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Wo Janina auftritt, steht sie im Mittelpunkt. Dann ist sie tot, ermordet in den Ruhrwiesen. Verdächtigt werden ihr Freund und ihre Freundin. Mit beiden unterhielt sie ein intimes Verhältnis. Beide wollte sie in den Ruhrwiesen treffen. Die Ermittlungen um den Tod der jungen Abiturientin reißen Hauptkommissar Christian Kramer und Bewährungshelferin Marie Marler in eine Auseinandersetzung zwischen Profession und Beziehung.
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Das Buch: Wo Janina auftritt, steht sie im Mittelpunkt. Dann ist sie tot, ermordet in den Ruhrwiesen. Verdächtigt werden ihr Freund und ihre Freundin. Mit beiden unterhielt sie ein intimes Verhältnis. Beide wollte sie in den Ruhrwiesen treffen. Die Ermittlungen um den Tod der jungen Abiturientin reißen Hauptkommissar Christian Kramer und Bewährungshelferin Marie Marler in eine Auseinandersetzung zwischen Profession und Beziehung.
Der Autor: Peter Märkert ist in Bochum aufgewachsen und wohnt auch dort. Er studierte Informatik und Sozialwesen und arbeitete als Taxifahrer, als Sozialarbeiter im Vollzug und als Bewährungshelfer. Die Erfahrungen aus dem Milieu verarbeitet er in seinen Justizkrimis, die im Ruhrgebiet zwischen JVA, Drogen, Mord spielen, und in denen er den Hintergründen von Verbrechen und Schuld nachspürt.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Nationalbibliothek, detaillierte bibliographische Daten sind im Internet abrufbar.
Alle Personen und Handlungen im vorliegenden Roman sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit einer lebenden oder toten Person wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.
© Peter Märkert, 2018
© Peter Märkert, 2024
– alle Rechte liegen beim Autor –
Adresse:
Peter Märkert
Dürerstr. 62
44795 Bochum
URL: http://petermaerkert.de
E-Mail: [email protected]
Coverfoto: Aylin Reckermann
Covergestaltung: Jen Maerkert
Autorenfoto: Ulf Peter Quooß
eBook: via Tolino-Media
Print: BoD - Books on Demand
22848 Norderstedt
Für Isa
»Im Grunde sind es immer die Verbindungen mit Menschen, die dem Leben einen Sinn geben.«
Wilhelm von Humboldt
Frederik sieht sich im Spirituosenladen nach Bacardi um. Janina hat ihn gebeten, eine Flasche zu ihrer Abifeier mitzubringen. Sie liebt den Rum mit Cola. Er wird ihr gleich beim Eintreffen einen Longdrink mischen. Er sieht auf die Uhr. Wieso schafft er es nicht, pünktlich zu sein? Die anderen werden vor ihm da sein. Die ganze Stufe ist in Janina verknallt. Mit ihrer Lebensfreude reißt sie alle mit. Dazu trägt sie diese auffallenden Klamotten. Der totale Hingucker. Selbst bei den Lehrern stand sie im Mittelpunkt.
Die Kassiererin fragt nach seinem Ausweis. Er hat ihn vorsorglich eingesteckt und reicht ihn ihr. »Der Rum ist für unsere Abifeier«, rechtfertigt er sich. Warum eigentlich? Er wird in wenigen Monaten zwanzig. Sie gibt ihm den Ausweis zurück und wünscht ihm eine schöne Feier.
Janina wohnt mit ihrem jüngeren Bruder bei ihren Eltern in einem modernisierten Zechenhaus im Bochumer Kirchviertel. Gleich beim ersten Klingeln ist sie an der Tür. Das enge Kleid mit dem tiefen Ausschnitt steht ihr super, es erinnert ihn an ein Video von Rihanna, ihrer Lieblingssängerin.
»Wir haben das Haus für uns«, verkündet Janina gutgelaunt. »Meine Mom übernachtet bei einer Kollegin, Dad im Tennisclub.« Sie führt ihn zu Mitschülern ins Wohnzimmer. »Den Barcadi bring ich in die Küche.« Sie verschwindet mit seinem Rum und ihrer besten Freundin. Er lässt sich auf ein Gespräch über ehemalige Lehrer ein und sieht ständig zur Tür. Sein Plan, ihr einen Longdrink zu mischen, ist schiefgegangen. Zweifel kriechen in ihm hoch. Sie haben zusammen für das Abi gepaukt, dazu bis in die Nächte hinein gechattet. Doch was heißt das schon? Die Schulzeit ist vorbei. Er hat ihr nichts mehr zu bieten, ist einer unter ihren vielen Followern auf Instagram. Die Fotos schießt sie mit ihrer besten Freundin. Sein Angebot, sie einmal zum Fotoshooting zu begleiten, hat sie lachend abgelehnt.
