Jakob auf der Leiter - Henry Jaeger - E-Book

Jakob auf der Leiter E-Book

Henry Jaeger

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Beschreibung

Jakob auf der Leiter beschreibt ein Stück Zeitgeschichte. Das Leben des scheinbaren Versagers Jakob lässt keinen Leser unberührt. Es ist einfühlsam, unmittelbar und packend erzählt. Der Roman ist zeitlos und in seiner Botschaft heute aktueller denn je. Die Handlung: Jakob stirbt. Jakob liegt im Krankenhaus und fantasiert. Wie im Traum zieht sein Leben an ihm vorbei. Personen, Orte, Ereignisse reihen sich scheinbar wirr aneinander. Das Leben Jakobs war das Leben eines Versagers – nichts ist ihm gelungen. Von Kindheit an scheint ihm alles zu missglücken. Er ist weder ein guter Schüler noch ein tapferer Soldat. Er scheint für die Ehe und als Vater ungeeignet. Beruflich fehlt es ihm an Ehrgeiz und den notwendigen Fähigkeiten. Er wird schließlich Kellner in einer zwielichtigen Bar. Jakob zieht sich vom Leben zurück, das nur Enttäuschung und Bedrohung für ihn bereithält. Gleichzeitig entlarvt Jakob die Anforderungen des Lebens an ihn als von Menschen erfundene Maximen. Wozu soll er ein guter Schüler sein, weshalb ein tapferer Soldat? Wem dienen die vielen Anschaffungen für die Familie, wem sein Erfolg im Beruf? In einer fast lakonischen Sprache wird das einfache Leben von Jakob erzählt. Und je mehr ihm misslingt, je öfter er versagt, umso deutlicher tritt die Frage hervor, wer über den Erfolg letztlich entscheidet? Unterm Strich steht die Frage nach dem Wert des Menschen. Wie und von wem wird dieser bemessen? Oder haben wir uns alle schon eine Werteskala einimpfen lassen?

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Henry Jaeger

Jakob auf der Leiter

Roman

Mit einem Nachwort vonJakob Stein

Henry Jaeger

Jakob auf der Leiter

Roman

Jakob auf der Leiter erschien erstmalig 1973 bei der Verlagsgruppe Bertelsmann.

Diese Ausgabe folgt in Rechtschreibung und Interpunktion der Ausgabe von damals.

1. Auflage 2019

© 2019 B3 Verlags und Vertriebs GmbH,

Markgrafenstraße 12, 60487 Frankfurt

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Kopien, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Weitere Titel des B3 Verlages unter www.bedrei.de

Umschlag: Claudia Manns, www.kunststueck-grafik.de

Bildvorlagen: Umschlag: Der Dichter, von Richard Seewald.

Vorsatz: Die Jakobsleiter, von Richard Seewald, Richard Seewald (1889–1976) lebte und arbeitete in Ronco sopra Ascona.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Henry Jaeger und Richard Seewald sich persönlich kannten. © Fondazione Uli und Richard Seewald

Printed in Germany

ISBN 978-3-943758-06-1

Dieses Buch ist auch als E-Book unter der

ISBN 978-3-943758-07-8 erhältlich.

In Erinnerung an Elke Susanne Jaeger, geb. Schmidt.(1941–2011)

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Henry Jaeger – der große Außenseiter

1

Er sang.

Er glaubte wieder vierzehn Jahre alt zu sein und stand in seinem schwarzen Konfirmationsanzug in der Kirche.

Als ich konfirmiert wurde, trug ich ein kleines Sträußchen im Knopfloch. Mein Vater hat es mit einer Nadel festgesteckt, und während ich sang, dachte ich fortwährend an mein Sträußchen und hatte Angst, es würde herunterfallen, weil mein Vater keine Sicherheitsnadel, sondern nur eine Stecknadel genommen hatte.

Sie streiten oft. Und mein Vater sagte: »Das Sträußchen muß er links tragen.«

Meine Mutter sagte: »Rechts wird es getragen. Ich weiß es genau!«

Sie schimpfen wieder. Das Sträußchen wird links festgesteckt. Mein Vater war im Recht, denn er konnte lauter schimpfen als meine Mutter, und er konnte mit der Faust auf den Tisch schlagen, daß die Kaffeekanne umfiel und die Tassen auf ihren Untertellern hochhüpften.

Er marschierte.

Die Trommler wirbeln die Schlegel, die Pfeifer pusten in ihre Querpfeifen. Dann kommt der Schellenbaum, ist geschmückt mit zwei wehenden rotgefärbten Pferdeschwänzen. Ping! Ping! Ping! macht der Schellenträger mit einem kleinen Hämmerchen, im Rhythmus, im Gleichschritt. Tschinellen, ganz hinten am Zug, dazwischen die große Pauke. Vordermann und Seitenrichtung. Das Pflaster vibriert unter Marschtritten. Die Fenster in den Häusern gehen auf, Männer und Frauen strecken ihre Köpfe heraus, schauen mißtrauisch auf die Straße, schauen hinterher, noch eine ganze Weile, schlagen dann ihre Fenster wieder zu.

Da marschieren sie auf der Straße, Propagandamarsch in Uniform, in irgendeiner Uniform.

Ganz vorn marschiert der Tambourmajor. Die drei Quasten zappeln an der glänzenden Spitze des Tambourstabes, wenn er ihn hochstößt und damit den Takt bestimmt. Er hält den Knauf des Stabes fest umspannt, während er ihn immer wieder hochzucken läßt: im Takt, im Takt.

Und neben dem Tambourmajor marschiert der kleine Jakob. Er winkelt die Arme an, tritt fest auf, hat den Kopf hoch erhoben und sieht starr geradeaus. Er ist jetzt ein Pfeifer, ein Trommler, er klingelt mit den Tschinellen, schlägt die Pauke, ein Schellenbaumträger ist er und auch der Tambourmajor. Im Gleichschritt marschiert Jakob nebenher, und er ist sicher, daß sie ihn alle sehen, daß sie seine Wichtigkeit erkennen, die ihm doch vom Gesicht abzulesen ist, an der heldischen Miene: ich bin Jakob, der Marschierer. Und zu einer späteren Zeit würden sie ihn feiern und hoch dekorieren. Er hat Anerkennung verdient, Beachtung. Das sind Gewißheiten. Darauf kann man sich verlassen.

Er zählt sich zu den Uniformierten, und er trägt tatsächlich eine Uniform, aber er weiß es nicht.

Unten beginnt es mit Schnürschuhen, auf die sein Vater Nägel geschlagen hat, damit die Sohlen länger halten. Dann kommen wollene Strümpfe, die mit Strumpfbändern an ein lästiges Kleidungsstück geknöpft sind, das man Leibchen nennt, das aber Gott sei Dank nicht zu sehen ist. Es folgt die Hose, in die man noch einen zweiten Jakob stecken könnte. Sie ist auf Zeit gemacht, und seine Mutter hat ihm hinten einen großen Flicken daraufgenäht. Der Pullover ist aus Wolle, von der er immer sagt: sie kratzt. Seine Großmutter hat ihn gestrickt und dabei erklärt: damit das Kind es warm hat.

So läuft Jakob allein neben dem Spielmannszug her, bis der Tambourmajor seinen Stab senkt und die Pause befiehlt. Da bleibt er stehen. Er ist in einer fremden Straße, hat sich weit von der Wohnung entfernt. Er schaut hinter ihnen her, sie marschieren ohne ihn weiter, doch er kann das Echo noch lange hören. Sie sind davonmarschiert, haben ihn allein gelassen. Er dreht sich um und trottet mit seinem Echo nach Hause.

Und wann war das wieder? Er versucht, sich zu erinnern. Das war im Jahre der Not, im Jahre der Dummheit, im Jahre der Auseinandersetzung, im Jahre des Herrn... Das war... Und jetzt fällt es ihm ein: das war im Jahre des großen Jakob.

Er heiratete.

Sie wollte eine Feier, eine öffentliche und von anderen beobachtete Feierlichkeit. Er dachte an ein Fest mit großem Braten und Bier und Wein. Der Tag war schön, milder Oktober mit viel Sonne.

