Jane Austen und die Kunst der Worte - Catherine Bell - E-Book
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Jane Austen und die Kunst der Worte E-Book

Catherine Bell

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Beschreibung

„Mein Mut wächst mit jedem Versuch, mich einzuschüchtern.“ Jane Austen.

Steventon, 1795. Die aufgeweckte Pfarrerstochter Jane möchte nur eines: schreiben. Mit tintenverschmierten Händen durchwacht sie die Nächte und begibt sich in die Welt ihrer Heldinnen. Doch ihre Schwester Cass ist verlobt, und Jane schwant, dass ihre Mutter ganz ähnliche Pläne für ihre Zukunft schmiedet. Nur sind Jane die jungen Kerle aus dem Ort alle einerlei, bestenfalls geben sie akzeptable Tanzpartner auf den von ihr heiß geliebten Bällen ab – bis der belesene Wirbelwind Tom Lefroy aufkreuzt. Janes Herz aber muss immer wieder Enttäuschungen ertragen. Umso unermüdlicher kämpft sie für ihren größten Traum: einen Roman zu veröffentlichen.  

Pfarrerstochter, Schriftstellerin, Ausnahmetalent – Der Roman über das Leben von Jane Austen  

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Seitenzahl: 423

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Über das Buch

Steventon, im Dezember 1795: Beinahe ruhig ist es im Hause Austen, als sich das Jahr dem Ende zuneigt. Die zwanzigjährige Jane vermisst vor allem ihre Schwester Cass, die die Feiertage bei ihrem Verlobten verbringt. Jane hingegen möchte nichts weniger als das: eine Ehe einzugehen. Lieber tanzt sie auf den Bällen in ganz Hampshire oder sitzt an ihrem Schreibpult, um all die Geschichten und Figuren, die ihr Tag und Nacht durch den Kopf geistern, zu Papier zu bringen. Doch sosehr ihre Familie sie auch unterstützt, kein Verlag zeigt Interesse an ihren Texten. Wäre es da nicht doch vernünftiger, sich einen Ehemann zu suchen? Aber auch als ihr Herz unverhofft schneller schlägt, als sie den charismatischen Studenten Tom Lefroy kennenlernt, scheint das Glück nicht auf ihrer Seite zu sein. Jane jedoch lässt sich auf ihrer Suche nach Selbstbestimmung und Freiheit nicht entmutigen. Denn eines will sie unbedingt: einen Roman veröffentlichen.

Über Catherine Bell

Unter dem Namen Catherine Bell taucht die Autorin und Journalistin Kerstin Sgonina in das Leben interessanter Frauen ein. Jane Austen liebt sie, seit sie deren Gesamtwerk in frühsommerlicher Hitze auf einem Berliner Balkon verschlang, ohne die stickige Luft, das Rattern der U-Bahn und den vorüberströmenden Verkehr zu bemerken. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Brandenburg und versucht, der dortigen Erde jedes Jahr aufs Neue einen englischen Cottage Garden abzutrotzen – mit bescheidenem Erfolg.

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Catherine Bell

Jane Austen und die Kunst der Worte

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog — London, 13. November 1815

Erster Teil

Steventon, Grafschaft Hampshire —  22. Dezember 1795 

Steventon, Grafschaft Hampshire —  29. Dezember 1795 

Steventon, Grafschaft Hampshire —  8. Januar 1796 

Steventon, Grafschaft Hampshire —  9. Januar 1796 

Southampton — April 1809

Steventon, Grafschaft Hampshire —  18. Januar 1796 

Steventon, Grafschaft Hampshire —  Mai 1797 

Chawton, Grafschaft Hampshire — August 1809

Zweiter Teil

Steventon, Grafschaft Hampshire —  16. Dezember 1800 

Bath, Grafschaft Somerset —  17. Mai 1801 

Sidmouth, Grafschaft Devon —  Juli 1801 

Sidmouth, Grafschaft Devon —  4. August 1801 

Sidmouth, Grafschaft Devon —  18. August 1801 

Chawton, Grafschaft Hampshire — 7. Juli 1809

Sidmouth, Grafschaft Devon —  22. August 1801 

Chawton, Grafschaft Hampshire — 7. Juli 1809

Dritter Teil

Steventon, Grafschaft Hampshire —  25. November 1802 

London — Dezember 1810

Chawton, Grafschaft Hampshire — Sommer 1813

Epilog — London, 13. November 1815

Nachwort

Weitere Hinweise

Impressum

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Prolog

London, 13. November 1815

Der Himmel über dem Hyde Park war rauchumwölkt. Selbst der Reif auf den Zweigen und auf den Dächern, denen sich die Kutsche nun näherte, hatte eine schmutzige Färbung. In Hampshire war der Horizont meist milchig, oft aber auch klar und so licht, dass er in seiner Weite an ein still daliegendes Meer erinnerte. Und so fühlte sich Jane dort auch: ruhig und bereit, ihre Gedanken ungebremst in alle Richtungen schweifen zu lassen.

Befand sie sich hingegen in London, spielte sich das Leben dicht vor ihren Augen ab. Hier gab es keine klare Sicht, überall standen Häuser, Bäume, Kutschen, Menschen. Egal, wo sie war, klopfte ihr Herz schneller. Schließlich gab es in einer großen Stadt wie dieser immer etwas zu tun – ins Theater gehen, auf Partys oder zum Einkaufen.

Die Kutsche rollte auf Piccadilly zu. Die Gehsteige vor ihren Augen füllten sich. Laut schallte das Hämmern der Schmiede aus den Hinterhöfen und wurde untermalt von dem Klappern der Hufe und dem Gebrüll der Brauer, die ihre Gäule durch die engen Gassen trieben.

Janes Nervosität, die den ganzen Morgen über in Wellen herangerollt und wieder abgeebbt war, brandete erneut auf. Ihre Wangen fühlten sich heiß an und sie hatte das Gefühl, dass alles in ihr prickelte wie Champagner. Wenn die Enge des mit Seide und Brokat ausgeschlagenen Landauers ihr den Platz dazu ließe, würde sie sich mit ihrem Hut Luft zufächern. Natürlich war sie entzückt gewesen, in die Kutsche des Prinzregenten einsteigen zu dürfen, zumal diese über Fenster aus Glas verfügte. Normalerweise sah Jane nach einer Kutschfahrt im Winter so aus: vollgespritzt mit Schneematsch, durchgefroren, hin und wieder hatten sich auf ihren Wimpern sogar feine Eiskristalle gebildet. Nicht so jetzt und hier! Allerdings war ihr die Hitze auch nicht angenehm. Die einzige Hilfe dagegen schien ihr, das Gesicht gegen die Scheibe zu pressen, was aber womöglich Fettflecken darauf hinterließe.

Besser also nicht.

Aufgeregt starrte sie hinaus. Zeitungsjungen priesen die Neuigkeiten aus aller Welt an. Das Rot der Schleife im Schaufenster von Smith & Hanson wirkte gleich noch leuchtender, die glänzenden Stoffe der Kleider bei Mr Vanderbilt luxuriös und weich. So häufig hatte sie sich die Nase an den Schaufenstern der Geschäfte plattgedrückt und nicht genug Geld besessen, sich auch nur hineinzuwagen. Für hübsche Stoffe, eine Köstlichkeit zu essen oder ein Paar exakt solcher Seidenhandschuhe, wie sie sie jetzt in einer Auslage an sich vorbeigleiten sah, hatte Jane seit jeher etwas übrig. Heute könnte sie sogar aussteigen. Ja, wer wollte sie daran hindern, gleich zwei Paar Handschuhe zu kaufen oder fünf Tafeln Schokolade bei Fortnum & Mason für Cass, die ein Leckermäulchen war wie alle Austens?