Es klingelt an der Haustür. Janina flitzt über den Flur und kommt mit einer Baccara Rose ins Wohnzimmer, gefolgt von Sebastian, einem Mitschüler. Haben sie was zusammen? Janina und Sebastian? Sie verschwinden Richtung Küche. Der Abend fängt ja gut an. Hoffentlich bemerken die anderen seine Enttäuschung nicht. Er kann den Gesprächen nicht mehr folgen. Soll er die Feier unter einem Vorwand verlassen, ohne sich von Janina zu verabschieden? Sie kann die Mitschüler fragen, warum er gegangen ist, wenn sie es bemerkt. Er muss sich damit abfinden, Luft für sie zu sein, doch schafft es nicht. Gestern hat sie ihm eine Nachricht über WhatsApp geschickt, dass sie sich auf ihn freut und drei Herzen angehängt. Es bringt nichts, darüber nachzudenken, am Ende hat sie es jedem gesendet. Bevor er sich von den anderen lösen kann, steht sie an der Tür, um das Buffet zu eröffnen.
Sofort verwirft er den Gedanken an ein vorzeitiges Verschwinden und hofft, dass sie ihm in die Küche folgt, doch sie beachtet ihn nicht. Wo ist Sebastian? Am Buffet entdeckt er ihn nicht. Er nimmt sich von den angebotenen Tapas und stellt sich mit seinem Teller an das große Fenster mit Blick in den beleuchteten Garten. In der Schulzeit hat er nie etwas zwischen ihnen bemerkt. Er betrachtet den stattlichen Nadelbaum vor dem Fenster.
»Was stehst du hier so alleine herum? Alles gut?«
Fast wäre ihm der Teller aus der Hand geglitten. Ihre großen Augen leuchten wie Sterne. Soll er sagen, dass er auf sie gewartet hat? Dass er vermutet hat, sie wäre mit Sebastian zusammen? Ja, dass er den Abend mit ihr verbringen möchte? Er könnte es mit einem Lächeln unterstreichen, denkt an einen Smiley mit roten Wangen, doch traut sich nicht. »Alles bestens«, murmelt er und spürt seinen erhöhten Puls. Er fürchtet, dass sie weitergeht, wenn ihm nicht schnell etwas einfällt. »Der Baum vor dem Fenster.« Er zeigt hin. »Eine Kiefer oder eine Zeder?« Sie raubt ihm die Sprache. Er kann keinen Satz mehr formulieren. Wenn er bloß seine Nervosität ablegen könnte.
Sie kommt nah an ihn heran. »Eine Zeder. Sieht man an den kleinen Zapfen.« Ihr Blick wandert zu seinem Teller. »Hast du keinen Hunger? Oder schmeckt‘s dir nicht?« Sie betont die Frage und lacht. Ihr ansteckendes Lachen. Er fragt nach. »Warum lachst du?«
»Kennst du das Stück von Jan Weiler nicht? Maria, ihm schmeckt´s nicht. Es gibt einen Trailer auf YouTube. Sehen wir uns mal an.« Sie lacht wieder. Seine Mutter konnte so lachen, als zuhause noch alles in Ordnung war.
»Mir schmeckt´s jedenfalls«, sagt er. Zur Bestätigung steckt er sich eine Tapa in den Mund und fühlt nichts, als wären seine Geschmacksnerven ausgeschaltet. Ihn interessiert, ob zwischen ihr und Sebastian etwas läuft. Schon wegen der Rose, die bringt man nicht ohne Hintergedanken mit. Er muss es geschickt anstellen, sich auf ihr Gesicht konzentrieren, auf jede Regung, und die Frage unauffällig formulieren. »Hast du Sebastian gesehen?«
»Wieso? Wie kommst du darauf? Ist das wichtig?« Sie weicht zurück. Er verfolgt ihren Blick zu Larissa, die am Buffet aufgetaucht ist und die beste Stelle sucht, um es mit ihrem Smartphone zu fotografieren. Janina macht einen Schritt auf ihre Freundin zu.
»Nein«, sagt er schnell, um sie aufzuhalten. »Ist nicht wichtig.« In was reitet er sich da rein?
»Da ist er ... bei Larissa. Sollen wir hingehen?«
»Nein. So war das nicht gemeint.«
Ihr Blick verrät, dass sie ihn durchschaut hat. Sie deutet auf den Servierwagen in der Ecke. »Mixt du uns einen Bacardi Cola?«
Er nickt ihr mit vollem Mund zu und stellt seinen Teller beiseite. Füllt zwei passende Gläser mit viel Rum und wenig Cola. Sie holt dunkelrote Strohhalme aus einer Schublade und zieht ihn ins Wohnzimmer, vorbei an ihrer Freundin und Sebastian.
Ihr kleiner Bruder hat die Rolle des DJs übernommen. Er nimmt wahr, wie sie ihm ein Zeichen gibt und ahnt, was kommt, bevor Unfaithful von Rihanna erklingt. Mit einem Lächeln zieht sie ihn auf die Tanzfläche. Er bewundert ihren freien Tanz, ahmt die Bewegungen nach, was sie erheitert. Jedenfalls sieht sie ihn an und lacht. Dabei kommt sie nah an ihn heran, dass sie sich berühren. Sie schlingt ihre Arme um seinen Hals und küsst ihn auf die Wange. Er versucht, sie festzuhalten, doch sie entwischt ihm, um ihren freien Tanz fortzusetzen. Sie lassen kaum einen Song aus, höchstens, um weitere Longdrinks zu sich zu nehmen. Zu vorgerückter Stunde tanzen sie engumschlungen. Bis Janina auf die Couch deutet, wo sie sich niederlassen. Sie kniet über ihm, umarmt ihn, küsst ihn. Ihre Lippen wandern zu seinem Ohr. Sie flüstert, ob er ihr Zimmer sehen möchte.
