Jake Djones - In der Arena des Todes - Damian Dibben - E-Book

Jake Djones - In der Arena des Todes E-Book

Damian Dibben

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Beschreibung

Die Vergangenheit ist in Gefahr – allein Jake Djones kann sie retten!

Die Geschichtshüter geraten erneut in große Gefahr, denn ihre Vorräte an Atomium sind beunruhigend geschrumpft. Ohne zu zögern begeben sich Jake Djones und seine Gefährten auf eine riskante Mission, um jenes geheimnisvolle Elixir zu beschaffen, ohne das sie nicht durch die Zeit reisen können. Da erfahren die Agenten von den jüngsten Plänen ihrer Erzfeinde: Die Familie Zeldt versucht mit aller Macht, die antike römische Welt unter ihre Kontrolle zu bringen. Und so müssen die Geschichtshüter weiter als jemals zuvor in der Vergangenheit zurückreisen, um die Gegenwart und die Zukunft unserer Welt zu retten ...

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Damian Dibben

Jake Djones

in der Arena des Todes

Roman

Aus dem Englischen übersetzt von Michael Pfingstl

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The History Keepers. Circus Maximus« bei Doubleday, an imprint of Random House Children’s Books, a Random House Group Company, London.

© 2012 by Damian Dibben

© der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Penhaligon Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-10944-8www.penhaligon.de

Für die fabelhaften, verrückten Morrisons aus Derw Mill

1

Die Königin der Nacht

Der Abend, an dem Jake Djones vollkommen versagte und das Leben der Geschichtshüter in Gefahr brachte, war so unnatürlich bitterkalt, dass die Ostsee beinahe vollkommen zugefroren war.

Von den windgepeitschten Küsten Dänemarks bis hinauf zum weit entfernten Finnland erstreckte sich eine dünne, fast nahtlose Eisdecke, die gespenstisch silbrig im Mondschein schimmerte. Unablässig fiel der Schnee darauf und tauchte alles in eine unheimliche Stille.

Vorbei an unzähligen Landzungen und kleinen Inseln hielt ein Schiff mit blauen Segeln auf die am Horizont märchenhaft glitzernden Lichter Stockholms zu. Ächzend schob sich der Rumpf der Tulpe durch das Eis. Am Steuerrad stand eine groß gewachsene, elegant gekleidete Gestalt in einem langen Pelzmantel. Sie streckte den Arm aus und läutete die Schiffsglocke. »Es ist so weit, werte Herren!«, verkündete sie in weichem amerikanischem Südstaatenakzent.

Sofort tauchten zwei weitere Gestalten, beide ebenfalls dick eingepackt, neben dem Steuerrad auf. Ihnen folgte ein Papagei mit leuchtend buntem Gefieder, der sich sogleich zitternd auf der Schulter seines Herrn niederließ. Mit zusammengekniffenen Augen spähten alle vier hinaus in die verschneite Nacht, den Blick fest auf die Lichter des Hafens gerichtet.

Die Gestalt im Pelzmantel war ein unglaublich gut aussehender junger Mann. Ein Lächeln umspielte die Lippen in seinem fein geschnittenen Gesicht. Neben ihm stand der Besitzer des Papageis. Er war ein gutes Stück kleiner und hatte die Stirn nachdenklich gerunzelt. Der Dritte hatte einen olivfarbenen Teint, dunkles gelocktes Haar und große braune Augen, die vor Begeisterung nur so leuchteten. Alle drei waren Agenten des Geheimdienstes der Geschichtshüter, jung und unerschrocken: Nathan Wylder, Charlie Chieverley und Jake Djones.

»Halt auf die Insel in der Mitte zu«, sagte Charlie in die Stille hinein und deutete auf eine Silhouette am nahen Horizont. »Das ist Stadsholmen, die Altstadt Stockholms. Sie ist das Juwel der ganzen Inselgruppe und das Zentrum des schwedischen Königreichs. Die Stadt hat allerdings schon bessere Tage gesehen: 1710 brach die Pest aus und hat fast ein Drittel der Bevölkerung dahingerafft.«

»Bessere Tage?«, fragte Nathan und zog den Mantel enger. »Du untertreibst, mein Freund. Stockholm im Winter des Jahres 1782 dürfte so ziemlich der unwirtlichste Ort auf dem ganzen Globus sein.« Er zog eine kleine Schatulle aus der Manteltasche und schmierte sich Fettsalbe in die Mundwinkel. »In dieser trockenen Kälte fallen mir noch die Lippen ab.«

»Verdammt, Nathan, wir haben das Jahr 1792!«, brummte Charlie. »1792, verstanden? Manchmal frage ich mich, wie du in diesem Job so lange am Leben bleiben konntest.«

Mister Drake – der Papagei auf Charlies Schulter – krächzte zustimmend und plusterte ungehalten das Gefieder auf.

»War nur ein kleiner Spaß«, erwiderte Nathan mit einem Grinsen. »Glaubst du wirklich, im Jahr 1782 würde ich diesen knöchellangen Zobel tragen? Ganz zu schweigen von den schnallenlosen Reitstiefeln, so streng, dass sie dem guten Napoleon bestens zu Gesicht stehen würden.« Er wandte sich an Jake. »In den 1790er-Jahren kleidete man sich eher zurückhaltend«, erklärte er mit einem Zwinkern. Nathan hatte zwei große Schwächen: Mode und lebensgefährliche Abenteuer.

»Schnallenlose Reitstiefel, knöchellanger Zobel …«, murmelte Charlie. »Die reinste Barbarei. Tiere haben auch ein Recht zu leben, falls du es noch nicht mitbekommen hast, Nathan.«

Jake lauschte dem Geplänkel der beiden und genoss das Gefühl, Mitglied einer der aufregendsten und geheimnisvollsten Organisationen aller Zeiten zu sein: des Geheimdienstes der Geschichtshüter.

Es war gerade mal einen Monat her, dass sein Leben vollkommen über den Haufen geworfen worden war. Jake war entführt und ins Londoner Büro der Geschichtshüter verschleppt worden. Dort hatte man ihm eröffnet, dass seine Eltern bereits seit Jahrzehnten im Geheimen für die Organisation arbeiteten – und momentan leider im Italien des sechzehnten Jahrhunderts verschollen waren.

Was dann folgte, war eine einzige Achterbahnfahrt. Zuerst reiste Jake ins Jahr 1820, zum Nullpunkt, dem Hauptquartier der Geschichtshüter auf der Insel Mont-Saint-Michel am Ärmelkanal. Von dort ging es weiter ins Venedig des Jahres 1506. Er und seine Begleiter mussten nicht nur Jakes Eltern aufspüren, sondern ganz nebenbei auch noch den teuflischen Prinzen Zeldt davon abhalten, Europa mit der Beulenpest zu entvölkern. Beides gelang, doch die rätselhafte und wunderschöne junge Topaz, in die Jake sich verguckt hatte, hatten sie zurücklassen müssen.

Und noch etwas Unglaubliches war geschehen: Jake hatte erfahren, dass sein Bruder Philip, der angeblich vor drei Jahren bei einem Kletterunfall in den Pyrenäen ums Leben gekommen war, ebenfalls den Geschichtshütern angehört hatte. Es bestand sogar eine, wenn auch winzig kleine Chance, dass er noch am Leben war – irgendwo, in irgendeinem Jahrhundert.

Und jetzt befand Jake sich bereits mitten in seinem zweiten Einsatz. Zugegeben, dass er mitkommen durfte, war eher ein glücklicher Zufall. So gut wie alle, die sich im Moment am Nullpunkt aufhielten, hatten sich wegen einer verdorbenen Muschelsuppe eine mittelschwere Fischvergiftung zugezogen. Außerdem war der Einsatz nicht gefährlich. Andernfalls hätten sie Jake niemals mitgenommen, er war immerhin noch ein Neuling. Doch jetzt stand Jake auf dem Deck der Tulpe und reiste ins Skandinavien des achtzehnten Jahrhunderts, um eine Lieferung Atomium abzuholen – jener kostbaren Flüssigkeit, die Zeitreisen überhaupt erst ermöglichte.

»Wen treffen wir hier eigentlich?«, fragte Jake und versuchte, die Nervosität in seiner Stimme zu verbergen.

»Caspar Isaksen der Dritte.« Charlie zuckte die Achseln. »Hab ihn nie kennengelernt, aber er ist so alt wie wir, glaub ich. Für seinen Vater hab ich mal Kürbis-Tajine gekocht. Er sagte, er würde noch auf seinem Sterbebett an den exzellenten Geschmack zurückdenken.« Charlie war ein leidenschaftlicher Koch und seit einem unschönen Erlebnis in der Küche des französischen Kaiserhofs überzeugter Vegetarier.

