn 1939.

DSM I-III

Deus semper maior. Theologie der Exerzitien, 3 Bde., Freiburg im Breisgau 1938–1940.

H

Humanitas. Der Mensch gestern und morgen, Nürnberg 1952.

Her

Heroisch, Paderborn 1936.

IE

Idee Europa, Nürnberg 1956.

IuG

In und Gegen. Stellungnahmen zur Zeit, Nürnberg 1955.

KiG

Kirche in Gegensätzen, Düsseldorf 1962.

KK

Katholische Krise, Hrsg. und mit Nachwort versehen von B. GERTZ, Düsseldorf 1967.

L

Logos. Logos – Abendland – Reich – Commercium, Düsseldorf 1964.

M

Mensch. Typologische Anthropologie 1, Nürnberg 1959.

RdG I-II

Ringen der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze 1922–1927, 2 Bde., Augsburg 1929.

S I

Frühe Religiöse Schriften, Erich Przywara Schriften I, Einsiedeln 1962.

S II

Religionsphilosophische Schriften, Erich Przywara Schriften II, Einsiedeln 1962.

S III

Analogia Entis. Metaphysik. Ur-Struktur und All-Rhythmus, Erich Przywara Schriften III, Freiburg im Breisgau 31996.

Sum

Was ist Gott? Summula, Nürnberg 1947.

2. SONSTIGE

ArchDPSJ

Archiv der Deutschen Provinz der Jesuiten in München.

DH

H. Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von H. HOPING herausgegeben von P. HÜNERMANN, Freiburg im Breisgau 422009.

JHMTh/ZNThG

Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte/Journal for the History of Modern Theology.

ZfO

Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Einleitung

Zum symbolischen Ausgangspunkt nimmt meine Doktorarbeit die weit verbreitete mittelalterliche Darstellung von Kirche und Synagoge, wie sie z.B. am Südportal des Straßburger Münsters zu sehen ist. Juden und Christen sind dort als zwei weibliche Gestalten versinnbildlicht worden. Auf diese Weise drückt diese Skulptur die christliche Überzeugung aus, dass Kirche und Synagoge unzertrennbar aneinander gebunden sind. Zumindest für die Kirche gilt, dass sie sich nur im Spiegel der Wirklichkeit Israels selbst begreifen kann. Das Bild der beiden Frauengestalten verdeutlicht aber nicht nur das christliche Bewusstsein von ihrer unlösbaren Gemeinschaft. Auch ein anderer Aspekt der christlichen Theologie und Praxis in Bezug auf Israel wurde auf diese Weise illustriert.

Die Attribute, mit denen die Künstler Synagoge und Kirche auszustatten pflegten, lassen erahnen, dass es sich hier um ein einerseits schwesterliches, aber andererseits dramatisches Verhältnis handelt. Die beiden Frauen stehen im Duell, dessen Ergebnis jedoch längst und endgültig entschieden ist. Das Haupt der gedemütigten Synagoge ist gesenkt, der Blick wird ihr durch eine Augenbinde verwehrt, ihre Lanze ist zerbrochen und die steinernen Gesetzestafeln drohen aus ihrer Hand zu fallen. Auf manchen Darstellungen wird ihre anmutende und Würde ausstrahlende Gestalt in ein gelbes Gewand gehüllt, ein Zeichen der ausgegrenzten Prostituierten. Da sie Jesus nicht erkannte, verlor sie ihre Auserwählung und wurde von Gott verstoßen – so die gängige Deutung. Ihre Erwählung wurde der anderen Frau, der Kirche, zuteil. Deren Haupt ist nicht nur erhoben, sondern sogar bekrönt. In der Hand hält sie als Zeichen des Triumphs die Kreuzesfahne. Der Synagoge gilt der siegesbewusste, vielleicht sogar herablassende Blick der Kirche.

0.1 Fragestellung

Es drängt sich die Frage auf, ob diese künstlerisch versteinerte Unerlöstheit des Miteinanders von Kirche und Synagoge im Letzten das bleibend Gültige des Verhältnisses von Juden und Christen ist. Müsste diese Darstellung theologisch vielleicht umgemeißelt werden? Ist der Triumph der Kirche über die Synagoge ein Beweis des Triumphes Gottes in der Geschichte oder dessen Scheiterns? Diese Fragen können nicht ohne den Kontext der Geschichte des 20. Jahrhunderts erwägt werden, deren Ereignisse eine lange Tradition der christlichen Deutung des Verhältnisses zu Israel auf eine beispiellose Weise hinterfragt haben. Wie der israelische Historiker und Forscher der jüdisch-christlichen Beziehungen I.J. Yuval prägnant formuliert, wurde die antijüdische Polemik aus christlicher Sicht die ganze Zeit unter zwei Voraussetzungen geführt: „Zum einen galt die physische Existenz der Juden innerhalb der christlichen Gesellschaft als gewährleistet; zum anderen wurde das Exil des jüdischen Volkes und die Zerstörung seines religiösen und politischen Zentrums im Land Israel als Strafe für die Kreuzigung Jesu begriffen“. Binnen eines Jahrzehnts sind diese Prämissen zusammengebrochen. „Seit 1945 ist die christliche Welt mit Schrecken und Ausmaß der ‚Endlösung‘ konfrontiert worden, und im Jahre 1948 wurde der Staat Israel gegründet“1.

Vor allem der Schreck über die Schoah bewirkte, dass die traditionelle antijüdische Position der Kirche als verwerflich, da für das geschehene Grauen indirekt mitverantwortlich, empfunden wurde. Was seit Jahrhunderten als fester Bestandteil der christlichen Deutung des Heilsgeschehens gegolten hatte, ist untragbar geworden. Die neu erwachte Sensibilität bewirkte, dass am 28. Oktober 1965 auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Erklärung Nostra Aetate verabschiedet wurde, in deren viertem Artikel das christliche Verhältnis zum Judentum neu ausgerichtet wurde. Ein neues Zeitalter schien eingeleitet, in dem nicht Verwerfung und Polemik, sondern Wertschätzung und Zusammenarbeit den Ton angaben. Auf diesen Neuanfang folgten andere Dokumente und Gesten, die als Hauptintention die Verbesserung des christlich-jüdischen Verhältnisses bestätigten und konsolidierten2. Allerdings verdeutlichen die immer wieder ausbrechenden Kontroversen um Themen wie Judenmission, Karfreitagsliturgie oder Antisemitismus die Komplexität der Lage, zu der unterschiedliche Befindlichkeiten und Sprachgewohnheiten, Vorurteile und Missverständnisse beitragen. Zudem sind viele Fragen zwischen Juden und Christen nach wie vor eine theologische Herausforderung3. Die vom Vertrauen geprägte Partnerschaft zwischen Kirche und Israel ist kein festes Gut, sondern muss dauernd intensiviert werden. Fünfzig Jahre nach Nostra Aetate fragt man sich jedoch, ob auf dieser neuen Grundlage nicht nun auch die sensiblen Punkte und radikalen Differenzen zwischen Kirche und Synagoge auf ihren Offenbarungsgehalt examiniert werden können und sollen.

Es muss im Auge behalten werden, dass die Thematik um das Verhältnis zum Judentum auch innerkirchlich zur Debatte führt. Das Judentum liegt einerseits außerhalb der sichtbaren Gemeinschaft der Kirche, andererseits gehört das Jüdische zur Kirche fundamental hinzu. Es ist ein Bestandteil ihrer Identität, ihre bleibende Wurzel. Damit enthüllt sich die Dualität des kirchlichen Dialogs mit Israel, wie es Johannes Paul II. während seiner Begegnung mit Vertretern der Jüdischen Gemeinde am 17. November 1980 in Mainz zum Ausdruck gebracht hat. Noch bevor die heutigen Christen dem heutigen Volk Israel begegnen, stoßen sie auf die „erste Dimension dieses Dialogs, nämlich die Begegnung zwischen dem Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Alten Bundes“, der „zugleich ein Dialog innerhalb unserer Kirche, gleichsam zwischen dem ersten und zweiten Teil ihrer Bibel“ ist4.