Während er ihr die Treppe hinauf folgt, spürt er die Blicke der anderen. Janina und er, das hat er sich immer gewünscht, die tollste Frau aus der Stufe an seiner Seite. In sein Hochgefühl mischt sich Versagensängste. Gerade, wenn es ihm wichtig ist, keine Fehler zu machen. Daran hat der Alkohol nichts geändert. Sie verschließt die Tür, lässt den Schlüssel stecken. Er nimmt einen süßlichen Geruch von Parfüm wahr und betrachtet die Poster an den Wänden, die von roten LEDs angestrahlt werden. Johnny Depp. Auf einer Großaufnahme mit Penélope Cruz aus dem vierten Teil von Fluch der Karibik. »Super Film.« Er deutet auf das Poster.
»Als Kind war ich verknallt in den Typen. Ist lange her«, lacht sie. »Meine Wohnung richte ich anders ein. Ich freu mich riesig darauf.«
Er hält dem Blick aus ihren dunklen Augen nicht stand, weicht ihm aus und ärgert sich im selben Moment darüber. Er sollte nachfragen, wann sie umzieht.
»Gefallen dir die alten Poster?«, kommt sie ihm mit einer Frage zuvor.
»Ja, ich habe den vierten Teil mehrmals gesehen.«
»Wer gefiel dir besser? Johnny Depp oder Penélope Cruz? Ehrlich!«
Was will sie mit der Frage andeuten? Ist es, weil er nach Sebastian gefragt hat? Dabei hat er gedacht, sie hätte ihn verstanden. Er versucht, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. »Penélope Cruz.« Er blickt ihr direkt in die Augen.
Sie dimmt das Licht und verbindet ihr Smartphone mit der Bluetooth-Box. Diamonds erklingt von Rihanna. Das ist Wahnsinn! Sie streift ihr Kleid ab. Es folgt der BH, der Slip. Sie kommt auf ihn zu, betont ihre Schritte, umarmt ihn, küsst ihn. Mit der Geschmeidigkeit einer Katze bewegt sie sich zum Bett zurück, streckt sich aus, stützt den Kopf mit den Händen ab und fordert ihn auf, sich auszuziehen.
Er ist verzaubert, verwirrt. Sie sieht aus wie auf einem Werbeplakat, doch es geht ihm zu schnell. Soll er es sagen? Ihr sagen, dass er keine Erfahrung hat, dass er unsicher ist? Schon wegen der verdammten Vorhautverengung. Er hat sich schwer damit getan, zum Arzt zu gehen, und endlich die Operation hinter sich gebracht. Wie wird sie es aufnehmen? Soll er es ihr erklären? Oder spielt es keine Rolle? Er beginnt, sein Hemd aufzuknöpfen, streift es unter ihren Blicken ab und hält es in der Hand. Wohin damit? Er lässt es auf den Boden fallen. Jetzt die Hose. Er kommt sich albern vor, wie vorgeführt.
»Warte, ich möchte dir die Jeans ausziehen«, flüstert sie in beschwipstem Tonfall und bewegt sich auf allen vieren vom Bett herunter auf ihn zu. Sie kniet nackt vor ihm, öffnet den Reißverschluss seiner Jeans, zieht sie ihm vorsichtig über die Hüften.
Er spürt ihr Zögern, möchte den Slip mit einem Ruck herunterziehen, doch nicht so nah vor ihren Augen. Sie löst gleichzeitig Verlangen und Angst in ihm aus. Angst, ihren Erwartungen nicht zu entsprechen. Er geht zum Bett, legt sich seitlich darauf mit dem Blick zu ihr. Sie folgt ihm, drückt sich an ihn.
Er streicht unsicher mit den Händen über ihren Rücken, traut sich nicht, ihren Mund zu küssen. Warum? Vorhin auf der Couch war es so leicht. Was ist mit ihm? Seine Unterlippe zittert. Sie weicht zurück, streift seine Hände ab.
»Gefalle ich dir nicht mehr?« Ihre Augen mustern ihn misstrauisch.
»Doch, total! Ich weiß auch nicht.«
»Habe ich was falsch gemacht? Sag es.«
»Nein, das ist es nicht. Du bist super. Es liegt an mir.«
»Hast du kein Kondom dabei?«, rätselt sie. »Ohne läuft nichts, das kannst du vergessen.«
»Ich wusste ja nicht …«
Sie lacht. »Schon gut. Ich habe welche.« Sie deutet zu dem Korb auf dem Nachttisch, sagt beiläufig: »Boxershorts gefallen mir bei Männern. Ich meine, du kannst sie tragen bei deiner Figur.«
Es ist wie ein Schlag in die Magengrube. Versager hämmert es in seinem Kopf. Warum hat Vater ihm immer das Gefühl gegeben, ein Versager zu sein? Er überwindet sich, zieht mit einem Ruck den Slip herunter, greift nach einem Kondom und versucht, die Folie aufzureißen. Es geht nicht. Er spürt, wie seine Erektion schwindet.
»Das gibt´s nicht«, kichert sie. »Ich glaub, du hast das noch nie gemacht. Stimmt`s?« Sie kriegt sich nicht ein.