Niemand. Bis auf die Zeit vielleicht, die drängte. Man konnte nämlich nicht behaupten, der Kutscher habe nicht auf sie warten müssen. Schließlich stellten sich in manchen Lebenslagen ganz neue Fragen. Jene etwa, wie in aller Welt sie in einem weißen Musselinkleid eigentlich eine matschige Londoner Straße überqueren sollte? Glücklicherweise gab es ja die Crossing Sweepers. Gleich, als Jane aus dem Haus ihres Bruders auf die Straße trat, hatte sie einen entdeckt und zu sich gerufen, der den Schnee, vor allem aber den Unrat mit dem Besen zur Seite geschafft hatte. Kein Fleck auf ihrem Rocksaum, stellte sie erleichtert fest, nachdem sie sich zum wiederholten Mal hinabgebeugt hatte. Auch ihre Schuhe schimmerten seidig. Selbstverständlich hatte Jane sie im Innern des Landauers gegen ihre alten Slippers eingetauscht. Zudem trug sie einen Pelzmuff, dessen zarter Veilchenduft die Erinnerung an Eliza wachrief, ihre Cousine und Henrys verstorbene Ehefrau, die ihn ihr vermacht hatte. Des Weiteren Perlen im Haar und ein bisschen Lippenrot.

Nicht überkandidelt, aber dem Anlass doch entsprechend, wie Jane hoffte.

Während sie hinausblickte auf das Leben, das sich vor den Fenstern des Vierspanners abspielte, und einem Jungen in kurzen Hosenbeinen und mit nackten Füßen einen Shilling durch die Tür hinausreichte, kam sie nicht umhin, sich zu wundern. Wie hatte es sie aus einem kleinen, verschlafenen Ort wie Steventon nur hierher verschlagen können? Nach London. In die Kutsche des zukünftigen Königs des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Irland.

Sie, eine Pfarrerstochter!

Es war wie in einem schlechten Roman. Allerdings war sie nicht wie von Zauberhand in dieser Kutsche gelandet. Sie hatte auch keinen Prinzen geheiratet. Dass sie hier saß und nervös ihren Hut zerknautschte, hatte sie niemand anderem zu verdanken als sich selbst.

Nun rollten sie durch die St James’s Street, wo von Getümmel keine Spur mehr war. Die Häuser strahlten weiß und erhaben vor dem dunkler werdenden Himmel, niemand war auf den Straßen zu sehen, und das Geklapper der Hufe klang hier seltsam hohl. Jetzt war es nicht mehr weit, und Carlton House mit seinem herrschaftlichen Portikus an der Pall Mall würde vor ihr erscheinen.

Es war ein prächtiges Bauwerk, das wusste sie. Dort tauchten schon die Säulen im Dunst auf, die bemützten Soldaten, die Ärmsten, die in Reih und Glied in vollendeter Bewegungslosigkeit dastanden. Mit einem Mal hatte der Himmel eine enorme Weite. Als könnten sie sich von dem Anblick des Palastes nicht losreißen, hingen darüber wie festgezurrt die schweren Wolken. Krähen zogen ihre Kreise. Von ihren Rufen abgesehen war es gespenstisch still.

Vor Jahren hatte ihr jemand erzählt, in Carlton House gebe es einen Raum, der die Größe, aber auch die Form einer Kathedrale habe. Das war eigentümlich, wenn auch nicht weiter verwunderlich. George IV. war eigen. Eigen und … Ach, sie konnte ihn nicht ausstehen, so, bitte sehr. Er war verschwendungssüchtig, untreu, unsympathisch, kurz: niemand, für dessen Audienz sie sich normalerweise begeisterte.

Dann wiederum war er der Prinzregent, und so peinlich es ihr war: Jane freute sich diebisch über die Einladung. Sie war auf zartem Seidenpapier ins Haus geflattert, und Jane, von der so gut wie niemand wusste, dass sie und niemand anderes die Verfasserin so beliebter Romane wie Stolz und Vorurteil und Verstand und Gefühl war, hatte eine ganze Weile lang ungläubig darauf geguckt.

Auch wenn sie nicht gänzlich überraschend kam. Der Arzt, der in den schlimmen vergangenen Wochen ihren Bruder behandelt hatte, der so krank gewesen war, dass sie um sein Leben fürchtete, hatte Jane eigentümlich intensiv gemustert und eines Nachmittags leise gefragt: »Würden Sie mir die Erlaubnis erteilen, im Palast zu verbreiten, dass Sie sich in London aufhalten, Miss Jane?«

Jane hatte laut aufgelacht und einen Moment lang gewartet, ob er sich für seinen Scherz entschuldigen wollte.

Sie war eine Pfarrerstochter. Aus Steventon, Hampshire. Wer in aller Welt wollte im Palast von ihrem Besuch in London erfahren?

»Gern«, hatte sie schließlich geantwortet und die kommenden Tage über fast nichts anderes nachgedacht. Dann war nichts weiter passiert, und Jane hatte die seltsamen Worte des Arztes zwar nicht vergessen, aber vergessen wollen, und das war ja fast ebenso gut.

Darauf kam der Brief, den sie, wie sie zugeben musste, am liebsten rahmen lassen würde. Und nun fuhr sie auf den Palast des Prinzregenten zu, spürte ihr Herz kräftig pochen und war erleichtert darüber, dass der Prinzregent nicht persönlich bei ihrem Besuch anwesend sein würde.

Wenngleich es natürlich herrlich wäre, beiläufig in ein Gespräch einfließen zu lassen, welche Farbe seine Strümpfe bei ihrem Besuch gehabt hätten …

Die Kutsche wurde langsamer und blieb dann ganz stehen. Ein kurzer, breiter Mann auf stummeligen Beinen setzte sich in Bewegung und eilte auf sie zu.

»Es ist mir eine solche Ehre! James Stanier Clarke, wenn ich mich Ihnen vorstellen dürfte.«

Alles im Gesicht des Bibliothekars strahlte. Auch Jane setzte ihr nonchalantestes Lächeln auf und dann den Hut, den sie jedoch gleich wieder abnahm – in der Kutsche passte er auch jetzt noch nicht auf ihren Kopf.

Eine Treppe wurde bereitgestellt. Sie holte tief Luft.

Hier war sie. Jane Austen, die ohne achtbares Vermögen oder nennenswerte Aussichten auf die Welt gekommen war. Die eine Vielzahl an Wegen ausprobiert hatte, denn wozu waren Kreuzungen gut, wenn nicht, um jeden Pfad zumindest bis zur nächsten Biegung abzuschreiten? Eine, die sich letztlich für eine Richtung entschieden hatte, die kaum je eine Frau zuvor gewählt hatte.

Sie kletterte aus der Kutsche und lauschte, wenn auch nur mit halbem Ohr, dem Wortschwall Mr Clarkes. Erneut wallten Nervosität, aber auch Stolz in ihr auf. Die Kutsche, der Palast, ja sicher auch die Bibliothek waren luxuriös. Der wahre Luxus aber, wurde es ihr in diesem Augenblick bewusst, war die Freiheit, die zu erkämpfen sie so viel gekostet hatte.

Es hatte dunkle Jahre gegeben in ihrem Leben. Solche auch, die von nicht definierbarer Färbung gewesen waren, in denen es weder vor noch zurück gegangen war. In denen in ihr das Gefühl wuchs, innerlich wie tot zu sein. Und nun war ihr, als wäre um sie herum nur noch Licht.

Den Bemühungen des Königlichen Bibliothekars zum Trotz, sie dazu zu bringen, endlich den Palast zu betreten, legte Jane den Kopf in den Nacken. Die Wolken bewegten sich doch, ganz langsam und kaum merklich, aber genug, um einen schmalen Sonnenstrahl hindurchzulassen, der auf ihre Nase fiel.

Sie schloss die Augen, spürte die Kälte des Novemberwindes auf ihren Wangen, spürte, wie die Feuchtigkeit vom Boden in ihre seidenen Schuhe kroch. Es war ihr gleich. Wie ihr Leben verlaufen war, es konnte keiner Phantasie entspringen. Vor allem, wenn man bedachte, dass sie kein Junge war und daher nicht einmal der dörflichste Hahn danach krähte, Einblick in ihre Gedanken und Überlegungen zu erhalten.

Aber es war wahr und so wunderbar und erstaunlich, dass sie den Kopf schüttelte und nun doch wieder die Augen öffnete, um in des Bibliothekars verwundertes Gesicht zu blicken.