Sie sagte: »Eigentlich heiße ich Helene, aber ich möchte, daß der Pfarrer Lena sagt.«

»Ich habe dich nie anders genannt«, antwortete er.

Und was so ein schwarzer Anzug kostet, mit weißer Fliege und weißen Handschuhen. Auch ihr Brautkleid war teuer, aber sie und ihre Eltern haben es so gewollt.

Dazu rosa Nelken. Man trägt so ein Kleid nur einmal, danach kann man es nur noch färben lassen. Den Anzug, vom Schneider gemacht, kann man hin und wieder anziehen; für festliche Anlässe wie Beerdigungen und ähnliches. Sie haben es gewollt.

»Wir hatten ein Schuhgeschäft«, sagte Lena.

»Wir hatten immerhin ein Schuhgeschäft in einer der Hauptstraßen«, sagte ihr Vater.

»Aber jetzt habt ihr kein Schuhgeschäft mehr«, sagte Jakob. »Mein Vater ist schließlich auch etwas. Er ist Dachdeckermeister.«

Vor der Kirche steht der Pfarrer und daneben ein paar Freunde. Sie lächeln ihnen zu.

Er hört, wie der Organist in der Kirche mit dem Lied einsetzt: »In dir ist Freude …«

Das hatten sie bestellt – vor beinahe zwanzig Jahren.

Die Orgel spielt er leise. Es ist der Augenblick, in dem sie langsam hinter dem Pfarrer hergehen, durch den schmalen Gang zwischen den Bänken: eine Zeremonie, langsames Schreiten zum Altar, unter gotischen Bogen. Die Sonne leuchtet durch die hohen Kirchenfenster und zeichnet Kringel auf die verbrauchten Steinfliesen. Und dann stehen alle auf, stehen ganz still, mit herabhängenden Armen, mit ernsten Gesichtern und singen das Lied:

»Wir hatten ein Schuhgeschäft…«.

Das verblüfft ihn eine Sekunde. Er muss nachdenken. Dann ruft er: »Und daran ist unsere Ehe gescheitert!« »Nein!« ruft sie. »Nicht daran. Sie ist gescheitert, weil du nichts getaugt hast!«

Er sagt leise: »Ja, vielleicht ist es wahr. Vielleicht habe ich nicht sehr viel getaugt. Aber ich habe eine Menge versucht. Hast du das vergessen?«

Alles hat sie vergessen.

»Er phantasiert.«

Das sagt der Arzt in dem kleinen weißen Zimmer der Klinik. Er beugt sich über Jakob und hebt sein Augenlid. Dann gibt er ihm eine Injektion.

»Er hat keine Schmerzen mehr«, sagt der Arzt zu den beiden Krankenschwestern.

Sie zucken mit den Achseln. Dann sagt eine Schwester: »Es ist Essenszeit…« Ihre Hauben sind weiß, darunter haben sie alte Gesichter.

Er hört sie reden, aber er kann sie nicht mehr verstehen. Es gibt jetzt keine neuen Erfahrungen mehr.

2

Er hat plötzlich die Gewißheit, beobachtet zu werden oder schon immer beobachtet worden zu sein – nicht mit Wohlwollen, sondern mit einem strengen Blick, vor dem er sich verteidigen muß.

»Aha!« sagt er. »Ich kenne Sie. Sie sind mein Lehrer.«

»Ja, das bin ich, und Sie müssen zugeben, Sie haben es mir schwergemacht. Sie waren ein Aufwiegler, einer von denen, die sich nicht anpassen konnten. Dabei waren Ihre schulischen Leistungen sehr mittelmäßig.«

»Mittelmäßig?«

»Jawohl, Sie wollten nichts lernen. Ich wußte genau, daß aus Ihnen nichts werden konnte.«

»Sie haben sich getäuscht, es ist doch etwas aus mir geworden! Sie schütteln den Kopf… Aber ich sage Ihnen, ich habe alles versucht. Und was glauben Sie, wie schwer es ist, hier etwas Ordentliches zu werden? Unmöglich, kann ich Ihnen sagen. Ich habe alles versucht: ich war Dachdecker, kaufmännischer Lehrling, ich war Soldat und Kriegsgefangener und Schieber und alles mögliche, und einmal war ich sogar Journalist. Dann allerdings wurde ich Kellner.«

»Alles ohne Abschlüsse. Nichts haben Sie zu Ende gebracht. Und einmal waren Sie sogar Heiratsschwindler. Sie waren wohl noch Schlimmeres, wie ich vermute…«

»Das ist nicht wahr. Heiratsschwindler war ich nie. Dagegen muß ich mich wehren! Betrug lag mir nicht. Es ist nämlich nie jemand auf mich hereingefallen. Sie haben ja auch immer gemerkt, wenn ich gelogen hatte. Und ich mußte oft lügen, denn es hat mir nicht gefallen bei Ihnen. Sie sind böse, weil ich mich vor Ihnen versteckt habe, im Zeichensaal.«

»Das war ein anderer Lehrer.«

»Ja, vielleicht war es ein anderer. Ich muß nachdenken.«

»Sie haben sich zweimal versteckt: einmal im Kindergarten und einmal in der Schule. Später haben Sie das gleiche noch öfter getan, aber diese beiden Male waren entscheidend. Sie kamen zu mir ins Gymnasium, obwohl Sie dafür nicht taugten. Ich habe Sie hinausgeworfen und habe zu Ihnen gesagt: Lernen Sie ein Handwerk wie Ihr Vater. Handwerk hat goldenen Boden. Erinnern Sie sich, Jakob?«

»Ja. Ich kam dann zu Ihnen und habe am letzten Tag auf Wiedersehen gesagt.«

»So ist es, und das hat mich verblüfft. Sie kamen und sagten: Ich möchte mich von Ihnen verabschieden. Das hatte ich nicht erwartet.«

Jakob denkt nach.

Er sagt: »Ich hatte Mitleid mit Ihnen. Stellen Sie sich vor: ich, das Kind, hatte Mitleid mit Ihnen. Wie Sie da immer die Straße heraufkamen und trugen die Hefte unter dem Arm, und bei jedem Schritt haben Sie mit dem Kopf genickt, und immer haben Sie schlechten Tabak in Ihrer Pfeife geraucht. Da habe ich manchmal gedacht: Er hat auch nichts Gutes… Mein Großvater, der rauchte nämlich auch Pfeife, aber der konnte sich einen viel besseren Tabak leisten. So was riecht man doch gleich. Allerdings war der auch in Amerika. Da kommen Sie nie hin. Jede Wette mache ich mit Ihnen, dass Sie nie nach Amerika kommen…«

Sie hoben ihn aus dem Bett mit den weißen Gittern. Es war früher als sonst, und er wusste, daß dies ein besonderer Tag war. Sie planten etwas mit ihm. Er war nicht sicher, ob er sich freuen sollte.

Sie lebten in zwei nebeneinanderliegenden Mansarden in Frankfurt am Main. Die Wände waren dünn, und stritt sich der Vater mit der Mutter, konnte er jedes Wort hören. Sie stritten über das Essen, über Kleidung, über Schuhe, die neu besohlt werden mußten, über die Kohlen, die sie nicht im Keller hatten, und über das weiße Strümpfchen, das in der Gaslampe wieder einmal durchgebrannt war. Ihre Streitigkeiten wurden meist ausgelöst vom Mangel.

Allerdings gab es auch Kräche, weil sein Vater eine Frau zu freundlich grüßte. Sie wohnte im Parterre des Hauses und lag jeden Morgen bis zehn Uhr im Bett. Und seine Mutter sagte: »Das ist auch so eine…«

»Wieso?« fragte sein Vater.

