17,99 €
Toxische Beziehungsmuster: wie wir uns von ihnen lösen oder aber lernen, mit ihnen zu leben. Erklärt von der US-Psychologin und Narzissmus-Expertin Dr. Ramani Durvasula. Narzisst*innen sind nicht immer leicht zu erkennen. Oft sind sie charismatisch und mitreißend - um dann im nächsten Moment andere abzuwerten, zu manipulieren und ihnen das Gefühl zu geben, selbst daran schuld zu sein. Der erste Schritt, um sich vor solch toxischen Beziehungsmustern - sei es in der Partnerschaft, der Familie, am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis - zu schützen: nicht länger darüber nachzudenken, ob man sich selbst anders hätte verhalten können. Tools für einen gesunden Umgang mit Narzissten Dr. Ramani Durvasula, Psychologin und Narzissmus-Expertin, erklärt in diesem Buch, wie Narzisst*innen das Selbstwertgefühl ihrer Opfer untergraben und was vor ihren krankmachenden Einflüssen schützt. Dabei verrät sie, wie es gelingt, sich gegen Gaslighting zu wehren, gesunde Grenzen zu setzen und sich von den Auswirkungen narzisstischer Beziehungen zu erholen. Ein mutmachendes Buch für alle, die sich endlich aus narzisstischen Beziehungen lösen und sich von dem Gedanken befreien wollen, selbst schuld zu sein an dem, was ihnen widerfahren ist.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 453
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ramani Durvasula
Narzissmus durchschauen und in toxischen Beziehungen für sich einstehen
Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Liebl
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Narzisst*innen sind nicht immer leicht zu erkennen, aber sie sind überall: am Arbeitsplatz, im Freundeskreis, in Familien und Partnerschaften, im Sportverein. Nicht immer ist es möglich, ihnen zu entkommen und toxische Beziehungen zu beenden. Ramani Durvasula, Psychologin und Narzissmus-Expertin, erklärt, was vor krankmachenden Folgen solcher Erfahrungen schützt. Dabei verrät sie, wie es gelingt, sich erfolgreich aus narzisstischen Beziehungen zu befreien oder aber zu lernen, gesunde Grenzen zu setzen und sich von ihren Auswirkungen zu erholen. Denn die Schuld liegt nie bei den Opfern!
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Widmung
Motto
Vorwort
Einführung: Wie sind wir an diesen Punkt gekommen?
Die narzisstische Beziehung
1 Narzissmus klären
Was ist Narzissmus?
Das Kontinuum des Narzissmus
Die verschiedenen Typen von Narzissmus
Der Kampf um die Begriffe »Narzissmus« versus »narzisstische Persönlichkeitsstörung«
Narzissmus-Mythen
Gesundheitliche Probleme, die sich mit Narzissmus überschneiden
2 Ein Tod durch tausend Schnitte: die narzisstische Beziehung
Was ist narzisstischer Missbrauch?
Der narzisstische Beziehungszyklus
Die »Liebesbombe«: ein Lügenmärchen
Traumabindungen: die gefährliche Unterströmung der narzisstischen Beziehung
3 Der Fallout: die Folgen narzisstischen Missbrauchs
Was macht narzisstischer Missbrauch mit uns?
Das Gedankenkarussell
Selbstvorwürfe
Scham
Verwirrung
Verzweiflung
Wie Sie sich selbst in der Welt erleben
Psychische Herausforderungen für Menschen, die narzisstischen Missbrauch erleben
Kann narzisstischer Missbrauch Sie körperlich krank machen?
Erkennen, wiederherstellen, heilen und wachsen
4 Wie Sie Ihre Vorgeschichte verstehen lernen
Was macht uns anfällig?
Das narzisstische Familiensystem
Wie Sie Ihre Vorgeschichte verstehen können
5 Radikale Akzeptanz
Die Kraft der radikalen Akzeptanz
Radikale Akzeptanz ist das Tor zur Heilung
Hindernisse auf dem Weg zur radikalen Akzeptanz
Radikale Akzeptanz, wenn Sie bleiben
Radikale Akzeptanz, wenn Sie gehen
Wirf deinen Regenschirm nicht weg: Was sind realistische Erwartungen an eine narzisstische Beziehung?
Instrumente zur Förderung radikaler Akzeptanz
Radikale Akzeptanz für Sie selbst
6 Trauer und Heilung von narzisstischen Beziehungen
Trauer nach narzisstischem Missbrauch
Wie Sie mit Ihrer Trauer fertigwerden
7 Wie Sie resistenter gegen Narzissmus werden
Wie sieht Resistenz gegen Narzissmus aus?
Wie Sie resistent gegen Gaslighting werden
Ihr innerer Kritiker will Ihnen etwas sagen
Ein Einblick in Ihr sympathisches Nervensystem
Wie kann ich jemandem helfen, der unter narzisstischem Missbrauch leidet?
Wie Sie Resistenz aufbauen
8 Wie Sie heil werden und wachsen, wenn Sie bleiben
Hören Sie auf, sich für das Bleiben zu schämen
Was die Heilung verhindert
Was macht das Bleiben mit mir – und was kann ich dagegen tun?
Wie können Sie bleiben?
9 Schreiben Sie Ihre Geschichte neu
Die Geschichte vom Löwen
Nehmen Sie Ihr Narrativ unter die Lupe
Das trügerische Gefühl der Vergebung
Vom Überleben zum Aufblühen
Wie aber endet die Geschichte, wenn es keinen Abschluss gibt?
Was Heilung und Wiederherstellung fördert
Das Schneeballsystem des Glücks
Wie sieht Ihr heldenhafter Weg zum Überleben aus?
Schlusswort
Danksagung
Wichtige Adressen
Für meine Mutter Sai Kumari Durvasula – und ihre Geschichte, die sich noch entfalten wird
Im Gedenken an meine Urgroßmutter Gunupudi Venkamma und alle Großmütter vor ihr
Für all jene, die emotional gewalttätige Beziehungen überlebt haben
Finde unter Tränen das versteckte Lachen.
Suche in den Ruinen nach Schätzen, o du Aufrichtige/-r.
Rumi
Jeder Verrat hat diesen einen vollkommenen Augenblick, eine Münze mit Kopf oder Zahl, deren andere Seite die Rettung ist.
Barbara Kingsolver
Es war einmal ein achtjähriges Mädchen, das saß auf dem Boden einer brechend vollen Cafeteria in einer Grundschule in New England und schaute der Vorführung zu, die Zirkusleute aus New York darboten. Das war in den 1970ern, also lange Zeit vor jeglicher Form von kultureller Sensibilität, und das kleine Mädchen mit dem fremdartigen Namen, der braunen Haut und den zwei streng geflochtenen Zöpfen hatte sich selbst beigebracht, unsichtbar zu sein. Die Zirkusleute wählten aus der Kinderschar ihre Mitspieler aus. Ein Junge war ein Elefant, ein Mädchen assistierte dem Jongleur, und der Junge, der am meisten Glück hatte, wurde Zirkusdirektor.
Schließlich hielten die Zirkusleute ein Gewand empor, aus Satin, in dunklem Purpur, mit Rüschen und Pailletten. Die Mädchen fielen fast in Ohnmacht, auch die Kleine mit den Zöpfen. Alle Mädchen meldeten sich ungestüm, nur die Kleine mit den Zöpfen nicht. »Nimm mich, bitte, BITTE, nimm mich«, quietschten sie. »Woher nehmen die nur den Mut?«, dachte das Mädchen mit den Zöpfen. »Warum haben sie gar keine Angst?« Doch der Chef der Truppe achtete nicht auf die anderen Mädchen und pickte ausgerechnet die Kleine mit den Zöpfen heraus. Das Kind zitterte und ließ den Kopf hängen. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie leise sagte: »Nein, danke, Sir.« Der Mann sah sie an und fragte mit sanfter Stimme: »Bist du sicher?« Und das Mädchen nickte still. Das Mädchen neben ihr packte die Gelegenheit beim Schopf und trug das Kostüm voller Stolz. Der Mann fragte das Kind mit den Zöpfen, wo sie denn gerne mitspielen würde. In das Pferdekostüm würde sie gern schlüpfen, sagte sie, wo niemand sie sehen konnte. Sie dachte dann noch jahrelang darüber nach, wie es wohl gewesen wäre, dieses wunderbare Paillettenkostüm zu tragen. Aber an jenem Tag hatte sie so viel Angst vor dem Spott der anderen … und davor, gesehen zu werden.
Von Geburt an hatte sie die Botschaft verinnerlicht, dass ihre Wünsche, Träume und Bedürfnisse es nicht wert waren, gesehen zu werden, und dass sie nie genug war. Schon die Träume ihrer gütigen, mitfühlenden Mutter waren durchkreuzt und totgeschwiegen worden, und das Mädchen hatte das Gefühl, dass auch sie kein Recht auf dergleichen hätte.
Bis sich das änderte.