»Wollen wir, Mr Clarke?«

Erster Teil

»Zwischen gern tanzen und sich verlieben war nur noch ein kleiner, ein fast unvermeidlicher Schritt!«

Jane Austen, in: Stolz und Vorurteil

Steventon, Grafschaft Hampshire

 22. Dezember 1795 

Fahles Morgenlicht sickerte durch einen Spalt, der sich zwischen den Vorhängen auftat, und schien auf den glatten Dielenboden in Janes Zimmer. An jedem anderen Tag würde sie sich die Decke über die Nasenspitze ziehen und darüber nachdenken, ob sie gellend nach dem Mädchen rufen sollte oder nicht. Täte sie es, würde in Windeseile ein heimeliges Feuer im Kamin brennen. Sie könnte sich unter der Decke hervorwagen, den Sekretär ohne Frostbeulen an den Fußsohlen erreichen und sogar die Feder halten, ohne allzu sehr zu zittern. Der Nachteil allerdings lag – üblicherweise – klar auf der Hand. An Cass würde ihr Geschrei nicht vorübergehen. Diese würde sich aufsetzen, so verstrubbelt wie finster in Janes Gesicht starren und sie schließlich tadeln, wie es nur eine ältere Schwester verstand: »Jane, muss das sein?«

Aber heute war eben kein normaler Tag, und genau hierin lag das Unglück. Jane könnte brüllen, so viel sie wollte, Cass würde sie damit nicht wecken. Diese nämlich weilte meilenweit entfernt in Kintbury. Nicht, um irgendwen zu besuchen, sondern um Weihnachten mit ihren zukünftigen Schwiegereltern zu verbringen, was hieß, dass Cass heiratete, und das war ein scheußlicher Gedanke. Immerhin hatten sie seit jeher das Zimmer miteinander geteilt. Beinahe zwanzig Jahre lang. Und nun würde alles anders werden.

Der Raum wirkte groß und ungemütlich, wie er im Dämmerlicht dalag. Jane seufzte. Es gab noch eine Sache, die ihr schlechte Laune bereitete, und das war, dass auch Susanna, das Mädchen, nicht kommen würde. Genauso wenig, wie sie Cass’ und Janes Betten machte oder das Feuer schürte. Um an Weihnachten die Austens umsorgen zu können, feierte die gute Seele ein vorgezogenes Weihnachtsfest bei ihrer Mutter in Basingstoke. Keine Frage, Susanna verdiente ein paar Tage weit weg von hier, doch in diesem Augenblick vermisste sie sie fast so sehr wie ihre Schwester.

Was, bei Licht betrachtet, natürlich blanker Unsinn war. Susanna war eine nette junge Frau, mit Cass aber nicht zu vergleichen. Jane schlug die Decke zurück. Himmel, war das kalt! Bibbernd zog sie sich das Plumeau gleich wieder über die Nasenspitze und haderte flüsternd mit ihrem Leben. Was ganz und gar keine angenehme Weise war, seinen Tag zu beginnen.

Nun, sie würde alle Kraft und allen Tatendrang zusammennehmen und selbst das Feuer schüren. Und dann würde sie den lieben langen Morgen weder an Susanna noch an Cass denken, sondern sich auf die Festtage freuen, Alethea besuchen und mit großen Ohren lauschen, was es an Dorftratsch zu hören gab. Niemand war in dieser Hinsicht informierter als ihre beste Freundin – und das, obwohl ihr Zuhause erheblich weiter von Steventon entfernt lag als das Pfarrhaus, in dem Jane lebte. Jane hingegen schnatterte zwar selber gern über ihre Mitmenschen, konnte sich die Fülle an Details aber schwer merken. Sie vermischten sich häufig mit dem, was ihre Phantasie ersann. Das mochte durchaus praktisch für die Arbeit einer Schriftstellerin sein, doch Aletheas Ansprüchen, dass Gerüchte mindestens einen Hauch von Wahrheit enthalten sollten, genügte Jane damit nicht.

Sie kniff die Augen zusammen, zählte leise bis drei, schlug endgültig die Decke weg und sprang aus dem Bett. Sie hüpfte, um immer nur mit einem Fuß den Boden zu berühren, zum Kamin, riss im Lauf den Wollschal vom Sessel, schlang ihn dreifach um ihren Hals und zog ihn die Schultern hinunter, griff nach der Zunderbuchse, ließ sie, weil ihre Finger klamm vor Kälte waren, jedoch fallen. Es war wohl schlauer, sich erst anzukleiden. Also drei Paar Socken überziehen, die langen Strümpfe, das Unterkleid, das Überkleid und schließlich das wollene Tageskleid. Sie griff erneut nach der Zunderbüchse, versuchte, die Hand ruhigzuhalten, und endlich, endlich brannte im Kamin ein klägliches, aber immerhin ein Feuer.

Jane pustete sich in die Hände. Sie zog die Vorhänge auf und blickte in den Garten hinaus, der vom Reif silbrig schimmerte. Linker Hand lag der eingemauerte Gemüsegarten ihrer Mutter, nun still und unbelebt. Im Frühling und im Sommer aber leuchteten darin die orangegelben Blüten der Kapuzinerkresse, Bohnen rankten in die Höhe, Kürbis und Kartoffeln wuchsen, umsäumt von niedrigen Apfel- und Birnenbäumen. Dahinter erhoben sich sanfte Hügel, zur Rechten von Eichen und Birken begrenzt. Janes ältester Bruder hatte nahe dem Haus eine Linde gepflanzt, deren Blätter im Frühjahr in zartem Grün sprossen und deren süßer Duft morgens durch die geöffneten Fenster drang. Nun aber sahen ihre Äste karg und traurig aus, und Jane wandte sich ab, zog den Schal noch ein wenig enger, zündete zwei Kerzen an und setzte sich an ihren Sekretär.

Sie holte Tintenfass und Feder hervor sowie den Stapel Blätter, dem sie Tag um Tag ein paar beschriebene hinzufügte, und versuchte sich zu sammeln. Eines Tages im vergangenen Sommer waren Elinor und Marianne Dashwood vor Janes geistigem Auge aufgetaucht, zwei Figuren, die noch ein bisschen verschwommen waren. Doch dann hatten sie immer mehr Kontur gewonnen – Elinor, die in ihrer Strenge und intellektuellen Kühle ausnehmend erhaben wirkte, und Marianne, ungestüm und viel zu wild, um eine Dame zu sein. Jane liebte beide ausgedachten Schwestern heiß und innig, und wenn sie über sie zu schreiben begann, verschwand die Welt vor den Sprossenfenstern, verblasste das Pfarrhaus mit all seinen Bewohnern: ihre Eltern und Cass, die Bediensteten und ihr derzeitiger Besuch, der aus Janes älterem Bruder James und der kleinen Anna bestand.

Sie hatte einen knappen Handlungsablauf entworfen, das musste reichen. Jane schrieb gern drauflos, allerdings nicht völlig frei – es musste ein Geländer geben, an dem sie sich entlanghangelte, eine Linie, die sich durch die Geschichte zog. Andernfalls würde sie mal hierhin, mal dorthin treiben. Das war nicht gut, Spannung kam so nicht im Mindesten auf; zugleich aber wusste Jane, dass Kreativität auch Freiraum brauchte. Ein paar Male hatte sie versucht, sich ein genaues Handlungskonzept zu erarbeiten. Szene für Szene hatte sie dort aufgeführt, mit hübschen Pfeilen versehen und winzig geschriebenen Anmerkungen. Nach ein paar Anläufen, die ihr allesamt misslungen vorkamen, hatte sie den Entwurf aber ins Feuer geworfen. Sie brauchte einen Mittelweg – sie musste wissen, wohin sie wollte, kleine Abzweigungen aber waren interessant, Umwege erlaubt.

Jane tauchte die Feder in das Tintenfass und zögerte. Dies war ebenfalls ein Problem ihrer Arbeitsweise: Ihr Vater gab ein wahres Vermögen für das Papier aus, das er ihr zwar mit Freude zur Verfügung stellte, dennoch befiel sie hin und wieder ein schlechtes Gewissen, weil sie ein derart kostspieliges Hobby pflegte. Es war zwar nicht so teuer, wie ein Pferd zu unterhalten, nichtsdestotrotz gab es zahlreiche Beschäftigungen für Damen, bei denen es am Ende des Tages sogar einen Gewinn zu verbuchen gab. Stricken etwa, sticken oder häkeln, was Jane durchaus beherrschte, was einen Schal oder eine Tischdecke hervorbrachte. Doch nichts erfüllte sie mit solcher Freude wie zu schreiben.