»Ich weiß doch, was die treibt. Jeder im Haus weiß es. Ich habe genau gehört, wie du zu ihr gesagt hast: Guten Tag, schöne Frau… Jawohl, das gehört sich nicht. Wir sind anständige Leute. Du hast mit ihr scharwenzelt. Und Jakob, der geht nicht mehr in diese Wohnung. Schokolade gibt sie ihm. Ich will aber nicht, dass sie ihm Schokolade gibt. Er steht schon morgens vor ihrer Tür und wartet auf sie.«

»Na los«, knurrte sein Vater. »Zieh das Kind an. Wir müssen kurz nach acht im Kindergarten sein.«

Sie machen finstere Gesichter. Jeder geht für sich allein, und Jakob geht zwischen ihnen.

Ich darf nicht mehr zu der Frau, die mir Schokolade gibt.

»Im Kindergarten kriegt er jeden Tag Milch«, sagt seine Mutter.

Schwere Schuhe trägt sein Vater. Er tritt fest auf. Niemand tritt so fest auf. Mit den karierten Knickerbockerhosen macht er große Schritte.

Und dann öffnet sich eine hohe Tür. Da sitzen die Kinder alle an einem langen Tisch: zwei Reihen, Kopf an Kopf. Bunte Blechtassen stehen vor ihnen, die halten sie mit beiden Händen fest und nuckeln daran. An der Milch. Eine Frau kommt auf sie zu. Das Gesicht des Vaters ist wieder freundlicher. Seine Stimme hat einen anderen Klang. Er verstellt sich und seine Stimme. Er will etwas von der Frau. Durch eine dicke Brille schaut sie auf Jakob herunter.

Ich soll hierbleiben. An den langen Tisch soll ich mich setzen, zu den Kindern. Sie schauen alle her.

Eine blaue Tasse wird für Jakob gebracht. Eine junge Frau drückt sie ihm in die Hand. Er steht da und guckt hinein Die Tasse ist leer. Alle Kinder warten jetzt auf ihn. Sie verfolgen ihn mit den Augen. Er wird an den langen Tisch geschoben, aber er will nicht an diesen Tisch und wirft die Tasse fort. Sie hüpft über den Boden, kullert unter den Tisch. Darüber lachen alle Kinder.

Jakob flüchtet. In einer Ecke steht ein Puppenhaus. Es reicht seinem Vater bis an die Schulter. Dahinein flüchtet er, wie ein Fuchs in seinen Bau. Sie rennen hinter ihm her: der Vater voran, dann die Leiterin des Kindergartens, die Mutter und die junge Frau. Er hört, wie sie ihn locken und ihm schmeicheln. Aber er bleibt in einer Ecke hocken.

Sein Vater kriecht mit dem Oberkörper durch die kleine Tür hinein. Er kann ein Bein Jakobs fassen. Jakob hat sich durchs Fenster gezwängt, denn nur am Fensterrahmen findet er Halt. Er spürt, wie sein Vater zieht, und beginnt zu plärren.

Das kräftige Hinterteil des Vaters ragt aus dem Eingang; aus dem Fenster schreit Jakob, und die Kinder lachen und klopfen mit ihren Blechtassen auf den Tisch.

Sie gehen wieder zurück in die zwei Mansarden. Ihre Gesichter sind wieder finster. Sie reden fast nichts, verstellen sich nicht, zwischen ihnen geht Jakob. Sie haben ihm versprochen, daß er nicht an den langen Tisch muß.

Darüber freute er sich, und er sagte einmal laut: »Ich muß nicht an den langen Tisch!«

Die Krankenschwester hebt den Kopf, schaut zu ihm herüber, beobachtet, wartet. Er sagt nichts mehr, und sie denkt: Er phantasiert, aber er hat keine Schmerzen.

Und passen Sie auf, ich kannte da nämlich einen – oder ich habe von dem gelesen, oder jemand hat mir von ihm erzählt –, der war so, wie ich sein wollte. Wann der gelebt hat? Irgendwann hat er gelebt, und er war mächtig.

Napoleon war es nicht, und auch nicht die anderen. Ich glaube, er konnte fliegen.

Ich weiß bestimmt, daß ich von ihm weiß.

Ich bin es nicht gewesen. Manchmal denke ich, ich war es doch.

Und sein Name fällt mir bald ein.

Wenn man die Leute auf der Straße nach ihm fragte, nannten sie sofort seinen Namen.

Ich habe es vergessen… Vergessen…

Er konnte fliegen oder singen. Er hatte so eine Stimme, so eine Stimme… Der große schwarze Vogel hoch in der Luft. Unsere Bäckersfrau hat ihn gut gekannt. An der Ecke haben sie gestanden und haben von ihm gesprochen.

Wenn sie wüßten, daß ich es doch war…

Ekelhaft, diese Wanzen! Und sie riechen wie etwas Böses. Aber sie müssen so riechen, damit sie sich hinter den Tapeten auch im Dunkeln treffen können.

Jakob sieht, wie sein Vater eine riesige Wanze auf eine Stecknadel gespießt hat. Sie zappelt, als hätte sie hundert Beine.

»Aha!« hat er gerufen. »Da ist wieder eine!«

Und so macht er es immer: er schleicht sich heran, denn Wanzen sind klug. Und dann geht er mit der Nadel genau über sie und sticht sie durch den platten Leib. Sie zappeln alle. Aber das hilft ihnen nichts. Sie werden zum Hausbesitzer getragen, auf der Nadel vorgeführt, und der Vater sagt: »In Ihrem Haus sind Wanzen. Wenn Sie nicht den Kammerjäger holen und bei uns gasen lassen, ziehen wir aus!«

Wir sind ausgezogen, jawohl. Aus den Mansarden, wo nie mehr gestanden hat als ein paar Stühle, ein Tisch und die Betten. Mit einem Drückkarren ging das gut. Ich saß oben darauf.

Wir wohnen in einem besonderen Haus, unten ist eine Bäckerei. Da kommen viele Leute hin und holen das Brot. Ein Dachdeckermeister ist mein Vater wieder. Er geht morgens zur Arbeit. Dann kommen Schränke und neue Betten. Sie werden geliefert von Männern, die laut schnaufen, wenn sie die Treppe hinaufsteigen.

»Eine Schleiflackküche«, sagte seine Mutter. »Ein Wohnzimmerschrank, mit Glas vor einem Fach. Da kann man die Weingläser sehen, die drin stehen…«

Dann kommt er zur Schule. Sie sagen alle: »Jakob kommt in die Schule…« Der Großvater, die Großmutter, zwei Tanten und zwei Onkel. Denen haben sie die Schleiflackküche vorgeführt und den Schrank mit dem Glasfach, wo man die Weingläser sehen kann. Sie haben Wein getrunken.

»Verdammt noch mal, die haben gestaunt, was!« sagt sein Vater.

Am Morgen zieht er einen Scheitel auf Jakobs Kopf. Mit viel Wasser klatscht er die Haare an den Kopf. Alle Kinder, die zur Schule gehen, tragen einen Scheitel. Und der Vater bringt ihn selber hin. Das läßt er sich nicht nehmen.

Ich bin Dachdeckermeister, sagt er.

Er hält Jakob an der Hand. Der Ranzen ist noch leer, die große Zuckertüte darf nicht angebrochen werden. Er geht mit hoch erhobenem Kopf, der Dachdeckermeister. Die gekauften Schränke stärken ihn. Er hat was geschafft, zu Hause steht es, und jeder kann es sehen, wenn er Lust dazu hat. Das neue Bewußtsein. Etwas davon wird in Jakob gepflanzt. So gehen sie nebeneinander zur Schule: Wir kommen jetzt. Mein Vater und ich. Wir kommen jetzt: mein Sohn und ich.

Der Weg ist nicht weit, durch die Ringelstraße, dann die Bornheimer Landwehr, links geht es in die Linnéstraße, und da steht die Schule. Die Wohnhäuser scheinen sich neben ihr zu ducken. Wie ein Berg ragt sie vor ihm auf. Dieses Haus ist noch mächtiger als das Arbeitsamt, wo er mit seinem Vater für das Stempelgeld anstehen mußte. Das ist vorbei: es gibt kein Stempelgeld mehr.