Er ist mit einem Mal so wütend, er möchte ihr das Lachen aus dem Gesicht schlagen. Er springt auf, sucht eilends seine Sachen zusammen, um sich blitzschnell anzuziehen. Bei der Jeans verheddert er sich, stolpert und fällt auf das Bett zurück. Er ist gleich wieder auf den Beinen, ist schon an der Tür. Sie bleibt liegen, von Lachkrämpfen geschüttelt. Wutentbrannt reißt er am Türgriff.
»Der Schlüssel steckt«, würgt sie heraus.
Er versteht, schließt auf und knallt die Tür hinter sich zu. Rennt beinahe in Larissa hinein, die wie aus dem Nichts vor ihm auftaucht. Verdutzt starrt er sie an.
»Was ist los? Wo hast du Janina gelassen?«, fragt sie. Frederik schüttelt nur den Kopf.
»Hat nicht funktioniert, was?« Sie öffnet die Tür.
»Wie kommst du darauf?«, entgegnet er scharf.
»Schon gut. Reg dich ab. Alles okay.« Sie macht eine beschwichtigende Handbewegung.
»Ist der drauf«, hört er Larissas Worte, bevor sie im Zimmer der Freundin verschwindet.
Er fühlt sich mies, weiß nicht wohin. Auf keinen Fall darf er auf der Party bleiben. Hätte er nur auf seine Vorahnung gehört und wäre gleich zu Beginn verschwunden. Er möchte niemandem mehr begegnen. Die Treppe runter, den Flur entlang zur Haustür. Er gibt sich einen Ruck, steigt die Stufen hinab. Unten kommt ihm Sebastian entgegen. Ausgerechnet Sebastian, der sich immer mit Frauengeschichten gebrüstet hat. Er hat es ihm nie abgenommen, aber vielleicht stimmt es ja. Er erinnert sich an die rote Rose, seine Zweifel in der Küche, an Janinas seltsame Reaktion, als er nach ihm fragte. Die Gedanken bringen ihn um den Verstand. Er sieht die beiden vor sich, wie sie sich auf ihrem Bett rekeln.
»Wo ist Janina?«, dringt die Frage in ihn. Er bleibt stehen. »Auf ihrem Zimmer mit Larissa.« Weiter warnt die innere Stimme. Weitergehen. Er kämpft mit sich. Ein helles Lachen tönt von oben herab. Er sieht hoch. Sie stehen an der Treppe. Wie hat Janina sich so schnell angezogen? Was macht Larissa mit dem Smartphone in der Hand? Klar, sie filmt. War es geplant? Von Anfang an? Um sich über ihn lustig zu machen? Er sieht das Grinsen in Sebastians Gesicht, wittert ein abgekartetes Spiel.
»War wohl nichts, was? Zumindest nach deinem Gesichtsausdruck zu urteilen. Du bist so ein Loser.«
Die Worte geben ihm den Rest. Er schlägt hinein in das Grinsegesicht. Ein zweites, ein drittes Mal. Mit der geballten Faust. Ehe Sebastian sich wehren kann. Mitten im Schlag fühlt er seinen Vater in sich und holt aus. Schreie von Janina und Larissa, von den anderen unten. Er schlägt zu, hört es krachen. Sebastian krümmt sich vor Schmerzen. Mitschüler greifen ein, zerren ihn weg. Er kommt zu sich, reißt sich los und stürmt zur Haustür, hinaus ins Freie. Nur weg von hier, nur weg. Gleich werden sie einen Krankenwagen rufen und die Polizei. Natürlich die Polizei.
Ziellos irrt er durch die Straßen. Wo soll er hin? Zu seinen Eltern? Unmöglich. Sie würden etwas wittern und fragen, was passiert ist. Bis zu der Pleite im Bett hätte es nicht besser laufen können. Wie lange hatte er sich gewünscht, ihr näherzukommen? Dann ist es soweit und er versaut es. Er kann sich nirgends mehr sehen lassen, das steht fest. Wie konnte er so zuschlagen? Er hat Sebastian das Nasenbein gebrochen. Er hat gehört, wie es krachte.
Warum um alles in der Welt hat er Janina nicht gesagt, dass er keine Erfahrung hat? Was ist so schlimm daran? Er hätte ihr von der Operation erzählen können. Sie hat den ganzen Abend mit ihm verbracht, nicht mit Sebastian, nicht mit ihrer Freundin. Warum hat er sie im Bett nicht geküsst, sie nicht umarmt. Warum hat er nicht mit ihr gelacht? Was hinderte ihn? Es wäre so leicht gewesen. Er erinnert sich, wie sie seine Hand nahm, ihn zur Tanzfläche führte. Er war so stolz in dem Augenblick. Was würde er darum geben, die Zeit zurückzudrehen.
Neben ihm hält ein Polizeiwagen. Die Beamten befragen ihn zu seinen Personalien. Frederik Sunter. Er holt seinen Ausweis aus dem Portemonnaie. Sie konfrontieren ihn mit der Körperverletzung auf der Feier. Er gibt alles zu, fühlt sich erleichtert und lässt sich widerstandslos festnehmen.