Nun ist aber auch die erste Dimension des Dialogs, und somit die Frage der bleibenden Verwurzelung der Kirche im Jüdischen, nicht unumstritten innerhalb der Christenheit. Der markionische Gedanke, ein endgültiger Bruch mit dem Alten Testament und seinem Gottesbild täte der Kirche gut und verhälfe der befreienden Botschaft des Evangeliums zu ihrem vollen Glanz, findet immer wieder neue Anhänger. Abgesehen von den einseitigen bis extremen Ansätzen bleibt das Problem einer christlichen Auslegung des Alten Testaments und der inneren Einheit und Verschiedenheit der beiden Testamente grundsätzlich ein großes, spannendes und spannungsreiches Thema, bei dem schon die traditionelle Terminologie Altes und Neues Testament zur Diskussion gestellt wird. Hinter der Idee, auf das Alte Testament und die jüdischen Bezüge zu verzichten, steht jedoch nicht immer ein offener oder verdeckter Anti-Judaismus, sondern der Gedanke, man könnte auf diese Weise die Kontroversen zwischen Judentum und Christentum beseitigen und somit zur friedlichen Koexistenz der beiden Religionen beitragen5. So stellt sich die Frage, ob die Neuausrichtung der Beziehung zum Judentum auch für das Selbstverständnis der Kirche eine Rolle spielt. Bleibt es bei der Justierung eines politisch heiklen, aber theologisch peripheren Themas, oder muss die neue Ausrichtung des christlich-jüdischen Verhältnisses ihre Wirkung noch ad intra entwickeln und angefangen bei der Schriftauslegung die ganze Theologie und Praxis der Kirche in ein neues Licht rücken?

Man darf diesen Fragen, mögen sie noch so belastet und schwierig sein, aus falschem Irenismus nicht ausweichen. Andernfalls riskiert die Theologie, ins Belanglose und Irreale abzusinken. Das Thema Israel und Kirche lässt sich nicht auf ein punktuelles, und schon gar nicht auf ein konventionell interreligiöses Problem begrenzen. Wir merken, dass die bereits gestellten Einzelfragen in ihrer Dynamik an den Fundamenten des Christlichen rühren. Sie verweisen uns auf die grundlegende Frage nach Gott und seiner Gegenwart in der Geschichte. Das verstrickte Verhältnis zwischen Juden und Christen führt in das Herz des Geheimnisses einer in dieser Welt faktisch ergangenen und wahrnehmbar-gegenwärtigen Offenbarung Gottes ein. Deswegen geziemt ihm der letzte eschatologische Ernst, den ihm der hl. Paulus beigemessen hat. Und im gleichen Zug betrifft die Frage nach dem Miteinander von Israel und Kirche das Hier und Jetzt. Dieses Miteinander lässt sich nicht im Diffusen und Spekulativen auflösen. Wir begegnen Israel in den Urkunden unseres Glaubens. Wir begegnen dem dort bezeugten Volk Israel in unserer Welt. Das Phänomen der Existenz Israels ist einmalig und lässt sich in keine Kategorien einordnen; allen Völkern und Religionen ähnlich und doch anders, da es sich weder in religiöse noch ethnische Kategorien einschließen lässt. Auf den Wogen der Geschichte behält es seine einmalige Identität. „Die Großmächte von damals sind alle untergegangen. Es gibt weder die alten Ägypter noch die Babylonier oder Assyrer. Israel bleibt – und zeigt uns etwas von der Beständigkeit, ja vom Geheimnis Gottes“6.

Die Rezeption der Neuausrichtung des christlich-jüdischen Verhältnisses ist also noch nicht abgeschlossen. Lasst uns noch einmal fragen: Welche Bedeutung hat also das ‚Phänomen Israel‘ für die Kirche? Wo und wie zeigt sich in der Theologie und kirchlichen Praxis die Gebundenheit an das Geheimnis seiner Erwählung und Identität? Kann Israel als ein besonderer locus theologicus verstanden werden? Wie soll der – religionsgeschichtlich einmalige – christlich-jüdische Dialog so geführt werden, dass sowohl den grundlegenden Gemeinsamkeiten als auch den grundlegenden Unterschieden Rechnung getragen wird? Welche heilsgeschichtliche Bedeutung hat das Verhältnis von Judentum und Christentum?

Meine Arbeit will diese vielschichtige Frage nach Israel an den so bedeutenden wie vergessenen Religionsphilosophen und Theologen Erich Przywara SJ (1889–1972) herantragen. Sein Werk, das aufgrund seiner systematischen Schärfe, der Vielfalt der behandelten Themen und Autoren sowie seines Tiefgangs und seiner bohrenden Fragestellungen ihresgleichen sucht, entstand in intensiver Beschäftigung mit den wichtigsten philosophischen, theologischen, aber auch politischen Herausforderungen seiner Zeit. Vor allem im Hinblick auf den deutschsprachigen Kulturraum ist es sowohl die Zeit der Blüte des jüdischen Lebens als auch die Zeit seiner Vernichtung. Es ist die Zeit vor dem vollzogenen Paradigmenwechsel der christlichen Beziehung zum Judentum und zugleich die Zeit, die dazu geführt hat.

Gemessen am Umfang Przywaras Werkes ist seine Erforschung eher bescheiden. Die meisten Arbeiten widmen sich zudem seinem metaphysischen Denken, das seine Mitte im Begriff der analogia entis fand. Die Stimmen zu seiner Sicht des christlich-jüdischen Verhältnisses sind fragmentarisch und nicht selten widersprüchlich. Die facettenreichen Ansätze und Ansichten Przywaras suchen nach Interpretation.

Es ist bezeichnend, dass ein US-Amerikanischer Autor, der dem Leser die Welt von Przywara erklären will, seine Beziehungen zu den jüdischen Denkern in der Periode zwischen den beiden Weltkriegen als etwas Ungewöhnliches und Pionierhaftes sieht. Nachdem die zahlreichen Kontakte des deutschen Jesuiten zu protestantischen Theologen erwähnt werden, schreibt M.A. Fahey:

„More surprising to readers who have stereotypical perceptions of German Catholics‘ attitudes to Jews in the period between the two World Wars, is Przywara’s close contacts with Jewish thinkers. Despite the fact that Berlin was a more favorable setting for exchange between Christian and Jews than Munich, he carried on respectful dialogue. For him a Jewish philosopher was not automatically a Bolshevist Jew“7.

Vor allem Przywaras Kontakte zu Leo Baeck (1873–1956), einem der bedeutendsten Gestalten des europäischen Judentums des letzten Jahrhunderts, werden erwähnt. So behauptet auch Baecks Schüler und ausgewiesener Kenner seines Denkens A.H. Friedlander, dass Przywara, auch mit jüdischen Autoren verglichen, seinerzeit das größte Verständnis für die Bedeutung von Baecks Theologie aufwies und sie aus diesem Grund auch der schärfsten Kritik unterzogen hat8. Allgemein bekannt ist auch, dass Przywara der wohl bekanntesten jüdischen Konvertitin dieser Zeit Edith Stein (1891–1942) als philosophisch-theologischer Berater zur Seite stand. Die Breite und die Vielfältigkeit seiner Kontakte zur jüdischen Welt sowie das Niveau, auf dem sie stattfanden, scheinen somit vielversprechend.

Auch Przywaras Ansätze zur Neudefinierung des christlich-jüdischen Verhältnisses werden gelegentlich ins Gespräch gebracht, und das nicht nur im strikten akademischen Bereich. So berief sich darauf der Vorsitzende des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen Kard. K. Koch am „Tag des Judentums“ am 17. Januar 2014. Er betonte, es sei angemessen, einen solchen Tag direkt vor der Woche des Gebetes um die Einheit der Christen zu halten, da „der große katholische Theologe Erich Przywara […] die erste Trennung im Christentum“ als jene „zwischen Synagoge und Kirche“ betrachtete. „Deshalb gehört die Versöhnung zwischen Christen und Juden mit zu den ökumenischen Bemühungen der katholischen Kirche“9.

Im Hinblick auf das Problem des Zueinanders von Altem und Neuem Bund, von Israel und Kirche, macht L.J. Narvaja in der Einführung zur italienischen Übersetzung Przywaras Idee Europa den Leser darauf aufmerksam, dass sich im Denken von Przywara die Überwindung des Substitutionsmodells, die als durch das II. Vatikanische Konzil bewirkter Paradigmenwechsel des jüdisch-christlichen Dialogs gefeiert wird, schon einige Jahrzehnte vor dem Konzil abzeichnet: „Tale orizzonte, da un lato, viene sviluppato più ampiamente dal Concilio per l`intenzione conciliare di trattare la relazione direttamente tra la Chiesa e il popolo ebraico”10. Przywara wird hier aber nicht nur als ein Vorläufer des Konzils gesehen, den die wenigen Sätze, die das Dokument Nostra Aetate dem Problem gewidmet haben, eingeholt und schließlich auch überholt haben. Seine Ansätze seien vom Konzil nicht gänzlich ausgeschöpft worden und in einigen Punkten sei er dem Konzil voraus – das scheint L.J. Narvaja zu meinen, wenn er schreibt:

„Dall’altro lato si può osservare come la riflessione di Przywara – malgrado non possieda una strumentazione esegetica affinata sul problema – è più avanti della iniziale riflessione della Nostra Aetate. Egli, affermando che la Chiesa è il luogo dello scambio e in virtù di questo incontro e scambio tra diversi è luogo dell`unità tra ebrei e gentili, mostra che il paradigma della sostituzione non è solo una questione esegetica o teoretica, ma è piuttosto un problema che ha conseguenze profonde sulle strutture del cristianesimo, dell`ecclesiologia e delle correlative teologie politiche“11.