In dem Schulhof tobt eine Meute von Kindern, große Kinder, die ihn ansehen, als wäre er nicht, was er ist. Er haßt diese Blicke. Du bist weniger! sagen die Augen. Die großen Kinder sehen so aus, als führten sie etwas im Schilde und als wären sie voller Feindschaft. Er hat Angst und schämt sich, daß er an der Hand seines Vaters geht wie ein kleines Kind.

»Heute nur eine Stunde«, sagt der Lehrer. Er ist groß, trägt einen grauen Anzug und sieht aus wie Präsident Roosevelt.

Ich habe ein Bild von ihm. Wollen Sie das Bild sehen? Da stehe ich neben ihm. Ein Klassenbild, auf der Schultreppe. Ein Fotograf kam und steckte seinen Kopf unter ein schwarzes Tuch. Wir sollten lachen, aber ich konnte nicht lachen. Wissen Sie, ich konnte nicht lachen.

Im Schulhof standen zwei Brunnen, und es gab eine Sandgrube. Weitsprung, Turnunterricht. Über dem Eingang hing die große Uhr. Wenn die Sonne daraufschien, strahlten ihre Zeiger wie Gold.

Jakob steht unter der Uhr und schaut hinauf. Er kann in sie hineinsehen Räder und Stangen, ein Gerippe aus Eisen. Tack! macht die Uhr, wenn sich ein Zeiger bewegt. Tack!

Am dritten Tag habe ich mich in der Pause versteckt. Ich ging bis ganz hinauf, wo der Zeichensaal war. Da haben sie mich nicht gefunden. Erst am Nachmittag ging ich leise aus der Schule hinaus. Da war sie ganz still, und die Gänge waren dunkel.

Mein Vater schlug mich mit dem Stock. Dann stritten sie wieder. Er soll bei der Frau gewesen sein, zu der er einmal gesagt hatte: »Guten Tag, schöne Frau…«

Meine Mutter hat das gesagt. »Wenn ich sie erwische«, hat sie gesagt, »dann schlage ich ihr mitten ins Gesicht!« »Übergeschnappt ist sie! Total übergeschnappt!« rief mein Vater.

Die Uhr gefällt mir. Hören Sie, die große Uhr macht tack! Hören Sie es nicht? Aber jeder kann es doch hören. Sie ist noch wie neu. Tack! macht sie. Tack! Wenn ihr Zeiger springt.

3

Sie hat mich verachtet. Ich weiß das genau. Sie hat mich verachtet, weil ich kein Schuhgeschäft hatte. Verstehst du das, Toni? Deshalb hat sie sich auch scheiden lassen von mir. Schimpft sie über mich, Toni?

Das war ihr großer Moment: Als Toni geboren wurde. Sie fuhren sie aus dem Zimmer, und unter dem Leinentuch war ihr Bauch wie eine Kugel. Die Hebamme hat mich fortgeschickt und gesagt: »Tun Sie mir den Gefallen und gehen Sie. Sie machen mich ganz nervös!«

Lena hat mich angeguckt, so, als wäre ich an allem schuld. Ich kann doch nichts dafür, daß das Kinderkiegen weh tut. Und dann sagt sie, mit flachem Bauch, sagt sie: »Ich hoffe, daß du dich jetzt etwas mehr anstrengst…«

Als hätte ich mich nicht angestrengt. Glaube ihr das nicht, wenn sie es sagt. Ich habe, und wie habe ich!

In die gleiche Schule ging ich mit dir. Der erste Tag, das wollte ich mir nicht nehmen lassen, habe ich gesagt, oder mein Vater hat es damals gesagt.

»Nur eine Stunde«, hat der Lehrer gesagt.

Und wie war es in der Schule? Ihr müßt morgens aufstehen und guten Morgen zu dem Lehrer sagen. Das mußten wir auch ein paar Jahre, dann war alles anders. Wir standen auf und hoben den rechten Arm und haben gesagt: Heil Hitler. Und wenn der Unterricht rum war: wieder den rechten Arm hoch und wieder Heil Hitler.

Siehst du, so haben wir das gemacht. So, den rechten Arm hoch. Komisch war das. Na ja, damals haben wir es nicht gemerkt.

Ich habe ihn einmal gesehen. Da kam er nach Frankfurt und stieg im Hotel Baseler Hof ab. Mein Vater hat mich hochgehoben am Straßenrand, damit ich ihn besser sehen konnte. Aber ich konnte ihn nicht richtig sehen. Seine Mütze saß so tief. Immer trug er die Mütze so tief. Er stand in einem schwarzen Auto. Das hat geglänzt, kann ich dir sagen, und darin stand er und hob immer so den rechten Arm. Und die Fahnen hättest du sehen sollen. Aus jedem Fenster hing eine heraus. Aber die Leute haben trotzdem gesagt: nach Frankfurt kommt er nicht gern. Frankfurt wäre zu rot, haben sie gesagt. Mir war das egal, ob Frankfurt rot oder braun war. Kein Unterschied für mich. Mit der Straßenbahn fuhr ich hin und her. Morgens und abends. Manchmal kamst du an die Straßenbahnhaltestelle und holtest mich ab.

Aber mein Vater, der war erst rot und dann braun, mit Stiefeln und Koppelschloß und einem Schulterriemen. Mit dem Braunhemd.

Jakob hört, wie sie sich schlagen, unten im Hausflur.

Zwei Kommunisten, sagt sein Vater. Aber der Bäckermeister kam mit seinen Gesellen, die hatten die Brotschießer dabei. Damit schlugen sie denen auf die Köpfe. Aus Versehen trafen sie auch meinen Vater. Er hatte noch drei Tage lang eine Beule am Kopf.

»Sie haben mir aufgelauert, die Schweine«, sagt sein Vater.

Das war in einer Nacht, in der kleinen Straße in dem Haus, in dem es immer nach frisch gebackenem Brot roch.

Dimmler hieß der Bäckermeister. Er war ein Schwabe. Dreißig Jahre lang hat er vor dem Backofen gestanden, in der Backgrube und hat gesagt: »Bald fahre ich auf Urlaub nach Hause…« Aber er ist nie gefahren. Eines Tages ist er hinter dem Backofen umgefallen. Dann kamen die Erben.

Du bist jetzt neunzehn. Hast ein Mädchen. Ich habe sie gesehen. Nur nicht zu früh. Und keine mit einem Schuhgeschäft. Paß da gut auf. Und auch keine, die fortwährend die Wohnung putzt, wie meine Mutter.

»Bei uns herrscht Sauberkeit«, hat sie immer gesagt.

»Dafür sorge ich. Wir sind anständige Leute. Du bist schließlich Dachdeckermeister, und wenn einer deiner Gesellen kommt, dann muß er sehen: hier herrscht Sauberkeit und Ordnung.«

Deshalb ist er ihr auch fortgelaufen. Sie kannte alle Leute in der Umgebung mit Namen. Sie wußte über alles Bescheid. Was die für Wäsche auf der Leine hatten und was es bei denen zu Mittag gegeben hatte. Auf der Treppe stand sie und schnupperte, und dann sagte sie: »Bei Kuhns gibt es Schweinebraten heute.«

Aber sie war eine gute Mutter. Neulich hat sie mir einen Brief geschrieben. Da stand drin: Ich wollte, du wärest noch einmal drei Jahre alt.

Nein, Dachdecker wollte ich nicht werden. In Frankfurt, da kann ich dir Häuser zeigen, die hat dein Großvater gedeckt. Eine Kirche ist auch dabei, und auf dem Römerberg hat er auch gearbeitet. Vor dem Römerberg gab es im Sommer Festspiele oder wie man das nennt. Da spielten sie den Götz von Berlichingen. Mein Vater sagt zu mir: »Da gehen wir mal abends hin und hören von weitem zu, wie er leck mich am Arsch ruft.«

Das hat ihm gefallen. Wir standen ziemlich weit weg, aber wir konnten gut sehen und hören. Oben geht also das Fenster auf, der Götz streckt seinen Kopf heraus und brüllt: »Vor Ihro Kaiserlicher Majestät hab‘ ich, wie immer, schuldigen Respekt. Er aber, sag‘s ihm, er kann mich am Arsche lecken…«

Mein Vater und ich haben sehr gelacht. Wir sind noch zweimal hingegangen. Das ist von Goethe, der ist auch aus Frankfurt. Aber das weißt du ja.