Ich habe vielleicht immer noch kein fantastisches purpurfarbenes Kleid mit Pailletten. Aber ich weiß mittlerweile, dass wir uns aus den Geschichten narzisstischer Menschen lösen können, die uns definiert, uns totgeschwiegen, uns die Flügel gestutzt und unsere Träume als Flausen abgetan haben. Die uns mit Scham erfüllten und uns eine Zeit lang jede Freude geraubt haben. Dass wir Geschichten von Liebe, Erfolg und Glück leben können und trotzdem verstehen, dass es weiterhin dunkle Nächte der Seele geben wird und der Schatten des Selbstzweifels uns ein treuer Begleiter bleibt. Und wir können dies weitergeben und den Menschen zeigen, dass das, was sie erlebt haben, real war und sie durchaus genug sind. Ich jedenfalls habe es so gemacht, und ich sehe Tag für Tag Menschen, die dasselbe tun. Wir können die generationenübergreifenden Zyklen von Herabwürdigung, Erniedrigung und psychologischer Selbstverletzung durchbrechen. Diese Geschichten müssen erzählt werden.
Ich weiß immer noch nicht, ob ich heute den Mut hätte, nach dem Flitterkleid zu greifen, aber ich stelle mir gerne vor, dass das kleine Mädchen mit den Zöpfen und den großen braunen Augen und diesem Namen, den niemand aussprechen konnte, es am Ende doch geschafft hat.
Und aus meinem vollen Kleinmädchenherzen kann ich nur sagen: Ich weiß, dass das auch für euch gilt!
Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer.
Stillschweigen bestärkt den Peiniger, niemals den Gepeinigten.
Elie Wiesel
Carolina hat zwei Kinder und wurde während ihrer zwanzigjährigen Ehe von ihrem Ehemann mehrfach betrogen, selbst mit Freundinnen und Nachbarinnen. Nachdem er das mehrmals abgestritten und sie seinen Zorn wegen ihrer »grundlosen Anschuldigungen« zu spüren bekommen hatte, warf er ihr vor, sie sei selbst schuld an den Affären, weil sie ihm das Gefühl gebe, nicht wichtig zu sein. Sie steckte beruflich zurück, damit er sich »sicher« fühlen konnte. Nun hadert sie damit, dass sie das, was sie für das schöne Leben hielt, und die Familie, die sie aufgebaut haben, nicht haben kann, und meint, nicht genug zu sein. Und sie glaubt, dass sie ihn und die Situation falsch verstanden hat. Es bricht ihr das Herz, wenn er sie kritisiert und ihr Vertrauen missbraucht. Carolina konnte das alles einfach nicht begreifen. Ihre Eltern waren fünfundvierzig Jahre lang glücklich verheiratet, bis ihr Vater starb. Sie glaubte an die Familie, und jetzt, da sie vor der Scheidung steht, hat sie das Gefühl, versagt zu haben. Sie hatte auch regelmäßige Panikanfälle und lähmende Angstzustände. Manchmal hofft sie immer noch auf eine Versöhnung.
Nataliya war fünfzig Jahre lang mit einem Mann verheiratet, der ihr vorhielt, es sei »lächerlich« von ihr, so viel von ihm zu erwarten, als sie an Krebs erkrankte. Er sagte, jetzt von ihm zu verlangen, Mitgefühl zu zeigen und seinen vollen Terminkalender umzukrempeln, um sie nach der Chemotherapie abzuholen, sei »störend« und würde seinen Tagesablauf durcheinanderbringen. In den Jahren nach der Krebsbehandlung hatte sie Neuropathien entwickelt, die ihr das Gehen schwer machten. Ihr Mann aber beschämte sie deswegen und nannte sie die »Kaiserin«, als sie ihn einmal bat, sie mit dem Wagen ins Restaurant zu fahren, damit sie nicht in einer kalten Nacht die fünf Blocks zu Fuß gehen musste. Nun haben die beiden aber erwachsene Kinder und Enkelkinder, und ihr Leben ist ausgefüllt mit Reisen und Familienbesuchen. Nataliya will nicht diejenige sein, die einen Lebensstil, den alle genießen, plötzlich unmöglich macht, und sie räumt ein, dass sie die Gesellschaft ihres Mannes an mehr als nur ein paar Tagen genießt – sie haben immer noch ein passables Sexleben und eine gemeinsame Geschichte. Obwohl Nataliya Medizin und Jura studiert hat, behandelt ihr Mann sie, als wäre sie seine persönliche Assistentin. Sie kämpft mit chronischen gesundheitlichen Schwierigkeiten, mit Scham und Selbstkritik. Und sie ist von allen Menschen isoliert, die nicht zur engeren Familie gehören.
Seit Rafael ein Kind war, hält sein Vater ihm den Bruder als Beispiel vor, wobei Rafael regelmäßig schlecht abschneidet. Rafael lebt mit der Fantasievorstellung, dass er endlich Anerkennung finden wird, wenn er genug Geld verdient. Sein Vater jedoch sieht in ihm einen Schwächling und berichtet ihm voller Häme von den jüngsten Erfolgen seines Bruders (Rafael selbst hat sich von seinem Bruder distanziert). Außerdem hat der Vater Rafaels Mutter emotional missbraucht, was diese psychisch extrem belastet und – wie Rafael glaubt – zu ihrem frühen Tod beigetragen hat. Rafael weiß, dass sein Großvater mit seinem Vater genauso grob umgegangen ist – kulturell war das einfach so. Rafael gesteht den beiden auch zu, dass sie selbst lebenslang unter rassistischen Vorurteilen gelitten haben. Rafael hat bisher keine enge Beziehung aufrechterhalten können und sagt sich immer wieder: »Wenn ich Dad von meinen Erfolgen überzeugen kann, dann kommt alles in Ordnung. Dann kann ich mit dem Rest meines Lebens anfangen.« Rafael arbeitet rund um die Uhr, stützt sich dabei auf einen Cocktail aus Drogen und Arzneimitteln, damit er schlafen kann und durch den Tag kommt. Er trifft sich nur selten mit Leuten, sehnt sich aber nach sozialen Kontakten. Andererseits meint er, es sei eine Form von »Zügellosigkeit«, sich freizunehmen oder mit Bekannten wegzugehen, wenn dann so viel Arbeit liegen bleibt.
Gehen wir mal davon aus, dies sei ein hypothetischer Tag in meiner Praxis. Nachdem ich über die Jahre genug solcher Geschichten gehört hatte, bestand für mich kein Zweifel daran: Eltern wie die von Rafael würden ihre Kinder immer herabsetzen. Und Partner wie die von Carolina und Nataliya würden den Frauen immer Vorwürfe machen. Doch würde es Rafael, Carolina und Nataliya nichts helfen, wenn ich ihnen gleich zum Einstieg erklärte, dass die Menschen in ihrem Leben ihr schädigendes Verhalten nicht abstellen werden. Stattdessen ging es in unserer gemeinsamen Arbeit erst darum, aufzuzeigen, welches Verhalten akzeptabel ist und welches nicht und worum es in gesunden Beziehungen geht. Gleichzeitig schufen wir einen sicheren Raum, in dem sie ihre Gefühle erkunden, diese Beziehungen untersuchen und zu ihrem wahren Selbst finden konnten. Wir mussten klären, was sie verwirrte, und herausfinden, warum sie sich schuldig fühlten, obwohl sie nichts falsch gemacht hatten. Als Therapeutin wäre es für mich einfacher gewesen, in der Therapie nur auf die Angstzustände, gesundheitlichen Probleme und Depressionen, auf die Gefühle von Verwirrung, Unzufriedenheit, Frustration und Hilflosigkeit sowie auf die soziale Isolation und die Tendenz zum suchthaften Arbeiten einzugehen und den Kontext außen vor zu lassen. Genau das lernen wir Therapeuten ja auch: uns auf die nichtadaptiven Verhaltensmuster unserer Klienten zu konzentrieren und nicht auf das, was um sie herum vorgeht.
Nur gab es eben noch eine weitere Auffälligkeit. Woche für Woche erlebten meine Klienten, wie ihre Panik oder ihre Traurigkeit stärker oder schwächer wurde, entsprechend den Verhaltensmustern innerhalb ihrer Beziehungen. Schnell stellte sich heraus, dass die Beziehungen das Pferd waren und die Angstzustände, die sie in die Therapie gebracht hatten, der Wagen, den es zog. Ich war verblüfft, wie ähnlich sich die Geschichten so vieler Klienten waren, trotz aller Unterschiede in Biografie und Persönlichkeit. Eine Konstante allerdings zog sich durch: Sie alle fühlten sich selbst verantwortlich für ihre Situation. Sie zweifelten an sich selbst, ergingen sich in immer denselben Gedanken, empfanden Scham, waren psychisch isoliert, verwirrt und hilflos. In diesen Beziehungen zensierten sie sich immer öfter selbst. Sie wurden innerlich taub und nahmen sich extrem zurück, um nicht Kritik, Verachtung und Ärger von schwierigen Menschen in ihrem Umfeld auf sich zu ziehen. Sie versuchten, sich selbst zu ändern, in der Hoffnung, dass sich so auch ihr Gegenüber und die Beziehung verändern würden.