Der letzte Satz ist insofern richtungsweisend, da hier eine Möglichkeit signalisiert wird, eine globale Sicht auf das Verhältnis Israel und Kirche, in dem das Jüdische als Gesamtphänomen gesehen wird, gewinnen zu können.

Die in der neueren Literatur erwähnten Ansätze wurden jedoch in der Theologie kaum rezipiert und nur spärlich erforscht. Auch wenn J. Ratzinger 1958 im Hinblick auf das Alterswerk von Przywara davon sprach, dass die Theorie von der analogen Einheit des Alten und Neuen Bundes von Przywara „meisterlich dargelegt“ wurde, so dass es „in der neueren katholischen Literatur […] zu diesem Thema kaum Ausführungen von gleichem Rang geben“12 dürfte, so fand dieses Werk doch ein eher verhaltenes Echo. Auch die uns interessierende Thematik wurde bis jetzt kaum beachtet. Lediglich in einigen Arbeiten über Przywara wurden Aspekte der Israel-Problematik vereinzelt beleuchtet.

Hier ist an erster Stelle die herausragende Arbeit von B. Gertz über Przywaras Analogie-Lehre zu nennen13. Der Autor untersucht den Denkweg, der Przywara von der Polarität über die analogia entis zur analogia fidei führt, und analysiert dann eingehend die letzte Kategorie als Prinzip seiner theologischen Methodik. Im Zuge seiner Analyse werden viele Aspekte des Zueinanders von Altem und Neuem Bund berücksichtigt. Dieses Zueinander an sich wird jedoch nicht eigens problematisiert. Auf jeden Fall bietet diese Arbeit einen sehr guten Ausgangspunkt für eine fokussierte Untersuchung des Verhältnisses zwischen den beiden Testamenten sowie dessen weiterer theologischer Konsequenzen in Przywaras Werk.

Die Grundsätze von Przywaras Schriftauslegung im Zeichen der analogia fidei zwischen Altem und Neuem Bund werden in A. Stocks Untersuchung der hermeneutischen Grundpositionen zur Einheit des Neuen Testamentes ansatzweise besprochen14. Stock würdigt die innovative Methode Przywaras, die dadurch heraussticht, dass sie die Einheit des Neuen Testaments nur im Zusammenhang der umfassenderen Einheit von Altem und Neuem Testament denken lässt.

Die Konsequenzen des Zueinanders von Kirche und Israel für Przywaras Kirchenverständnis wurden in E.-M. Fabers Studie über die ekklesiologischen Entwürfe von Romano Guardini und Erich Przywara ausgearbeitet15. Die Autorin zeigt, dass es Przywaras theologisches Spezifikum ist, das Geheimnis der Kirche im Geheimnis der Spaltung zwischen Juden und Christen zu orten, gemäß Röm 9–1116. Somit bieten sich in dieser Arbeit viele interessante Einsichten, die zu weiteren Fragen nach der Bedeutung der Israelbezogenheit der christlichen Theologie führen.

Dass diese vielversprechende Sicht auf Przywaras theologisches Erbe hinsichtlich der jüdisch-christlichen Problematik doch nicht die einzige Interpretationsmöglichkeit ist, wird durch die Bemerkung von M. Zechmeister deutlich gemacht. In ihrer eingehenden Studie über Przywaras theologischen Weg würdigt sie einerseits seine Bemühungen, die alttestamentlichen Wurzeln der christlichen Gottesrede neu aufzudecken. Andererseits bemerkt sie aber, dass Przywara wohl „in seiner Auslegung des Verhältnisses des Christentums zum nachchristlichen Judentum gegen sich selbst und über sich selbst hinaus zu interpretieren sein wird“17.

Deutlich negativer fallen die Meinungen über Przywaras Sicht des Judentums aus, wenn sie aus der Forschung über die kirchliche Haltung zur nationalsozialistischen Ideologie und dem Antisemitismus kommen. Der anfangs zitierten Meinung über Przywaras Kontakte zur jüdischen Geisteswelt in den Jahrzehnten zwischen den beiden Weltkriegen steht paradigmatisch das 1969 formulierte Urteil von H. Greive entgegen. In seiner Untersuchung über den Katholizismus und das Judentum in Deutschland und Österreich in der Zwischenkriegszeit bezichtigt er Przywara einer besonderen Rolle in der negativen Bestimmung des christlich-jüdischen Verhältnisses. So schreibt er, Przywara suchte in seinen Ausführungen aus dieser Zeit die gängigen antijüdischen Klischees „mit religiösen Gedankengängen“ genauer zu bestimmen und in seinem Denken sei „die Annäherung des völkischen und des religiösen Standpunktes“18 festzustellen.

Derselben Zeitspanne und einer ähnlichen Thematik widmet sich ein Beitrag zur Erforschung der neueren Theologiegeschichte von P.S. Peterson. In seinem 2012 erschienenen Artikel behandelt der Autor den kulturellen, sozio-politischen und kirchlichen Kontext der Religionsphilosophie Przywaras und verweist auf Parallelen zwischen seinen Gedankengängen und den in den 20er und 30er Jahren in Deutschland präsenten völkischen und faschistischen Ideen, bei denen der Antisemitismus eine bedenkliche Rolle spielt. In diesem Zusammenhang scheinen viele Äußerungen Przywaras höchst fraglich zu sein19.

In der zwei Jahre später erschienenen Einführung zur amerikanischen Übersetzung von Przywaras Analogia entis bezeichnet J.R. Betz die These, Przywara habe nationalsozialistische und antisemitische Sympathien gehegt, als unzulässig, da auf missinterpretierten und aus dem Kontext herausgerissenen Zitaten gebaut. Laut Betz müsse das Gegenteil behauptet werden. Vor allem im Hinblick auf Przywaras Dialog mit dem Judentum schließt sich Betz grundsätzlich O’Mearas Meinung an und widerspricht den Thesen im Artikel von Peterson, den er als einen neuerlichen Versuch, Przywara zu diskreditieren, bezeichnet20.

Fast unverzüglich antwortet darauf Peterson mit einem weiteren Artikel, in dem die These bekräftigt wird: „While Przywara was not a member of the NSDAP or any political party, many of his views on cultural, social and political matters from this time are relatively typical of Nazi Germany“21. Der Autor beruft sich auf Archivdokumente, in denen Przywara, um in die Reichsschriftumskammer aufgenommen zu werden, seine arische Abstammung nachweist, sowie auf solche, in denen Vertreter der NSDAP das jesuitische Umfeld Przywaras als regimekonform bezeichnen. Vor diesem Hintergrund bezichtigt Peterson Przywaras Sicht auf das Judentum und viele verwandte Themen einer starken antisemitischen Komponente und fährt fort:

„His general frame of thought, which one might call Catholic fascism, was not the same, however, as secular neo-pagan fascism. Catholic fascism was captivated with the theme of the Reich and the religious Abendland, it was skeptical of neopaganism, anti-Semitic, anti-liberal, anti-American, anti-Enlightenment, anti-French Revolution, anti-cosmopolitan, anti-Zionist, anti-rationalistic, völkisch, authoritarian, integralistic, Nietzschean and nationalistic. […] Przywara was not, however, a mere passive agent who unconsciously absorbed the cultural norms of his context. He creatively adopted them, reconceptualized them as expressions of faithful Christianity and them disseminated them […]“22.