Dreiundvierzig bin ich jetzt. Ja, dreiundvierzig. Ich bin kein Dachdecker geworden.

Hast du die Bilder von den deutschen Kaisern gesehen, im Römerberg?

Es gab Krach wegen deines Namens. Anton – der Name gefiel mir nicht. Aber weil ihr Vater Anton heißt…

Die Kaiser, die sehen ziemlich finster von oben herunter. Karl der Große ist auch dabei. Er hat das Schwert quer über den Knien liegen. Den Saal, in dem die Bilder hängen, nennen sie den Kaisersaal. Da war der amerikanische Präsident drin, als er Frankfurt besuchte. Du weißt doch, Kennedy, den sie später in Texas umgebracht haben. Ich habe ihn gesehen. Ich war auch dabei. Auf dem Römerberg stand ich zwischen all den anderen und habe die Reden gehört. Der Oberbürgermeister hat gesagt: »Hier in diesem Kaisersaal haben sich 1848 die Abgeordneten des ersten deutschen Parlaments versammelt, um im feierlichen Zug und mit entblößtem Haupte in die Paulskirche zu schreiten…«

Den Weg sind sie dann auch mit dem Präsidenten gegangen. Kennedy hat eine Rede gehalten. Er hat gesagt: »Ich weiß, es gibt einen Gott…« Aber das hat vorher schon Abraham Lincoln gesagt, und den hat sein lieber Gott auch erschießen lassen.

Er war sehr freundlich, der Präsident. Die Frankfurter haben ihm zugejubelt. Kennedy hat gelacht und hat viele Hände geschüttelt. Er ging einfach auf die Leute zu. Ich habe meine Hand auch vorgestreckt. Die hat er auch geschüttelt. Ja, der amerikanische Präsident hat mir die Hand gegeben.

Als Gastgeschenk bekam er einen Brief, den die Amerikaner 1848 nach Frankfurt geschickt hatten. Er beginnt:

»Dem freien deutschen Volke!« Und am Ende steht: »Gott segne Deutschland!«

Dann sind die also zur Paulskirche gegangen. Dort haben sie noch einmal geredet.

Weißt du übrigens, daß dein Großvater auf der Hauptwache von der Polizei Prügel gekriegt hat? Das ist schon sehr lange her. Ich bin dabeigewesen. Vor zwei Jahren haben sie auch dich dort verhauen. Die Polizei, mit Gummiknüppeln.

Sie kamen aus entgegengesetzten Richtungen. Die Kommunisten marschierten die Zeil hinunter. Die Braunen kamen vom Roßmarkt her. Die einen bliesen auf Schalmeien die Internationale, die anderen hatten Trommeln und Querflöten. Sie trafen sich auf dem großen Platz vor der alten Hauptwache. Sie mußten dort zusammentreffen. Es waren zweitausend Menschen, die mit Stöcken und vorher versteckt gehaltenen Gummiknüppeln aufeinander losschlugen. Es gab ein paar Tote, viele Verletzte. An manchen Stellen war das Pflaster rot von Blut. Einige Unbeteiligte wurden erschlagen, andere kamen mit blauen Flecken davon. Berittene Polizei galoppierte heran. Die Straße dröhnte unter dem Pferdegetrappel. Dann schlug die Polizei mit langen, säbelartig gebogenen Gummiknüppeln zu. Ein Dachdeckermeister mit seinem Sohn Jakob war bei denen, die geschlagen wurden. Ein Zufall. Aber der Dachdeckermeister weinte vor Wut, nachdem ihn ein Hieb vom Pferd herunter getroffen hatte.

Ich kam mit Jakob von Sachsenhausen herüber. Dort hatte ich einen anderen Dachdeckermeister besucht. Wir mußten über die Hauptwache laufen. Da gerieten wir zwischen die Nazis und die Kommunisten. Jakob war höchstens fünf Jahre alt. Die Kommunisten und die Nazis haben uns nichts getan. Ich habe ständig gerufen: Vorsicht, das Kind! Vorsicht, das Kind!

Dann kam eine berittene Abteilung der Polizei. Die preschten heran wie ein Gewitter. Und drauf, nichts wie drauf. Bei jedem Schlag fiel einer um. Das hat nur so gekracht, wenn einer den Knüppel über den Schädel bekam.

Ich stelle mich vor Jakob und rufe wieder: Vorsicht, das Kind! Aber der auf dem Gaul konnte das nicht hören. Ich sehe, wie er ausholt, und kann gerade noch meinen Arm heben. Ich dachte, der Arm fällt mir ab. Wie ein elektrischer Schlag war das.

Ja, es stimmt, da habe ich vor Wut geheult.

Ich hatte mal ein Schaukelpferd. Das hat mir mein Vater mitgebracht. Es war weiß und hatte einen roten Sattel aus Holz. Es war das schönste Schaukelpferd, das ich gesehen hatte.

Toni, du sagst, die Kinder mögen dich nicht? Mich konnten die Kinder auch nicht leiden. Aber sie wollten alle auf meinem Schaukelpferd schaukeln. Plötzlich waren alle meine Freunde.

Sie ist jetzt wieder verheiratet. Ich habe nie genug verdient. Aber glaube es nicht, wenn sie schlecht von deinem Vater spricht. Dein Vater ist so gut wie jeder andere, vielleicht auch ein bißchen besser…

Du hast mich gefragt, wo ich meinen Trauring habe. Nachdem sie geheiratet hat, habe ich ihn abgenommen. Nein, ich trage ihn nicht mehr. Ich habe ihn … Ja, wo habe ich ihn denn?

In der Kirche lagen sie auf einer silbernen Schale. Der Pfarrer hat sie uns gereicht und an die Finger gesteckt. Das war ein schöner Tag. Früher wäre ich übrigens beinahe fromm geworden. Lange Zeit habe ich nämlich meiner Mutter geglaubt. Sie hat mir mit dem Finger gedroht und immer gesagt: »Der liebe Gott sieht‘s…«

4

»Ich will nicht raus auf das Dach! Ich will nicht raus auf das Dach!« ruft Jakob. »So hoch waren wir noch nie. Ich kann nicht auf das Dach. Ich werde herunterfallen!«

»Dummkopf! Du bist doch abgesichert mit dem Karabinerhaken. Los, geh durch die Luke!«

Ich habe das miterlebt. Damals war ich Geselle bei Jakobs Vater, so im zweiten Kriegsjahr. Jakob war um die fünfzehn. In der Nacht davor waren Bomben gefallen. Es war keiner der ganz schweren Angriffe.

Wir sollten das Dach des Kirchturms reparieren und fingen um acht Uhr morgens an.

Als wir in das Kirchenschiff gingen mit unseren Leitern und dem Werkzeug, saß einer oben auf der Empore und spielte auf der Orgel. Da blieb Jakob stehen und riß das Maul auf. Er konnte sowieso ziemlich dumm aussehen, wenn er über etwas erstaunt war. Darüber hat sich sein Alter schon geärgert. Er gab ihm einen Schubs und sagte: »Hier wird nicht herumgestanden! Hier wird gearbeitet!«

Der Kirchturm war achtundvierzig Meter hoch. Da mußten wir aus der Luke hinaus. Der Alte geht vor und bindet die erste Leiter fest. Ich reiche ihm die zweite hinaus. Er hängt sie ein. Dann dreht er sich um und ruft »Jakob! Komm raus!«

Er will ja auch raus, aber kaum hat er ein Bein draußen, da sieht er nach unten und fängt an zu zittern. Weiß wie die Wand wird er, und seine Zähne fangen plötzlich an zu klappern.