Bewährungshelferin Marie Marler bereitet sich in ihrem Büro auf ein Erstgespräch vor. Gefährliche Körperverletzung auf der Abifeier einer Mitschülerin im Mai. Sie studiert die Urteilsbegründung des Amtsgerichts. Die heftigen Schläge gegen den Kopf des Opfers stellten eine »das Leben gefährdende Behandlung« dar. Der geschädigte Schüler wäre von der grundlosen Aggression überrascht worden.
Sie sieht auf die Uhr. Er müsste jeden Moment kommen. Sie wird ihn zu eigenen Gewalterfahrungen befragen, auch zu seinem Alkohol- und Drogenkonsum. Sie überfliegt den Text:
Mitschüler forderten einen Krankenwagen an. Im Bergmannsheil stellten die Ärzte eine Schädelprellung und eine Nasenbeinfraktur fest. Die Operation fand unter Vollnarkose statt, um einzelne Knochenfragmente zu entfernen und eine Reposition der Kieferhöhlenvorderwand vorzunehmen. Bei der Hauptverhandlung hatte der Geschädigte im rechten Gesichtsbereich noch kein Gefühl.
Wie schnell kann ein »Ausraster« zu bleibenden Schäden führen. Marie erinnert sich an das Seminar eines Rechtsmediziners aus Essen, an dem sie teilnahm. Er zeigte ihnen schreckliche Bilder von Verletzten.
Das Telefon läutet. Nina von der Geschäftsstelle kündigt Frederik Sunter an. Auf die Minute pünktlich. Sie bittet, ihm auszurichten, einen Moment zu warten.
In der Urteilsbegründung bestätigte die Jugendgerichtshilfe Reifeverzögerungen trotz seines guten Abiturs. Das Schöffengericht erkannte auf eine Jugendstrafe von acht Monaten und setzte sie gleichzeitig für die Dauer von zwei Jahren zur Bewährung aus.
Marie begrüßt ihren neuen Klienten im Wartezimmer. Sie bittet ihn, ihr ins Büro zu folgen. Nach dem Urteil hatte sie ihn sich anders vorgestellt, weniger sympathisch auf jeden Fall, mehr als Schlägertyp. Mit dem Kapuzenpulli zur blauen Jeans, den weißen Sneakers wirkt er wie ein Praktikant. In ihrem Büro betrachtet er die bunten Kunstdrucke, ihr selbsterstelltes Chaosbild und die Grünpflanzen. Sie deutet auf die Lederstühle und setzt sich ihm gegenüber an den Schreibtisch. Ihr fallen seine klaren Augen auf, die weichen Gesichtszüge. Körperverletzung passt nicht zu ihm. Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz könnte sie sich vorstellen. Als würde er ihre Gedanken lesen, kramt er aus seinen Taschen einen Personalausweis hervor und reicht ihn ihr. Während sie das Passbild mit dem Namen vergleicht, informiert sie ihn über die Zusammenarbeit in der Bewährungszeit. Er könne sich mit allen Problemen an sie wenden. Zusammen ließen sich Lösungen finden. Veränderungen, eine andere Adresse, Schule oder Arbeit, neue Ermittlungen müsse sie dem Gericht mitteilen, außerdem die richterlichen Weisungen überwachen. Er stimmt den regelmäßigen Treffen zu, in der ersten Zeit wöchentlich, bei stabiler Lebensführung monatlich. Sie reicht ihm ihre Visitenkarte, notiert sich seine Handynummer und spricht ihn auf die Körperverletzung an. Er schüttelt abwehrend den Kopf, als wollte er den Abend aus dem Gedächtnis streichen.
»Ich habe keine Ahnung, was in mich gefahren war … der Alkohol … die Enttäuschung. Haben Sie das Urteil gelesen?«
»Ja«, bestätigt Marie. Sie sieht ihn an, wartet auf eine Reaktion. Das Schweigen fällt ihr nicht leicht.
»Ich wollte raus, die Feier verlassen. Er hat sich mir in den Weg gestellt, hat mich provoziert. Es ist kein Grund, das sehe ich ein.«
»Warum wollten Sie die Feier verlassen?« In seinem Blick spürt sie die Frage, ob er ihr vertrauen kann.
»Sie wissen … von der Phimose Operation?«
»Ist nicht selten.« Sie ahnt, worauf er hinauswill.
»Ich wusste nicht, wie Janina es aufnimmt. Wir hatten getrunken, getanzt, uns geküsst. Irgendwann waren wir auf ihrem Zimmer. Verstehen Sie? Ich hatte nicht mal Kondome.« Er räuspert sich. »Sie hatte welche.«
Soll sie ihn bei dem Thema an einen männlichen Kollegen abgeben? Udo Fröbel würde ihn sicher übernehmen. »Du hattest keine Erfahrung, warst dir unsicher. Das ist normal. Nichts Schlimmes.« Sie nimmt wahr, wie er auf dem Stuhl zurückweicht. Hat sie ihn geduzt? Sie versucht, sich auf das Chaosbild an der Wand zu konzentrieren. Sie hat es extra für solche Momente aufgehängt. Herr, gib mir Gelassenheit, betet sie im Stillen.