»Ich kenne ihn«, erklärte Nathan mit einem Augenrollen. »Bin ihm schon zweimal begegnet. Er ist kaum zu übersehen. Stopft die ganze Zeit Süßspeisen in sich hinein, als würden sie morgen per Dekret verboten werden, und er niest in einer Tour.«

»Und was haben die Isaksens mit Atomium zu tun?«, hakte Jake nach. Auf seinem ersten Einsatz hatte er einiges über die Substanz erfahren. Um zu einem bestimmten Datum zu gelangen, mussten die Agenten eine exakt abgestimmte Atomium-Tinktur zu sich nehmen. Dann ging es per Schiff zu einem der Horizontpunkte, einer Art magnetischem Mahlstrom auf dem offenen Meer. Nicht jeder konnte durch die Zeit reisen. Die Fähigkeit wurde vererbt. Die Geschichtshüter nannten sie »Tatkraft«. Um den Lauf der Geschichte zu wahren, waren sie auf Gedeih und Verderb auf das Atomium angewiesen. Ihre Aufgabe war, die Vergangenheit vor finsteren Mächten zu schützen, die versuchten, das Zeitgefüge zu zerstören und die Welt ins Chaos zu stürzen.

»Ohne die Isaksens kein Atomium«, antwortete Charlie. »Die Familie stellt es nun schon seit über zweihundert Jahren her. Eine nicht gerade leichte Aufgabe. Die Zutaten, die nur einer Handvoll Geheimnisträger bekannt sind, müssen jahrelang veredelt …«

»Jahrzehntelang, mein Freund«, warf Nathan ein.

»Richtig«, fuhr Charlie fort, »und dann bei beträchtlichen Minusgraden verarbeitet werden. Deshalb hat Sejanus Poppoloe, der Gründer der Geschichtshüter, das Labor in Nordschweden eingerichtet. Dann übergab er es an Frederik Isaksen. Bis zum heutigen Tag stammt jede Unze Atomium, die je an eines der Büros auf dem Globus ausgeliefert wurde, aus Isaksens Labor.«

»Und warum treffen wir uns in Stockholm und nicht in seinem Labor?«, fragte Jake weiter.

»Oh Mann«, stöhnte Charlie. »Du musst wirklich noch eine Menge lernen. Niemand betritt je das Labor. Wir wissen nicht mal, wo es ist. Selbst Kommandantin Goethe weiß es nicht.«

Jake schaute ihn verblüfft an. Wenn jemand wissen konnte, wo sich das Labor befand, dann Galliana Goethe, die seit drei Jahren die Kommandantin der Geschichtshüter war.

»Noch ein Geheimnis, das die Isaksens für sich behalten und nur innerhalb der Familie weitergeben«, sprach Charlie weiter. »Kannst du dir vorstellen, was passieren würde, wenn die falschen Leute erfahren, wo es ist? Weltuntergang im Quadrat!«

»Es gibt so eine Legende«, mischte Nathan sich erneut ein, »dass es im Inneren eines Berges liegt, in den man nur durch eine verborgene Kalksteinhöhle gelangt.«

»Wie dem auch sei«, schloss Charlie seinen Vortrag, »sobald das Atomium fertig ist, überbringt ein Familienmitglied die Lieferung an einen zuvor festgelegten Ort. Und nachdem Caspar Isaksen genauso wie ich ein Opernfan ist, bot sich das Stockholmer Opernhaus als Übergabeort an. Wir sind kein bisschen zu früh dran«, fügte er düster hinzu. »Die Atomiumvorräte am Nullpunkt sind so gut wie erschöpft. In der gesamten Geschichte des Geheimdienstes hatten wir noch nie so wenig. Eine pünktliche Lieferung ist absolut existenziell.«

»Weshalb wir diesmal keine unautorisierten Einzelaktionen von gewissen Neuzugängen brauchen können«, erklärte Nathan leicht spöttisch und schlug Jake herzhaft auf den Rücken.

Jake betrachtete den Hafen. Überall lagen Schiffe vor Anker, wie ein dichter Wald erhoben sich Masten und Takelagen in den dunklen Abendhimmel. Entlang der Uferlinie erstreckten sich Lagerhallen und Magazine. Matrosen und Händler eilten hin und her, ihr Atem hing wie kleine Nebelfetzen in der eisigen Winterluft. Ladungen von Eisen, Kupfer und Zinn, Fässer voll kostbarer Harze, Kisten mit Bernstein, Roggen- und Weizensäcke sowie Netze voll glitzerndem Fisch wurden aus den Schiffsbäuchen gehievt oder verschwanden darin.

Wie immer, wenn sie an einem unbekannten Ort ankamen, beäugte Mister Drake die Szene neugierig und ein wenig misstrauisch.

Schließlich machte die Tulpe neben einem beeindruckend großen Linienschiff fest. Die Kinnladen klappten ihnen herunter, als Jake und Nathan das doppelte Kanonendeck bestaunten. Hoch über ihren Köpfen standen an der Reling ein paar stiernackige Matrosen mit kahl rasierten Schädeln beieinander und unterhielten sich in schroffem Ton.

Nathan blickte zu ihnen hinauf und lüpfte die Pelzmütze. »Welch ein wunderbarer Abend für einen Opernbesuch, findet Ihr nicht auch?«, rief er, aber die Seeleute ignorierten ihn.

»Sei ein guter Junge, Mister Drake«, flüsterte Charlie dem Papagei zu und strich ihm übers Gefieder. »Bleib schön hier. Es dauert nicht lange.« Er gab ihm noch ein paar Nüsse, dann sprangen die drei Agenten von Bord.

Gegen die Kälte schlugen sie die Mantelkragen hoch und bahnten sich auf dem vereisten Steinpflaster einen Weg durch das Gedränge am Kai. Jake inspizierte die Verkaufsstände. Es gab Fleisch, gesalzenen Fisch und Holzbecher mit dampfendem Apfelwein. Und dann fiel sein Blick auf eine Wahrsagerin.

Sie hatte ein Spitzentuch um den Kopf gewickelt, in den knorrigen Fingern hielt sie einen Stapel Tarotkarten und streckte ihn Jake beschwörend entgegen.

Jake blieb kurz stehen und betrachtete die oberste Karte: Sie zeigte ein grinsendes Skelett vor einem mondbeschienenen Meer.

Die Wahrsagerin blickte ihn aus wolkengrauen Augen verheißungsvoll an.

»Lass dich gar nicht erst drauf ein«, brummte Nathan und packte Jake am Arm. »Wahrscheinlich will sie dir nur irgendwelchen Kram andrehen.«

Am Königspalast vorbei gelangten sie über eine hölzerne Brücke zu einem prächtigen Platz. Vor ihnen erhob sich das mehrstöckige Opernhaus mit einer steinernen Krone über dem Eingangsportal. Eine Kutsche nach der anderen machte auf dem Vorplatz halt. Die erlesensten Mitglieder der Stockholmer Gesellschaft, in feinste Pelze gekleidet, stiegen aus und stolzierten in das Gebäude.

»Die Oper«, stöhnte Nathan kopfschüttelnd. »Gibt es irgendetwas auf Gottes Erden, das noch lächerlicher wäre? Müßige Wichtigtuer, die sich über nichts und wieder nichts das Maul zerreißen. Hätte dieser nichtsnutzige Isaksen nicht einen angemesseneren Treffpunkt aussuchen können?«

»Halt die Klappe, Wylder!«, schnaubte Charlie. »Wir werden gleich Zeugen einer der ersten Aufführungen von Mozarts Zauberflöte. Er hat sie erst vor einem Jahr geschrieben. Die Tinte auf der Partitur ist gerade mal trocken, und jetzt ist er tot. Möge seine Seele in Frieden ruhen. Die Gelegenheit, die sich uns heute Abend bietet, ist absolut einmalig.«

Nathan blickte Jake mit gespieltem Schuldbewusstsein an, dann machten sie sich auf den Weg zum Eingang.

Auf der anderen Seite des Platzes kamen zwei Reiter aus einer schattigen Gasse. Den Blick fest auf die drei Agenten gerichtet, stiegen sie ab. Der eine – er trug einen langen Mantel mit Stehkragen – trat in den fahlen Lichtschein einer Laterne. Er war ein groß gewachsener Mann mit auffallend gerader Körperhaltung. Das helle Haar war schulterlang und absolut glatt. Sein Begleiter war mit einem dunklen Umhang und einem breitkrempigen Hut bekleidet. Der Blonde flüsterte ihm etwas ins Ohr und übergab ihm die Zügel seines Pferdes, dann eilte er den dreien hinterher.