»Ruhig! Nur ruhig«, sage ich zu ihm. »Du darfst nicht nach unten gucken. Es ist nur Gewohnheitssache.«

Genutzt hat das nicht viel. Sein Alter brüllt nochmals los: »Willst du jetzt wohl herauskommen, du Scheißkerl!«

Jakob steht mit einem Bein auf der Leiter und zittert. Und dann zieht er langsam das linke Bein nach und ist draußen auf dem Dach. Ich steige auch schnell nach und hänge ihm den Sicherheitshaken ein, denn die Geschichte wurde gefährlich. Der Alte machte einen großen Fehler: Er schimpfte mit Jakob. Es gibt Menschen, die es ganz einfach nicht können. Bei einer gewissen Höhe sind sie vollständig gelähmt. Sie haben keine Kraft mehr in den Armen und Beinen. Sie sind ganz einfach nicht schwindelfrei. Da kann man mit dem Willen nichts ausrichten. Bisher hatte Jakob ganz gut gearbeitet. Aber wir waren nie höher als zwanzig Meter gewesen. Das hier war etwas ganz anderes: der Kirchturm war spitz und schmal, die Höhe täuschte. Oben hatte man das Gefühl, mindestens sechzig Meter hoch zu sein. Und der Wind pfiff von allen Seiten und zerrte an den Kleidern.

Jakob klammerte sich an der Leiter fest. Er war weder nach vom noch nach hinten zu bewegen. Das Gesicht von dem vergesse ich nie. Er hatte Todesangst. Mir hat er leid getan, und ich habe gesagt: »Meister, da ist nichts zu machen.«

Das hat dem Alten dann auch eingeleuchtet. Zu zweit haben wir ihn durch die Luke bugsiert. Das war ein Stück Arbeit. Er war steif wie ein Stock. Keine Bewegung konnte er machen. Als wir ihn wieder drinnen hatten, sagte sein Alter: »Aus dem Kerl wird nie ein richtiger Dachdecker!«

»Ich kann das nicht! Ich falle herunter! Der Wind weht hier oben ganz anders. Ich kann meine Beine nicht mehr bewegen. Die Leiter wackelt! Vorsicht! Haltet mich fest!«

Die Krankenschwester stand vom Tisch auf und kam herüber. Sie schaute Jakob prüfend an. Dann feilte sie an einer kleinen Ampulle, zog die wasserklare Flüssigkeit in die Injektionsspritze. Er spürte den Einstich nicht. Sie blieb neben dem Bett stehen: wachsam, sorgenvoll.

»Ich kann das nicht«, sagte Jakob. »Ich kann es wirklich nicht. Und weil ich es nicht konnte, wäre ich im Krieg beinahe gehängt worden…«

»Schon gut«, sagte die Schwester. »Schon gut.« Sie ging wieder zurück an ihren Platz und machte die Eintragung auf dem Krankenblatt: Uhrzeit, Stärke der Dosis.

»Ich habe Ihnen gesagt, Sie wollten nichts lernen. Ich wußte, daß aus Ihnen nichts werden konnte. Nichts haben Sie zu Ende gebracht.«

»Sie sind schuld daran gewesen. Sie haben mich aus dem Gymnasium geworfen. Mein Vater hat zu Ihnen gesagt: Dämlich ist er nicht, mein Sohn… Das habe ich gehört, als er mit meiner Mutter darüber sprach. Er war bei Ihnen und beim Direktor.«

»Ja, das hat er gesagt, aber ich konnte ihn überzeugen, daß unser Entschluß das beste für Sie sei. Wir mußten Sie aus der Schule relegieren. Ihnen fehlte der innere Gehorsam. Die Deutschen hatten eine der am besten funktionierenden Armeen der Welt. Das war nur möglich, weil der Geist dieser Truppe auf innerem Gehorsam basierte. Die frühe Anpassung ist wichtig. Es gibt keine solitären Existenzen mehr.«

»Das haben Sie zu mir gesagt, ich weiß. Aber Sie sind schuld daran, daß ich auf die Leiter mußte.«

»Was hätten Sie dann werden wollen?«

Glücklich, Herr Lehrer, glücklich, wollte Jakob sagen. Er schwieg und dachte nach, dachte an Reckburg, denn mit Reckburg hatte alles angefangen. Er war der Sohn eines Metzgermeisters, der den anderen immer zeigte, daß er Schnitzel oder Kotelett auf dem Frühstücksbrot hatte. Es war eine Ungerechtigkeit. Wieso hatte der immer Fleisch, und die anderen hatten nichts zu fressen?

Das haben wir alle gedacht in der Klasse. Es war Krieg, aber Reckburg wurde immer fetter. Und dann haben wir uns was ausgedacht. Wir hängten ihm ein Fahrradschloß um den Hals. Es war eine Kette, die Enden konnte man zusammenstecken. Das Schloß schnappte dann zu. Es hing um Reckburgs Hals wie eine Perlenkette. Wir waren zu fünft: drei hielten ihn fest, und zwei ließen das Schloß zuschnappen. Es hat ihm nicht weg getan, aber er konnte es nicht vom Hals kriegen.

Eine Stunde lang hat der Lehrer in der Klasse rumgebrüllt. Er wollte wissen, wer es getan hatte. Reckburg konnte es nicht erzählen, denn wir hatten ihm die Augen zugehalten. Vier Stunden ließen wir ihn sitzen mit dem Fahrradschloß um den Hals. Der Direktor kam, andere Lehrer kamen und besichtigten Reckburg. Sie standen um ihn herum. Wir haben gelacht, wir konnten nicht mehr aufhören zu lachen. Jemand hat uns verraten Es war mein Schloß.

Beim Direktor steht er und sieht diesen schimpfenden Mund mit den verrotteten Zähnen, die vom Tabak braun sind. Eine endlose Anklage kommt aus diesem Mund. Wie Trompetenstöße. Ein Verbrechen: nicht zu reparieren. Jakob steht vor ihm und schaut zu Boden. Eine Lehrerin ist auch dabei, eine Zeugin. Eine Gerichtsverhandlung. Die Wand hinter dem Direktor ist holzgetäfelt und trägt zum Schmuck ein Führerbild, das so hoch ist wie die Tür.

Dieser Bursche war verstockt. Das war ein heimlicher Brandstifter. Ich kenne die Sorte genau. Natürlich aus kleinen Verhältnissen und nicht sonderlich begabt. Der Vater aber ein ganz wackerer Mann.

In dem Jungen steckte Auflehnung, Aufsässigkeit, eine unbegründete Empörung, gewisse Anzeichen von Meuterei. Nein, nein, nein, ich täusche mich da nicht. Schließlich war ich damals schon fünfundzwanzig Jahre im Schuldienst. Wenn ich etwas hasse, dann ist es Disziplinlosigkeit. Und der da, das war ein schwerer Fall.

Als ich ihn zur Klasse zurückschickte, knallte er die Tür zu. Eine Respektlosigkeit ohnegleichen. Fräulein Lehmann, die gerade anwesend war, hat es auch bemerkt.

»Haben Sie das gesehen, Fräulein Lehmann?« sagte ich. Sie gab mir sofort recht.

Ich holte ihn zurück und befahl: »Komm her, du Lümmel, und schließe die Tür auf eine anständige Weise!«

Er blieb dann drei Tage dem Unterricht fern. Ganz einfach geschwänzt. Sein Klassenlehrer, eine tüchtige Kraft im Lehrkörper unseres Gymnasiums, übrigens Hauptmann der Reserve, schöpfte sogleich Verdacht.

Er schaute sich das Entschuldigungsschreiben genau an. Und siehe da, der Bursche hatte es selber geschrieben. Wir haben ihn zu einem Geständnis gezwungen. Man darf nicht übersehen, daß dies die Vorstufe zu einer Urkundenfälschung war.

Schwimmen war er während der drei geschwänzten Tage gegangen. Im Main war er schwimmen gegangen. Es war Sommer, Anfang Juli. Ich erinnere mich genau daran, denn als wir in der Konferenz beschlossen, diesen Schüler zu relegieren, trug ich mein rohseidenes Jackett.

Er fuhr am Morgen mit seinem Fahrrad aus der kleinen Straße hinaus, aber dort, wo er hätte links abbiegen müssen, fuhr er geradeaus. Die Schulmappe hinten auf dem Gepäckträger. Hausaufgaben nicht gemacht. Überhaupt nichts gemacht, nur gestern vor dem Direktor gestanden und das Gebrüll über sich ergehen lassen.