Und es gab noch eine weitere wichtige Gemeinsamkeit in diesen Geschichten: die Verhaltensweisen, die in den jeweiligen Beziehungen vorherrschten. Ganz egal, ob es um den Ehepartner, Eltern, andere Familienmitglieder, erwachsene Kinder, Freunde, Kolleginnen oder Chefs ging: Meine Klienten erzählten immer wieder, wie sie herabgesetzt oder gedemütigt wurden, weil sie Bedürfnisse hatten oder weil sie sie selbst waren und dies auch zeigten. Ihre Erfahrungen, Wahrnehmungen, ja die von ihnen erlebte Wirklichkeit wurde regelmäßig infrage gestellt. Und ihr Umfeld machte sie dafür verantwortlich, dass es sich so verhielt, wie es sich verhielt. Dadurch fühlten sie sich verloren und isoliert.
Doch zugleich berichteten sie alle, dass es nicht immer so schlimm sei. Dass man auch miteinander lachen konnte, guten Sex haben, angenehme Erfahrungen machen, ein schönes Abendessen genießen, gemeinsame Interessen und Erlebnisse, ja sogar Liebe erleben konnte. Gerade wenn die Situation unerträglich zu werden drohte, kam ein besserer Tag, gerade gut genug, um ihren Selbstzweifeln neue Nahrung zu liefern. Ich gab meinen Klienten, was mir selbst zur Heilung verholfen hatte – Bestätigung und Wissen. Hätte ich mich auf ihre Angstzustände konzentriert, ohne sie auf die Verhaltensmuster in ihren Beziehungen hinzuweisen, wäre das in etwa so, als würde ich versuchen, ein Motorstottern zu beheben, indem ich den Reifendruck einstellte. Und der stotternde Motor brachte uns ja immer zurück zum selben Punkt: zu narzisstischen Beziehungen.
Ein Sprichwort besagt: Solange nicht der Löwe von der Jagd erzählt, so lange wird in diesen Geschichten immer der Jäger gut dastehen. Die Person, die das Narrativ bestimmt, hat auch die Macht. Bis hierher haben wir nur die Geschichte der Jäger erzählt. Bücher über Narzissten drehen sich gewöhnlich um Narzissten. Wir sind zutiefst neugierig auf diese charmanten Menschen, die mit so viel schlechtem und verletzendem Verhalten durchkommen, ohne groß die Folgen tragen zu müssen. Wir sind gezwungen zu begreifen, warum sie offensichtlich so erfolgreich sind und warum sie tun, was sie tun. Auch wenn wir Narzissmus schrecklich finden, verherrlichen wir Menschen mit diesem Persönlichkeitsstil – denn sie sind unsere Führer, Heldinnen, Entertainer und Celebritys. Unglücklicherweise sind sie auch unsere Eltern, Partnerinnen, Freunde, Geschwister, Kinder, Chefinnen und Nachbarn.
Was aber ist mit dem Löwen? Was ist mit dem Menschen, den der Jäger hetzt und verletzt?
Der Großteil der Literatur über Narzissmus neigt dazu, den wichtigeren Teil der Geschichte zu übersehen: Was passiert mit den Leuten, die im Schatten eines Narzissten leben? Welchen Effekt haben narzisstische Persönlichkeiten und deren Verhaltensweisen auf ihre Mitmenschen? Wenn Menschen verletzt werden, bemüht man sich immer, das »Warum« zu verstehen – als würde das den Schmerz irgendwie lindern. (Tut es nicht.) Wir sind neugierig auf den Jäger und entwickeln einen beinahe obsessiven Eifer, um zu verstehen, warum diese Leute tun, was sie tun. Warum fehlt es jemandem komplett an Einfühlungsvermögen? Warum betreiben sie Gaslighting? Warum manipulieren und lügen sie so geschickt? Woher dieser Jähzorn? Aber wenn wir uns nur darauf konzentrieren, warum narzisstische Persönlichkeiten tun, was sie tun, verlieren wir die Menschen aus den Augen, die sich in sie verlieben, mit ihnen Kinder haben, von ihnen erzogen werden, mit ihnen verwandt sind, für sie beziehungsweise mit ihnen arbeiten, sich von ihnen scheiden lassen, mit ihnen zusammenwohnen, sich mit ihnen anfreunden oder Narzissten erziehen. Was passiert mit denen?
Die Antwort lautet schlicht und kurz: nichts Gutes.
Das ist ein unangenehmes Gesprächsthema. Schließlich wollen Sie ja nicht die Menschen in den Schmutz ziehen, die Sie lieben, bewundern, respektieren und schätzen. Es ist einfacher, sich selbst die Verantwortung für Ihre schwierige Beziehung zu geben oder sie dem Auf und Ab des Lebens zuzuschreiben. Einfacher jedenfalls, als sich klarzumachen, dass Sie mit vorhersagbaren, unveränderlichen und schädlichen Mustern vonseiten einer Person konfrontiert sind, die Sie lieben und respektieren. Als Psychologin, die mit Hunderten Überlebenden narzisstischen Missbrauchs gearbeitet hat, die für Tausende mehr ein dementsprechendes Programm entwickelt, Bücher über dieses Thema geschrieben und unzählige Stunden Content dazu erstellt hat, kann ich nur sagen: Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, über Narzissmus als solchen zu diskutieren, denn es geht ja um den Schaden, den das narzisstische Verhalten bei Ihnen anrichtet.
Können wir Person und Verhalten trennen, wenn die Persönlichkeit sich vermutlich nicht ändern wird? Ist es von Bedeutung, ob hinter dem verletzenden Verhalten Absicht steckt? Können Sie Heilung finden, ohne den Narzissmus zu verstehen? Und vor allem: Können Sie von diesen Beziehungen geheilt werden? Dieses Buch wird diesen komplexen Fragen nachgehen.
Es gibt auch häufig Gegenwind von Leuten, die mich fragen: »Woher wissen Sie denn, dass der Partner/Elternteil/die Chefin/Freundin narzisstisch ist?«
Eine berechtigte Frage. Wenn ich mit jemandem therapeutisch arbeite, lerne ich normalerweise die anderen Menschen in seinem/ihrem Leben nicht kennen. Allerdings bekomme ich deren Geschichte ausführlich erzählt. Ich lese E-Mails und Textbotschaften, die meine Klienten von einer antagonistischen Person bekommen, und ich bin Zeugin der Auswirkungen, die das auf meine Klienten hat. Ich verwende den Begriff antagonistischer Beziehungsstress, um zu beschreiben, was den Überlebenden dieser Beziehungen geschieht. Und ich charakterisiere das Verhalten der psychisch schädlichen Person im Leben meiner Klienten als antagonistisch, weil dieser Begriff breiter gefasst ist und weniger stigmatisierend als das Wort »narzisstisch«.
Das ist der Begriff, den ich im Gespräch mit Menschen, die ein berufliches Interesse an diesen Verhaltensmustern haben, verwende. Er umfasst die gesamte Breite antagonistischer Verhaltensweisen und Taktiken, die wir beim Narzissmus beobachten können: Manipulation, Aufmerksamkeitssucht, Ausbeutung, Feindseligkeit, Arroganz. Diese Verhaltensweisen sind auch bei anderen antagonistischen Persönlichkeitsstilen wie zum Beispiel beim Psychopathen zu beobachten. Mit dieser Bezeichnung hat man speziell den Stress, den antagonistische Beziehungen auslösen, im Auge. Aber mittlerweile ist die narzisstische Katze eben aus dem Sack, und der Begriff »narzisstischer Missbrauch« ist den meisten Menschen vertraut. Nichtsdestotrotz werde ich immer wieder auf den Begriff antagonistisch zurückgreifen, um das gesamte Spektrum dieser Verhaltensmuster abzudecken.
Einen Beruf wie den meinen ergreift man nicht ohne ein persönliches Interesse. Und ja, für mich ist das Ganze eine persönliche Sache. Ich hatte in meinen familiären Beziehungen, meinen intimen Partnerschaften, meinen Beziehungen am Arbeitsplatz und meinen Freundschaften mit narzisstisch geprägter Abwertung, Wut, mit Betrug, Gleichgültigkeit, Manipulation und Gaslighting zu tun. Es hat mich zutiefst getroffen, als meine Klienten mir ihr Leid schilderten und ich dann selbst in Therapie ging, wo ich über meine Probleme sprach und allmählich feststellen musste, dass ihre Geschichte auch meine Geschichte war. Narzisstischer Missbrauch hat meine berufliche Laufbahn verändert und mein ganzes Leben. Ich war so massivem Gaslighting ausgesetzt, dass ich oben für unten hielt, dass ich mich schuldig fühlte, dass ich glaubte, meine Erwartungen an andere Menschen seien unrealistisch, und dass ich es nicht wert sei, gesehen, gehört oder bemerkt zu werden.