Jake staunte nur so, als sie das Foyer betraten. In krassem Kontrast zu der winterlichen Düsternis draußen leuchtete hier drinnen alles in Gold und weißem Marmor. Überall waren große Spiegel angebracht, und an der Decke hingen mehr Kronleuchter, als Jake zählen konnte. Die versammelte Menge war nicht weniger erlesen als der Raum, in dem sie sich befanden. Polierte Stiefel und schimmernde Seidenkleider spiegelten sich im Hochglanzparkett, elegante Herrschaften standen in kleinen Grüppchen beisammen und schnatterten oder strebten die breite Haupttreppe hinauf, stets um sich blickend und nach dem nächsten kleinen Gesellschaftsskandal Ausschau haltend.

»Sieht so aus, als hätte der heutige Abend zumindest modisch etwas zu bieten«, meinte Nathan schon etwas versöhnlicher und ließ elegant den Pelzmantel von den Schultern gleiten, um sein leuchtend ultramarinblaues Jackett samt passender Stiefelhose zur Geltung zu bringen. »Seht euch diese Schnitte an, diese Details, diese Extravaganz. Allein die Knöpfe sind preisverdächtig.«

Ein Diener mit Perücke und weißen Handschuhen kam heran und half Jake und Charlie aus ihren einfachen Winterröcken. Als Jake sich beim Ausziehen auch noch im Ärmel verfing, verzog er spöttisch das Gesicht. Es folgte ein kleines Gerangel, das Geräusch reißenden Stoffs ertönte.

»Hoppla«, sagte Jake und errötete leicht.

Der Diener seufzte nur ungehalten und gab ihnen die Garderobenmarken. Sie waren aus Elfenbein.

»Und schön vorsichtig mit meinem Mantel!«, rief Nathan dem Garderobier hinterher. »Der Duke von Marlborough hat ihn bei der zweiten Schlacht von Höchstädt getragen.« Er beugte sich an Jakes Ohr: »Stimmt zwar nicht ganz, aber mit einem so edlen Stück kann man gar nicht vorsichtig genug sein.«

Eine Glocke ertönte, und die Besucher machten sich auf zu ihren Plätzen.

»Bringen wir’s hinter uns«, seufzte Nathan. »Wo sitzen wir?«

»Erster Rang, Loge M«, erwiderte Charlie knapp und deutete auf eine Treppe. Sie gingen hinauf.

Hinter einer Säule stand ein Mann mit schulterlangem blondem Haar und beobachtete, wie ein weiterer Bediensteter des Hauses die Gruppe einen von Kerzen erleuchteten Gang entlang zu ihrer Loge führte. Sie war mit rotem Samt ausgeschlagen, die vier mit Blattgold verzierten Stühle passten gerade so hinein, aber der Blick auf die Bühne und über den Zuschauerraum war atemberaubend. Jake kam sich vor wie in einer begehbaren Schmuckschatulle. Fünf Logenränge erhoben sich majestätisch über das Parkett. Jede Loge war voll besetzt mit Adligen, die leise miteinander tuschelten – offensichtlich über die anderen Operngäste. Jake musste unwillkürlich an einen Zoo denken.

»Und, wo ist nun dieser Caspar Isaksen?«, fragte Nathan mit einem mürrischen Blick auf den leeren Stuhl. »Sieht ganz so aus, als würde er sich mal wieder verspäten.« Er nahm das silberne Opernglas zur Hand, das auf einem Beistelltischchen bereitlag. »Wie es scheint, bleibt noch genug Zeit, um den momentanen Stand der schwedischen Architektenkunst zu würdigen. Faszinierend …«

Charlie sah, dass Nathan das Opernglas auf eine Loge mit drei jungen Damen gerichtet hatte, die kokett über den Rand ihrer Fächer blinzelten.

»Könntest du dich zur Abwechslung mal ein bisschen konzentrieren?«, fragte er seufzend. »Wir sind hier bei der Arbeit.« Er entriss Nathan das Glas und gab es an Jake weiter. »Vielleicht kannst du was Vernünftigeres damit anfangen.«

Jake erwog kurz, erst einmal die drei Grazien gegenüber in Augenschein zu nehmen, beschloss dann aber, mit den anderen Logen anzufangen. Noch nie hatte er so viel Reichtum auf einem Haufen gesehen, so viele teure Kleider und glitzernde Juwelen. Da fiel ihm ein junges Mädchen in einem weißen Kleid auf. Sie war allein, und etwas an ihr erinnerte ihn an Topaz. Er spürte einen Stich im Herzen, als er an die schreckliche Nacht an Bord der Lindwurm zurückdachte. An jene Nacht, in der Topaz in den Strudeln der Zeit verschwunden war. Wahrscheinlich für immer.

Jake riss sich aus seinen Gedanken und inspizierte die nächste Loge. Diesmal blieb sein Blick an einem Mann mit schulterlangem glattem Haar hängen.

Auch er hielt einen silbernen Gegenstand in der Hand: Es war eine Pistole. Er hatte sie direkt auf Jake gerichtet.

Jake schnappte nach Luft und ließ das Opernglas fallen. Hastig hob er es wieder auf und sah noch einmal hin: nichts. Mit einem Kopfschütteln drehte er das Glas richtig herum und kniff die Augen zusammen, aber die Loge war leer. Keine Spur mehr von dem Mann mit der Pistole.

»Was ist bloß los mit dir?«, fragte Nathan.

»Die Loge dort drüben! Da war ein Kerl mit einer Pistole.«

Nathan und Charlie schauten hinüber zu der Loge, in der gerade ein älterer Herr neben seiner Frau Platz nahm.

»Jetzt ist er wieder weg, aber ich schwöre, ich habe ihn gesehen.«

Die beiden dienstälteren Agenten wechselten einen vielsagenden Blick. »Das ist furchtbar neu für dich, mein Bester«, sagte Nathan und versuchte, den Hohn in seiner Stimme zu verbergen, scheiterte aber kläglich. »Du bist ein bisschen übernervös, das ist alles. Wir sind hier in der Oper: Jeder begafft jeden. Gehört alles zum Spiel.«

»Er hat uns nicht begafft, er hat mit einer silbernen Pistole auf uns gezielt«, beharrte Jake.

»Silbern?«, wiederholte Nathan. »Es war nicht zufällig ein Opernglas wie dieses hier?«

Auch möglich, dachte Jake. Es war alles so schnell gegangen.

»Außerdem weiß keine Menschenseele, dass wir hier sind. Kommandantin Goethe allein kennt unsere Zeitkoordinaten. Also brich bitte nicht gleich in Panik aus.« Nathan beugte sich ein Stück heran. »An deiner Stelle«, flüsterte er und deutete auf die Bühne, »würde ich mich lieber darauf konzentrieren, was gleich da unten passiert.«

Die Gaslaternen wurden heruntergedreht. Eine erwartungsvolle Stille senkte sich über das Publikum, während Jake versuchte, seinen hämmernden Puls in den Griff zu bekommen. Eine Fanfare erschallte, begleitet von einem Paukenwirbel. Alle Augen waren auf die Bühne gerichtet, nur Jake konnte nicht anders, als den Zuschauerraum weiter nach dem Mann mit der Pistole abzusuchen. Aber es war zwecklos – zu dunkel, zu viele Menschen.

Es folgte ein weiterer Trompetenstoß, dann setzten die Geigen ein. Ganz langsam hob sich der Vorhang, und Jake bekam eine Gänsehaut. Nacheinander erhellten für das Theaterpublikum schier unfassbar Lichteffekte einen großen Vollmond über einem Gebirge, davor drei Pyramiden und schließlich im Vordergrund ein paar Palmen mit Blumenrabatten darum herum. Ein Keuchen ertönte aus dem Zuschauerraum.

»Ägypten«, flüsterte Charlie ehrfürchtig. »Das Reich der Königin der Nacht. Jeden Moment kommt Tamino auf die Bühne. Er flieht vor einer Riesenschlange.«

»Ich fall gleich in Ohnmacht vor Aufregung«, sagte Nathan gähnend.

Begleitet von leisem Applaus trat der junge Held aus einer Wolke Kunstnebel. Dann kam von oben die Schlange herab – wieder ein Keuchen aus dem Publikum, lauter diesmal.

Auch Jake war nicht gerade wohl bei dem Anblick. Das Monster auf der Bühne war aus Pappmasché, keine Frage, aber es sah erstaunlich echt aus und rief unangenehme Erinnerungen in ihm wach. Es war gerade erst ein paar Wochen her, dass er sich in einer finsteren Grube genau solcher, allerdings nur allzu lebendiger Kreaturen hatte erwehren müssen. Erst in letzter Sekunde waren er und sein Team von Jakes Eltern gerettet worden.