»Ich habe mich schlecht gefühlt ... als Versager«, sagt er. »Ich war enttäuscht, hatte es mir anders vorgestellt.«
Sie überwindet sich. »Möchten Sie lieber mit einem männlichen Kollegen darüber sprechen?«
»Nein!« Es klingt panisch. Sie hat einen wunden Punkt getroffen. Sie wird ihn später nach der Beziehung zu seinem Vater fragen. Oder beim nächsten Termin. Vorerst wartet sie ab und konzentriert sich auf das Chaosbild an der Wand.
»Ich hatte nicht damit gerechnet. Janina hatte die Initiative übernommen, weil es das Haus ihrer Eltern war.« Er stockt.
Marie versucht, Verständnis in ihren Blick zu legen. »Weil es das Haus ihrer Eltern war, hat Janina die Initiative übernommen. Hm, leuchtet ein. Bei Ihnen hätten Sie die Initiative übernommen.« Sie lacht, steckt ihn damit an.
»Ich weiß nicht … oder nein. Ich glaube nicht.« Er sieht sie an. »Ich war immer in Janina verknallt. Seit der Schule. Ich habe es ihr zu wenig gezeigt, hatte keinen Mut. Ich meine, sie hatte schon vorher Sex … im Gegensatz zu mir. Sie hatte sich beim ersten Mal ohnmächtig gefühlt. Das hat sie mir erzählt. Seither will sie bestimmen, wann und mit wem. Sie war überrascht an dem Abend, fand es nicht schlimm, dass ich keine Erfahrung hatte. Ich hatte mich nur komisch benommen und sie hatte getrunken.« Er errötet bei seinen Worten, wischt sich mit der rechten Hand den Schweiß von der Stirn.
Marie wundert sich, dass sie über das heikle Thema gesprochen haben, und dass er es ihr beim ersten Termin anvertraut. Wie kann sie das Gespräch wieder zu der Körperverletzung lenken? Er kommt ihr zuvor.
»Vor Gericht habe ich alles gestanden. Es kam an dem Tag einiges zusammen. Es wird sich nicht wiederholen. Das verspreche ich Ihnen. Ich habe es meinen Eltern schon versprochen. Der Anwalt hat gesagt ... die Jugendstrafe wird nach zwei Jahren erlassen, wenn ich mich an die gerichtlichen Auflagen halte. Das habe ich vor«, beteuert er.
»Hat er auch gesagt, dass Jugendstrafen unter Jahren nicht in das Führungszeugnis aufgenommen werden? Das kann wichtig sein bei einer Bewerbung um eine Arbeitsstelle. Wie sieht Ihre aktuelle Lebenssituation aus.« Marie lehnt sich im Stuhl zurück und wartet ab.
»Ich wohne bei meinen Eltern … während der Ausbildung. Das ist günstiger.«
»Sie machen eine Ausbildung? Bei Ihrem Abitur habe ich mit der Aufnahme eines Studiums gerechnet.« Sie sollte ihn ausreden lassen, vor allem sich nicht gleich in seine Berufswahl einmischen. »Das ist nicht wertend gemeint«, fügt sie hinzu. »Eine Ausbildung ist genauso gut. Wann haben Sie angefangen?« Es dauert, bis er antwortet. Sicher hat sie ihn mit ihrer Meinung verunsichert.
»Im August, also vor einem Monat.«
Sie wartet. Ob er hinzufügt, um welche Ausbildung es sich handelt und wer sein Arbeitgeber ist. Er sieht auf den Schreibtisch, bleibt stumm. Beim Thema Janina wirkte er redseliger. »Welchen Beruf erlernen Sie?«
»Kfz-Mechatroniker ... bei der Firma Schroer in Bochum. Eine gute Werkstatt ... die Mitarbeiter sind in Ordnung.«
Die Antwort kommt schleppend, klingt nicht überzeugend. »Handwerker werden immer gebraucht. War es Ihre Entscheidung?« Eine Frage aus dem Bauch heraus. Sie bemerkt seine Anspannung. Eine Vene tritt senkrecht auf der Stirn hervor. Sie hat ins Schwarze getroffen, kein Zweifel. Sie ahnt, wer hinter der Berufswahl steckt.
»Wie meinen Sie das?« Mit der Gegenfrage versucht er, ihr auszuweichen. Sie lässt sich nicht darauf ein, sondern wartet ab. Mit Blick auf das Chaosbild gelingt es ihr, ihm die Zeit zu lassen, die er benötigt. »Vater hatte mir geraten, vor einem Studium etwas Ordentliches zu lernen. Er ist Anlagenmechaniker, Mutter Krankenpflegerin. Geschwister habe ich nicht. Vater kennt die Werkstatt, er wollte immer KFZ-Meister werden«, betont er. »Ich habe mit achtzehn den Führerschein gemacht. Zur Ausbildung haben mir die Großeltern einen gebrauchten Mini gekauft. Sie hatten dafür gespart. Die Versicherung läuft über meine Mutter … wegen der Prozente.«
Marie bittet ihn, den Ausbildungsvertrag beim nächsten Gespräch vorzulegen. Sie erkundigt sich nach seinen sonstigen Interessen.
»Sport, Musik. Ich fahre gern Fahrrad … treffe mich mit einem Freund im Fitness-Studio.«
»Und eine Freundin? Verstehen Sie mich nicht falsch. Es ist nicht zwingend ...«
»Janina«, unterbricht er sie, als müsste sie es wissen. »Sie nimmt im Oktober ihr Studium an der Ruhr Uni auf. Sie möchte Lehrerin werden. Ihre Eltern haben ihr eine kleine Wohnung am Schauspielhaus eingerichtet.«
»Janina Kamphausen?« Marie ist im ersten Moment geschockt und schüttelt den Kopf. Seine Stimme klingt leicht vorwurfsvoll.