Es war ein Durchbruch für mich, als ich begriff, dass die Angst, nach dem purpurfarbenen Kleid zu greifen, sich in das Gefühl verwandelt hatte, als Erwachsene Erfolg, Liebe und Glück nicht zu verdienen. Dabei gab es nicht den einen Moment, in dem der Groschen definitiv fiel. Narzisstischer Missbrauch widerfuhr mir in vielen verschiedenen Beziehungen in meinem Leben. Daher glaubte ich immer, es liege an mir. Schließlich konnte es nicht sein, dass all diese Situationen in meinem Leben falsch waren. Ich habe nicht einmal in meinem Aufbaustudium Psychologie etwas von narzisstischem Missbrauch gehört. Ich glaubte auch nicht, dass dieses verwirrende und missbräuchliche Verhalten unter einen Begriff fallen könnte, bis ich es plötzlich ganz klar vor mir sah. Ich habe Jahre mit Trauer darüber verbracht und mir dann gewünscht, ich könnte all die Zeit zurückhaben, die ich auf dem Gedankenkarussell des Bedauerns verschwendet habe. Ich fühlte mich schuldig und illoyal, weil ich Familienmitglieder und Menschen, die ich liebte, als Narzissten ansah. Ich lernte ganz langsam, Grenzen zu ziehen, als ich ein für alle Mal akzeptierte, dass dieses Verhalten sich niemals ändern würde. Ich hörte auf, die antagonistischen Menschen in meinem Leben ändern zu wollen. Ich sagte mich von ihnen und ihrem Verhalten los. Ich büßte Beziehungen ein, die mir einmal wichtig waren. Und ich stellte mich der Kritik, ich würde uralte kulturelle Normen des familiären Zusammenhalts genauso wie moderne Normen verletzen, weil ich mir herausnahm, darüber nachzudenken, wie man mit Menschen umgeht, die ihre Ellbogen ausfahren. Mittlerweile weiß ich, dass man, wenn man nur genug Zeit mit Menschen mit solchen spitzen Ellbogen zubringt, schließlich ausblutet.
Vor wenig mehr als zwanzig Jahren war ich als Supervisorin tätig, und Forschungsassistenten berichteten mir, dass es bestimmte Patienten in der ambulanten Pflege gebe, die Krankenpfleger, Ärztinnen und alle anderen Menschen, die in der Klinik arbeiteten, in den Wahnsinn trieben mit ihrem Anspruchsdenken und ihrem dysregulierten, verächtlichen und arroganten Verhalten. Diese Beobachtung führte mich dazu, ein Forschungsprogramm zu entwickeln, das vor allem narzisstische und antagonistische Persönlichkeitsstile untersuchen sollte.
Gleichzeitig hatte ich das Privileg, die Geschichte Tausender Menschen, die solche Beziehungen erduldet haben, aus erster Hand zu hören. Unglücklicherweise hörte ich immer wieder, dass jene Menschen, die dem missbräuchlichen Verhalten ausgesetzt waren, von Partnern, Angehörigen, Freundinnen, Kollegen und sogar Therapeutinnen gesagt bekamen, sie seien zu empfindlich, sie müssten sich mehr anstrengen, sie seien zu ängstlich, müssten sich versöhnlicher zeigen, seien zu hart, wenn sie den Begriff narzisstisch gebrauchten, und müssten klarer kommunizieren. Man machte ihnen Vorwürfe, wenn sie blieben, und Vorwürfe, wenn sie sich aus der Beziehung lösten.
Ich habe Behandlungsprotokolle von Therapeuten in der Ausbildung gelesen, die Klienten, die ihre Familie oder Beziehung für toxisch hielten, nicht glaubten. Oder dachten, Klienten, die in der Therapie über manipulative Beziehungen sprechen, würden zu viel jammern. Es gab unzählige Bücher und Artikel über narzisstische Persönlichkeiten und Möglichkeiten, sie zu therapieren. Es gab bloß keine Veröffentlichungen zu der Frage, was den Menschen geschah, die in Beziehungen zu Narzissten steckten, und wie man sie therapieren könnte. Und das, obwohl jeder, der auf diesem Gebiet arbeitete, wusste, dass solche Beziehungen ungesund waren. Sobald ich lockerlassen konnte, ließ ich die Energie meines Ärgers in die Weiterbildung fließen. Nicht nur Klienten und Überlebende narzisstischen Missbrauchs, sondern auch jene, die beruflich mit diesem Thema zu tun hatten, sollten mehr und besser Bescheid wissen.
Die Klienten, mit denen ich gearbeitet habe, gingen durch Scheidungen, die sich über Jahre zogen. Ihre Vorgesetzten glaubten ihnen nicht, wenn sie sich über Belästigungen und Schikanen am Arbeitsplatz beschwerten, während der Urheber eine Stelle an einem anderen Standort bekam. Sie wurden von ihren Familien verstoßen, wenn sie klare Grenzen zogen. Zur Strafe durften sie ihre Enkelkinder nicht mehr sehen. Sie mussten zusehen, wie ihre alternden Eltern von narzisstischen Geschwistern finanziell ausgenutzt wurden. Sie überstanden eine Kindheit, in der sie ständig herabgesetzt wurden, nur um als Erwachsene dasselbe zu erleben. Sie wurden von narzisstischen Freunden einer Online-Schmutzkampagne ausgesetzt, nur weil diese nicht bekommen hatten, was sie wollten. Und sie mussten erleben, wie narzisstische Eltern sie selbst auf dem Sterbebett noch manipulierten. Ich habe in Organisationen gearbeitet, wo Gaslighting der bevorzugte Kommunikationsstil war. Ich habe beobachtet, wie die toxischsten Gestalten vom herrschenden System befördert wurden, zum Schaden der klügsten und besten Mitarbeiter in diesen Unternehmen. Ich persönlich vermeide bestimmte Straßen und Viertel in Los Angeles immer noch, weil ich mit den dazugehörigen Erinnerungen nicht fertigwerde. Ich habe meine Sicherheit bedroht gesehen und war gezwungen, aus bestimmten Arbeitsverhältnissen »auszuscheiden«. Und ich habe erlebt, dass die Familie mehr daran interessiert war, den Ruf eines Familienmitglieds zu schützen, als einer Person Trost zu spenden, die unter diesem Menschen litt. Ich brauche sehr, sehr lange, um zu Menschen, die ich frisch kennenlerne, Vertrauen aufzubauen.
Das Einzige, was Sie über Narzissmus wissen müssen, ist: In nahezu allen Fällen war dieses Persönlichkeitsmuster bereits vorhanden, bevor Sie in das Leben der narzisstischen Person getreten sind. Und es wird auch noch da sein, wenn Sie gehen. Solche Beziehungen verändern Sie, aber aus diesem Wandel entstehen persönliches Wachstum, eine neue Sicht und ein besseres zwischenmenschliches Urteilsvermögen. Diese Beziehungen richtig einzuschätzen und sich daraus zu lösen kann der Weckruf sein, der Sie veranlasst, Ihr authentisches Selbst auszugraben, es abzustauben und ihm die Welt zu zeigen. Das traditionelle Therapieziel, den Klienten zu helfen, ihre Rolle und Verantwortung in einer Beziehung zu erkennen und Situationen, die nicht funktionieren, anders zu sehen, berücksichtigt nicht, dass die Chancen dafür im Umgang mit narzisstischen Menschen schlecht stehen. Wenn Sie sich selbst nicht in blanke Illusionen verrennen wollen, wie sollen Sie dann einen Menschen, der Sie manipuliert und Ihre Existenz als Mensch schlicht leugnet, mit anderen Augen sehen? Statt zu lernen, diesen Menschen anders zu sehen, ist es an der Zeit, dass wir erfahren, was inakzeptables und toxisches Verhalten ausmacht.
Ich hoffe sehr, dass dieses Buch die simple Erkenntnis bewirkt, dass narzisstische Denk- und Verhaltensmuster sich nicht ändern und Sie nicht verantwortlich sind für das abwertende Verhalten eines anderen Menschen. Ich möchte, dass Sie diese einfache und doch tiefgründige Wahrheit verinnerlichen:
Es liegt nicht an Ihnen.