Leider gab es Tage wie heute und Tage wie gestern, an denen ihr das, was sie zu Papier brachte, trotz allen Freiraums nicht frisch erschien, sondern fad, getragen und schwer. Ihre Gedanken hüpften nicht, die Worte strömten nicht herbei; jedes einzelne von ihnen kostete sie Mühe. Und ach, die Rechtschreibfehler, die sich einschlichen! Sie war zu unkonzentriert, daran musste es liegen, obwohl sie doch den Luxus der vollkommenen Stille genießen könnte. Keine Cass, die sich gähnend aus ihrem Bett schälte; keine Mama oder Papa, die hustend und sich räuspernd die Treppe hinabstolperten, denn dazu war es noch zu früh. Und auch die Jungen, die sonst im Pfarrhaus unterkamen, weil Janes Vater, der nicht nur Pfarrer, sondern auch Schulleiter war, sie unterrichtete und sie bei sich aufnahm, verbrachten die Feiertage bei ihren Familien.

Sie überflog, wie sie die beiden Dashwoods charakterisiert hatte: Elinor, stand da, mehr als Verweis für sich als für ihre Leser, denn sie musste erst noch eine Möglichkeit finden, die Details hinreichend elegant in dem als Briefroman konzipierten Text unterzubringen, die älteste Tochter, deren Ratschlag so wirksam gewesen war, besaß eine Verstandeskraft und eine Nüchternheit des Urteils, die sie befähigten, trotz ihrer neunzehn Jahre bereits die Ratgeberin ihrer Mutter zu sein, und sie häufig in die Lage versetzten, zu ihrer aller Wohl der überschwänglichen Gemütsart Mrs. Dashwoods entgegenzuwirken, die doch meist zu Unbesonnenheiten führen musste. Sie besaß ein vortreffliches Wesen – ihr Herz war zärtlich, und ihre Gefühle waren stark, doch sie wusste sie zu beherrschen; das war etwas, was die eine ihrer Schwestern nie zu lernen entschlossen war.

Mariannes Fähigkeiten entsprachen in vieler Hinsicht durchaus denen Elinors. Sie war verständig und intelligent, doch in allem überschwänglich: ihr Kummer, ihre Freude kannten kein Maß. Sie war hochherzig, liebenswert, anziehend – sie war alles, nur nicht besonnen.

Wenn nur auch Jane etwas besonnener wäre! Dann würde es ihr nichts ausmachen, tatenlos an ihrem Schreibpult zu sitzen und darauf zu warten, dass die Muse sie küsste. Leider aber fühlte sich Jane heute sehr ungeduldig. Sie hob den Blick und sah an die in zartem Blau getünchte Wand. Etwas in ihr verweigerte sich. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie es dann lieber ganz lassen sollte – verkrampft zu schreiben ließ sich damit vergleichen, wütend zu versuchen zu lachen. So konnte man niemanden überzeugen, und letztlich würde sie die beschrifteten Blätter den Flammen des Kaminfeuers überlassen.

Ein bisschen betrübt, aber doch getröstet von dem Gedanken, dass sie sich mit Alethea zum Frühstück verabredet hatte, schloss sie den Deckel ihres Schreibpultes. Sie ließ die Hände noch eine Weile auf dem glatten Mahagoniholz ruhen, dann stand sie auf, sagte sich, dass Kreativität eben nicht erzwungen werden konnte, und schälte sich wieder aus ihrem Tagkleid heraus, um etwas Feineres anzuziehen. Wenn sie nach Manydown Hall spazierte, musste sie wenigstens ein bisschen elegant aussehen; bloß die großen Holzpantinen würden bäuerlich wirken, aber was konnte sie schon dafür, dass ihr Vater keine Kutsche besaß? In Wahrheit bereitete Jane dieser Umstand jedoch kein Kopfzerbrechen. Sie liebte es, spazieren zu gehen, ganz egal, welche Kapriolen das Wetter schlug. Ob bei Wind oder Sonne, Regen oder Hagel, Jane marschierte die vier Meilen bis zu ihrer Freundin nach Basingstoke und zurück, selbst bei Nacht hatte sie es einmal gewagt, sich allerdings doch ein wenig gefürchtet.

Erneut wanderte ihr Blick über Cassandras Bett zu den Aquarellen, die auf dem Kaminsims gesammelt standen – Abbilder von Jane, die Cass angefertigt hatte. Jane im bauschigen Kleid, Jane an eine Weide gelehnt, am Ufer eines Sees. Weil Cass Schwierigkeiten damit hatte, einem Gesicht Lebendigkeit zu verleihen, malte sie sie stets von hinten. Sollte je ein Mensch, der Jane nicht kannte, anhand dieser Gemälde Schlüsse über ihr Äußeres zu ziehen versuchen, er würde mit Gewissheit annehmen, dass sie potthässlich war.

Das war sie nicht, fand sie. Sie mochte ihren frischen Teint, die glänzenden dunkelbraunen Augen und das brünette Haar, das, wenn sie sich Mühe gab, zart gewellt ihr Gesicht umrahmte. Apropos frischer Teint: Es war Zeit für eine Katzenwäsche. Das Wasser in der Schüssel war eiskalt, als Jane ihr Gesicht hineintauchte. Japsend hob sie den Kopf, rubbelte sich rasch trocken, nahm etwas von der Rosencreme, die Martha, eine so enge Freundin, wie Alethea es war, für sie angerührt hatte, und betupfte sich damit die Wangen. Dann polterte sie die Treppe hinab. Leider fiel ihr erst auf der vorletzten Stufe ein, dass sie, wenn sie unbemerkt das Haus verlassen wollte, leise sein müsste. So geräuschlos wie möglich kam sie auf dem Dielenboden des Flurs auf, in dem es stockdunkel war. Sie tastete nach Mantel und Hut, pikste sich den Finger an einem einsamen Stechpalmenzweig, den Cass noch vor ihrer Abreise aufgehängt hatte, da sich außer ihr ja doch niemand aus der Familie um derlei Festliches zu kümmern erinnerte, wisperte »Autsch!«, tastete sich zur Haustür vor und riss sie, als sie von oben die tapsenden Schritte ihrer Mutter vernahm, auf.

»Jane? Jane, bist du das?«

»Ja, Mama, und ich bin schon fort.«

»Aber Jane, ich dachte, du hilfst mir heute!«

»Das werde ich auch, Mama! Ich bin spätestens in drei Stunden wieder da.«

»In drei Stunden? Jane!«

Doch da hatte Jane die Gartenpforte schon hinter sich gelassen und eilte in ihren klobigen Pantinen auf die Straße am Waldrand zu. Glück gehabt! Im Morgenrock würde ihre Mutter ihr sicherlich nicht folgen.

»Um Gottes willen, Jane, bist du in einen Orkan geraten?«

Alethea, die ihrerseits wirkte, als hätte sie schon Stunden vor dem Spiegel zugebracht, hatte lautstark zu kichern begonnen, als Jane in den Salon trat.

»Sehe ich so aus?« Jane fasste sich an den Kopf, der tatsächlich ziemlich unordentlich wirkte, und zuckte mit den Schultern. »Ich muss mir die Haare gerauft haben.«

Sie ließ sich auf den plüschigen roséfarbenen Stuhl sinken und starrte verzückt auf das Angebot an Speisen, das ihre Freundin ihr zuliebe hatte auftragen lassen. Dann hob sie den Blick und taxierte ihre Freundin mit gespielter Strenge.