Weitere Figuren betraten die Bühne: drei geheimnisvoll verschleierte Damen, gefolgt von einem Mann im Vogelkostüm.

»Schade, dass Mister Drake das nicht sehen kann«, kommentierte Charlie.

Es folgte ein Donnergrollen, und eine majestätische Silhouette schwebte auf die Bühne herab.

»Das ist sie, die Königin der Nacht«, flüsterte Charlie. »Sie wird Tamino bitten, ihre Tochter aus den Fängen des bösen Zauberers Sarastro zu befreien. Macht ganz einen auf verzweifelte Mutter, dabei ist sie in Wahrheit die Schurkin. Die reizende Königin will die Sonne stehlen und die Welt in ewige Dunkelheit hüllen.«

»Ja, ja, immer diese Mütter …«, murmelte Nathan.

Jake war hingerissen. Das fantastische Kostüm, die schaurig-schöne Stimme und der durchdringende Blick der Königin nahmen ihn so gefangen, dass er erschrocken zusammenzuckte, als jemand an die Tür zu ihrer Loge klopfte.

Die drei hatten noch nicht einmal Zeit gehabt, die Köpfe zu drehen, als es auch schon zum zweiten Mal klopfte, begleitet von einem heftigen Niesanfall. »Ich bin’s, Caspar«, sagte eine Fistelstimme.

Erleichtert öffnete Jake die Tür, und Caspar Isaksen quetschte sich auf den freien Stuhl. Jake war überrascht: Caspar war ungefähr genauso groß wie er und konnte höchstens ein Jahr älter sein als Jake, sah aber aus, als würde er doppelt so viel wiegen. Caspar hatte rote Wangen, die Nase lief in einer Tour, und das helle Haar stand ihm in allen Richtungen vom Kopf ab. Das Lächeln auf seinen Lippen wirkte etwas gequält, Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Er trug ein leuchtend türkisfarbenes Jackett mit einer viel zu engen Weste darunter, die er auch noch falsch zugeknöpft hatte.

»’tschuldigung. Tut mir leid, dass ich so spät dran bin«, keuchte Caspar und tupfte sich die Stirn. »Guten Abend. Caspar Isaksen.« Er schüttelte Jake und Charlie die Hand. »Ah, der Herr Nathan. Wir kennen uns ja bereits. Wie Ihr seht, habe ich Euren Rat beherzigt. Ihr hattet recht: Türkis macht in der Tat unglaublich schlank! Ich trage nur noch diese Farbe.«

Stolz drehte er sich hin und her, um sich von allen Seiten zu präsentieren, da fiel sein Blick auf die Bühne. »Ach, du lieber Gott! Die Königin der Nacht ist auch schon da. Hat sie Tamino schon bezirzt, das hinterhältige Stück?«

Nathan war schon jetzt am Ende seiner Geduld. »Zuerst zum Geschäft«, unterbrach er. »Gehe ich recht in der Annahme, dass das Atomium sich in diesem Koffer befindet?« Er deutete auf den Karton in Caspars Händen.

»Das Atomium …« Caspar verstummte mitten im Satz und hielt einen Finger hoch. Während Jake sich noch fragte, was die Geste zu bedeuten hatte, wurde Caspar bereits vom nächsten Niesanfall durchgeschüttelt. Es folgte ein zweiter und schließlich noch einer.

»Tut mir leid, tut mir ganz furchtbar leid«, seufzte Caspar und tupfte sich erneut die Stirn. »Ihr habt natürlich recht: zuerst das Geschäft.« Er stellte den Karton auf den Boden und öffnete den Deckel. Was er herausholte, waren jedoch keine Fläschchen, sondern weitere Kartons mit dem Aufdruck einer Konditorei, und zwar erstaunlich viele davon.

Charlie und Jake schauten ihn verdutzt an.

»Wenn ich in Stockholm bin, kann ich einfach nicht anders, als der Konditorei Sundberg einen kleinen Besuch abzustatten. Erdbeercreme, Zimtgebäck, Christstollen … Ganz vorzüglich«, murmelte Caspar, während er die Spezialitäten eine nach der anderen beiseitestellte. Endlich war er ganz unten bei einem kleinen Holzkästchen angelangt. Eilig wischte er Puderzucker und Sahnespritzer von dem dunklen Furnier, dann reichte er es Nathan.

Erwartungsvoll schauten die drei Agenten auf das Kistchen. In den Deckel war ein fein geschwungenes »I« graviert, wahrscheinlich für »Isaksen«. Nathan klappte das Kästchen auf. In einem indigofarbenen Futteral lagen zwei Kristallphiolen, beide bis zum Rand gefüllt mit der kostbaren, silbrig glitzernden Flüssigkeit.

»Die eine Lieferung ist für den Nullpunkt bestimmt«, erklärte Caspar jetzt in etwas geschäftsmäßigerem Ton. »Das zweite Fläschchen ist für die Dependance in China.«

Nathan klappte gerade den Deckel zu, als Jake bemerkte, wie ein einzelner Zuschauer vom Parkett aus zu ihnen heraufstarrte: der blonde Mann von vorhin.

»Da ist er wieder!«, rief Jake.

Die anderen drei folgten seiner Blickrichtung und sahen gerade noch, wie der Mann von seinem Sitz aufsprang, eine silberne Pistole gezückt. Nathan riss Jake das Opernglas aus der Hand und verfolgte den Weg des Fremden: Er eilte den Gang entlang und stürmte durch die Doppeltür ins Foyer.

»Wir wurden entdeckt. Sofort zurück zum Schiff.« Hastig gab Nathan Jake das Opernglas zurück und nahm das Kistchen mit dem Atomium. Er fingerte kurz daran herum, aber Jake konnte nicht sehen, was genau er machte. Dann schob er langsam die Logentür auf und streckte den Kopf hinaus zum Flur: Die Luft war rein. »Charlie, du gehst da lang. Wer als Erster bei der Tulpe ist, macht sie klar zum Auslaufen.«

Charlie rannte das Treppenhaus hinunter zum Ausgang.

»Jake, Caspar, ihr kommt mit mir«, befahl Nathan.

Umständlich verstaute Caspar seine Konditoreispezialitäten wieder im Karton.

»Jetzt!«, bellte Nathan. Charlie war bereits durch den Ausgang verschwunden, Nathan und Jake liefen in die entgegengesetzte Richtung. Caspar kam hechelnd hinterher. Da hörten sie trampelnde Schritte, die ihnen vom Treppenhaus entgegenkamen. Wie angewurzelt blieben sie stehen. Die Zeit schien einen Moment lang stillzustehen, dann kam der unheimliche Blondschopf am anderen Ende des Flurs die Treppe heraufgerannt. Zum ersten Mal konnte Jake ihn im Licht der Kerzenleuchter genau sehen. Er musste etwa sechzehn Jahre alt sein, im selben Alter wie Nathan also. Sein Gesicht war auffallend fein geschnitten, der Blick selbstsicher bis arrogant, und der eleganten Kleidung nach zu urteilen, war er genauso ein Modefreak wie Nathan. Wäre da nicht das absolut glatte helle Haar gewesen – er hätte sein Zwillingsbruder sein können.

Nathan wurde blass. »Wer in aller Welt ist dieser …«

Der seltsame Fremde hob die Pistole und schoss.

2

Der Hut mit der breiten Krempe

Die Kugel flog pfeifend über ihre Köpfe und holte einen der Kristallleuchter von der Decke. Mit einem Krachen zerschellte er hinter ihnen auf dem Boden.

»Ein Warnschuss«, sagte der Fremde mit leichtem Akzent. »Gebt mir das Kistchen. Widerstand ist zwecklos«, erklärte er mit öliger Stimme und streckte die leere Hand vor, während er mit der anderen die wunderschön gearbeitete Steinschlosspistole hochhielt.

»In Ordnung«, sagte Nathan seelenruhig in die entstandene Stille hinein und hielt ihm die Holzschatulle hin. »Ich habe nicht vor, wegen zwei kleiner Fläschchen meine glorreiche Laufbahn vorzeitig zu beenden. Das Zeug schmeckt sowieso grässlich. Ihr habt gewonnen.«

»Nathan!«, murmelte Jake ungläubig.

»Aber Ihr könnt doch nicht …«, stammelte Caspar und spähte über Jakes Schulter. Wieder musste er niesen.