Diese Kontroverse über Przywaras Sicht auf das Judentum und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Hermeneutik seines Werkes fand während meiner Forschungsarbeit statt. Sie stellte mich vor neue Fragen und zwang mich, einige meiner Ausgangspunkte zu hinterfragen und zu revidieren. Es wurde noch deutlicher, dass diese Arbeit nicht als eine unbefangene und lineare Begründung der These, Przywara sei ein Pionier des christlich-jüdischen Dialogs im nachkonziliaren Sinn gewesen, konzipiert werden kann, sondern differenziert, ausgewogen und unter Berücksichtigung der theologiegeschichtlichen Kontexte urteilen muss und vor der Ambivalenz der Thematik im zeitgeschichtlichen Kontext nicht die Augen verschließen darf. Viele von Przywaras Aussagen sind vor allem im Blick auf die Zeitumstände kontrovers bis abstoßend, was jedoch nicht selten in einem bestimmten Zusammenhang steht und durch Gegenteiliges relativiert oder aufgehoben wird. Für diese Ambivalenz steht auch das Fragezeichen im Titel dieser Dissertation, das im Anfangsprojekt nicht vorgesehen war, sondern als Ergebnis meiner Forschung in der redaktionellen Phase hinzugefügt wurde. Natürlich kann und muss diese systematisch-theologische Dissertation nicht alle historischen und zeitgeschichtlichen Begebenheiten erforschen, unter denen sich Przywaras Reflexion über das Judentum vollzog. Sie will aber seine Erfahrungswelt berücksichtigen, um die existenzielle Dimension seiner Beschäftigung mit Israel in den Blick zu bekommen. Der Leser wird meine Auseinandersetzung mit dieser Problematik an vielen Stellen entdecken können. Besonders möchte ich in diesem Zusammenhang auf Punkte 2.2, wo auch zeitgenössische jüdische Reaktionen auf Przywaras Einschätzung des Judentums zu Wort kommen, und 5.4 mit 5.5, wo Przywaras „Reichstheologie“ kritisch ausgewertet wird, aufmerksam machen.

Umgekehrt bin ich jedoch zu der Überzeugung gelangt, dass die oben zitierte Charakterisierung von Przywaras Denkrahmen in ihrer Pauschalisierung dem Denker und seinem Werk nicht gerecht wird. Man missversteht Przywara und sein Anliegen, wenn man sich über seine problematischen Aussagen empört, dabei aber die entgegengesetzten Aspekte in seinem Werk nicht berücksichtigt und vor allem das analogische oder dialektische Gefüge dieses Werkes aus den Augen verliert. Da seine zuweilen schwer durchschaubare Denkstruktur nur selten erfasst wird, werden bestimmte Aussagen Przywaras von verschiedenen Autoren extrem unterschiedlich interpretiert23. Der Gefahr der Einseitigkeit oder einer vorschnellen, positiven oder negativen, Zuordnung will meine Arbeit entkommen, weswegen ich auch auf eine apologetische Diskussion mit Peterson nicht eingehe. Das hätte meine Forschung eingeengt. Nur wenn man das komplexe Ganze von Przywaras Reflexion über das christlich-jüdische Verhältnis sich vor Augen führt, kann man es kreativ aufgreifen, überwinden oder darüber sinnvoll streiten. Diesen Versuch unternehme ich im abschließenden Ertrag dieser Arbeit.

An dieser Debatte wird aber auch sichtbar, wie das Urteil über Przywaras Beschäftigung mit dem Judentum mit der viel breiteren, allumfassenden Sicht auf den Katholizismus und die Haltung der Katholischen Kirche gegenüber den totalitären Ideologien des Faschismus und des Nationalsozialismus zusammenhängt sowie einen Teil des Prozesses der Aufarbeitung des katholischen Antisemitismus und der katholischen Mitverantwortung an der Vernichtung der europäischen Juden darstellt. Das ist besonders stark in Petersons Artikeln zu beobachten, die auf der Diagnose eines tiefgreifenden katholischen Faschismus und Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit und während des II. Weltkrieges, in die z.B. auch H.U. von Balthasar und H. de Lubac verwickelt seien, fußen. Eindeutig kritisch wird die Haltung von Pius XII. gesehen. Auch die Rolle der jesuitischen Zeitschrift Stimmen der Zeit wird negativ beurteilt24. Dass diese Debatte bei weitem noch nicht abgeschlossen ist und, was verständlich ist, zuweilen sehr emotional verlaufen kann, muss als Klima der vorliegenden Studie berücksichtigt und ausgehalten werden25. Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit der Rolle der katholischen Kirche im nationalsozialistischen Deutschland resümiert Ch. Kösters:

„Die kontroverse wissenschaftliche Diskussion ist oftmals unentwirrbar verknüpft mit öffentlichen und gesellschafts- und geschichtspolitischen sowie innerkirchlichen Debatten und Standortbestimmungen, die eine notwendig sachliche Auseinandersetzung nicht immer erleichtern. Das gilt auch und gerade für die schwierigen Fragen des Verhältnisses zu den Juden“26.

Man beachte, dass hier nicht nur der Wahrheitsgehalt in den einzelnen Meinungen und Theorien, sondern die moralische Integrität und Legitimation des Autors auf dem Spiel zu stehen scheinen. Es sei hier deutlich festgehalten, dass es nicht das Ziel meiner Arbeit ist, ein moralisches Urteil über den Menschen Erich Przywara zu formulieren, sondern seine Israeltheologie kritisch zu analysieren.

0.2 Aufbau und Methode

Nun einige Worte zur Methode und zum Aufbau meiner Arbeit. In ihrem Titel wird nach Israel als dem Urgeheimnis Gottes gefragt. Diese Wahl erklärt sich zum Teil aus dem bisher über Israel Gesagten. Dem entspricht der Grundimpetus von Przywaras Theologie, das Mysterium Gottes hervorzuheben, das sich in der je größeren Unähnlichkeit in jeder noch so großen Ähnlichkeit zwischen Gott und Welt manifestiert. Das wichtigste formale Werkzeug dazu heißt Analogie, die Przywara als den über sich hinaus- und auf den je größeren Gott hinweisenden All-Rhythmus, in dem alles konkret Seiende schwebt, verstehen wollte. Das Thema des christlich-jüdischen Verhältnisses wird also innerhalb dieser Dynamik betrachtet, die das Proprium von Przywaras religionsphilosophischem und theologischem Denken ist. Darum spricht der Untertitel von einer Analogik des christlich-jüdischen Verhältnisses. Es handelt sich darum, bei Przywara eine Gesamtsicht auf den Sinn, die Bedeutung und die Konsequenzen des Verhältnisses zwischen Christen und Juden zu ‚erspüren‘, um eins seiner spezifischen Worte zu benutzen. Die Vorsilbe ‚ana‘ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es sich jedoch nicht um ein geschlossenes, logisches System handeln soll, sondern um das Unabgeschlossene und Unabschließbare dieses Verhältnisses, das auf diese Weise auf das Mysterium Gottes transzendent (transzendiert?) wird. Die Bezeichnung christlich-jüdisches Verhältnis soll zum Ausdruck bringen, dass es sich hier um die christliche, nicht eine bilaterale, Sicht der Beziehung zum Judentum handelt.

In meiner Arbeit konzentriere ich mich auf die Analyse von Przywaras Schriften. Neben den veröffentlichten Werken habe ich den Nachlass Przywaras gesichtet, der sich im Archiv der Deutschen Provinz der Jesuiten in München befindet. Einige für unser Thema relevante Briefe oder Manuskripte werden in die Arbeit einbezogen. Der Archivfund hat jedoch nicht die Hoffnung bestätigt, darin neue, bahnbrechende Zeugnisse der Kontakte Przywaras zur jüdischen Welt finden zu können. Es mag daran liegen, dass ein Teil seines Nachlasses verschollen ist, bzw. in den Kriegswirren zerstört wurde. Es fehlt vor allem die frühe Korrespondenz Przywaras. Gleichzeitig ist ein Teil des Nachlasses ungeordnet und nicht zugänglich. Die Mammutaufgabe wartet auf einen Passionierten, der zudem eine ausgeprägte Geduld für die schier unlesbare Handschrift Przywaras haben müsste. Nach Auskunft des Archivleiters Dr. Clemens Brodkorb, dem an dieser Stelle für seine freundliche Hilfe herzlich gedankt sei, handelt es sich dabei jedoch meistens um Przywaras lyrische Versuche. Auch beim Besuch im Edith-Stein-Archiv in Köln bin ich auf nichts gestoßen, was die Annahme bestätigen könnte, in Przywaras Kontakten zu Edith Stein habe das Thema des Judentums eine Rolle gespielt. Die Anfragen bei der Dependance des Leo Baeck Instituts im Jüdischen Museum in Berlin sowie beim Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam haben ebenso ergeben, dass der Name Przywara dort keine Assoziationen hervorruft, bzw. in den digitalisierten Sammlungen in keinem namhaften Zusammenhang vorkommt. Am 2. Januar 2015 hatte ich das Privileg, den betagten Rabbiner Lionel Blue in seiner Londoner Wohnung besuchen zu können. Der frühere Dozent am Rabbinerseminar Leo Baeck College London hatte in seinen ersten Studienjahren die Möglichkeit, Leo Baeck persönlich kennenzulernen. In unserem Gespräch konnte er sich jedoch nicht entsinnen, dass über Przywara jemals gesprochen wurde.