»Wir sind seit der Abifeier zusammen. Sie hat mich am nächsten Tag angerufen … hatte sich Sorgen gemacht. Ich kam von der Wache, wo ich die Nacht verbracht hatte. Wir hatten beide zu viel Alkohol getrunken. Sebastian konnte nichts dafür. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich verstehe bis heute nicht, was mit mir los war.«
Bei dem Thema redet er wieder flüssiger, doch der letzte Satz gefällt Marie nicht. Die Geschichte mit Janina gefällt ihr nicht. Seine Ausbildung zum KFZ Mechatroniker gefällt ihr nicht. Sie spürt bei Frederik zu viel Anpassung und zu wenig Begeisterung. Nach der Ausstrahlung und den Noten könnte sie sich ihn als Sportlehrer vorstellen, als Arzt, Psychologe, Sozialarbeiter, irgendetwas mit Menschen. Mag sein, dass sie vorschnell urteilt. Doch sie glaubt an den ersten Eindruck.
»Sie vertrauen mir nicht«, errät er ihre Gedanken. »Ich kenne den Ausdruck von meinem Vater. Der hat nie an eine Beziehung zwischen Janina und mir geglaubt. Er mag sie nicht. Trotzdem sind wir zusammen.« Er holt sein Handy aus der Tasche, zeigt auf das Display.
Marie betrachtet die junge Frau in seinem Arm. Dichte schwarze Haare, große Augen, voller Energie. »Das ist also Janina«, stellt sie fest. »Sieht interessant aus. Waren auf der Feier Drogen oder Tabletten im Spiel?«
»Nein! Damit haben wir nichts zu tun.« Er steckt das Handy zurück in die Jackentasche. »Es lag nur an dem verdammten Alkohol.«
Nach dem Urteil vermutete Marie, dass Janina ihn mit ihrer Freundin und dem Geschädigten vorführen wollte. Nie hätte sie gedacht, dass daraus eine Beziehung entstehen könnte. Sie glaubt es noch nicht, versucht allerdings, sich auf die neue Situation einzustellen.
Er kramt in seinen Taschen, holt einen Überweisungsbeleg an den Geschädigten hervor. Das Gericht hatte ihm auferlegt, monatliche Raten von hundert Euro als Wiedergutmachung bis zum Ende der Bewährungszeit zu zahlen. »Wenn das Geld nicht reicht, gibt mir meine Mutter etwas dazu. Dafür habe ich ihr versprochen, dass es nie wieder vorkommt.«
Marie spürt den eindringlichen Blick. Sie hält sich mit einem Kommentar zurück, obwohl es ihr schwerfällt. Sie möchte nicht mit seinem misstrauischen Vater verglichen werden. Nicht beim ersten Kontakt. Den Vergleich würde sie nicht wieder los.
»Die Wiedergutmachung ist okay«, sagt er. »Mit Sebastian habe ich mich versöhnt. Er hat mir verziehen. Sie können mir glauben. Er wird es Ihnen bestätigen. Ich werde ihn zum Gespräch mitbringen. Ich bin heilfroh, dass es bei der Bewährung blieb. Wie gesagt ... ich verstehe nicht, was mit mir los war. Ich habe sonst nie jemanden geschlagen.«
Den Satz kann sie nicht unkommentiert stehen lassen. Sie muss darauf reagieren und dabei behutsam vorgehen. »Wenn Sie in bestimmten Situationen keine Kontrolle über sich haben, müssen wir genau diese Situationen herausfinden.«
»Was soll das bringen? Es war nur dieses eine Mal.«
Damit hat sie gerechnet, das sagen alle. »Wir entwickeln eine Art Notfallplan. Sie lernen, brenzliche Situationen im Ansatz zu erkennen, um zu verschwinden, bevor etwas passiert. Spielen Sie Schach?«
»Ja, ich verstehe, was Sie meinen. Ich war ja auf dem Weg nach draußen, um die Feier zu verlassen. Hätte Sebastian mich nicht aufgehalten, wäre ich verschwunden ... und nichts wäre passiert.«
Er weicht ihr aus. Sie fragt, warum er sich aufhalten ließ, ist gespannt, wie er sich wieder herausreden will. »Es lag an dem verdammten Alkohol, das sagte ich schon. Seitdem trinke ich nichts mehr. Ich bin ständig mit dem Mini unterwegs, zur Arbeit, zur Freundin. Sie wissen, während der Probezeit gilt absolutes Alkoholverbot. Meinen Führerschein möchte ich nicht verlieren.«
Er verschweigt ihr etwas, auch wenn er so abgeklärt tut. Immerhin wird es stimmen, dass er auf Alkohol verzichtet, um die Fahrerlaubnis nicht zu gefährden. Damit reduziert sich die Rückfallgefahr. Doch wie verhält er sich in einer Ausnahmesituation? Sie spricht ihn auf das Antigewalttraining an. Neben der Wiedergutmachung an den Geschädigten hat er nach dem Bewährungsbeschluss daran teilzunehmen. Er windet sich. Fragt, ob das aufgehoben werden könnte. Während der Ausbildung bleibe ihm wenig Zeit. Er sei in der Woche erst abends zurück.