Nathan ignorierte die beiden. »Wie war noch mal der werte Name?«, fragte er höflich. »Ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen.«

»Eine etwas aufdringliche Frage, meint Ihr nicht?«, antwortete der Fremde lächelnd. »Ihr dürft mich Leopard nennen«, sagte er schließlich mit einem Achselzucken.

»Leopard? Was für ein origineller Spitzname.«

»Das ist kein Spitzname«, korrigierte der andere. »Ich bin der Leopard. Es gibt nur den einen. Ich bin einzigartig.«

»Das sehe ich«, murmelte Nathan. »Eure zweireihige Weste ist ihrer Zeit weit voraus. Und erst das chinesische Muster auf Eurer Reithose … unglaublich!«

Das Lächeln auf dem Gesicht des Leoparden verschwand. »Her mit dem Kistchen«, sagte er und richtete die Pistole auf Nathans Stirn.

Mit einem Seufzen hielt Nathan ihm die Schatulle hin.

Der Leopard nahm sie und ließ Nathan für einen Sekundenbruchteil aus den Augen. Dann geschah alles gleichzeitig: Der Fremde sah, dass er getäuscht worden war – das Kistchen war leer. Nathan entriss Caspar das völlig durchnässte Taschentuch und warf es dem Leoparden ins Gesicht, wo es prompt kleben blieb. Ein Schuss löste sich, aber die Kugel ging in die Decke, während Nathans Stiefel mit voller Wucht gegen den Kiefer des Blondschopfs krachte. Der Leopard taumelte benommen ein paar Schritte zurück, stolperte und fiel rücklings gegen die Wand. Da rannten die drei Agenten los.

»Ich habe gelogen!«, rief Nathan noch über die Schulter. »Der Plunder, den Ihr da am Leib tragt, ist der Gipfel der Geschmacklosigkeit!«

Am anderen Ende des Flurs angekommen, riss Nathan eine Logentür auf und schob Jake und Caspar hinein. Er verriegelte die Tür von innen und wandte sich den Insassen zu: Es waren die drei jungen Grazien, die er zuvor durch das Opernglas inspiziert hatte.

Instinktiv umklammerten die Damen ihre Juwelenketten, doch nachdem sich der erste Schreck gelegt hatte, schienen sie durchaus erfreut über den unerwarteten Besuch.

»Ich wünschte, ich hätte etwas mehr Zeit für Euch, edle Fräulein«, gurrte Nathan mit einem strahlenden Lächeln und warf die braunen Locken zurück, »aber ich fürchte, die Umstände lassen es nicht zu.« Er winkte seine Begleiter ans Geländer. »Schnell«, flüsterte er, schwang die Beine über die Brüstung und sprang die drei Meter hinunter aufs Parkett. Bei der Landung fielen ihm die Atomiumfläschchen aus der Jacketttasche, aber Nathan sammelte sie blitzschnell wieder auf. Im Zuschauerraum erhob sich unterdessen ungehaltenes Gemurmel.

Jake nickte den Damen entschuldigend zu, und Caspar lief feuerrot an. Ängstlich hielt er seine Konditoreispezialitäten an die Brust gepresst, während Jake versuchte, ihn über das Geländer zu bugsieren. Das war zu viel für Caspars Hose. Mit einem lauten Ratschen riss die Naht im Schritt. Rosarot, umrahmt von knalligem Türkisblau, leuchtete sein beachtlicher Hintern hervor. Als Caspar sich schnaufend auf die andere Seite des Balkons hievte, riss die Hose komplett durch, sodass auch der Rest des Publikums sein voluminöses Hinterteil zu sehen bekam. Dann sprang er ab, und Jake folgte ihm mit einem eleganten Wälzsprung.

Kaum war er unten aufgekommen, drückte Nathan ihm auch schon die Phiolen in die Hand. »Mein Jackett«, sagte er mit einem Achselzucken. »Eine Sternstunde der Modegeschichte, aber Löcher in allen Taschen. Besser, du nimmst sie.«

Jake wusste den unvermittelten Vertrauensbeweis zu schätzen, aber die immense Verantwortung machte ihn doch etwas nervös. Zur Sicherheit stopfte er die Fläschchen so tief in seine Westentasche, wie er nur konnte.

»Da lang!«, befahl Nathan und rannte am Rand des Zuschauerraums Richtung Foyer. Da sahen sie, wie der Leopard durch die Flügeltüren hereingestürmt kam.

Nathan machte auf dem Absatz kehrt und schlug sich seitwärts zwischen die Sitzreihen.

Jake folgte ihm. Wie eine Heuschrecke sprang er über glänzende Lackstiefel und teure Seidenschleppen.

Caspar hielt fest, was von seiner Hose noch übrig war, und stolperte hinterher. Nach wenigen Schritten fiel ihm die Konditorschachtel aus der Hand, Zimt stob auf, und Stollenstreusel spritzten in alle Richtungen. Es gab einen entsetzten Aufschrei, und eine ältere Dame zog ihm erbost ihren Fächer über den Hinterkopf, während Caspar die Schachtel hastig wieder aufhob.

»Beeil dich!« Jake packte Caspars Hand und zog ihn hinter sich her.

Der Leopard kam schnell näher, und ihnen blieb nichts anderes übrig, als in Richtung Bühne zu fliehen. Als sie hinunter in den Orchestergraben sprangen und auf der anderen Seite auf die Bühne klettern, standen mehrere Zuschauer schockiert auf.

Ohne ihre Arie zu unterbrechen, wandte sich die Königin der Nacht den Eindringlingen zu. Wutentbrannt schmetterte sie ihnen Note um Note entgegen, als wären es Dolche.

Der Leopard war jetzt fast auf Schussdistanz heran und hob die Pistole, da kamen durch die Seitentüren Wachmänner mit Musketen im Anschlag in den Saal gestürzt. Anscheinend hatten die Platzanweiser sie wegen des Schusses vorhin alarmiert.

Nathan beobachtete von der Bühne aus, wie ihr Verfolger die Pistole wegsteckte und den Rückzug antrat, dann wandte er sich galant der Königin der Nacht zu: »Mein Kompliment für Eure Intonation, edle Dame. Jede Note ein Treffer! Leider werde ich das Ende verpassen, denn ich muss Euch hier und jetzt verlassen.« Er verneigte sich theatralisch und warf ihr eine Kusshand zu.

Mit offen stehenden Mündern beobachtete der Rest des Bühnenpersonals, wie die drei Agenten Richtung Bühnenausgang weiterrannten. Caspar blieb unterwegs an einer Pyramide hängen und rannte noch eine Palme um, dann waren sie weg.

Hinter der Bühne irrten sie durch ein Gewirr von Gängen, schoben sich an Bühnenarbeitern und Kostümbildnern vorbei und hasteten die Treppe hinunter in die Requisite.

Unten angekommen, fühlte Jake sich, als hätte er eine andere Welt betreten. Bühnenbauten und riesige Leinwände mit gemalten Hintergründen umgaben sie wie Momentaufnahmen der Geschichte. Eine stach Jake ganz besonders ins Auge. Es war ein gigantisch großes Gemälde des Kolosseums im alten Rom. Majestätisch ragte es vor einem leuchtend blauen Himmel auf. Fasziniert blieb Jake stehen, bis Nathan ihn am Ärmel packte und weiterzog. Als sie endlich einen Ausgang erreichten, sah Caspar aus, als wäre er kurz vorm Ersticken. Sein Brustkorb pumpte wie ein Blasebalg.

Vorsichtig drückte Nathan die Tür auf und spähte nach draußen auf den Opernplatz. Er sah nur ein paar Kutschen, deren Fahrer bei einem Kartenspiel zusammensaßen und sich wegen der Kälte immer wieder in die Hände bliesen. Er winkte den anderen. Tief geduckt schlichen sie zu den Kutschen. Von ihrem Versteck aus konnten sie die Haupttreppe des Opernhauses sehen, wo der Leopard gerade nach draußen gestürmt kam.

Sein Blick schoss von links nach rechts auf der Suche nach den drei flüchtigen Agenten. Mit schnellen Schritten ging er zu seinem Begleiter, der mit den Pferden im Schatten am Rand des Platzes wartete. Die beiden sprachen kurz miteinander, dann stieg der Mann mit dem breitkrempigen Hut auf und gab seinem Pferd die Sporen.

Nathan bedeutete Jake und Caspar, in die Kutsche zu klettern.

Behutsam öffnete Jake die mit Blattgold verzierte Tür und glitt lautlos auf die seidengepolsterte Sitzbank. Als Caspar ihm folgen wollte und auf das Trittbrett stieg, kippte die Kabine merklich zur Seite. Ein lautes Quietschen ertönte, und die Kartenspieler hoben erschrocken die Köpfe.