Die Arbeit besteht aus fünf Kapiteln, die sich verschiedenen Themen und Bereichen Przywaras religionsphilosophischen und theologischen Denkens widmen. Es ist den Kapiteln gemeinsam, dass sie jeweils unter einer anderen Hinsicht beobachten wollen, auf welche Weise das Thema des christlichjüdischen Verhältnisses von Przywara darin durchgespielt, in welche Kontexte und Zusammenhänge es gesetzt wird und was es letztendlich in der ganzen Theologie bewegt und bewirkt. Diese Methode entspricht meines Erachtens dem Proprium des Formaldenkers Przywara, der bei der Fülle der behandelten Themen letztendlich vor seinen Augen immer die Frage nach der letzten Struktur der Gottesrede hat. Andererseits versucht die Arbeit dem Unausgegorenen, Bruchhaften und nicht selten Gegensätzlichen und Widersprüchlichen des Werkes Przywaras Rechnung zu tragen und nicht der Versuchung zu unterliegen, sein Werk und darin die Analogik des christlich-jüdischen Verhältnisses abrunden zu wollen. Bei Przywara schweben alle Einzelaussagen in einem nicht selten unentwirrbaren Netz, in dem sich alles gegenseitig bedingt, um immer neue Dimensionen preiszugeben. Daraus erklärt sich die Unvermeidbarkeit einiger Wiederholungen in dieser Arbeit.

Da Przywara wenig bekannt, sein Werk dafür so originell wie sperrig ist, widmet sich das erste Kapitel der Darstellung seines Lebens- und Denkweges sowie den für die Interpretation seiner Aussagen fundamentalen Denkfiguren. Die Erfassung der Spannung zwischen dem religiös-existentiellen und dem formalen Pol bei Przywara bedingt meine Arbeit. Anschließend werden Ansätze für die Begegnung Przywaras mit dem Judentum einführend dargestellt. Im zweiten Kapitel wird die Beziehung zum Judentum religionsphilosophisch und offenbarungstheologisch verortet. In Betracht geraten hier zwei Versuche, das Wesen des Christentums zum Ausdruck zu bringen, zwischen denen sich Przywaras Werk erstreckt. Eine besondere Stellung nimmt innerhalb dieses Kapitels die Analyse des Artikels Judentum und Christentum (1925) sowie der anschließenden Debatte ein, die ein einmaliger Moment Przywaras direkter Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Judentum ist. Im dritten Kapitel wird beobachtet, wie die Grunderfassung des Christentums in die Grundsätze der Schriftauslegung, vor allem des Verhältnisses zwischen Altem und Neuem Bund, eingehen. Zur Kontextualisierung werden Beispiele des Umgangs mit dem Alten Testament angeführt, auf die sich Przywara direkt oder indirekt bezieht. Anschließend soll gezeigt werden, wie die Sicht auf die Einheit und Bezogenheit der beiden Teile der christlichen Bibel die Grundfragen der Theologie bedingt. Das vierte und fünfte Kapitel dienen der Konkretisierung, zuerst im Bereich der Ekklesiologie, dann im Bereich der Geschichtstheologie, die starke Elemente einer auf die aktuellen Ereignisse bezogenen politischen Theologie einschließt. Im Schlusswort sollen die Analogik des christlich-jüdischen Verhältnisses als Ertrag der Arbeit kritisch gesichtet, offene Fragen angesprochen und einige Perspektiven geöffnet werden.

1 I.J. YUVAL, Zwei Völker, 33f.

2 Eine kompakte Übersicht im ersten Kapitel des jüngsten Dokumentes der KOMMISSION FÜR DIE RELIGIÖSEN BEZIEHUNGEN ZUM JUDENTUM, „Denn unwiderruflich…“, Nr. 1–13.

3 Ein ausgewogene und prägnante Standortbestimmung des christlich-jüdischen Dialogs findet sich in: W. KASPER, Katholische Kirche, 418–425. Eine Billanz der offenen theologischen Fragen im christlich-jüdischen Dialog in: K. KOCH, Theologische Fragen und Perspektiven.

4 JOHANNES PAUL II., Ansprache an die Vertreter der Juden im Dommuseum in Mainz, 102–105, hier 104. Als dritte Dimension des Dialogs wird in der Ansprache der gemeinsame Einsatz für den Frieden und die Gerechtigkeit in der Welt genannt.

5 Einige Beispiele für diese Tendenzen in: P. PETZEL, Christ sein, 95f; F.-W. MARQUARDT, Das christliche Bekenntnis, 93.; J. RATZINGER, Die Vielfalt der Religionen, 14; E. ZENGER, Am Fuß des Sinai, 23, 29f; DERS., Das Erste Testament, 30.

6 Vgl. J. RATZINGER, Gott und die Welt, 126f.

7 M.A. FAHEY, Foreword, in: TH.F. O’MEARA, Erich Przywara, S.J., XI.

8 Vgl. A.H. FRIEDLANDER, Leo Baeck, 192–197.

9 K. KOCH, Radiointerview Den Leibrock Christi.

10 J.L. NARVAJA, Introduzione, in: E. PRZYWARA, L’idea d’Europa, 52.

11 Ebd., 52f.

12 J. RATZINGER, Erich Przywaras Alterswerk, 220.

13 B. GERTZ, Glaubenswelt.

14 A. STOCK, Einheit, 160–162.

15 E.-M. FABER, Kirche 154–159, 316–319.

16 Angesichts der Tatsache, dass Przywara in seinen Schriften die biblischen Sigla nicht kursiv schreibt, wird diese Schreibweise in der vorliegenden Arbeit übernommen. Auf diese Weise soll eine harmonische Lektüre des ganzen Textes, der viele Zitate aus Przywaras Werk beinhaltet, erleichtert werden.

17 M. ZECHMEISTER, Gottes-Nacht, 46.

18 H. GREIVE, Theologie und Ideologie, 116.

19 Vgl. P.S. PETERSON, Erich Przywara.

20 Wortwörtlich: „one recent attempt to discredit Przywara“ (J.R. BETZ, Translator’s Introduction, in: E. PRZYWARA, Analogia Entis. Metaphysics: Original Structure, 25, Anm. 75).

21 P.S. PETERSON, Once again, 149.

22 Ebd., 162. Zur von P.S. Peterson vertretenen These vom „katholischen Faschismus“ siehe R. FABER, „Die Kirche ist der Staat 284–298.

23 Die Äußerung Przywaras langjähriger Sekretärin und Begleiterin Sigrid Müller (unter dem Pseudonym Gustav Wilhelmy), dass Przywara 1934 zum Internationalen Philosophen Kongress vom NS-Regime entsandt wurde, „obwohl die Lexika der NS-Zeit ihn bereits als den gefährlichsten Exponenten des kämpferischen Katholizismus charakterisierten“ (G. WILHELMY, Vita, 18), wird man unter dieser Hinsicht lesen müssen. So werden auch Przywaras Ausführungen zum Thema Reich, Abendland und Europa, als theologisch innovativ (vgl. J.L. NARVAJA, Introduzione), oder als ein lobenswerter Versuch der Auseinandersetzung mit der NS-Ideologie dargestellt (vgl. V. KAPP, Das christliche Abendland, 161–180). Über dieselben Gedankengänge, die Przywara noch bis in die 60er Jahre wiederholte, heißt es aber auch: „Deutlicher konnte das hierarchische Denkmodell der katholischen Reichsideologie in ihren eigenen Epigonentum nicht ad absurdum geführt werden“ (K. BREUNING, Die Vision, 299).