Um sechs Uhr hatte er seinen Vater gehört. Aufstehen, ein bißchen Klappern mit Tassen und Kaffeekanne. Das Schlurfen der Mutter in Pantoffeln. Wie jeden Morgen. Unten in der Bäckerei steht der Bäckermeister Dimmler mit seinen Gesellen. »Dieses Jahr fahre ich bestimmt auf Urlaub…«

Sie schießen das Brot ein. Es ist frisch, und die Brotrinde kracht zwischen den Zähnen, wenn man hineinbeißt.

Dann der Postbeamte von nebenan. Unten der Eisenbahner, und noch ein paar, die hinunterstiefeln. Aber sein Vater ist nicht zu verwechseln. Groß und schwer. Die Treppe knarrt unter ihm.

Sieben Uhr. Sie sagt von drüben: »Aufstehen! Jakob, du mußt aufstehen!«

Ja, ja. Jeden Morgen. Er weiß bereits, was er machen wird: Mein Sohn Jakob war leider an Halsentzündung erkrankt und konnte deshalb die Schule nicht besuchen… Das ist nötig für so einen Fall.

Sie steht in der Küche und schmiert Brote. Wie immer, noch schläfrig, im alten blauen Morgenrock. Dann geht er aus dem Haus.

Ganz leicht ist der Tritt in die Pedale. Das Fahrrad rollt wie von selbst. Die Hangstraße hinunter, am Ostpark vorbei. Da haben wir gespielt - Räuber und Gendarm. Und in dem kleinen Planschbecken habe ich schwimmen gelernt.

Über die Eisenbahnbrücke. Die Züge donnern vorbei, fast jede Minute kommt einer. Waggons gezählt, aber immer verzählt. Zu schnell. Wir standen da oben. Ich bin jetzt unterwegs. Die Züge kommen von überallher.

Rechts liegt der Osthafen. Mit meinem Vater Kohlen geklaut. Ich war noch sehr klein. Noch ein paar hundert Meter. Schlote qualmen, eine Kokerei, das Gaswerk mit dem Gaskessel. Wenn der mal explodiert… Da soll doch in Neunkirchen… Eine Katastrophe. Oder eine Bombe da hinein, dann fliegen wir alle in die Luft, haben sie gesagt im Haus.

Der Main!

Kommt auch von weit her. Fichtelgebirge. Da war ich noch nie. Er ist breit und tief. Sieht aus wie ein See. Grün. In der Mitte ist die Sonne. Wie ein Feuer mitten im Wasser, nur heller, strahlender.

Jakob steht am Ufer. Das Gras ist noch frisch von der Nacht. Die Böschung geht tief hinunter. Weit dahinter ist der Lärm, kommt nicht bis hierher. Drüben liegt Oberrad, die Schleuse, das Nadelwehr, und auf dieser Seite die Floßgasse. Da sind wir durchgeschwommen, haben uns treiben lassen in der reißenden Strömung. Da waren noch ein paar andere dabei. Rolf Weber ist schon Soldat. Und noch ein paar, die sind in der Fabrik oder auch Soldat. Es ist niemand da, nur der Fluß, das Gras und ich. Jetzt fangen sie an. Erste Stunde: Mathematik.

Er wartet noch, denkt nach: Was soll werden? Vergißt es wieder.

Langsam geht er ins Wasser. Die Steine sind glatt unter seinen Füßen. Es ist nicht kalt. In der Floßgasse haben wir Aale gefangen, wenn sie geschlossen war. Bei niedrigem Wasser. In den Lücken zwischen den Steinen saßen sie und waren glitschig. Sie zappelten.

Er stößt sich vom Ufer ab, schwimmt. Nach vom blickt er. Das Ufer drüben ist weit. Fische. Er kann sie riechen. Darüber ist der Himmel blau.

Er spürt Kraft in seinen Armen, zieht lange durch. In der Mitte ist die Tiefe. Unten liegt Unbekanntes, Dunkles. Ich bin allein über der Tiefe. Weit weg, wie in einem Meer.

Nur langsam kommt das Ufer heran. Steine zuerst, dann wieder eine kleine Böschung. Jetzt wird es kalt. Wieviel Minuten? Eine Viertelstunde? Er prustet ins Wasser, hört sich selber zu. Fast bin ich drüben. Eine Leistung, ein Sieg. Noch zwanzig Meter. Ein unbekanntes Ufer.

Steine unter den Füßen. Er taucht aus dem Wasser auf, balanciert, spürt dann den glatten Boden. Der erste Schritt auf festes Land. Ein Entdecker ist er, steigt die Böschung hinauf.

Von seiner Haut perlt das Wasser. Er spürt noch die Spannung in seinen Muskeln, und die Sonne trifft ihn, die Wärme. Es ist Juli: heiße Sonne auf der nassen Haut. Es ist ein Glück, eine große Freude.

Er klettert über verrostete Schienen. Ein paar vom Wetter zerfressene Kipploren stehen da, sind von hohem Gras überwuchert. Sie werden nie wieder beladen. Die Stille, das Vergessen, liegt hier über dem Ufer. Träge zieht das Wasser vorbei, kommt von weit her, fließt in die Breite.

Hinter der Wildnis des Uferstreifens eine Straße. Lineal, verliert sich in der Ferne. Im Frieden gebaut, im Krieg kaum befahren. Die Hitze flimmert über der leeren Straße. Und dort steht Jakob auf dem Asphalt, barfuß, mager, fast nackt, mitten auf der Straße, auf der nichts fährt unter der glühenden Sonne. Weit kann er sehen. Felder, Korn, dahinter ein Wald. Und auf den Feldern sieht er Frauen. Sie sind nur Punkte, bunte Kopftücher. Sie hacken Unkraut, gebeugt, und ihre Köpfe nicken bei jedem Schlag mit der Hacke. Wie unter einer riesigen Glocke steht er. Die Stille das Summen des Blutes in den Ohren.

Was für ein Tag, denkt er.

Er steht dort und denkt: eines Tages werde ich… werde ich… Der Horizont ist ohne Wolken. Der Geruch der Erde in seiner Nase, die Wärme auf seiner Haut. Ein Seefahrer möchte ich sein… Er hat das Meer nie gesehen, aber in diesem Augenblick weiß er alles über das Meer.

Drei Tage einer gestohlenen Freiheit, dann die Entdeckung, die Fragen. Er hat den Entschuldigungsbrief selber geschrieben. Wieder eine Gerichtsverhandlung in der Schule. Sie sitzen an einem langen Tisch und beraten. Der Mann im rohseidenen Jackett fällt eine kalte Entscheidung.

Die Gerechtigkeit: Ordnung, Disziplin, Gehorsam. Das Gezeter der Mutter, die Ohrfeigen des Vaters.

Ich muß nicht mehr zur Schule. Der erste Tag: es ist seltsam, ich brauche nicht aufzustehen. Ich bleibe im Bett liegen und denke: Ich gehe nie wieder zur Schule. Eigentlich bin ich doch ganz gern hingegangen, wegen der Freunde. Das Leben macht jetzt einen Sprung.

Eine milde Trauer: all die kaputtgegangenen Tage…

5

»Die Schlacht bei Bergen!« sagte der Vater zu seinem Sohn. Sie standen vor einem Nebengebäude der Gastwirtschaft, die »Rebstock« heißt, uralt ist und an der Straße zwischen Frankfurt und Bad Vilbel liegt. »Sie müssen von da drüben mit der Kanone geschossen haben.« Der Mann deutete mit der Hand auf das hügelige Gelände, in Richtung Bergen. »Und hier hat die Kanonenkugel die Mauer getroffen.«

Der Junge betrachtete die Kugel genau. Sie war in die Hauswand einzementiert. Er faßte sie an: dick wie eine Männerfaust. Von da drüben, denkt er. Mit Kanonen… Eine Schlacht, nicht weit von Frankfurt, höchstens sieben Kilometer. Waren es die Preußen? Gegen die Franzosen? Oder die Österreicher? Oder Napoleon? Aber das weiß niemand genau in der Familie.