Nathan sprang auf den Kutschbock und ließ die Zügel schnalzen.

Die Pferde rührten sich nicht.

Inzwischen hatten die Kutscher begriffen, was vor sich ging. Unter wildem Fluchen warfen sie die Karten weg, und der Leopard schaute aufmerksam in die Richtung, aus der der Lärm kam.

»Kommt schon«, flüsterte Nathan und probierte es noch einmal mit den Zügeln. Wieder ohne Erfolg. Entnervt sprang er auf die Füße und verpasste den Pferden einen kräftigen Tritt.

Die Tiere stießen ein lautes Wiehern aus und galoppierten los, mitten auf den Platz hinaus. Inzwischen hatte auch der Leopard sein Reittier bestiegen und pfiff nach seinem Begleiter. Der machte sofort kehrt, und die beiden nahmen die Verfolgung auf.

Auch zwei aufgebrachte Kutscher schlossen sich der wilden Jagd an, und der ganze Tross raste unter lautem Hufgeklapper über die Brücke Richtung Hafen.

Hinten in der Kabine wurden Jake und Caspar heftig durchgeschüttelt. In einer halsbrecherischen Kurve drückte die Fliehkraft Caspar mit solcher Gewalt gegen Jake, dass er unter dem Gewicht des Schweden kaum noch Luft bekam. Nachdem das Gespann endlich wieder geradeaus fuhr, zog Caspar mit zitternden Händen ein Stück Stollen aus dem Karton hervor. Einen großen Bissen davon stopfte er sich in den Mund.

»Was tust du da?«, fragte Jake entgeistert.

»Zucker beruhigt meine Nerven«, gab Caspar sachlich zurück.

Jake hörte einen Pistolenknall, und die Rückscheibe der Kutsche zerbarst. Blitzschnell drehte er sich um und sah, wie der Leopard mit der Pistole im Anschlag herangaloppiert kam, der Mann mit dem Hut dicht hinter ihm.

Nathan riss erneut die Zügel herum, die Kutsche schlitterte übers vereiste Pflaster, und die beiden Passagiere wurden auf die andere Seite geworfen. Mit perfekter Technik und exzellentem Timing dirigierte Nathan das Gespann im Zickzack durch die engen Straßen der Altstadt, und ihre Verfolger hatten alle Mühe dranzubleiben. Vor allem der Fahrer der ersten Kutsche: Schon in der dritten Kurve wurde er hinausgetragen. Die Wagenräder krachten Funken sprühend gegen die Stufen vor einer Kirche, und die Kutsche wurde von der Kraft des Aufpralls zurück auf die Straße geworfen, wo sie mit gebrochenen Speichen quer stehen blieb. Der zweite Kutscher konnte gerade noch rechtzeitig anhalten. Der Durchgang war blockiert, an Weiterfahren nicht zu denken. Zumindest die beiden waren sie los.

Nathan hielt weiter auf den Hafen zu. Hinter den Lagerhäusern am Kai sah er bereits die Masten des Linienschiffs aufragen, neben dem die Tulpe vor Anker lag. Da geschah das Verhängnis: Ein Kohlewagen kam wie im Zeitlupentempo aus einer Querstraße und versperrte den Weg. Die Kutschpferde bäumten sich laut wiehernd auf und verloren auf dem spiegelglatten Untergrund den Halt. Das gesamte Gespann wurde herumgerissen und schlitterte unkontrolliert übers Eis, mitten hinein ins Schaufenster einer großen Bäckerei. Glas splitterte, Gebäck und Scherben flogen in alle Richtungen.

Nathan sprang vom Kutschbock und riss die Tür zur Kabine auf. »Schnell!«, rief er und zog Caspar durch die schmale Tür.

»Das ist die Konditorei Sundberg!«, rief der Schwede, als er das zerstörte Schaufenster sah. Wie in Trance starrte er das verlockend ausgebreitete Zuckerwerk an. Er brauchte nur zuzugreifen …

Jake und Nathan packten Caspar und zogen ihn unbarmherzig hinter sich her, hinein ins rettende Labyrinth des Hafengeländes, wo die anderen sie mit den Pferden nicht verfolgen konnten. Schnurstracks rannten sie die Treppe eines großen Gebäudes mit hohen Fenstern und einem Säulenportal am Eingang hinauf.

Es war das Zollhaus. Drinnen herrschte trotz der späten Stunde immer noch reger Betrieb. Kaufleute in feinem Zwirn stritten mit mürrischen Zöllnern. Kisten wurden inspiziert, Waren gewogen, Gold- und Silbermünzen wanderten, begleitet von einigem Murren, aus den Säckeln der Händler in die Kasse des schwedischen Zolls. Inmitten der exzentrischen Kaufleute und der exotisch gekleideten Seefahrer aus aller Welt fielen Caspars türkisblaues Jackett und die zerrissene Hose kaum auf. Unbehelligt gelangten sie zum Ausgang auf der gegenüberliegenden Seite, von wo es nicht mehr weit zu den Ankerplätzen war.

»Schaut!« Jake deutete auf die Tulpe, die unscheinbar im Schatten des imposanten Linienschiffs lag. Da fiel ihm das Opernglas wieder ein, das er immer noch in der Hosentasche hatte. Er zog es heraus und sah, wie eine Gestalt gerade das Hauptsegel der Tulpe hisste. »Das ist Charlie. Er hat es geschafft!«

Doch Nathan sah noch etwas anderes: zwei Reiter, die auf den Kai zuhielten. Der eine blond, der andere mit einem breitkrempigen Hut. »Hier rüber«, sagte er und lief übers glitschige Pflaster hinüber zum Fischmarkt. Der penetrante Geruch von brackigem Salzwasser schlug ihnen entgegen. Öllaternen baumelten von den Markisen der Stände herab und beleuchteten das geschäftige Treiben. Hafenarbeiter brachten Kisten voll Fisch und nahmen leere wieder mit, es wurde hartnäckig gefeilscht, und über allem hing ein eisiger Dunst, vermischt mit diesem drückenden Gestank.

Die Agenten verdrückten sich hinter eine Reihe brusthoher offener Holzkisten. Als Caspar neugierig hineinblickte, verzog er angeekelt das Gesicht: Sie waren mit Meerwasser gefüllt, in dem lebende Aale sich wanden wie Schlangen in einer Grube. Jake und Nathan spähten unterdessen in die andere Richtung und sahen, wie der Leopard und sein Komplize abstiegen.

Sie gingen genau auf den Fischmarkt zu. Als sie den Schein der ersten Laternen erreichten, hob der Komplize kurz seinen Hut und tupfte sich die Stirn.

Jake kniff die Augen zusammen. Es war schwer, in dem schummrigen Licht Genaueres zu erkennen, aber irgendetwas an dem Mann kam ihm bekannt, ja sogar vertraut vor. Jake sah genauer hin: Der Kerl war noch sehr jung, vielleicht siebzehn. Er hatte ein schönes Gesicht und breite Schultern, sein Teint ging leicht ins Olivfarbene.

Jakes Herz blieb beinahe stehen. »Philip …?«, flüsterte er. Der Mann mit dem Hut sah aus wie sein verschollener Bruder. Drei Jahre war es jetzt her, dass Jakes Eltern die schreckliche Nachricht von Philips Tod erhalten hatten. Jake hatten sie erzählt, Philip habe auf einer Klassenfahrt auf eigene Faust einen Kletterausflug unternommen, von dem er nicht zurückgekehrt sei. Erst seit Kurzem wusste er, dass sein Bruder in Wahrheit seit einem Einsatz im Wien des Jahres 1689 verschollen war. Niemand hatte seither etwas von ihm gehört oder gesehen. Auch seine Leiche war nie gefunden worden. Und jetzt stand er nur wenige Meter weit weg, Jakes tot geglaubter, geliebter Bruder Philip! Hoffte Jake zumindest.

Der mysteriöse Fremde sagte etwas zu dem Leoparden, dann drehten die beiden um und gingen zurück zu ihren Pferden. Sie stiegen auf und machten sich daran, die Anlegestellen am anderen Ende des Kais abzusuchen.

»Bestens. Gehen wir«, flüsterte Nathan und glitt lautlos aus ihrem Versteck hervor. Caspar folgte ihm, doch Jake rührte sich nicht von der Stelle. Wie gelähmt starrte er den beiden Reitern hinterher. Sein Herz schlug wie wild, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. War das wirklich sein Bruder? Drei Jahre hatte er ihn nicht mehr gesehen, und auch jetzt hatte er nur einen kurzen Blick erhascht. Konnte er es sein? Würde Philip jetzt so aussehen? Und wenn er es tatsächlich war, was hatte er dann auf der Seite der Feinde zu suchen?