24 Siehe auch P.S. PETERSON, Anti-Modernism; DERS., The Early Hans Urs von Balthasar, bes. 11–22 u. 185–214.

25 Nach der Fertigstellung meiner Arbeit fand diese Debatte tatsächlich ihre Fortsetzung. In: A. PIDEL, Erich Przywara, wird Peterson mangelnde Differenzierung und unzulängliche Hermeneutik im Umgang mit Przywaras Texten vorgeworfen. Durch nuancierte Lektüre von Przywaras umstrittenen Aussagen meint Pidel Petersons Thesen widerlegen und ihn als einen gewieften Opponenten der faschistischen Ideologie darstellen zu können. Auch J. Negel geht auf Petersons ersten Artikel ein und bemängelt, dass Peterson einen diachronischen Lektüreansatz verweigert, was dazu führt, dass er Przywara als einen typischen Vertreter „der sogenannten ‚Konservativen Revolution‘ der 1920er und 30er Jahre“ darstellt. „Petersons Text, der Przywara schon vom Ansatz her kaum gerecht werden kann, durchzieht ein denunziatorischer Ton, der ärgerlich ist“, fügt Negel hinzu (J. NEGEL, Nichts ist wirklicher, 223, Anm. 136). Daraufhin meldet sich wieder Peterson zu Wort (P.S. PETERSON, A third time) und bekräftigt seine These durch weitere Bespiele von Przywaras Zitaten, durch die er die Affinität zum faschistischen und nationalsozialistischen Gedankengut zweifellos zu belegen glaubt. Pidel und Betz wirft er apologische Absichten, die die dunkle zeitgeschichtliche Realität ausklammern wollen, vor (bes. ebd., 203, Anm. 3). Gegen Negel verteidigt er die historisch-kritische Richtigkeit seines synchronischen Ansatzes (vgl. ebd., 208f, Anm. 15). Als besonders desavouierend betrachtet Peterson Przywaras Korrespondenz mit Carl Schmitt. Sein Fazit über Przywara und die ganze katholische theologische und religionsphilosophische Produktion aus dieser Epoche: “Perhaps something can be redeemed from the older works of the 1920s, 1930s and 1940s. On the whole, however, much of this philosophy of religion (and legal theory) is simply an expression of the intellectual world of fascism“ (ebd., 239, Anm. 127). Mein Fazit über diese so wichtige Debatte: Es ist bedauerlich, dass der denunziatorische Eifer hier so bestimmend wird; eine redliche Auseinandersetzung wird dadurch nicht erleichtert. Peterson legt den Finger in viele Wunden, die aber konsequent und behutsam behandelt werden müssen. So korrespondiert Przywara z.B. in dieser Zeit nicht nur mit C. Schmitt, sondern auch mit L. Baeck und J. Taubes. Wie erklärt sich diese Widersprüchlichkeit (siehe dazu z.B. unter 1.3 in meiner Arbeit)? Seine Polemik gegen die Idee der Humanität der Aufklärung und sein Bestehen auf den „qualitativen Unterschiede[n]“ zwischen Geschlechtern und Völkern (vgl. ebd., 221) hängen zusammen mit seiner Vision von „Juden und Heiden“ als einer in Alterität existierenden Menschheit (siehe dazu z.B. 2.4.4 in vorliegender Arbeit). Natürlich haben diese Gedankengänge ihre Schwächen und können zur Begründung von falschen Ideologien missbraucht werden – aber die Probleme liegen viel tiefer, als es Petersons polemische Artikel erahnen lassen. Hoffentlich können die Ergebnisse meiner Arbeit zu einer konstruktiven Debatte beitragen.

26 CH. KÖSTERS, Katholische Kirche, 26.

1. Erich Przywara – der Denker und seine Welt1

Die Welt, in der Erich Przywara lebte, wirkte und dachte, war eine Welt der Brüche und Gegensätze. Der Grundimpetus von Przywaras Denken ist die Suche nach dem Einen, in dem das Vielfältige und Widersprüchliche begründet ist. Dieser Einheitsgrund ist das rechte Verhältnis, in dem alles zueinander steht. Da Erich Przywaras philosophisch-theologisches Werk und seine Existenz „wie kaum bei einem zweiten Theologen“1 seiner Epoche zusammengehören, ist auch seine Beschäftigung mit dem Jüdischen und dem christlich-jüdischen Verhältnis ohne die enge Verschlingung mit seiner Zeit und Umwelt, wie auch ohne Przywaras eigenwilliger Persönlichkeit, nicht zu verstehen. Die symbolischen Orte, die für Erich Przywaras Welt und seine eigene existenzielle Verortung stehen, sowie die Koordinaten seines Denkens seien nun skizziert.

1.1 Welt der Brüche und Gegensätze

1.1.1 Gegensätzliche Geburtserde

Dem oberschlesischen Industriebezirk, in dem „alle Gegensätze sich schnitten“2, verdankte Erich Przywara seine erste und damit für die weitere Entwicklung grundlegende Formung. Am 12. Oktober 1889 in Kattowitz geboren, wurde Przywara von Kindesbeinen an mit einer Stadt konfrontiert, die symptomatisch für die Gegensätze und Widersprüche seiner Epoche stehen kann. Im Zuge der rasanten Industrialisierung Oberschlesiens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg Kattowitz binnen weniger Jahrzehnte vom Dorf zum Zentrum des oberschlesischen Industriebezirks auf. Es war keine organisch gewachsene Einheit, sondern eine im Geist des Positivismus künstlich angelegte Stadt. „Es war darum eigentlich nicht ‚Erde‘, sondern Kohlen-Halden-Boden“, auf dem ein kalt nüchterner „Realismus von Grube, Fabrik, Handelskontor“ 3 herrschten. Den Geist dieser Entwicklung bekam Erich Przywara aus nächster Nähe zu spüren, da der Alltag in seinem Elternhaus dem Geschäft des Vaters, eines begabten und leidenschaftlichen Kaufmanns, gänzlich untergeordnet4 und somit durch „das rechnerisch Nüchterne der Atmosphäre von Kattowitz“5 zutiefst geprägt wurde.

Umgeben wurde diese Stätte eines entzauberten Realismus und harter Arbeitsbedingungen von tiefen, vom großen schlesischen Romantiker Joseph von Eichendorff besungenen, Wäldern, in derer unendlichen Weite Przywara aufatmen und eine ganz andere Welt erleben konnte: „Unendlichkeit, Wildnis, Zauber, Nacht“6. Das ist also der erste Gegensatz, dem Przywara ins Gesicht schaut: „So stark das Abgründig-Nächtige echter Romantik im Oberschlesien der Wälder lebt, ebenso stark wirkt ein schroffer rationalistisch nüchterner Technizismus im Oberschlesien der Hütten und Gruben“7. In Przywaras Welt stehen sich die Gegensätze in ihrer reinen Form gegenüber und es fehlt zwischen ihnen an einer vermittelnden und abmildernden Instanz.

Es ist eine unruhige Welt. Der rasante Fortschritt machte das bis hinein ins 19. Jahrhundert industriell zurück gebliebene Deutschland binnen einiger Jahrzehnte zu einer der führenden kapitalistischen Weltwirtschaften. Wie G. Aly beschreibt, verlief dieser Prozess jedoch „in immer rasanteren, den meisten Deutschen zu harten, zu schnellen Rhythmen“8, was sich in sozialen, tief in das Bevölkerungsgewebe und kollektive Bewusstsein reichenden Verunsicherungen und Spannungen auswirkte. Die Modernisierungsschübe überschlugen sich mit ökonomischen und politischen Krisen, denen sich viele Menschen wehrlos ausgeliefert fühlten.

Przywara ist Kind seiner Zeit, deren Grundgefühl im Existenzialismus ihren Ausdruck fand. Alles ist im Fluss, der Mensch bebt von Unruhe. Hoffnung und Angst, Fortschrittsenthusiasmus und Resignation geben sich die Klinke. Das Sein überhaupt wird durch seine Nichtidentität, nicht durch Seinsgewissheit, definiert. Die beruhigten, statischen Strukturen des anthropozentrischen Idealismus entlarvten sich spätestens im Zuge des I. Weltkriegs als nicht tragfähig. Die Unruhe ist das Welterlebnis, von der her Przywara das Ganze betrachtet. Er nimmt sie ernst und diskreditiert sie nicht, als ob sie nur eine Art Störung wäre. Die Unruhe ist bedrohlich, aber sie offenbart etwas Wesentliches.

Johann Wolfgang Goethe, der Schlesien 1790 bereiste, nannte es ein „zehnfach interessante[s] Land“ und „Brückenlandschaft“ zwischen West- und Osteuropa9. Przywaras Familienhaus illustriert diese Begegnung und das Miteinander, da sein Vater aus einer polnischen Bauernfamilie, seine Mutter hingegen aus einer deutschen Beamtenfamilie aus Neiße stammte. Der Oberschlesier, schreibt Przywara, „spürt immer gleichzeitig die Gegenseite im eigenen Blut“10, was ihn vor Einseitigkeit hütet, und zur „Brücke“ werden lässt, vorausgesetzt „er erkennt und anerkennt seine Aufgabe“11. Die Suche nach der Geisteseinheit zwischen Ost und West begleitet ihn lebenslang als die Herausforderung der Gegenwart schlechthin und wird ihm zur Chiffre der Einheit vor allem im Kontext seiner Begegnung mit dem Judentum.