»Man kann das irgendwo nachschlagen«, sagte der Mann. Sie standen vor der Kanonenkugel im Sommer des Jahre 1911, und damals soll sie schon älter als hundert Jahre gewesen sein.

»Mein Vater hat es mir erzählt«, sagte der Mann zu seinem Sohn. Es war Jakobs Großvater. Im Jahr davor war der Großvater aus Amerika zurückgekommen und hatte ein großes Haus in der Kaiserstraße gekauft.

»Die Schlacht bei Bergen«, sagte Jakobs Vater. Das war achtundzwanzig Jahre später. Die Kugel war noch da, und Jakob faßte sie an.

Reiter sprengten über das Feld: gezogene Säbel, Tschackos, Kokarden, Fahnen im Wind, im Kugelregen. Die legendären Reiter. Von da drüben, in Reih und Glied. Gegen die Hessen? Oder gegen wen?

Und noch einmal: »Die Schlacht bei Bergen.« Jakob und sein Sohn Anton, den sie Toni nennen.

Sie kamen alle hier vorbei, irgendwann auf Spaziergängen. Sie faßten die Kugel an, einer nach dem anderen. Das letzte Mal, als Toni fünfzehn Jahre alt war und Jakob ihn fragte: »Warum willst du die Schule verlassen? Was willst du denn werden?«

Er lebt bei der Mutter. Ich konnte ja auch nicht richtig für ihn sorgen. So ein Kind braucht seine Ordnung, das muß man einsehen. Und zum Heiraten habe ich keine Lust mehr.

Jakob sieht sich stehen mit seinem Sohn Toni, vor der Kanonenkugel. Er will ihn überreden. Die Schule ist wichtig, eine abgeschlossene Bildung. »Mit dem Abitur in der Tasche kannst du alles werden«, sagt er.

Der Junge schüttelt den Kopf. Er weiß, was er werden will. Kaufmann. In der Automobilbranche. »Im Auto liegt Zukunft. Ich kenne jeden Motor, jede Radaufhängung. Da bin ich Fachmann… Später kann man sich selbständig machen. Und wenn man eine Markenvertretung hat, ist man ein gemachter Mann.«

Jakob hat Angst. Er ist ein Vater ohne Befugnisse. Die Ehescheidung hat ihn entmachtet. »Toni!« sagt er.

»Toni, das ist ganz falsch, was du machen willst! Hör zu, ich will dir das genau erklären…«

»So«, sagt der Junge, »von da drüben haben sie mit der Kanone geschossen? Aber das ist bestimmt nicht mehr die gleiche Kugel. Die hätte längst einer geklaut.«

Und da drüben war ein großer Kirschbaum. Wir gingen sonntags spazieren. Meine Mutter hat sich unter den Baum gestellt. Ich mußte mich dann neben sie stellen. Mein Vater hat fotografiert.

»Die Kirschblüten«, sagte sein Vater, »das gibt ein gutes Bild. Stell dich gerade hin, Jakob!«

Es muß sonntags gewesen sein, denn der Vater trug seinen dunkelblauen zweireihigen Anzug. Zwei Sonntagsanzüge hat er: den blauen und den hellgrauen. Und meine Mutter hat ein Kleid an, das nennt man Kasak. Da sind Blumen drauf. Blumen hat sie auch auf ihrem Hut, aber die sind nicht echt.

Am Sonntag schläft er mittags. Sie wäscht ab, legt sich auch ein wenig auf die Couch. Dann ziehen sie sich an, befehlen mir, was ich anzuziehen habe.

Zu dritt die Treppe hinunter, einer hinter dem anderen. Die Straße ist ganz still. Vor dem Tor schaut sich sein Vater um. Er räuspert sich wichtig, ist ein anderer Mann in seinem Sonntagsanzug. Dann zündet er sich eine Zigarre an, zwanzig Pfennig das Stück, vor dem Tor, damit sie es alle sehen können in der Straße.

»Wir gehen zur Kanonenkugel«, bestimmt sein Vater »Im Rebstock machen wir Rast und essen und trinken etwas.« »Das wird teuer«, sagt die Mutter.

»Es ist Sonntag!« antwortet sein Vater. Er bläst eine Wolke Rauch aus und befiehlt nur: »Kommt!«

Jakob trottet neben ihnen her. Er kennt den Weg. Sie gehen ihn oft. Die Kugel ist noch da. Und dort sagt sein Vater: »Es gibt Krieg. Alle sagen es. Aber die schießen jetzt mit anderen Kugeln… Der Hitler«, sagt sein Vater, »der will ganz Polen und noch ein Stück von Rußland haben. Glaubt ihr etwa, die anderen ließen sich das gefallen?«

Das sagte er an einem Sonntag im Sommer des Jahres 1939, im dunkelblauen Anzug, mit der Zigarre zu zwanzig, im Kasakkleid mit falschen Blumen am Hut, unter dem Kirschbaum mit Jakob, nicht weit von Bergen, wo die Kanone stand, die vor mehr als hundert Jahren eine Kugel in diese Hauswand geschossen hat.

»Die Särge«, sagt Jakob. »Auf meinem Schulweg sah ich sie morgens. Sie standen vor dem Kinderkrankenhaus. Kleine weiße Särge. Da lagen die Kinder drin. Und das Krankenhaus brannte noch. Da ist heute kein Krankenhaus mehr.«

Im Frankfurter Zoo steht übrigens ein Baum mit einer Tafel, auf der man nachlesen kann, daß hier Napoleon, von Hanau kommend, Rast gemacht hat. Sie hielten dort eine Lagebesprechung ab. Ich glaube, so ähnlich heißt es auf der Tafel. Weißt du noch, wie du gestaunt hast über die Elefanten. Ich habe auch darüber gestaunt, als ich sie zum erstenmal sah. Mein Vater und meine Mutter waren dabei und haben gesagt: »Das sind Elefanten.«

Er redet mit Toni, will ihn überreden.

»Es ist alles nicht wahr. Die Dinge sind ganz anders. Laß dir nichts erzählen: Automobilbranche, später eine Markenvertretung und so weiter. Das sagt sich so leicht daher.«

»Ich habe Ärger in der Schule mit meinem Klassenlehrer. Er mag mich nicht und gibt mir ungerechte Noten.«

»Ja, ja, das kenne ich. Aber du mußt eine abgeschlossene Ausbildung haben.«

»Du bist doch auch nur Kellner.«

»Aha! Das hat deine Mutter gesagt: Auch nur Kellner. Immerhin arbeite ich im Smoking. Die Bar ist gar nicht so schlecht, in der ich arbeite. Da kommen Leute mit Geld hin. Erstklassiges Publikum, auch wenn es nur eine Kellerbar ist. Du solltest mal sehen, wer da alles kommt …«

»Sie sagt: Er ist ein Trinkgeldempfänger.«

»So, das sagt sie? Und was ist denn ihr Mann? Ein Kaufmann, nichts weiter.«

»Er verdient nicht schlecht.«

»Und ich? Verdiene ich etwa nichts? Natürlich ist es nicht sehr viel, aber noch lange nicht schlecht. So, so, ein Trinkgeldempfänger! Aber sie hat mich ja immer beleidigt.« Er will noch Ratschläge geben, Hinweise und Warnungen: der große Konkurrenzkampf. Man muß gewappnet sein mit Tüchtigkeit, mit Wissen und Fleiß. Die Stufen des Erfolges. Man muß sich darauf vorbereiten, mindestens ein Viertel des Lebens ist Vorbereitung. Er sucht nach den treffenden Worten, fühlt sich jedoch machtlos, ohne Kraft. Dieses Kind ist gewachsen, hat eine Meinung, wird beeinflußt, ist ihm entzogen und wurde ohne ihn geformt.

Sie gehen am Main spazieren. Vom Eisernen Steg bis zu den Anlagen, die »Das Nizza« genannt werden, weil dort tropische Pflanzen gedeihen. Jakob denkt nach, aber er schweigt, macht keinen neuen Versuch, den Sohn zu überzeugen.