Menschen aus aller Welt haben mir gesagt, dass sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit normal gefühlt haben, als sie erfuhren, wie sich Narzissmus auswirkt und was solche Beziehungen mit ihnen machen. Hier geht es nicht darum, bestimmte Menschen als Narzissten an den Pranger zu stellen, sondern darum, ungesunde Verhaltensweisen in Beziehungen offenzulegen. Um die Erlaubnis, sich daraus zu lösen. Um die Erkenntnis, dass in einer Beziehung vieles wahr sein kann (das Gute und das Böse). Zu wissen, dass narzisstische Verhaltensweisen zu durchschauen nicht heißt, dass Sie gehen oder den Kontakt zu Menschen abbrechen müssen, mit denen Sie eine komplizierte Beziehung verbindet. Es heißt nur, dass Sie lernen, mit diesen Menschen anders umzugehen. Zu verstehen, dass es das grundlegende Recht jedes Menschen ist, gesehen zu werden, eine eigene Identität zu haben, eigene Bedürfnisse, Wünsche und Neigungen, die Sie ausdrücken dürfen und die anerkannt werden. Sich klarzumachen, dass Sie nicht sich selbst anders sehen müssen, sondern das Verhalten eines Menschen, den Sie lieben oder respektieren, der Sie aber trotzdem verletzt. Und endlich klar und deutlich gesagt zu bekommen, dass Sie das Verhalten der anderen Person niemals ändern werden. Wir stellen also die Lichter im Haus an und machen die flackernden Gaslichter aus.
Dieses Buch ist für die Überlebenden solcher abwertenden Beziehungen mit narzisstischen Menschen gedacht. Und es geht hier nicht darum, wie der andere tickt, sondern wie Sie heil werden können. Anfangs bekommen Sie zwar eine kurze Einführung ins Thema Narzissmus, damit wir uns auch richtig verstehen. Aber der ganze Rest dreht sich um Sie und ist für Sie. Die Geschichte der Jagd aus der Perspektive des Löwen. Sie wird illustrieren, welche Auswirkungen narzisstisches Verhalten auf Sie hat, und Ihnen zeigen, wie Sie sich voller Anmut, Weisheit, Mitgefühl und Stärke heilen können. Dieses Buch hat seine Wurzeln in meinem Kopf und meinem Herzen.
Löst man sich aus einer narzisstischen Beziehung, meint man ja häufig, dies sei das Ende. Tatsächlich aber ist die Heilung und alles, was darauf folgt, ein neuer Anfang. Der Beginn Ihrer Geschichte, der Moment, da Sie aus dem abwertenden Schatten heraustreten und sich erlauben, Sie selbst zu sein.
Teil I
Eine für den Traum von unbegrenzter Freiheit empfängliche Persönlichkeit neigt auch, sollte der Traum je platzen, zu Misanthropie und Raserei.
Jonathan Franzen1
Carlos ist der Typ, der allen in der Nachbarschaft hilft. Er kümmert sich aufopfernd um seine kranke Mutter, ist für seinen Sohn da, den er mit seiner Ex aus einer kurzen Beziehung hat, und beschreibt sich selbst als »übergroßes Kind«, das sein Spielzeug und Fußball liebt. Alle Leute, auch seine langjährige Freundin, sagen von ihm, er sei einfühlsam und gebe ihnen das Gefühl, wichtig zu sein. Er vergisst vielleicht mal einen Geburtstag, erinnert sich aber an den Tag, an dem du ein Vorstellungsgespräch hast, und schickt dir eine kurze Nachricht: »Viel Glück!« Einmal an einem Wochenende besuchte er mit Freunden ein Musikfestival, trank zu viel und knutschte mit einer anderen herum. Voller Scham und Trauer kam er nach Hause und gestand alles seiner Freundin, weil er sie nicht belügen wollte. Daraufhin setzte sie in den sozialen Medien mehrere Posts über Carlos’ »Narzissmus« ab.
Joanna ist seit fünf Jahren mit Adam verheiratet. Er arbeitet hart, aber seine Karriere kommt nicht so recht vom Fleck. Daher hat Joanna ihm geraten, doch das zu tun, was er wirklich möchte, während sie das Geld verdient. Anfangs fand Joanna Adams Disziplin, Loyalität und Arbeitsethos anziehend. Aber er hat sich oft über ihre Arbeit mokiert, und als sie nach einer Fehlgeburt längere Zeit trauerte, bezeichnete er das als »Drama«. Wenn Joanna ihn bittet, ihr im Haushalt zu helfen, bekommt er Wutanfälle. Wenn sie dann eine Putzkraft einstellt, wirft er ihr vor, Geld zu verschwenden. Auch über ihren Wunsch, Zeit mit Freunden und Familie zu verbringen, äußert er sich abfällig. Er bezeichnet ihre Freunde als »Parasiten« und ihre Familie als »tiefen Sumpf häuslicher Langeweile«, was sie tief verletzt. Er ist ausgesprochen selbstsüchtig, was seine Zeit angeht. Aber er erinnert sich an Geburtstage und Jahrestage, die er mit großem Trara feiert, auch wenn er sich das eigentlich nicht leisten kann. Joanna fühlt sich schuldig, weil Adams Träume nie so richtig Gestalt angenommen haben. Sie führt sein mangelndes Einfühlungsvermögen auf seine Überzeugung zurück, dass sein Leben nie verlaufen ist, wie er sich das gewünscht hätte. Sie glaubt, dass Adam netter sein wird, wenn sich das erst einmal ändert. Warum sich aufregen, wenn er den Geschirrspüler nicht ausräumt? Er gibt sich jedes Jahr so viel Mühe mit Joannas Geburtstag – obwohl sie es lieber hätte, wenn er im Haushalt helfen würde und netter zu ihren Freunden wäre.
Wer von den beiden ist – Ihrer Meinung nach – eher narzisstisch veranlagt? Der leichtsinnige Carlos oder der zornige Adam?
»Narzissmus« ist heutzutage ein Modebegriff, wird aber immer noch falsch verstanden. Wären Narzissten bloß selbstverliebte Poser, die sich nicht von ihrem Spiegelbild trennen können, wäre die Sache einfach. Leider sind sie so viel mehr als das. Sie sind emotional missbräuchliche Liebespartner, die Sie herabsetzen, aber mit denen Sie häufig auch viel Spaß haben. Oder toxische Chefs, die Sie vor allen Kollegen zusammenstauchen, aber deren Arbeit Sie trotzdem bewundern. Sie sind Eltern, die neidisch sind auf Ihren Erfolg, aber bei jedem Ihrer Fußballspiele am Spielfeldrand standen, als Sie noch klein waren. Oder Freunde, die ganz in der Opferrolle aufgehen und sich endlos darüber verbreiten können, was ihnen jetzt schon wieder passiert ist, ohne sich auch nur ein bisschen dafür zu interessieren, wie es Ihnen geht. Und trotzdem sind Sie mit diesem Menschen befreundet, seit Sie dreizehn waren. Und selbst diese kurzen Schnappschüsse können die Komplexität des Narzissmus nicht vollständig wiedergeben. Sie selbst hatten vermutlich schon eine oder mehrere Beziehungen mit einer narzisstischen Person – vielleicht sogar, ohne es bemerkt zu haben.
Wie aber finden Sie nun heraus, was Narzissmus wirklich ist und was nicht und ob Sie das überhaupt wissen müssen? Dieses Kapitel geht der Frage nach, warum der Narzissmus so häufig missverstanden wird, und entlarvt die Mythen, die sich um dieses Thema ranken. Und Sie werden auch entdecken, dass Klarheit darüber zu haben, was »Narzissmus« ist, die Sache für Sie vielleicht sogar noch verworrener macht.
Narzissmus ist ein maladaptiver interpersoneller Persönlichkeitsstil, der ein breites Spektrum von Charakterzügen und Verhaltensmustern umfasst, die sich auf verschiedene Weise äußern, von mild bis schwer, von vulnerabel bis bösartig. Was eine narzisstische Person von einem einfach nur selbstbezogenen oder eitlen Menschen mit Anspruchsdenken unterscheidet, sind die Anzahl und Konstanz, mit der sich diese Charakterzüge bei einer Person zeigen. Nur oberflächlich zu sein heißt noch nicht, dass jemand narzisstisch ist.
Letztlich geht es auch um die Funktion, die diese Charakterzüge haben: nämlich die narzisstische Person zu schützen. Hinter narzisstischen Verhaltensweisen stehen eine tiefe Unsicherheit und Verletzlichkeit, die durch Manöver wie Dominanzverhalten, Manipulation und Gaslighting kompensiert werden. Diese ermöglichen der narzisstischen Persönlichkeit, die Kontrolle zu behalten. Das unterschiedlich ausgeprägte Einfühlungsvermögen und das Fehlen jeglicher Selbsterkenntnis bedeuten, dass sie nicht innehalten und den Schaden bemerken, den sie mit ihrem Verhalten bei anderen anrichten. Denn letztlich geht es ja nicht um bestimmte Charakterzüge, sondern um die Art und Weise, wie diese in dauerhaft verletzende Verhaltensweisen übersetzt werden.
Da sich diese Charakterzüge gerade bei einer so rigiden und von Selbsterkenntnis freien Persönlichkeit wie der narzisstischen nie ändern, bessert sich auch deren Verhalten eher nicht. Und da das Spektrum des Narzissmus ausgesprochen breit gefächert ist, können wir in Beziehungen mit diesem Persönlichkeitsstil sehr unterschiedliche Erfahrungen machen. Die meisten Menschen stehen in dieser Hinsicht mal im Regen, mal in der Sonne: mit genug schlechten Tagen, um einen Schaden davonzutragen, und genügend schönen, um bei diesem Wechselwetter nicht verdrießlich zu werden. Ebendieser »moderate Narzissmus« ist es, auf den wir uns konzentrieren werden.