Auch hier handelt es sich aber nicht um ein harmonisches Miteinander der Ethnien und Kulturen, sondern um einen angespannten Gegensatz. Als Przywara in Kattowitz aufwächst, liegt die Stadt in der Nähe des ‚Dreikaiserecks‘, zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Rußland. Die drei aneinandergrenzenden Kaiserreiche schließen sich auf dem Wiener Kongress in der ‚Heiligen Allianz‘ als Garanten „eines einzigen Abendlandes“ zusammen, um „hierdurch sowohl die Gefahr aus Asien wie die Gefahr aus dem Westen bannen zu können“12. Diese politische Ordnung auf der Basis monarchischer Legalität hat Mitteleuropa für ca. 100 Jahre relativen Frieden beschert, was jedoch auf Kosten national-staatlicher und demokratischer Bestrebungen erfolgte. Nun brechen die nationalen und ideologischen Gegensätze umso heftiger auf.

Wenige Jahre danach, als Przywara seine Heimatstadt verlassen hat, zerbricht diese Allianz endgültig. Nach dem I. Weltkrieg wurde Oberschlesien geteilt und Kattowitz dem wiedergegründeten polnischen Staat zugeschlagen. So traten auch viele nationale Anfeindungen zu Tage. In dieser Periode besuchte Przywara seine Heimatstadt, um 1920 seine Primizmesse zu feiern und einen Vortrag für den dortigen Männerverein zu halten. In einem handschriftlich gefertigten Verzeichnis aller seiner Vorträge bis 1938 steht der am 29. November 1920 geplante Vortrag über „Die katholische Geistesbewegung in Deutschland seit Beginn des Weltkrieges“ zu Beginn der langen Liste. Daneben wird angemerkt: „nicht gehalten, da der Saal abbrannte (Brandstiftung polnischer Insurgenten)“13. Dieser Einstieg in die Vortragstätigkeit in Przywaras Heimatstadt mag symbolisch gesehen werden: in der Zerrissenheit zwischen den benachbarten Völkern, im brodelnden Chaos nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung, im Trauma des verlorenen Krieges.

Auch Ereignisse um Kattowitz in den drauffolgenden Jahren sind bezeichnend für die Welt, in der Przywara lebte. Unweit von seiner Heimatstadt wurde mit dem fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz der Paukenschlag für den Ausbruch des II. Weltkrieges gegeben. Nach dem Krieg blieb Kattowitz hinter dem Eisernen Vorhang, um 1953–56 sogar Stalinogród zu heißen. Ca. 30 km von Kattowitz entfernt liegt noch eine andere Stadt, die wie keine andere für das Dunkle des 20. Jahrhunderts steht: Auschwitz.

Diese Erde, die Przywara in seinen Kindes- und Jugendjahren geformt hatte, versank im Chaos des Weltgeschehens. Mit ihr versank aber auch ein weltanschauliches, philosophisches und politisch-gesellschaftliches Projekt. Der I. Weltkrieg zeigte, dass der „Kohlen-Halden-Boden“ am Dreikaisereck des ausgehenden 19. Jahrhunderts nur eine dünne Erdkruste der Technik und der Politik war, unter der die „versöhnten Gegensätze ein wahrhaft chthonisches Chaos blieben, das als sein Symbol Rauch und Feuer und Aschenstaub der Gruben- und Hüttenlandschaft emportrieb“14. Mit der Weimarer Zeit beginnt das Ringen um Strukturen in politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen, um letztendlich in die nächste Katastrophe zu münden. Für Przywara ist Oberschlesien ein symbolischer Zugang zur Welt, wie sie wirklich ist. Über das Erlebnis des I. Weltkrieges schreibt er:

„Das aber ist das eigentliche fruchtbare Erlebnis der Kriegsjahre, daß diese vergötterte Welt auseinanderflog in Fetzen, daß diese ganze Menschheit, in die man Gott verengt und vermenschlicht hatte, sich zeigte als ein Raubgesindel, daß diese ganze Schöpfung sich zeigt als ein Vulkan. Das ganze Kriegserlebnis war letztlich: daß wir erwachten, und jenes Erlebnis von der Welt hatten, wie sie Augustinus uns zeichnet: diese Welt ‚ist‘ eigentlich gar nicht.“15.

Diese Welt gibt es nur als eine Spannungseinheit. Da wo Entzweiung herrscht, müssen die Bezogenheiten und Verhältnisse neu durchdacht werden. Przywara scheint jede feste Form der Einheit von Gegensätzen suspekt utopisch, trügerisch und somit letztendlich gefährlich. Er warnt unablässig vor oberflächlichen und starren Konstrukten einer Einheit der real existierenden Gegensätze. Vielmehr will Przywara alle Konstrukte zerlegen und in das Chthonische der Gegensätze hinabsteigen, um den Ernst der Frage nach einer Einheit in der Welt, wie sie wirklich ist, vor Augen zu führen.

Dies ist seine irdische Heimat, die eigentlich Heimatlosigkeit bedeutet16, da im Oberschlesier Przywara der Geist des Ostens und der Geist des Westens nicht als geformte Einheit, sondern als gegensätzliche Dynamik da sind, was eine gewachsene Formung und eine kulturelle Identifikation erschwert. Selbststilisierend bezeichnet sich Przywara sogar als „Zigeuner“17, der das musikantische Umherziehen auf den Straßen zwischen Völkern und Kulturen im Blut haben will. Die Welt der vielen Verhältnisse ereignet sich, in dem sie gespielt wird.

Przywaras Erde ist, geographisch aber auch ideell, ein Land am Rande des Deutschen Reiches, das sich zunehmend durch den Begriff der Nation zu definieren sucht18. Die nationale Identität in Schlesien war oft unscharf und schwer definierbar, nicht selten eine Sache der persönlichen Entscheidung. Erich Przywara verschreibt sich eindeutig der deutschen kulturellen Identität, die ihm ein Wert an sich ist. Er muss sich beweisen und eine Hingabe vollziehen. „Der ‚Oberschlesier‘ in mir […] ging […] endgültig unter und ein in den ‚Deutschen‘ des klassischen ‚Reich‘[sic!]“19, wird er einmal rückblickend an Reinhold Schneider schreiben. Przywaras Welt ist ein Verhältnis zwischen Gegensätzen, die zwar unzertrennlich, aber nicht partnerschaftlich aneinander gebunden sind. Sie sind so nah und doch so fremd und anders20. Er mahnt, dass „der abendländische Mensch beständig an der Grenze steht, an der Grenze, die eine flammende ist“21. Die Frage nach dem christlich-jüdischen Verhältnis stellt Przywara also in einer Welt, die nur im dynamischen, konfliktbeladenen Verhältnis ihrer Gegensätze gegeben ist.

1.1.2 Gesellschaft Jesu zwischen Kirche und Welt

Im Jahre 1908, unmittelbar nach dem Abitur, verließ Erich Przywara seine Heimatstadt, um in Berlin um Aufnahme in die Gesellschaft Jesu zu bitten. Über diesen Schritt und seine Konsequenzen schreibt K.H. Neufeld: „Przywara blieb ein Mann sui generis, wenngleich das nicht allein an seiner eigenwilligen Person hängt, sondern auch Folge der Zuordnung war, für die er sich selbst entschied, als er sich der vom Kulturkampf verfolgten deutschen Gesellschaft Jesu anschloß“22.

Die intensive Beschäftigung mit der ignatianischen Spiritualität in den ersten Jahren des Ordenslebens verlieh Przywara eine für die weitere Entwicklung entscheidende religiöse und intellektuelle Formung und wurde zu jener „Quelle, aus der alle spätere Fruchtbarkeit strömte“23. Für den späteren Werdegang Przywaras scheint vor allem der Dynamismus und Aktivismus des ignatianischen Dienstes ad maiorem Dei gloriam ausschlaggebend zu sein. Diese Grundausrichtung des Jesuiten, dem jede „religiöse Heimatlichkeit“ und „religiöse Familie“ verweigert ist, da sein Beruf darin besteht, „verschiedene Orte zu durchwandern und [sein] Leben in jedem Lande der Welt zuzubringen“24, um Gottes Ehre zu vermehren, drückt sich nicht nur in Przywaras zahlreichen Aktivitäten der ersten Periode seines Wirkens aus, sondern noch mehr in seiner geistigen Bewegtheit in der Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Welt. Das Ignatianische bietet keine verklärte Rückzugszone aus der Welt25, sondern bedeutet Sendung in die Welt, um „Gott zu suchen in allen Dingen“. Der jesuitische Impetus ist die „Auskehr“ aus sakralen Räumen und Mitvollzug der Preisgabe Gottes an die nüchtern realistisch gesehene Welt26. So wie die oberschlesische Heimat hauptsächlich Sendung und Aufgabe ist, „auf sich zu Gunsten des Überparteilichen (und Übervölkischen)“ zu verzichten, „um nur ‚Brücke‘ zu sein“27, so ist der Jesuit im Einklang mit dem Geheimnis der Menschwerdung in die Erde der Gegensätze hineingesandt, um Brücke zwischen Himmel und Erde zu sein: „Christus als das ‚In-Eins von Himmel und Erde‘: nicht die immer größere Abtrennung des Himmels der Verklärung gegen die unverklärte Brutalität der Erde, sondern gerade die immer größere Aufnahme unvermischt echter Erde zum Himmel, unvermischt echten Menschentums zu Gott“28.