»Meinen Sie ... ich brauche so ein Psychogerede! Ich bin kein Schläger. Ich weiß genau, was auf dem Spiel steht.«
»Darüber werden wir nicht diskutieren. Seien Sie froh, dass der Geschädigte rechtzeitig ins Krankenhaus kam. Das hätte anders ausgehen können. Es gibt ein Training, das an Wochenenden stattfindet. Daran werden Sie teilnehmen.« Marie möchte an der Stelle nicht nachgeben. Sie reicht ihm den Flyer eines gemeinnützigen Trägers. »Zur Sprechstunde in einer Woche erwarte ich Ihre Anmeldebestätigung«, verabschiedet sie ihn.
Das Wartezimmer ist leer. Ein Blick in den Kalender sagt Marie, dass sie niemanden mehr eingeladen hat. Ein Gefühl der Erleichterung stellt sich ein. Das Tagewerk ist geschafft. Sie freut sich auf das Treffen mit Christian Kramer in einer Stunde. Bei der Aufklärung eines Tötungsdelikts vor drei Monaten hat sie sich in den Hauptkommissar des KK11 verliebt. Ein Klient war darin verwickelt. Erst vermutete sie Christian in festen Händen. Zu ihrem Glück stellte sich heraus, dass er nach einer längeren Beziehung nur lockere Freundschaften unterhielt.
Sie sieht aus dem Fenster. Keine Wolke am Himmel. Zu schade, um in ihrem Büro auf den Feierabend zu warten. Ihr Kollege Fröbel könnte sie bis neunzehn Uhr vertreten und sie die Zeit nutzen, um in ihrer Lieblingsboutique nach dem kleinen Schwarzen zu sehen. Sie kommt nicht an dem Schaufenster vorbei, ohne das Kleid zu betrachten. Sie könnte es beim Essen tragen.
»Grüß Christian von mir«, sagt Udo Fröbel, der sofort zustimmt, sie zu vertreten. »Vielleicht gibt`s mal wieder einen gemeinsamen Fall. Muss ja kein Tötungsdelikt sein.«
Eine schnelle Umarmung, ehe ein Klient unvermutet hereinschneit. In ihrem Büro fährt sie den Computer runter, wirft ihre schwarze Lederjacke mit den Nieten über und macht sich auf den Weg in die Stadt. Zuerst zur Sparkasse, sie möchte auf keinen Fall zu wenig Geld bei sich haben, zahlt in den Geschäften gerne bar. Freundinnen werfen ihr vor, sie sei total »old school«. Sie nimmt es als Kompliment. Es fühlt sich freier an als das digitale Geld, mit dem jede Ausgabe überwacht werden kann.
Kaum hat sie den Eingang zur Hauptsparkasse erreicht, da sieht sie ihn: Christian. Auf dem Dr. Ruer Platz mit einer Frau Arm in Arm. Marie steht wie angewurzelt da. Sie muss den Schock erst verdauen. Ist es eine Arbeitskollegin? Sie nimmt ihre Kollegen auch in den Arm, wenn es sich aus der Situation ergibt, vorhin Udo für seine spontane Vertretung. Doch sie würde mit ihm niemals Arm in Arm durch die Fußgängerzone ziehen. Das Gefühl sagt ihr, dass es keine Kollegin von Christian ist, sondern seine Exfreundin, zumindest nach den teuren Klamotten und der Handtasche zu urteilen. Genauso hatte er sie beschrieben. Als Einzelkind immer die Scheckkarte des wohlhabenden Vaters zur Hand. Alina, die ihm bei der Trennung vor einem Jahr die Katze zur Pflege überließ, um auf Weltreise zu gehen, damit zwei Fliegen mit einer Klappe traf. Für Karla war gesorgt und Alina konnte ihn bei ihrer Stippvisiten zu den Eltern besuchen, um sein Gedächtnis aufzufrischen.
Marie erinnert sich an ein Gespräch mit Christian vor ein paar Tagen. Da beteuerte er, seit Wochen keinen Kontakt zu Alina zu haben. Gelogen, was soll sie sich vormachen? Einmal kommt sie früher zu einer Verabredung, schon begegnet sie ihm mit seiner Exfreundin. Sie möchte hinter ihnen herlaufen, um die Sache sofort zu klären, doch könnte sich dabei nur blamieren.
Am Bankautomaten tippt sie gedankenversunken die Zahlen in die Tastatur. Soll sie nach Hause fahren? Die Sprechstunde war aufregend genug, da legt sie keinen Wert auf privaten Beziehungsstress. Übertreibt sie? Irgendwann sitzt sie alleine vor dem Fernseher, wenn sie bei jeder Gelegenheit das Handtuch wirft. Sie muss über die eigenen Gedanken lachen. Nein, sie wird Alina nicht das Feld überlassen. Nicht ohne mit ihm gesprochen zu haben. Mag ja sein, dass sie sich täuscht, und es war nicht seine Exfreundin. Oder sie haben sich zufällig getroffen. Nein, daran glaubt sie nicht. Sind Männer nicht alle verlogen?