»Du hast also vor, mich bei dem Ball der Chutes über die Tanzfläche rollen zu sehen!«

»Aber nein!« Alethea errötete. Sie sah exakt so aus, wie sich Janes Mutter ihre eigenen Töchter sehnsuchtsvoll vorgestellt hatte, bevor jene das Licht der Welt erblickten: klein und zierlich und mit langem, seidig glänzendem blondem Haar. Ihre Augen waren von einem sommerlichen Himmelsblau, zudem zierte ihr hübsches Gesicht eine kleine Stupsnase. Alethea trug ihre Kleider mit Eleganz und Anmut, konnte stundenlang Bücher auf dem Kopf herumbalancieren – während Jane sie stets nach kürzester Zeit hinunternahm und darin zu lesen begann –, sprach, wie es einer jungen Dame geziemte, und wünschte sich nichts sehnlicher als einen Ehemann.

Doch obwohl Jane und sie derart verschieden waren – und obwohl Mrs Austen nicht müde wurde zu betonen, dass Alethea in allem und jedem ein Vorbild für Jane sein sollte –, verstanden sich die beiden jungen Frauen glänzend. Vor drei Jahren war Aletheas Familie auf das riesige Anwesen in Basingstoke gezogen, nicht weit von Steventon entfernt. Alethea war von den Schwestern die Jüngste, hatte aber noch einen kleinen Bruder, der eines Tages Herr über Manydown Hall und den umliegenden Park werden würde. Bis es so weit war, würde allerdings noch viel Zeit vergehen. Zeit, in der Jane all das Wundervolle kosten konnte, das in der Küche des Herrenhauses zubereitet wurde. Apfeltörtchen, Truthahnpudding und Scones, während es im Pfarrhaus meist bloß Toast und Tee zum Frühstück gab.

»Und wieso hast du dir die Haare gerauft?«, fragte Alethea nach einer Weile, in der sie Jane dabei zugesehen hatte, wie diese sich von allen Platten etwas auf ihren Teller gehäuft hatte.

»Ach!«, rief Jane und rollte mit den Augen. »Was glaubst du denn, wieso?«

»Hat es etwa mit deiner Mutter zu tun?«

»Allerdings, wenn auch nur indirekt«, entgegnete Jane und bemühte sich, deutlich zu sprechen, obwohl sie einen Happen Apfelküchlein im Mund hatte. »Auf dem Weg hierher bin ich unserer Nachbarin in die Arme gelaufen. Mrs Henderson hat mich zunächst in allen Einzelheiten nach Cass’ Hochzeit ausgefragt und ist danach auf meine eigene zu sprechen gekommen.«

»Ach du je!«

»Ach du je, allerdings. Aber glaube bitte nicht, Mrs Henderson wäre von allein darauf gekommen. Wie sie mir erzählte, ist sie gestern den halben Weg vom Dorf zurück mit Mama gelaufen, und diese hat schon die konkretesten Pläne für mich. Zwar gibt es noch keinen Heiratskandidaten, alles andere aber wurde schon bedacht und genau berechnet. Meine Hochzeit – mit wem auch immer – wird Mama auch das letzte Haar kosten und die Butter von ihrem Brot, glücklicherweise aber solle der betreffende Herr über ein beträchtliches Vermögen verfügen und eine Ausgleichszahlung ermöglichen, woraufhin Mama endlich so leben kann, wie sie es sich immer erträumt hat.«

»Bist du dir sicher, dass deine Mutter das für dich will?«, wandte Alethea ein. »Bei Cass hat sie schließlich auch nicht darauf gepocht, sie möge sich jemanden suchen, der eines Tages erben wird …«

»Nein, aber ich bin die Jüngste. Wohinein soll sie noch Hoffnungen setzen, wenn nicht in mich?«

Jane angelte sich einen Scone und strich fingerdick Clotted Cream darauf. Ein Sonnenstrahl bahnte sich seinen Weg durch die Wolkendecke und ließ die mit zartgelber Seidentapete bespannten Wände des Salons fröhlich leuchten. Manchmal stellte sich Jane vor, hier zu schreiben. Ihr Schreibpult, das ja nicht viel mehr war als eine tragbare Holzkiste, einfach mitzunehmen und mit dem Blick auf die umliegenden Wälder aufzuklappen. Hier war es stets still. Im Pfarrhaus hingegen herrschte nach neun immerzu ein einziges Tohuwabohu: Mrs Austen ging lautstark die Speisefolgen und zu machenden Einkäufe durch, Mr Austen rief mit einem gellenden Pfiff die Schafe herbei – oder seine Schüler, wobei er sich das Pfeifen jedoch längst abgewöhnt haben wollte. Cass polterte mit ihrer Staffelei die Treppen hinab, und wenn einer von Janes Brüdern zu Besuch war, machte dieser sowieso Lärm für zehn.

Alethea kniff die Augen zusammen.

»Aber ist es nicht das Natürlichste der Welt, dass sich eine Mutter um ihre Tochter sorgt?«

Als Jane aufblickte, sah sie die Sehnsucht in Aletheas Augen aufflackern. Sie hatte keine Mutter; meist sprach sie ungern darüber, doch hin und wieder, so wie heute, schummelte sich der Gedanke daran in ihren Kopf und machte sie unglücklich.

»Ach, Liebes.« Jane griff nach ihrer Hand und drückte sie. »Sei nicht traurig, bitte. Ich bin mir durchaus bewusst, dass selbst eine Mutter wie meine besser ist, als ohne sie aufwachsen zu müssen.«

Nachdenklich sah sie Alethea an, die sich bemühte, eine tapfere Miene aufzusetzen.

»Aber unterschätze bitte auch nicht, was es heißt, wenn sie einem immer und immer in den Ohren liegt. Ich wünschte wirklich, wir kämen besser miteinander aus«, fügte Jane hinzu. »Aber Tatsache ist, dass mit Cass ihr Ein und Alles das Haus verlässt, während sie mit mir zumeist unzufrieden ist.«

Alethea nahm einen Schluck Tee und stellte die Tasse aus hauchdünnem Porzellan wieder vorsichtig auf der Untertasse ab.

»Das kann ich nicht glauben, Jane. Deine Mutter mag ihre Liebe anders zeigen, als du es dir wünschst, aber allein, dass sie dich verheiraten will, zeigt doch, dass ihr etwas an dir liegt. Zudem sie dir sehr wohl liebevolle Zuneigung und sogar Bewunderung entgegenbringt! Sie schwärmt davon, wie klug du bist, und ist sie dir nicht ein ergebenes Publikum, wenn du aus deinen Texten vorträgst?«

Das mochte zwar der Wahrheit entsprechen, aber dennoch … Es gab etwas zwischen ihrer Mutter und Jane, das sich wie ein Stachel in ihre Mitte bohrte. Trotz alledem hatte selbst Mrs Austen, der man kaum absprechen konnte, ein äußerst komplizierter Mensch zu sein, auch ihre guten Seiten. So fand sie, es stand einer jungen Frau durchaus, sich für das Lesen zu begeistern; und anders als einige Leute aus der Nachbarschaft teilte sie nicht die Meinung, dass Damen ihre Intelligenz rein dadurch zeigen sollten, dass sie den Mund hielten.

»Nun erzähl aber du! Welche Neuigkeiten gibt es?«

Jane nahm einen Schluck und schmeckte dem Tee, der schwarz und aromatisch war, mit geschlossenen Augen nach.

»Oh!«, rief Alethea. »Du weißt es ja womöglich noch nicht!«

»Was denn?«

»Madam Lefroy hat Besuch ihres Neffen.«

Das war tatsächlich eine Überraschung! Wieso wusste Jane davon nicht? Das Pfarrhaus der Familie Lefroy lag dem der Austens weitaus näher als dem Anwesen von Aletheas Familie. Zudem bildete sich Jane ein, ein inniges Verhältnis zu Madam Lefroy zu pflegen, die Janes Begeisterung für Literatur und Gedichte teilte.

»Und wer ist dieser Neffe? Hast du schon seine Bekanntschaft gemacht?«

»Du weißt gar nichts darüber?«, fragte Alethea verwundert und schüttelte den Kopf.