Also sehen wir uns zunächst einmal ein paar der klassischen Charakterzüge an.
Narzisstische Menschen brauchen Bestätigung und Bewunderung. Dieses Bedürfnis treibt einen Großteil ihres Verhaltens an. Sie streben nach Status, Komplimenten, ständiger Anerkennung und Aufmerksamkeit. Mittel zum Zweck sind ihnen die Zurschaustellung des eigenen Reichtums, die äußere Erscheinung, aber auch Freunde, die sich ihnen unterordnen, oder Likes und Follower in den sozialen Medien. Diese Anerkennung, nach der ein Narzisst bei anderen Menschen und der ganzen Welt sucht, bezeichnet man – egal, welche Form sie auch annehmen mag – als narzisstische Bestätigung. Die Stimmung von Narzissten ist mitunter sehr düster. Sie reagieren gereizt, nachtragend, verdrießlich und betrübt, wenn sie nicht die Bestätigung bekommen, die sie für ihr gutes Recht halten. Die Menschen in ihrem Umfeld müssen diese Unterstützung geben, wollen sie nicht ihren Zorn spüren.
Narzisstische Menschen sind egozentrisch, aber das Ausmaß geht weit über bloße Selbstsucht hinaus. Hier haben wir es mit Selbstsucht »mit abwertendem Abgang« zu tun. Ein Beispiel: Ein selbstsüchtiger Mensch wird das Restaurant aussuchen, in dem es ihm am besten schmeckt. Ein Narzisst wird sein Lieblingsrestaurant wählen und Ihnen dann noch erklären, er habe das machen müssen, weil Sie viel zu wenig Ahnung vom Essen haben, um eines aussuchen zu können. Kurz gesagt: Die Bedürfnisse der narzisstischen Person werden in jeder Beziehung immer vorgehen.
Der Narzissmus ist ausgesprochen beständig. Doch diese Beständigkeit hat eine Eigenheit, die ihn widersprüchlich wirken lässt. Wenn die narzisstische Person gut reguliert ist, gefühlt alles im Griff hat und ausreichend narzisstische Bestätigung bekommt (weil in der Arbeit alles gut läuft, die Person Komplimente erhält, eine schöne neue Beziehung hat oder einfach nur ein neues Auto), dann ist sie weniger antagonistisch und viel angenehmer. Bedauerlicherweise hält die narzisstische Bestätigung selten lange vor, weshalb die Person immer mehr, immer Neues und immer Besseres braucht. Ich kann mich noch gut an eine narzisstische Person erinnern, die am Nachmittag meinte: »Das ist der beste Tag meines Lebens. Ich habe ein super Geschäft abgeschlossen. Ich hab’s einfach drauf. Ich haue alle um, nicht wahr?« Am Abend desselben Tages schickte er mir eine wütende SMS aufs Handy, er sei stocksauer und das Leben sei einfach nicht fair. Später erfuhr ich, dass die Person, mit der er abends ausgehen wollte, die Verabredung verschieben musste.
So schnell kann das Wetter umschlagen.
Zur narzisstischen Persönlichkeit gehört eine gewisse Ruhelosigkeit, weil sie ständig nach Neuem, nach Aufregung strebt. Aus diesem Grund haben solche Menschen häufig wechselnde Partner oder neigen zur Untreue. Sie geben zu viel Geld aus und gehen gerne shoppen, aber auch andere hektische Aktivitäten sind ihnen nicht fremd. Narzisstische Menschen erwecken häufig den Eindruck, ständig gelangweilt, enttäuscht oder voller Verachtung zu sein, wenn nichts ihr Interesse oder ihre Faszination erweckt.
Die Grandiosität gehört zu den Erkennungsmerkmalen des Narzissmus. Es geht dabei um übertriebene Vorstellungen von der eigenen Bedeutung in der Welt, um fantastische Geschichten über die ideale Liebe oder um den Erfolg, den sie jetzt oder in der Zukunft haben werden. Dazu kommt das Gefühl, anderen Menschen überlegen zu sein, und die Überzeugung, von einer Einzigartigkeit und Einmaligkeit zu sein, die anderen fehlt. Grandiosität heißt auch, dass die Person sich für besser hält als andere Menschen. »Wahnhaft« ist sie, weil es bei den meisten narzisstischen Personen keine oder nur geringe Anhaltspunkte gibt, die diese Überzeugung stützen würden. Und sie halten an dieser Überzeugung fest, auch wenn sie anderen damit zu nahe treten oder ihnen sogar schaden.
Verwirrend wirkt die Haltung der Narzissten vor allem deshalb, weil sie hin und her springt zwischen charmant, witzig und charismatisch (oder zumindest normal und gut reguliert) auf der einen Seite und brutal, mürrisch und zornig auf der anderen. Ihr Selbstwertgefühl ist stark, wenn alles gut läuft. Geht etwas schief, dann sind die anderen schuld, und der Narzisst sieht sich selbst als Opfer. Mit dem Ergebnis, dass Sie nicht immer im Voraus wissen können, an welche Version des Narzissten Sie geraten werden – den grandiosen und gut gelaunten, das mutlose Opfer oder den Racheengel. Was unterm Strich dabei herauskommt, ist ein wildes und unerquickliches Auf und Ab.
Das Anspruchsdenken ist ein Grundmuster des Narzissmus, und ein höchst problematisches obendrein. Die theoretischen Ansätze zum Narzissmus gehen davon aus, dass diese Einstellung der Grundpfeiler des narzisstischen Persönlichkeitsstils ist und alle anderen Dynamiken darin ihren Ursprung haben.2 Narzisstische Menschen glauben, dass sie etwas Besonderes sind und eine Sonderbehandlung verdienen, dass nur andere Ausnahmemenschen sie verstehen können und dass Regeln für sie nicht gelten. Wenn man sie tatsächlich an Regeln misst und zur Verantwortung zieht, dann können narzisstische Menschen ganz schön sauer werden. Sie wehren sich, denn diese Regeln gelten ja schließlich nur für gewöhnliche Menschen! Müssten sie sich nämlich an Regeln halten, wären sie nichts Besonderes mehr. Sie fühlen sich berechtigt, zu tun und zu sagen, was sie wollen, wann immer sie das wollen. Ihr Anspruchsdenken ermöglicht ihnen, ein Umfeld zu schaffen, in dem sie ihre Besonderheit leben können. Und es treibt sie zur Raserei, wenn sie das Gefühl haben, nicht als VIP behandelt zu werden.
Vermutlich fällt den meisten von uns eine Situation ein, in der uns die Anspruchshaltung einer narzisstischen Persönlichkeit peinlich berührt hat. Eine Frau erzählte mir, wie unwohl sie sich jedes Mal fühlte, wenn ihr Ehemann im Restaurant die Kellner anblaffte, wenn er nicht bekam, was er wollte. Sie sagte, sie sei am Ende richtig gut darin gewesen, in solchen Situationen den Kopf einzuziehen und jeden Blickkontakt mit dem Objekt des Zorns zu vermeiden. Leider fühlte sie sich auch mitschuldig, weil sie ihren Mann nicht ausbremste. Doch hätte sie das getan, wäre er entweder so richtig zornig geworden oder hätte tagelang nicht mehr mit ihr geredet.
Damit kommen wir zum Fundament des Narzissmus: Unsicherheit. Narzissmus ist keine Frage von hoher oder geringer Selbstachtung, sondern eher von falscher, übersteigerter und wechselnder Selbsteinschätzung. Die narzisstische Person trägt stets ein tief verborgenes Gefühl des Ungenügens mit sich herum, das deshalb solche Macht hat, weil die Person unfähig ist, darüber nachzudenken, wie sie »rüberkommt« oder was ihr Verhalten mit anderen macht. Das kann verwirrend sein: Wie kann jemand, der so selbstsicher wirkt, so schwach sein? Das ganze narzisstische Paket – die Grandiosität, die Anspruchshaltung, die Arroganz, das Charisma – ist letztlich ein Panzer, der die narzisstische Person schützen soll, eine Art Superhelden-Cape für Erwachsene, das sie um ihre zerbrechliche Psyche ziehen.
Narzisstische Personen können zwar ordentlich austeilen, aber nicht einstecken. Wenn Sie es wagen, sie auch nur ansatzweise zu kritisieren oder kein hundertprozentig positives Feedback zu geben, müssen Sie sich auf prompte, wütende und überschießende Reaktionen gefasst machen. Das kann erst recht verwirrend sein, weil er oder sie nicht zögern wird, Ihnen heftigste Vorwürfe zu machen. Dieses Verhalten steht im diametralen Gegensatz zu ihrem chronischen Bedarf an Bestätigung: Auch wenn sie das nie zugeben oder gar darum bitten würden, ist es trotz ihres arroganten Gebarens klar, dass sie im Grunde die Beruhigung und Versicherung benötigen, dass alles gut wird.