»Was stehst du da noch rum, verflucht?«, zischte Nathan und zog ihn am Ärmel. »Los jetzt!« Er musste Jake beinahe am Kragen hinter sich her zum Liegeplatz der Tulpe schleifen.

Wie in einem Traum drehte Jake den Kopf. Er konnte die beiden Reiter gerade noch sehen. »Nathan«, sagte er und blieb stehen, »ich weiß, du wirst mich für verrückt halten, aber ich kann hier nicht weg, bevor ich nicht etwas überprüft habe.« Entschlossen machte er sich an die Verfolgung der zwei Berittenen.

Jake hatte recht: Nathan hielt ihn für durch und durch verrückt. »Hast du vollkommen den Verstand verloren?«, donnerte er. »Komm zurück, und zwar sofort!«

Der Leopard und sein Begleiter hörten den Aufruhr und schauten in ihre Richtung. Sie wendeten die Pferde.

»Wir haben noch etwa sechzig Sekunden, um hier zu verschwinden«, fluchte Nathan. Er packte Jake mit beiden Armen und zog ihn gewaltsam mit. Caspar kam keuchend hinterher.

»Hierher!«, rief Charlie ihnen vom Deck der Tulpe entgegen. »Der Kessel ist heiß, alles bereit zum Auslaufen.« Die Schiffsschraube der Tulpe drehte sich lautlos im Wasser – alle Schiffe der Geschichtshüter, egal aus welcher Epoche sie ursprünglich stammten, verfügten über einen zusätzlichen Dampfantrieb, um sie schneller zu machen.

Sie waren keine zehn Meter mehr vom Schiff entfernt, als Jake es nicht mehr aushielt. »Philip!«, schrie er aus vollem Hals. »Bist du das?«

»Bist du wahnsinnig? Halt dein Maul!«, brüllte Nathan ihn an.

»Lass mich los«, schnauzte Jake zurück. Es kam zu einem kurzen Gerangel, doch Nathan wollte ihn partout nicht loslassen, weshalb Jake ihm schließlich eine krachende Gerade verpasste.

Charlie, der normalerweise nicht leicht aus der Ruhe zu bringen war, schlug die Hände vors Gesicht.

»Er hat das Atomium!«, rief Nathan ihm zu, während Jake ihren Verfolgern entgegenlief.

»Philip, sag endlich was!«, schrie Jake, als der Leopard direkt vor ihm stehen blieb und seine Pistole auf ihn richtete. Jake beachtete ihn nicht. Er hatte keine Angst. Das Einzige, das ihn im Moment beschäftigte, war der Name des Mannes mit dem Hut.

Der zweite Verfolger ließ sich aus dem Sattel gleiten und trat ohne Eile auf Jake zu, das Gesicht immer noch von der breiten Krempe verborgen.

»Du bist es …«, flüsterte Jake mit bebender Stimme.

Da nahm der andere den Hut ab. Er hatte die falsche Nase, einen anderen Mund, und die Augen passten ebenfalls nicht. Es war nicht sein Bruder, ganz und gar nicht. Die Erkenntnis traf Jake wie ein Schmiedehammer.

Wortlos zog sein Gegenüber eine Pistole und zielte auf Jake.

»Ich habe doch gesagt, dass wir das Atomium mitnehmen«, erklärte der Leopard süffisant. »Henrik, würdest du bitte ein wenig nachhelfen?«

Henrik drückte Jake den Lauf der Pistole auf die Brust.

Die anderen drei Geschichtshüter konnten nur tatenlos zusehen, wie Jake die beiden Fläschchen aus der Westentasche zog und sie übergab.

Henrik reichte sie an den Leoparden weiter, der sie sorgsam im Futteral des kleinen Holzkistchens verstaute. »Endlich sind wir im Geschäft«, sagte er und verneigte sich. Henrik setzte seinen Hut wieder auf und stieg aufs Pferd.

Ein markerschütternder Schrei zerriss die Nacht. »Neeeiiin!«, brüllte Caspar und stürzte sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf den Leoparden. »Dazu habt Ihr kein Recht!«

Es folgte ein Knall, so dicht neben Jakes Ohr, dass er ein paar Sekunden lang taub war. Niemand rührte sich. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Rauch aus einem Pistolenlauf aufstieg. Aus Caspars Mund kam ein Stöhnen, und er taumelte. Die Augen weit aufgerissen, presste er sich eine Hand auf den Bauch. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Seine Knie gaben nach, dann stürzte er ins Wasser.

»Caspar!«, brüllte Jake. Er wollte gerade hinterherspringen, da sah er, wie Henrik seine Pistole auf ihn richtete.

»Töten wir sie?«, fragte Henrik.

Der Leopard blickte zu dem Linienschiff hinüber, das neben der Tulpe lag, und runzelte die Stirn. Ein Trupp Soldaten kam, aufgeschreckt von dem Schuss, mit trampelnden Stiefeln die Planke zum Kai heruntergelaufen. »Keine Zeit mehr«, sagte er. »Wir haben bereits, was wir brauchen.« Die beiden wendeten ihre Pferde und galoppierten davon.

Jake rannte zum Rand des Kais, doch Nathan hielt ihn zurück.

»Du bleibst, wo du bist«, schnaubte er wütend. »Du hast schon genug Schaden angerichtet.«

Totenblass sah Jake zu, wie Nathan kopfüber ins eiskalte Wasser sprang. Prustend kam er wieder hoch, und nach ein paar Kraulzügen hatte er Caspar erreicht.

Der Atem des Schweden ging stoßweise. Mit steifen Armen versuchte er, Schwimmbewegungen zu machen. Die Beine konnte er wegen der Kälte schon nicht mehr bewegen.

Jake drehte den Kopf und beobachtete, wie der Mann, der nicht sein Bruder war, irgendwo hinter dem Hafengelände außer Sicht verschwand.

Charlie kam herbeigerannt. »Hilf mir, Jake! Uns bleibt noch etwa eine Minute, dann verlieren wir Caspar«, rief er.

Mit Caspar im Schlepptau erreichte Nathan den Steg. Er übergab den Schweden an die beiden anderen und kletterte schlotternd aus dem Wasser.

Verzweifelt versuchten Jake und Charlie, den fetten Caspar zu bergen, aber es war unmöglich. Der Junge war inzwischen bewusstlos und wog ungefähr eine Tonne. Erst als die Soldaten vom Schiff sie erreichten und mithalfen, schafften sie es.

Charlie kniete sich neben Caspar, legte ihm die Hände auf die Brust und begann rhythmisch zu pressen. Nach jedem fünften Mal legte er ihm die Lippen auf den Mund und blies Luft in seine Lunge. Er machte eine ganze Weile so weiter, doch nichts geschah.

Jake kaute nervös auf seiner Unterlippe herum. Endlich begann Caspar zu husten. Er riss die Augen auf und erbrach jede Menge Wasser. Wenigstens war er wieder bei Bewusstsein, wenn auch nur halb.

Charlie inspizierte die Schusswunde. Er sah die Einschussstelle an der linken Leiste und tastete Caspars Rücken ab. Da: ein glatter Durchschuss. Die Adern, die sich im eisigen Wasser zusammengezogen hatten, öffneten sich bereits wieder, und das Blut begann zu sprudeln. Charlie wandte sich den Soldaten zu. »Gibt es eine Krankenstation an Bord?«, fragte er. »Har ni ett sjukhus?«, wiederholte er.

Die Soldaten nickten. Gemeinsam hoben sie Caspar auf und trugen ihn die Planke hinauf.

Die Decke der Krankenstation war so niedrig, dass sie kaum aufrecht stehen konnten, und die Station so klein, dass Nathan und Charlie gerade noch mit hineinpassten. Caspar lag ausgestreckt auf einem hölzernen Operationstisch. Sein Kiefer zitterte, das Gesicht war aschfahl, und er murmelte wie im Fieber.

Vor ihm stand der Schiffsarzt mit einem Mundschutz vorm Gesicht. Seine Augen waren gerötet – bis vor wenigen Minuten hatte er noch geschlafen. Im flackernden Schein einer Laterne machte er gerade Nadel und Faden bereit.

Jake stand in der Tür und schaute schuldbewusst auf die gegenüberliegende Wand, an der die Instrumente des Arztes hingen: eine museumsreife Sammlung von Messern und grässlich anzuschauenden Sägen, manche davon dunkel verfärbt von getrocknetem Blut. Wie Requisiten aus einem Horrorfilm, dachte Jake.