»Nicht das Geringste. Mama glücklicherweise auch nicht«, fügte Jane mit düsterer Stimme hinzu, »ansonsten säße ich jetzt nicht hier, sondern neben dem jungen Mann und müsste ihn dazu zwingen, mir einen Antrag zu machen.«

Eine feine Röte überzog Aletheas Gesicht. »Ich weiß gar nicht, ob er tatsächlich jung ist.«

»Steinalt wird er nicht sein, wenn er Madam Lefroys Neffe ist.«

Doch dann fiel Jane ein, dass ihre Freundin Anne Lefroy sechsundzwanzig Jahre älter war als sie selbst und somit durchaus einen Neffen versteckt halten könnte, der stolze dreißig Lenze oder sogar mehr zählte.

»Was hast du denn über ihn gehört?«, fragte sie, da ihre Neugier nun geweckt war. Sie hatte viele Stunden in der Pfarre der Familie Lefroy verbracht. Ob Madam Lefroy je einen Neffen erwähnt hatte, daran erinnerte sie sich nicht. Oder doch? Ganz dunkel schwante ihr etwas …

»Lebt er in Schottland?«

Alethea schüttelte den Kopf.

»In Irland. Genauer gesagt in Dublin, wo er am Trinity College seinen Abschluss gemacht hat. Ich glaube, er befindet sich eigentlich auf dem Weg nach London, um dort Jura zu studieren, hat aber einen Umweg über Hampshire gemacht.«

»Und was sagen die Leute sonst noch über ihn?«

»Ach, du kennst sie doch.« Alethea lächelte verschmitzt. »Sie tun, als interessiere sie niemand weiter, aber dann wird hinten herum doch getuschelt, was das Zeug hält. Berichten zufolge ist Mr Thomas Langlois Lefroy ausnehmend gut aussehend, unfassbar intelligent, wird eines Tages enorm erfolgreich sein, nie allerdings vermögend, ist dazu der charmanteste Mensch, der ihnen je begegnet ist, zugleich aber durchaus ein wenig hochnäsig, auch wenn er keinerlei Grund dazu hat. Und er …«

»… könnte kaum besser riechen«, beendete Jane Aletheas Satz ins Blaue hinein.

»Das habe ich nicht sagen wollen!«

»Aber wieso nicht? Wohlgeruch ist doch eine feine Eigenschaft.«

»Wohlgeruch ist überhaupt keine Eigenschaft, Jane, das solltest du besser wissen als jede andere.« Tadelnd schüttelte sie den Kopf.

»Also, fassen wir zusammen«, sagte Jane. »Es gibt niemanden, der in Steventon, Basingstoke und Umgebung derzeit verführerischer erscheint als der Neffe Madam Lefroys. Und ausgerechnet du verzehrst dich nicht vor Neugier nach ihm?«

»Nun …«

»Nun?«, fragte Jane. »Glaubst du nicht, du könntest dich in diesen Mr Lefroy verlieben?«

Aletheas Wangen wurden noch röter, und ihre Augen nahmen einen fiebrigen Glanz an.

»Ich bin ihm doch noch nie begegnet!«

»Was nicht viel heißen muss.«

Alethea schlug mit ihrem Fächer nach Jane.

»Du bist unmöglich.«

Aber es stimmte doch. Einer Fülle anderer junger Herren, von denen sie gehört hatte, war Alethea zuvor auch nie begegnet. Dieser Umstand allein hatte sie bislang nicht davon abgehalten, sich in allen Details ihre Hochzeit auszumalen. Ach ja, wenn sie nur Mrs Austens Tochter wäre, die beiden hätten einfach immer etwas zu bereden …

»Erwähnte ich, dass er kein Vermögen erwartet? Da gibt es unzählige Geschwister, zudem hat sein Vater eine schlechte Partie gemacht, wie es heißt. Er hat nämlich …« Alethea beugte sich vor und senkte die Stimme, obwohl weit und breit niemand war, der ihnen zuhörte, »… aus Liebe geheiratet.«

»Um Gottes willen, wie konnte er bloß!«, rief Jane übertrieben theatralisch.

Alethea, die den Spott in Janes Stimme nicht zu bemerken schien, nickte ernst und runzelte die Stirn.

»Du wirst also verstehen …«

»Aber meine Brüder haben dir auch gefallen, und von ihnen ist nun wirklich keiner mit einem zu erwartenden Vermögen gesegnet.«

Alethea setzte an, sich zu verteidigen, unterließ es dann aber.

»Ich wäre eben gern nicht nur deine Freundin«, sagte sie, »sondern auch deine Verwandte. Von Mr Lefroy jedenfalls will ich nichts wissen. Du kannst ihn haben, wenn du magst.«

Entsetzt wedelte Jane mit der Hand vor Aletheas Gesicht herum, um sie zum Schweigen zu bringen.

»Bring Mama ja nicht auf dumme Ideen! Ich werde dafür Sorge tragen, dass sie keinen einzigen der nachbarschaftlichen Bälle besucht, solange dieser Mr Thomas-Sowieso-Lefroy in der Nähe weilt. In dem Augenblick, in dem man uns einander vorstellt, wird Mama schon die Kirchenglocken läuten hören! Da nehme ich doch lieber einen aus dem Dorf. In dem Fall weiß ich zumindest, woran ich bin.«

»Jonathan Byers oder Thomas Gallagher?«, riet Alethea und kicherte.

Jane blickte nachdenklich auf die Seidentapete.

»Genau«, sagte sie. »Auch wenn ich mich damit schwertun würde. Schließlich weiß ich, dass der adrette hochgewachsene Herr Jonathan Byers in seiner Kindheit am liebsten Regenwürmer verzehrt hat.«

Alethea kicherte lauter.

»Und ich erinnere mich heute noch an den Geruch, den die Strümpfe des jungen George Fenthlow nach einem langen, anstrengenden Tag verströmten. Außerdem habe ich einst in die tiefen Krater gestarrt, die sich in den Zähnen Mr Gallaghers gebildet haben, der meines Wissens immer noch höchst ungern Zahnpulver benutzt.«

Alethea fiel vor Lachen beinahe von ihrem Stuhl.

»Du bist zu köstlich, Jane.«

Finster starrte diese auf den Tisch, griff dann aber erneut zu.

»Nein«, hörte sie sich selbst undeutlich sagen, »die Apfeltörtchen sind köstlich.«

»Wir haben einen neuen Koch. Aus Frankreich.«

»Oh ja?«

»Seither ist Harris aus der Küche nicht mehr herauszubekommen.« Alethea seufzte. »Wenn ich bei der Wahrheit bleibe, liegt es allerdings nicht am Koch, sondern an seiner Hilfe. Sie ist sehr hübsch. Harris malt ihr Hasen. Ich glaube, er ist in sie verliebt.«

»Dein Bruder ist erst zehn, Alethea. Und außerdem: Wie könnte er sich in eine Frau verlieben, die nicht einmal seine Sprache spricht? Oder ist sie keine Französin?«

»Doch. Etwas älter ist Harris übrigens schon, Jane, das weißt du genau. Zudem – waren Romeo und Julia etwa erwachsener? Und zum Dritten braucht es wohl keine gemeinsame Sprache, wenn es um die Kunst geht, eine hervorragende Mahlzeit zuzubereiten, glaubst du nicht?«

Alethea klopfte sich ein paar Kuchenkrümel von ihrem Kleid. Sein helles Blau passte vortrefflich zu der Farbe ihrer Augen.

Jane blickte nachdenklich vor sich hin, dann breitete sich Verzückung auf ihrem Gesicht aus.

»Dürfte ich mir von dir einen Stift leihen, Alethea?«

Nach einem überraschten Seitenblick auf sie erhob sich Alethea, lief zu einem Beistelltischchen unter einem hochherrschaftlich dreinblickenden, in Öl gemalten Ahnen der Familie Bigg-Wither und öffnete die Schublade.

»›Aber wie willst du deine Bekanntschaft auf die Dauer fortsetzen, wenn du nichts Eiligeres zu tun hast, als sofort sämtliche Gesprächsgegenstände mit ihm durchzugehen?‹«, murmelte Jane und notierte die Worte auf einer Stoffserviette. »›Deine Lieblingsthemen wirst du bald erschöpft haben.‹«

Alethea folgte Janes eifriger Hand mit verwundertem Blick.