Doch diese Art von Bestätigung ist ein trügerischer Tanz. Merkt nämlich Ihr Gegenüber, dass Sie es beruhigen wollen, wird es anfangen, um sich zu schlagen, weil Sie es an seine Schwäche erinnert haben.
Ich habe mit einer Frau gearbeitet, die besessen war von Äußerlichkeiten. Zu ihrem Geburtstag dekorierte sie alles äußerst sorgfältig, schenkte aber der Tatsache, dass manche Menschen weder so viel Zeit noch so viel Geld zur Verfügung hatten wie sie, keinerlei Beachtung. Als ihre Angehörigen ihr im Vorfeld signalisierten, dass sie zu arbeiten hätten, sich um die Kinder kümmern müssten, krank seien oder einfach etwas anderes zu tun hatten, empfand sie das als persönlichen Angriff und klagte, dass niemand sie zu schätzen wisse. Ihr Sohn versuchte, sie zu trösten: »Keine Sorge, Mami. Wir sind sicher ganz pünktlich bei der Feier. Und wir besorgen dir den Kuchen, den du so magst, und Eiscreme. Und dann bekommst du viele Geschenke und ein großartiges Abendessen. Das wird der beste Geburtstag aller Zeiten.« Worauf seine Mutter ihn anherrschte: »Behandle mich nicht, als wäre ich sechs. Bei dir klingt das ja gerade so, als wäre ich verrückt.«
Der Tanz zwischen der narzisstisch-reaktiven Empfindlichkeit gegenüber Feedback, dem Bedürfnis nach Bestätigung und dem chronischen Gefühl, eigentlich das Opfer zu sein, woraufhin die narzisstische Person zuerst Scham und dann Wut empfindet, erinnert uns an einen der Grundsätze narzisstischer Beziehungen: Du kannst einfach nicht gewinnen.
Narzisstische Menschen können mit ihren Gefühlen nicht umgehen. Sie wissen nicht, wie sie diese ausdrücken sollen, weil sie das verletzlich macht und sie sich deswegen schämen. Die Folge ist, dass sie ihre Emotionen nicht regulieren können. Die narzisstische Person stellt sich nicht hin und verkündet: »He, ich werde meine Unsicherheit mit großen Worten übertünchen.« Sie reibt sich auch nicht die Hände und spekuliert: »Wie kann ich dich am besten verletzen?« Wenn sie austeilt, dann stehen dahinter unverarbeitete Erlebnisse. Daher genügt schon leise Kritik oder eine kleine Krise, damit die narzisstische Person Scham empfindet angesichts ihrer Verletzlichkeit oder Unvollkommenheit, die plötzlich sichtbar wird. Diese Verletzungen des Ego werden zum Auslöser von Wut und Schuldzuweisungen. So lindern sie ihre Anspannung, halten ihre grandiose Fassade aufrecht und fühlen sich sicher. Da sie keinerlei Einfühlungsvermögen besitzen und extrem impulsiv sind, können sie nicht einfach innehalten und sich fragen, wie ihre heftige Reaktion auf Sie wirkt. Stattdessen werden sie eine hohl klingende Entschuldigung hervorbringen und frustriert sein, weil Sie sie für ihr Verhalten verantwortlich machen.
Narzisstische Menschen werden motiviert durch Dominanz, Status, Kontrolle, Macht und das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Zusammengehörigkeit, Vertrautheit und Nähe interessieren sie nicht. Daher müssen sie in jeder Beziehung immer die Oberhand behalten. Wenn Sie in der Beziehung auf tiefe emotionale Verbundenheit oder Vertrautheit abzielen, dann unterscheidet sich Ihr Tanz massiv von dem Ihres Partners. Für die narzisstische Person dient die Beziehung einzig der Befriedigung ihres Vergnügens. Das Geben und Nehmen, das eine gesunde Beziehung prägt, ist der narzisstischen Person egal. Das Gleiche gilt für die Bedürfnisse anderer Menschen.
Dass narzisstische Personen keinerlei Empathie besitzen, ist nicht ganz richtig. Allerdings geht ihre Empathie nicht sonderlich tief und ist zudem Schwankungen ausgesetzt. Narzisstische Menschen verfügen über eine kognitive Empathie: Sie verstehen, was Empathie ist und warum jemand sie empfindet. Sie bedienen sich ihrer sogar, um zu bekommen, was sie wollen. Sobald sie es gekriegt haben oder es sie einfach nicht mehr kümmert, schwindet die Empathie. Narzisstische Empathie kann auch performativ sein – dann dient sie dem Zweck, vor anderen gut dazustehen oder sich jemanden gewogen zu machen. Oder sie ist transaktional, was heißt, dass man sich empathisch zeigt, um von jemand anderem etwas zu bekommen. Das ist besonders bitter, weil es zeigt, dass narzisstische Personen zwar wissen, was Empathie ist, sie jedoch nur als Taktik einsetzen, um ihre egoistischen Zwecke zu erreichen.
Bekommen narzisstische Personen genügend Bestätigung und fühlen sich sicher, so sind sie eher zur »Empathie« geneigt. Hatten sie einen guten Tag, kommen sie abends vielleicht heim und hören Ihnen zu, wenn Sie ihnen von Ihren Schwierigkeiten erzählen. Möglicherweise trösten sie Sie dann, dass schon alles gut wird. Eine Woche später denken Sie sich vielleicht: »Ach, letzte Woche hat sie mich bei dem Thema ja voll unterstützt. Ich würde das gerne noch weiter bereden.« Aber dieses Mal hat die narzisstische Person vielleicht nicht ausreichend Bestätigung erfahren, und dann heißt es: »Wann hörst du endlich auf, dich dauernd über die Arbeit zu beschweren? Ich habe dein Gejammer wirklich satt.«
Narzisstische Menschen brauchen andere Leute, und darüber ärgern sie sich. Andere zu brauchen heißt, dass diese Menschen Macht über einen haben. Und narzisstische Personen wollen nicht von anderen abhängig sein. Das ist eine der Hauptursachen der Verachtung, die man beim Narzissmus häufig beobachtet – Verachtung für andere Menschen und deren Gefühle, Verletzlichkeiten und Bedürfnisse. Mit ihren Schwachstellen werden andere Menschen unbewusst zum Spiegel, in dem die narzisstische Person ihre eigenen Unsicherheiten erkennt. Doch statt dem anderen beizustehen, entwickeln Narzissten Verachtung für all jene, die sie an ihre eigenen Schwächen erinnern. Die Verachtung kommt manchmal sehr direkt daher, aber häufig äußert sie sich auch als passiv-aggressive Stichelei.
Auch die Projektion ist im Narzissmus ein verbreitetes Muster. Dabei handelt es sich um einen Abwehrmechanismus, der unbewusst abläuft, um das Ego zu schützen: Die Person projiziert nicht akzeptable Aspekte ihrer selbst auf jemand anderen. Ein Beispiel: Jemand lügt, wirft aber dem Gegenüber vor, es würde lügen. So kann der »Projizierende« sich vormachen, ehrlich zu sein, weil er sein negatives Verhalten jemand anderem übergestülpt hat. Narzisstische Personen projizieren die beschämenden Anteile ihrer Persönlichkeit und ihres Verhaltens auf andere Menschen, um so ihr grandioses Selbstbild aufrechtzuerhalten und das unangenehme Gefühl der Scham zu vermeiden. Das kann verwirrend sein, denn die narzisstische Person wirft Ihnen vielleicht gerade die Art von verletzendem Verhalten vor, die sie selbst begeht. (Im Café zum Beispiel beschuldigt der Narzisst Sie aus heiterem Himmel, mit dem Barista zu flirten, obwohl er es ist, der Sie betrügt.)
Wenn narzisstische Menschen sich so anmaßend, zornig, manipulativ und herablassend verhalten, warum erkennen wir das nicht gleich und bringen uns um Himmels willen in Sicherheit? Weil narzisstische Menschen unglaublich überzeugend sind. Sie sind charmant, charismatisch, neugierig, strahlen ein enormes Selbstvertrauen aus, sind häufig intelligent und machen auch optisch etwas her. Natürlich halten wir Arroganz nicht für wirklich anziehend, aber häufig nehmen wir an, dass hinter dem Selbstvertrauen und dem Stolz etwas steckt, was beides rechtfertigt. Außerdem entschuldigen wir negatives Verhalten vielleicht, wenn jemand klug oder erfolgreich ist. Narzissmus und Erfolg gehen häufig Hand in Hand, und statt ihn als toxisches und ungesundes Verhaltensmuster zu betrachten, denkt man, dass er oder sie sich aufgrund von übermäßigem Ehrgeiz halt ein wenig aufspielt. Narzisstische Menschen sind gewiefte Gestaltwandler, echte Chamäleons. Sie besitzen die unheimliche Fähigkeit, sich selbst erstklassig zu tarnen und Nähe herzustellen. Und erst wenn diese Nähe hergestellt ist, zeigen sie ihre Schattenseiten.