Der Arzt murmelte etwas auf Schwedisch.

»Das wird jetzt ein bisschen wehtun«, übersetzte Charlie leise. Er nickte Nathan zu, dann hielten sie Caspars Arme fest. Zwei Soldaten übernahmen die Beine.

Caspar brüllte aus vollem Hals, und sie hatten alle Mühe, ihn zu halten, während der Arzt die erste Naht setzte.

Jake schaute weg.

Acht endlose Minuten vergingen, dann war die Wunde endlich verschlossen, gesäubert und verbunden. Caspars Verstand wurde jetzt langsam wieder klar, und sein Atem ging gleichmäßiger. Als er bei vollem Bewusstsein war, suchte er Jakes Blick. Caspar sah aus, als wäre er rasend vor Zorn. Mit glühenden Augen funkelte er Jake an. »Du …«, knurrte er. »Mit dir hab ich noch ein Wörtchen zu reden.«

Jake nickte und trat an den Operationstisch. »Das … das alles tut mir so unglaublich leid«, sagte er leise. »Es ist meine Schuld, dass du angeschossen wurdest.«

»Angeschossen?«, schnaubte Caspar. »Glaubst du, das kümmert mich? Diese kleine Wunde ist nichts im Vergleich zu dem, was du angerichtet hast!«

Keine Spur mehr von dem tollpatschigen, übergewichtigen Torten- und Opernfan. Jake hatte nichts zu erwidern. Mit hängendem Kopf ließ er Caspars Tirade über sich ergehen.

»Ich habe keine Ahnung, wer du bist und woher du kommst«, zischte Caspar durch zusammengebissene Zähne, »noch weiß ich, was du mit den Geschichtshütern zu schaffen hast, aber du musst eines wissen: Du hast alles zerstört. Alles. Nicht nur, weil es zehn Jahre gedauert hat, das Atomium herzustellen, und weitere zehn brauchen wird, um es zu ersetzen. Es sind auch nicht die vielen, teilweise lebenswichtigen Einsätze, die wegen deines Versagens abgeblasen werden müssen. Nein, viel schlimmer ist, dass du das Atomium in die Hände unserer Feinde hast gelangen lassen. Jetzt sind sie besser gerüstet denn je, die Kontrolle über die Vergangenheit an sich zu reißen. Ich hoffe, du hast wenigstens genug Verstand, um zu begreifen, was du angerichtet hast, du elender Verräter!«

Brennende Scham stieg in ihm auf. Jake schluckte, dann schloss er die Augen.

3

Josephine von Nantes

Woher hat sie die bloß alle?«, fragte Miriam hinter vorgehaltener Hand.

»Von einem Zirkusdirektor in Nantes, hat sie mir erzählt«, flüsterte Alan zurück. »Das Geschäft lief nicht mehr so. Er musste die Tiere verkaufen, um seine Schulden zu bezahlen. Eigentlich wollte Oceane nur eines davon, in das sie sich à première vue verliebt hatte, aber der Direktor sagte, alle oder keines.«

Es war ein außergewöhnlich stürmischer Tag auf Mont-Saint-Michel. Alan und Miriam Djones standen zusammen mit den anderen, nicht weniger beeindruckten Geschichtshütern auf dem Pier und beobachteten, wie Oceane Noire mit gewohnt ruppiger Art das Entladen ihrer »Menagerie« überwachte, wie sie es nannte. Alle trugen für das Jahr 1820 übliche Kleidung: die Frauen lange, im Wind flatternde Kleider, die Männer gingen in Frack und Kniehosen. Die Hüte mussten sie wegen der ständigen Böen immer wieder festhalten.

Eine Barke hatte an der Anlegestelle festgemacht. Die Besatzung trieb die verstört wirkenden Tiere vor sich her über den Kai, darunter zwei Ponys und mehrere Pferde, auf die mit der gebotenen Schwerfälligkeit ein Elefant folgte. Die Tiere sahen aus, als hätten sie schon bessere Tage gesehen, vor allem der Elefant: Er war uralt, die Haut grau und runzlig. Sein Rücken hing durch wie eine alte Matratze, der Rüssel baumelte bei jedem mühevollen Schritt kraftlos hin und her.

»Armes Ding«, murmelte Miriam. Der Anblick des Elefanten war so unendlich traurig, dass ihr Tränen in die Augen stiegen.

Alan legte ihr einen Arm um die Schulter.

Oceane war alles andere als gerührt. Als der Elefant an ihr vorbeischlurfte, rümpfte sie nur angewidert die Nase, zog ihr Taschentuch hervor, besprenkelte es mit Parfüm und hielt es sich vors Gesicht. Als das Tier prompt vor ihr stehen blieb und den Kopf in ihre Richtung drehte, warf sie sich mit einem Kreischen an Jupitus Coles Brust, der die eigenartige Parade mit stoischer Miene verfolgte. Zur großen Verwirrung aller auf Mont-Saint-Michel hatten Jupitus und Oceane vor Kurzem ihre Verlobung bekannt gegeben. Jupitus war der etwas mürrische, vom Wesen typisch viktorianische Stellvertreter von Kommandantin Goethe, Oceane eine hochnäsige Dame vom Hof Louis XV. Obwohl die beiden sich in Sachen Überheblichkeit in nichts nachstanden, hätte keiner am Nullpunkt eine Romanze zwischen ihnen auch nur im Entferntesten für möglich gehalten.

»Und wohin sollen sie Oceanes Meinung nach?«, fragte Miriam.

»Galliana meinte, fürs Erste könnten sie in den alten Stallungen bleiben«, antwortete Alan. »Aber sie klang nicht besonders begeistert.«

Miriam schaute zur Kommandantin hinüber. Oberflächlich wirkte sie ruhig und gelassen wie immer, aber wer sie besser kannte, sah ihr Unbehagen.

»Das hier ist das Hauptquartier eines Geheimdienstes«, murmelte Galliana, »keine Zuflucht für exotische Tiere. Wenn die Leute vom Festland davon Wind bekommen … Immerhin machen sie einen einigermaßen zahmen Eindruck.«

»Das will ich auch hoffen, denn wir werden es sein, die hinter ihnen sauber machen. Ich kann mir kaum vorstellen, wie Oceane Noire einen Haufen Elefantenmist wegräumt.«

Wie auf ein Stichwort hob der Elefant den Schwanz und ließ einen ordentlichen Haufen grasbrauner Brocken auf den Pier fallen.

»Mon dieu!«, keuchte Oceane und umklammerte mit beiden Händen die Perlenkette an ihrem Hals, als könnte sie allein den Anblick natürlicher Ausscheidungen nicht ertragen.

»Sag ich doch«, flüsterte Miriam Alan zu. »So was hat sie noch nie gesehen, geschweige denn, dass sie selbst jemals aufs Klo müsste.«

Die beiden blickten einander grinsend an.

Schließlich kam das letzte Tier die Laufplanke herunter. Es trug eine schwere Kette um den Hals, und zwei Matrosen führten es ängstlich an der daran befestigten Leine. Es war eine junge Löwin.

Alle schnappten nach Luft. Die Löwin war noch recht klein, aber die enormen Pranken verrieten, wie groß sie eines Tages werden würde. Den Blick eines Raubtiers hatte sie jetzt schon.

»Da bist du ja endlich, ma petite!«, rief Oceane und lief der Löwin mit ausgebreiteten Armen entgegen. Als sie sich auch noch vor das Tier auf den Pier kniete, hielten alle den Atem an. »Diese dummen Fesseln brauchen wir doch nicht«, flötete Oceane, öffnete den Verschluss und warf die Kette den beiden Matrosen zu. »Josephine ist sehr kultiviert. Der Zirkusdirektor ist ein entfernter Verwandter Eleanors von Aquitanien, weshalb Josephine bei Angehörigen des französischen Hochadels aufwuchs. Sie isst sogar Salat.« Oceane schnippte mit den Fingern.

Ein Diener kam zögerlich heran und reichte ihr aus sicherer Entfernung einen bestickten Beutel.

Oceane zog eine Handvoll Rauke daraus hervor und hielt sie Josephine hin.

Die Löwin schnupperte ein paar Mal, dann fraß sie die länglichen grünen Blätter ohne allzu große Begeisterung.

»Ist sie nicht ein kluges Tier?«, jubelte Oceane und klatschte vergnügt in die Hände. »Adorable, tout simplement. Und erst der Name … wie Madame Bonaparte!«

Eine neuerliche Böe riss Alan den Hut vom Kopf und trug ihn wirbelnd hinaus aufs Meer, wo die brausenden Wellen ihn verschlangen.