»Und darauf«, redete Jane weiter und hätte fast vor Begeisterung leise gekiekst, »erwidert Marianne: ›Ist das anständig? Ist das gerecht? Ich bin allzu ungezwungen, allzu glücklich, allzu freimütig gewesen. Ich bin offen und aufrichtig gewesen, statt reserviert, stumpfsinnig, langweilig und heuchlerisch zu sein – hätte ich nur vom Wetter und den schlechten Straßen gesprochen und nur einmal in zehn Minuten ein Wort gesagt, dann wäre mir dieser Vorwurf erspart geblieben.‹«

»Nun, das klingt ausgesprochen hübsch, Jane, aber was hat es mit Harris und unserer Küchenhilfe zu tun?«

Jane versuchte es mit einem entschuldigenden Lächeln, echte Reue aber ließ sich in ihrem Gesicht nicht erkennen.

»Sehr viel! Oder …«, fügte sie nach kurzem Nachdenken hinzu, »… doch nicht so viel. Ich habe dir doch von meinem Briefroman erzählt um Elinor und Marianne, und ich …« Sie atmete tief ein und schüttelte verdrossen den Kopf. »Ich stocke immer wieder damit! Ich finde nicht den richtigen Ton für die beiden Schwestern, aber gerade eben hatte ich alles im Kopf, es war, als wären sie endlich bei mir und … Entschuldige«, besann sie sich. »Ich möchte nicht, dass du glaubst, ich würde dir nur auf der Suche nach Ideen mein Ohr leihen.«

Alethea lächelte tapfer, sah aber traurig aus. Jane versuchte noch ein paar Male, sie aufzuheitern, doch es misslang. Wahrscheinlich machte sie sich Sorgen um ihre Zukunft, da Harris, wenn er eines Tages heiraten würde, alles bekäme – und Alethea und ihre Schwestern nichts. Dass allerdings ausgerechnet die französische Küchenhilfe die Auserwählte sein würde, bezweifelte Jane.

Normalerweise fanden sie und ihre Freundin stets etwas, über das sie in gemeinschaftliches Kichern ausbrechen konnten – mochte Jane einen boshaften Kommentar über einen Nachbarn machen oder Alethea von ihrem jüngeren Bruder erzählen, der sich häufig liebreizend tölpelhaft benahm. Heute jedoch blieb die lichte Stimmung wie unter einer Wolkendecke verborgen. Als sich Jane verabschiedete, bemühte sie sich erneut, ihre Freundin mit dem Verweis auf die Feiertage aufzumuntern, doch Alethea verzog nur müde das Gesicht.

»Wir sehen uns bald, ja?«, fragte Jane und drückte ihr Gesicht in Aletheas Haar.

»Natürlich«, sagte Alethea steif und trat zurück.

Traurig wandte sich Jane ab und stapfte, wieder in den zu großen Holzpantinen, den Weg durch den sanft abfallenden Park auf das schmiedeeiserne Tor zu. Auf dem Nachhauseweg, der an Fichtenwäldern und Mooren entlangführte, dachte sie über Alethea nach. Als sie einander kennengelernt hatten, hatten sie sich meist über Partituren ausgetauscht und über Handarbeiten. Wenn Jane von ihrem Alltag erzählt hatte – dem Herumtollen mit den Jungs, die im Hause ihres Vaters lebten, davon, aus Tannenzapfen Boote zu bauen und aus Eicheln und Kastanien kleine Männchen, hatte Alethea ihr mit weit aufgerissenen Augen gelauscht. Ihre Erziehung war eine gänzlich andere gewesen. Sie beinhaltete eine Gouvernante und weit weniger Freiheiten, und so gern Jane auch nach Manydown Hall zu Besuch kam, so wenig beneidete sie ihre Freundin um das Leben dort.

Vor ein paar Jahren hatten sie ihre gemeinsame Leidenschaft für das Tanzen entdeckt, und von dem Augenblick an, an dem sie die Bälle in der Umgebung hatten besuchen dürfen, war kein Halten mehr gewesen. Sie klebten so fest aneinander, dass Martha, Janes ebenso innig geliebte Freundin, bisweilen mit leichter Eifersucht in der Stimme fragte, ob Jane sie denn nicht besuchen könne, damit sie endlich einmal unter sich sein könnten.

Seit etwa einem Jahr beschäftigte sich Alethea nun mit ihrer Zukunft. Jane hingegen, obwohl sie zwei Jahre älter war, schenkte der ihren lieber nicht so viel Beachtung. Hatte ihre Freundschaft deswegen nun einen Knacks bekommen?

»Vielleicht sollte ich mich verlieben«, murmelte sie, nur um zu hören, wie es klang.

Vor ihr sprang ein Eichhörnchen von Ast zu Ast. In dunklem Grau hing der Himmel herab. Kein besonders erhebender Anblick – und ebenso wenig konnte diese Idee ihr Herz erfreuen. Sie wusste ja gar nicht, wie das funktionierte. Bei Cass war es einfach geschehen, doch hatte es lange, sehr lange gedauert. Tom Fowle, den sie bald heiraten würde, war einer jener jungen Burschen, die mit ihnen das Zuhause geteilt hatten – als ehemaliger Schüler ihres Vaters, zu dem Cass im Anschluss weiterhin Kontakt gehalten hatte. Jane aber hatte nie etwas für einen jungen Mann empfunden, weder für einen jener, die einst im Pfarrhaus gelebt hatten, noch für einen der Kerle aus dem Dorf. Es gab andere junge Herren, natürlich: in den umliegenden Gemeinden, Tom Chute etwa, mit dem sie bei dem Ball kommende Woche sicher ein Tänzchen wagen würde, die Harwood-Söhne aus Deane, einen der Portals, ach, es gab sogar unzählige! Niemanden aber, den sich Jane an ihrer Seite vorstellen konnte.

Auf einem Hügel, von dem aus sich ein prächtiger Blick auf Steventon bot, wurde sie langsamer, dann blieb sie stehen. Sie lehnte sich an einen Baumstamm und betastete die feine Maserung seiner Rinde. Sollte sie der Umstand, dass ihr Herz beim Anblick eines Mannes nie schneller geschlagen hatte, besorgen? Immerhin war sie vor einer Woche zwanzig Jahre alt geworden. Was, wenn sie zu lieben gar nicht imstande war? Was, wenn es in ihr stumm bleiben würde, für immer? Eine Künstlerin sollte fühlen, sie sollte Schmerz empfinden und ihn in Worte kleiden können; sie musste wissen, worüber sie schrieb!

Jane lehnte die Wange an den Stamm und schloss die Augen. Sie seufzte tief und entschloss dann, sich nicht weiter den Kopf zu zerbrechen. Wenn sie sich verliebte, würde das wohl ohne ihren Entschluss geschehen. Und falls nicht … Nun, es gab genug junge Herren, die sie sich ausdenken konnte. Und womöglich waren diese sogar die besseren Partien!

Zu Hause verflog ihre leicht getrübte Stimmung gänzlich, kaum hatte sie die Tür geöffnet. Urplötzlich schien auch Mrs Austen eingefallen zu sein, dass Weihnachten nahte.

»Jane!«, rief sie heiser und trippelte mit kleinen Schritten auf ihre Tochter zu, die den Hut abnahm und sich durch das nebelfeuchte Haar fuhr. »Da bist du ja! Sagtest du nicht, du wolltest in dreißig Minuten wieder da sein?«

»In drei Stunden, habe ich gesagt, nehme aber an, dass diese noch nicht herum sind.«

Janes Mutter schien ihr schon nicht mehr zuzuhören. Mrs Austen war alles andere als klein und zierlich, in Wahrheit war sie sogar eine ausnehmend imposante Person. Blickte sie in den Spiegel, sah sie jedoch weder ihre stolze Austen-Nase noch die entschlossen blickenden, fast schwarzen Augen; sie sah nicht ihre Größe von gut einem Meter fünfundsechzig, die für eine Frau doch beachtlich war. Stattdessen nahm sie sich selbst als fragil wahr, als die zarteste aller Blüten, die je von Menschenhand gepflückt worden war.