Viele von uns betrachten den Narzissmus sozusagen binär: Entweder du bist narzisstisch oder du bist es nicht. Dabei sitzen wir häufig der Vorstellung auf, dass Narzissmus sich klar definieren lässt und wir uns von Menschen mit solchen Charakterzügen fernhalten können. Aber in der Welt der Psychologie und der geistigen Gesundheit ist nichts so simpel.
In Wirklichkeit lässt sich auch beim Narzissmus ein breites Spektrum beobachten. Am einen Ende, der milderen Ausprägung, finden wir die oberflächlichen Narzissten, die sich in den sozialen Medien tummeln – Berufsjugendliche, die in einer Form emotionaler Unterentwicklung feststecken. Die sind zwar nervig, aber noch nicht schädlich. Am anderen Ende sind die schweren Formen angesiedelt, die sich durch Gefühlskälte, Ausbeutung, Grausamkeit, Rachsucht, Dominanzstreben und den Gebrauch von körperlicher, sexueller, psychischer oder verbaler Gewalt auszeichnen. So etwas ist erschreckend und traumatisch. Moderater Narzissmus ist das, womit die meisten von uns Erfahrung haben und worum es in diesem Buch gehen soll.
Marcus ist seit fünfundzwanzig Jahren mit Melissa verheiratet, einer gütigen, selbstkritischen Jasagerin, die sich regelmäßig krummlegt, um anderen helfen zu können. Die beiden haben zwei Kinder. Außenstehende sehen Marcus als hart arbeitende Stütze der Gemeinde. Zu Hause aber setzt Marcus durch, was er will und wann er es will. Das Familienleben dreht sich einzig und allein um seine Vorstellungen. Melissa hat einen fordernden, gut bezahlten Job, aber Marcus erwartet grundsätzlich, dass sie alles stehen und liegen lässt, um seine Bedürfnisse zu erfüllen, auch wenn das heißt, dass sie in der Arbeit Ärger bekommt.
Und doch hat die Beziehung auch ihre guten Zeiten. Wenn Marcus zufrieden ist, wie sein Leben im Moment läuft, dann macht er mit der Familie Ausflüge, Campingtrips und führt sie alle zum Abendessen aus. Gerade als Melissa sich mit dem Gedanken trug, einen Anwalt aufzusuchen, weil sie es satthatte, in der »Marcus Show« zu leben, schlug er Ferien am Strand vor, damit sie wieder zueinanderfänden. Woraufhin sie sich Vorwürfe machte, weil sie die Situation so falsch eingeschätzt hatte und dabei übersah, welches Glück sie hatte. Bis sie wieder zu Hause waren und alles von vorne losging.
Moderater Narzissmus ist weder die unreife Zuckerwatteform der oberflächlichen Narzissten noch der zwanghafte Terror des bösartigen, gewalttätigen und ausgeprägten Narzissten. Der moderate Narzisst bereitet Ihnen immer noch genug gute Tage, damit Sie seiner nicht überdrüssig werden. Und genug schlechte Tage, die Sie verletzen und Sie vollkommen verwirrt zurücklassen. Moderat narzisstische Personen verfügen über eine gewisse kognitive Empathie. Manchmal scheinen sie durchaus zu begreifen, worum es Ihnen geht. Sie sind anspruchsvoll, brauchen ständig Bestätigung und zeigen eine dreiste, aber nicht gefährliche Arroganz. Sie sind überkritisch und glauben, dass für sie Sonderregelungen bestehen, denn die allgemeinen Regeln gelten nur für die anderen. Laufen die Dinge nicht so, wie sie sich das vorstellen, halten sie sich gerne für das Opfer. Sie übernehmen keine Verantwortung für ihr Verhalten und geben anderen die Schuld für alles, was sie schlecht dastehen lässt. Sie sind zutiefst selbstbezogen und entscheiden sich immer für das, was vorteilhaft ist für sie, auch wenn es Ihnen und anderen Menschen schadet.
Moderate Narzissten verfügen zwar über genügend Einsicht, um zu merken, dass ihr Verhalten nicht in Ordnung ist, jedoch nicht über genügend Selbstregulation, Achtsamkeit oder Empathie, um sich zu stoppen. Da sie wissen, dass ihr Verhalten unangemessen ist, verbergen sie es in Gegenwart anderer. Was zur Folge haben kann, dass Sie keinerlei Unterstützung bekommen. Der moderate Narzisst ist häufig ein Haustyrann, außerhalb der eigenen vier Wände aber die Sanftmut in Person. Solche Menschen überhäufen Sie in der Teambesprechung vielleicht mit Lob, nur um Sie anschließend hinter verschlossener Tür herunterzuputzen. Dieses doppelzüngige Verhalten, das einmal Maske trägt, dann wieder nicht, ist ein Kennzeichen der moderaten Narzissten. Außenstehende erleben einen ruhigen, charmanten Menschen, dessen Bild überhaupt nicht zu dem passt, was Sie im Privaten mitmachen.
Es gibt verschiedene Narzissmustypen. Die grundlegenden Merkmale sind zwar bei allen dieselben, aber wie sie sich manifestieren und wie sie uns beeinflussen, ist jeweils anders. Da sich die Fachliteratur häufig nur mit dem grandiosen Narzissmus beschäftigt, kann es frustrierend sein, wenn »Ihr« Narzisst nie ganz in das Bild dessen zu passen scheint, was allgemein als Narzissmus verkündet wird. Üblicherweise ist der Typus dominant, aber die narzisstische Persönlichkeit kann auch eine Mischung aus all diesen Typen sein. Außerdem können die narzisstischen Züge bei all diesen Typen in unterschiedlich starker Ausprägung auftreten. So kann ein gering ausgeprägter kommunaler Narzisst ein oberlehrerhafter Typ sein, der sport- und gesundheitsbesessen ist und Body Positivity predigt, ungeachtet dessen aber Freunde und Familie verurteilt, wenn sie nicht in sein Weltbild passen. Ein massiv ausgeprägter kommunaler Narzisst hingegen ist möglicherweise ein Sektenführer.
Mit dreißig werde ich Millionär sein. Dann wird die Welt endlich sehen, dass ich ein Genie bin. Ich werde ein Erbe hinterlassen, wie du es dir nicht mal ansatzweise vorstellen kannst. Nichts wird mich aufhalten. Was geht mich das kleinkarierte Leben all derer an, die nicht zu träumen wagen? Die ziehen mich doch nur runter. Aber ich habe es verdient, Menschen um mich zu haben, die mich jederzeit aufbauen.
Der grandiose Narzissmus entspricht dem klassischen Bild vom narzisstischen Persönlichkeitsstil. Das sind die charismatischen, charmanten, geltungsbedürftigen, überheblichen, »strahlenden« Narzissten, die wir mit Erfolg, Glamour und Berühmtheit assoziieren. Sie machen eine gute Figur, solange alles gut geht, aber sobald sich Rückschläge einstellen, zeigen sich Risse in der Fassade, und sie werden zornig und geben Ihnen die Schuld. Es kann anstrengend sein, in der wirklichen Welt zu leben, während die narzisstische Person in ihrer Fantasiewelt verharrt. Grandiosität und Großspurigkeit sind der Panzer, hinter dem die narzisstische Person ihre tief sitzende Unsicherheit und das Gefühl des Ungenügens versteckt. Sie glauben selbst an ihren Hype, so sehr, dass sie mitunter wie verbohrt wirken. Trotzdem ist das Ganze so überzeugend, dass man sich von diesen Typen stets angezogen fühlt. Solche Beziehungen mit all ihren Höhen und Tiefen, mit guten und schlechten Tagen, lassen Sie erschöpft und verwirrt zurück, auch wenn es zwischendrin immer wieder aufregend ist.
Ich bin genauso clever wie all diese Start-up-Typen, aber ich habe einfach nicht die nötigen Beziehungen oder Papas Brieftasche, um vorwärtszukommen. Ich werde meine Zeit nicht an der Uni verschwenden oder für irgendeinen Idiotenjob, den nur inkompetente Leute ausfüllen können. Lieber tue ich gar nichts, bevor ich für die Arschlöcher von den Elitehochschulen schufte. Eigentlich sind meine Eltern schuld, weil sie mir nicht mehr Geld und keine besseren Startbedingungen gegeben haben. Dann wäre ich nämlich der Beste im Geschäft.
Vulnerable Narzissten sind die getretenen, ängstlichen, sozial ungeschickten, sauertöpfischen, reizbaren, traurigen und übelnehmerischen Typen, die jede Menge unterdrückter Wut mit sich herumtragen. Man nennt sie auch verdeckte Narzissten