Przywaras Werdegang im Jesuitenorden ist aufs Engste mit der Situation des deutschen Katholizismus verbunden, für den die deutsche Niederlage im I. Weltkrieg eine schöpferische Katastrophe zu sein schien. Die „Spannung zwischen einem vom Krieg erschütterten Dasein und notwendiger Sinndeutung“29 führte zu vielen Aufbrüchen im deutschen Geistesleben, zu denen auch ein katholischer Aufbruch zählte. Bismarcks Kulturkampf verzögerte die gesellschaftliche Integration der Katholiken im Kaiserreich und erzeugte bei den katholischen Milieus eine generelle Abwehrhaltung gegen die Einflüsse der Außenwelt. Der Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung bewirkte aber, dass, wie Przywara schreibt, „die Schöpferkraft und die Lebenskraft unseres deutschen Katholizismus in einem Maße entbunden ist, wie es die Vorkriegsjahre nicht ahnen ließen“30. Der Katholizismus schien „auf einmal aus seinem Aschenbrödel-Dasein“ rauszukommen und zur „letzte[n] Mode‘“31 zu werden. „Katholizismus war auf einmal das Schöpferische in dieser erschütterten Welt. Vier Jahrhunderte schienen versunken wie ein böser Traum. Die ‚katholische Lebensform‘ leuchtet auf einmal wie als die allein mögliche“32.

Przywara beruft sich auf den Eindruck einer „katholischen Wende“ im deutschen Geistesleben. Diese Jahre um den I. Weltkrieg sind Zeugen von ‚prominenten‘ Konversionen einiger Vertreter der Kultur und Wissenschaft, wie Hugo Ball, Edith Stein und – was den größten Einfluss auf das neue katholische Bewusstsein ausübte – Max Scheler. In dieselbe Periode fallen auch Entstehungen von innerkatholischen Erneuerungsbewegungen wie die Liturgische Bewegung und die Jugendbewegung. In Anlehnung an das famose, die Atmosphäre der Jahre wiedergebende Wort Guardinis, schreibt Przywara: „Guardini sprach vom ‚Erwachen der Kirche in den Seelen‘. Man könnte noch schärfer sagen ‚Erwachen der Seelen zur Kirche‘“33.

Przywara sieht seine Aufgabe darin, diesen Aufbruch kritisch zu begleiten. Der so lange marginalisierte deutsche Katholizismus muss sich erst als schöpferische Kraft bewähren, über seinen Minderwertigkeitskomplex, sein „Pariabewußtsein“34, hinwegkommen und den notwendigen Selbstfindungsprozess durchmachen. Statt aus dem Geist der wahren Katholizität zu schöpfen, meinten die Katholiken allzu oft, sich dem Zeitgeist angleichen zu müssen, um sich Geltung zu verschaffen. Oder die Haltung schlug um in einen reinen Protest gegen die zeitgenössische Kultur, um aber auch auf diesem Weg von ihr gänzlich abzuhängen.

Mit der Zeit werden Przywaras Töne immer nüchterner, da die nicht ausgestandenen Probleme und Spannungen, die die Kirche vor dem Krieg erschütterten, sich unter der Decke der Euphorie auf bedenkliche Weise auszuwirken beginnen, um zur Krise zu führen. Die Kirche, statt die vielbeschworene schöpferische Kraft im Aufbau einer neuen Kultur und Gesellschaft zu sein, verzettelt sich im Kampf um Selbsterhaltung. Die Debatten münden nicht in einer wachsenden Einheit in Vielfalt, sondern in Zerreißung. Die größte Hoffnung des Nachkriegskatholizismus, Max Scheler, distanziert sich von den eindeutig katholischen Positionen und wird zum Abgefallenen. Der vielgelesene Theologe Joseph Wittig wurde wegen seiner modernistischen Ideen exkommuniziert.

Auch Przywara persönlich leidet unter der Zerrissenheit, die bis in seinen Orden hineinreicht, der, im Kulturkampf bekämpft, lange Zeit als die Speerspitze des Ultramontanismus galt. Als die antikirchlichen Gesetze nach dem I. Weltkrieg gänzlich aufgehoben wurden und die Jesuiten in Deutschland ganz Fuß fassen konnten, begann die alles andere als reibungslos verlaufende Neuausrichtung, die einerseits mit der neuen gesellschaftlichen Stellung in Deutschland, andererseits mit der gesamtkirchlichen Situation zurecht kommen musste. Galt für Przywara „das geistige Spanien“ des hl. Ignatius als „Aug in Aug“ zur Reformation, dem verhängnisvollen Riss im Abendland35, so mündete zu Beginn des 20. Jahrhunderts die lange Epoche des Pontifikats Pius X. „in den vielleicht gefährlichsten Riß innerhalb der Kirche: den Riß zwischen Modernismus und Integralismus“36. Die Situation der Zeitschrift „Die Stimmen der Zeit“, bei der Przywara bis 1941 einer der Redakteure war, mag für die Problematik der Situation der Kirche in der modernen Welt symptomatisch stehen37.

Die 1871 als „Stimmen aus Maria Laach“ gegründete Zeitschrift verfolgte im Wilhelminischen Reich eine klare ultramontane und antimodernistische Linie. Vielen Jesuiten der Weimarer Zeit wurde jedoch klar, dass die neue, viel differenziertere gesellschaftliche und geistige Lage, in der sich die Kirche nun befand, sowie die tatsächlichen Fragen, die einerseits die Moderne, andererseits aber auch der Modernismus aufgeworfen hatten, eine Neuorientierung erforderten. Die kirchliche Fixierung auf den antimodernistischen Kampf hatte eine Ghettoisierung und Abwehrhaltung zur Folge, die die Kirche unfähig machten, auf die tatsächlichen Herausforderungen geistigintellektueller Natur zu reagieren. So wollten die für die „Stimmen der Zeit“ Verantwortlichen, gemäß dem ignatianischen Ideal einer klugen Unterscheidung der Geister, „weder Modernisten sein, noch sich auf das Programm des Thomismus der 24 Thesen aus den letzten Jahren Papst Pius‘ X. festlegen lassen“38. Sie versuchten die Verhärtung zwischen den Extremen zu überwinden und einen Mittelweg zu gehen, um so eine fruchtbare Kontroverse mit der modernen Welt zu suchen und sich in der Gesellschaft positiv einzubringen.

In einigen klerikalen Kreisen erhoben sich allerdings Stimmen der Unzufriedenheit, dass die Zeitschrift mehr problematisiert, „als katholische Sicherheit und Klarheit vermittelt, wie man es von ihnen erwarte und von früher gewohnt sei“39. Ins Visier des Generals des Jesuitenordens Włodzimierz Ledóchowski gerieten unter anderem Przywaras Ansichten über Max Scheler. Nach Konsultationen mit Theologen ließ er seine Meinung wissen, „Przywara versuche Scheler gewaltsam zu retten und verteidige auf diese Weise gefährliche und objektiv falsche Positionen. Er wundere sich, wie diese Zeitschrift durch die Zensur gegangen sei“40. Der Provinzial Augustin Bea antwortete dem General, dass der Nuntius Eugenio Pacelli „ihm gegenüber in den höchsten Tönen von Przywara gesprochen habe: Er habe alle seine Werke gelesen und sei sehr einverstanden mit der Weise, wie Przywara mit den Gegnern umgehe“. Bea will Przywara aber auch mündlich ermahnt haben, „seinen ‚pruritus scribendi‘ (‚Schreib-Juckreiz‘) zu zügeln“41. Nichtsdestotrotz forderte der Ordensgeneral einige Jahre später einen speziellen Zensor für Przywara, der dieser Aufgabe „eher zu streng als zu milde“42 nachzugehen hatte.

Przywara kam mit dieser Art des Umgangs überhaupt nicht zurecht. Er sah sich „einmal zwischen zwei Stühlen: In Deutschland gelte er als ‚römisch‘, da er als einer der ersten gegen Wittig Stellung bezogen habe, in Rom sei er aber jetzt plötzlich nicht mehr orthodox“43