Demzufolge empfand sich Janes Mutter stets der Ohnmacht nahe und gab vor, an den exotischsten Erkrankungen zu leiden, für deren detailreiche Ausarbeitung sie sich in der Materia Medica kompetente Hilfestellung suchte.

»Jane!«, seufzte sie verzweifelt und griff nach der Hand ihrer jüngsten Tochter. »Ich weiß nicht, wie ich das alles schaffen soll! Eben noch war Oktober, und jetzt stehen wir kurz vor dem Jahreswechsel!«

Jane lächelte, dann fiel ihr Blick auf das Durcheinander, das über den gesamten Dielenboden ausgebreitet war und sich selbst durch die geöffnete Salontür zog. Zweige von Stechpalmen, von deren roten Beeren einige zwischen die Dielenbretter gekullert waren; frisch geschnittene Lorbeerzweige, die mit Efeu zu umwickeln ihre Mutter schon begonnen hatte, dann jedoch die Lust daran verloren hatte. Tannenzweige begruben auf der Kommode Vaters Hut und seine Pfeife unter sich. Und ein Haufen Glanzpapier in Gold, Grün und Rot zu Janes Füßen schien andeuten zu wollen, dass sich jeder, der willig war, einen Bogen nehmen konnte, um daraus hübsche Scherenschnitte zu gestalten.

Ja, die Zwölften lagen in der Luft, Janes liebste Zeit des Jahres, und sie sog, nun ganz und gar nicht mehr schlecht gelaunt, die nach Punsch und Nelken riechende Luft ein, die aus der geöffneten Küchentür in die Diele drang.

»Erst einmal machen wir wieder Ordnung«, schlug Jane vor.

Ihre Mutter nickte und fasste sich seufzend an die Brust. »Du weißt, dass ich für derlei Anstrengung nicht gemacht bin, Jane.«

»Das weiß ich, Mama, das weiß ich.«

»Ob du Susanna mit einer Tasse Tee zu mir schicken könntest? Ich werde jetzt ruhen.«

»Natürlich, Mama. Ach, nein, das geht nicht, Susanna ist doch bei ihrer Mutter in Basingstoke.«

Janes Mutter stieß einen so herzergreifenden Seufzer aus, dass Jane ihre Hand nahm und ihr versicherte, äußerst gern eine Tasse Tee für sie zu holen. Als sie sich abwandte, sah sie aus den Augenwinkeln, wie ihre Mutter gebückt, aber ein bisschen zu agil dafür, todsterbenskrank zu sein, das Nähzimmer betrat, dessen Fenster, unter dem eine samtene Chaiselongue stand, gen Westen zeigte. An Sommertagen war es an den Nachmittagen stets von goldenem Licht durchflutet, jetzt aber lag der Raum in dunklem Dezembergrau da.

Nachdem ihre Mutter mit einem milden Kopfnicken die Tür hinter sich geschlossen hatte, stand Jane einen Moment lang unschlüssig da. Dann besann sie sich, ließ sich von der Köchin Tee einschenken und verließ die Küche schweren Herzens. Der kleine, vollgestopfte Raum, in dem an Wänden und von der Decke herab das Kochgeschirr baumelte und in dem das Feuer lustig knisterte, war ihr einer der liebsten im Pfarrhaus. Sie brachte ihrer Mutter den Tee und räumte erst das Goldpapier fort, sammelte dann den Lorbeer und die Stechpalmenzweige ein und verfrachtete alles in den Salon. Auch hier prasselte ein gemütliches Kaminfeuer. Unschlüssig, wohin nun mit all dem Aufgeräumten, schob Jane nach kurzer Überlegung alles unter den Beistelltisch, dessen bis zum Boden reichendes Spitzendeckchen die Unordnung zufriedenstellend verbergen dürfte.

»Au!«, ertönte es darunter.

Jane zuckte zusammen, dann lachte sie. Sie hob das Tischdeckchen ein wenig an. Etwas regte sich da im Dunkeln, ein Husten ertönte, und dann kam eine kleine, dicke und sehr blasse Hand zum Vorschein.

»Anna, was machst du da?«

Das mondrunde Gesicht ihrer Nichte erschien, ihre Wangen waren knallrot. Aus ihren hellen Augen, die so gar nicht zur Familie Austen passen wollten, blickte Anna ihre Tante vorwurfsvoll an, dann angelte sie einen Stechpalmenzweig unter dem Tisch hervor und streckte ihn Jane mit anklagender Miene hin.

»Au«, wiederholte sie treffenderweise. Sie sah entrüstet aus.

Jane nahm ihre Hand und pustete.

»Wie dumm von mir, Anna. Ich hätte wissen können, dass du dort steckst.«

Das entsprach immerhin halb der Wahrheit. Anna fühlte sich seit Neuestem unter Möbelstücken am wohlsten, unter denen man eigentlich kein Kind vermutete: unter Tischen, Betten, sogar der Kommode in der Diele, unter die sie jedoch nur mit Mühe passte. Ob dieser Drang, Schutz zu suchen, etwas mit dem frühen Tod ihrer Mutter zu tun hatte, fragte sich Jane hin und wieder, wusste jedoch keine Antwort darauf.

Früher jedenfalls war Anna laut und fröhlich gewesen, ein normales Kind eben. Nun schien sie bei jedem Besuch, den sie mit ihrem Vater nach Steventon unternahm, ein wenig wunderlicher. Aber vielleicht gehörte das zum Kindsein dazu. Oder zu der Verarbeitung eines Schicksalsschlages, den auch ihr Vater – Janes Bruder James – nur mit allergrößter Mühe verkraftete. Er befand sich, wie Jane erst jetzt feststellte, ebenfalls im Salon.

»Sitzt du dort schon länger?«, fragte sie, und er nickte, zog missbilligend die Stirn kraus und fuhr damit fort, zu lesen vorzugeben.

Dass er nicht las, sah sie an seinen Augenbewegungen. Die Iris blieb starr, sein Blick wirkte verhangen. Er war zehn Jahre älter als Jane, und viel verband sie nicht, wenngleich sämtliche Hoffnungen, dass sich in ihrer familiären Mitte ein literarisches Talent befände, stets auf seinen Schultern gelastet hatten. Schon mit vierzehn Jahren war er in Oxford angenommen worden und hatte dort sogar eine Zeitschrift herausgebracht. Nachdem er Jane ein paar Male erlaubt hatte, unter Pseudonym ebenfalls dort zu veröffentlichen, hatte sich bald ihr Talent herauskristallisiert. Sie schrieb, zumindest laut dem Rest der Austens, unterhaltsamer, lustiger, klüger als er, was James zu dem patzigen Hinweis verleitet hatte, er habe nie vorgehabt, unterhaltsam und lustig zu sein.

Jane setzte sich auf die Armlehne und durchwuschelte sein dichtes dunkles Haar.

»Magst du nicht lieber mit der Kleinen rausgehen? Oder soll ich es tun? Wir könnten Tannenzapfen sammeln und sie am Bach schwimmen lassen.«

»Sie wird nur nass«, erwiderte er, ohne aufzusehen, rückte jedoch zum Zeichen, dass ihm ihre Berührung nicht sonderlich gefallen hatte, ein wenig ab.

Jane ließ den Arm sinken.

»Dann wird sie eben nass. Ich ziehe sie sofort um, wenn wir wieder ins Haus kommen, versprochen.«

»Nein«, sagte er gedehnt. Dann blickte er auf. »Aber danke, Jane. Ich weiß, du bemühst dich.«

Sie seufzte und wandte den Blick wieder zu dem Tisch, unter dem Anna verschwunden war. James hatte nicht einmal die Kerzen angezündet, so dass das fahle Winterlicht nur noch trauriger wirkte. Jane schaffte Abhilfe, pustete ins sterbende Kaminfeuer, woraufhin es aufloderte und Glutschnipsel durch die Luft segelten. Nachdem sie ein paar Krümel vom Teppich gepflückt und den Lieblingsstuhl ihres Vaters zurechtgerückt hatte, fiel ihr nichts mehr ein, was sie noch tun könnte. So winkte sie James zu, der den Gruß nicht erwiderte, und ging ein Stockwerk höher auf ihr Zimmer.