Natalies Traum - Peter Märkert - E-Book

Natalies Traum E-Book

Peter Märkert

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ihr Vater ist tot, sein älterer Freund nutzt die Situation der vierzehnjährigen Natalie für sich aus. Mit zwei Freundinnen beschließt sie, ihn zu berauben. Es eskaliert. Bei der Flucht über den Balkon verlieren die Jugendlichen ein Smartphone. Vor der Festnahme packt Natalie einen Koffer mit wichtigen Sachen, den sie ihrer Mutter zur Aufbewahrung hinterlässt. Was befindet sich in dem verschlossenen Koffer? Diese Frage stellt sich Bewährungshelferin Marie Marler nach dem Besuch ihrer neuen Klientin in der JVA Köln.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Nachwort
Danke

 

Diese Publikation wird in der Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet abrufbar.

 

Die Handlungen in dem Justizkrimi sind inspiriert von wahren Geschehnissen. Sie wurden jedoch so verändert, dass eine Rückführbarkeit zu einer lebenden oder toten Person oder einem Geschehen nicht möglich ist.

 

© Peter Märkert

November 2023

Januar 2025

– alle Rechte liegen beim Autor –

Adresse:

Peter Märkert

Dürerstr. 62

44795 Bochum

URL: https://petermaerkert.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Julia Cornelius, Klaus Märkert

Autorenfoto: Ulf Peter Quooß

Cover-Layout: Jen Maerkert

Veröffentlicht über Tolino-Media

Das Buch: »Lieber allein - als in der Hölle mit anderen.« Natalie Neumann

Ihr Vater ist tot, sein älterer Freund nutzt die Situation der vierzehnjährigen Natalie für sich aus. Mit zwei Freundinnen beschließt sie, ihn zu berauben. Es eskaliert. Bei der Flucht über den Balkon verlieren die Jugendlichen ein Smartphone. Vor der Festnahme packt Natalie einen Koffer mit wichtigen Sachen, den sie ihrer Mutter zur Aufbewahrung hinterlässt. Was befindet sich in dem verschlossenen Koffer? Diese Frage stellt sich Bewährungshelferin Marie Marler nach dem Besuch ihrer neuen Klientin in der JVA Köln.

 

Der Autor: Peter Märkert ist in Bochum aufgewachsen und lebt auch dort. Er studierte Informatik und Sozialwesen, arbeitete als Taxifahrer, als Sozialarbeiter im Vollzug und als Bewährungshelfer. Die Erfahrungen aus dem Milieu verarbeitet er in seinen Justizkrimis, die im Ruhrgebiet zwischen JVA, Drogen, Mord spielen und in denen er den Hintergründen von Verbrechen und Schuld nachspürt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Isa

 

 

 

 

 

 

 

»Das Leben kann nur rückwärts betrachtet verstanden werden, aber es muss vorwärts gelebt werden.«

Seneca

Kapitel 1

Juni 2016

 

Ohne ein Wort verlässt Papa das gemeinsame Mittagessen. Er hat den Teller nicht mal angerührt. Die dreizehnjährige Natalie folgt ihm zum Schlafzimmer. Was hat er vor? Sie drückt die Tür einen Spalt auf.

Er hat wieder Wodka getrunken. Sie hat es bemerkt, als sie aus der Schule kam. Dieser typische Gesichtsausdruck mit den hochgezogenen Augenbrauen. Mutter hat es ihm verboten und die Wodkaflaschen ausgeschüttet. Entweder hatte er welche versteckt oder er hat am Vormittag neue besorgt.

Aus dem Wandtresor nimmt er die alte Makarow, die er aus seiner Heimat mitgebracht hat. Natalie denkt an die Medienberichte über Amokschützen, die in Verzweiflung ganze Familien ausgelöscht haben. Ist es bei ihm soweit? Traut sie es ihm zu? Wird er die Waffe gegen sie richten? Soll sie vor ihm fliehen, solange es möglich ist?

Der Wodka hat ihn verändert, hat Mama im Hausflur zu der Nachbarin gesagt, als diese sie auf die lautstarken Streitereien in der Wohnung angesprochen hat. Immer gibt Mama ihm die Schuld, dabei ist sie es, die mit ihren Wutanfällen schlechte Stimmung verbreitet. In höchstens zwei Stunden kommt sie von ihrer Büroarbeit zurück.

Früher war Papa nicht jeden Tag betrunken. Nach der Arbeit tauchte er in Natalies Fantasiewelt ein. Er war ihr Held, der sie vor allen Gefahren beschützte.

An ihrem zwölften Geburtstag nahm er sie mit zum Schießstand, erklärte ihr ›Kimme und Korn‹ bei einem Luftgewehr und half ihr, die Zielscheiben zu treffen. Mama tobte so lange herum, bis sie es aufgaben.

Er schiebt sich den Lauf der Pistole in den Mund.

»Nein!«, schreit sie. »Nein, Papa! Bitte nicht!«

Es scheint, als würde er aus einem Traum erwachen. Er deutet auf die Schusswaffe. »Siehst du, so wird sie entsichert.« Er zeigt es ihr. »Die Makarow hat einen eingebauten Schalldämpfer.« Er nickt bestätigend, legt die Waffe in den Wandtresor zurück und den Schlüssel in das präparierte Buch im Regal. Ohne ein weiteres Wort geht er in die Küche, wo er sich ein Glas Wodka eingießt und lustlos im abgekühlten Essen herumstochert. Dabei murmelt er etwas vor sich hin.

»Gut so, sehr gut! Die alte Makarow. Schätzchen. Ausgezeichnet! Soll sie sich aufregen. Sie wird schon sehen. Haha!«

Natalie mag dieses gekünstelte Lächeln nicht. Es ist so anders als sein echtes Lachen. Soll sie Mama davon erzählen? Besser nicht. Ihre Mutter hat schon wegen seiner Sauferei gedroht, ihn rauszuwerfen, und könnte den Vorfall zum Anlass nehmen. Warum unterstützen sich ihre Eltern nicht? Sie behaupten immer, sich zu lieben. Natalie macht Mamas Wutanfälle und die Geldsorgen dafür verantwortlich. Seit Opel ihn entlassen hat, findet er keine Arbeit mehr, obwohl er mal studiert hatte. Mama meint, es liege am Wodka. Er sei ja kaum einen Tag nüchtern.

Natalie räumt ihr Geschirr in die Spülmaschine und verschwindet in ihrem Zimmer. Sie holt die Hausaufgaben aus dem Rucksack und setzt sich an den Schreibtisch. Die Konzentration fällt ihr schwer. Sie nimmt den Zeichenblock und vertieft sich in ihre Zeichnung von der großen Traurigkeit. Tränen auf dem Gesicht vor dem Balkonfenster. Regentropfen an der Scheibe. Vor der Tür eine Person. Ein angedeuteter Schrei.

Die Wohnungstür wird aufgeschlossen. Soll sie Mama entgegeneilen? Sie begrüßen, bevor sie Papas Zustand sieht, und sie in ihr Zimmer lotsen, um sie abzulenken? Vorsicht! Die Hausaufgaben sind nicht fertig. Mama würde einen Wutanfall bekommen, Papa rufen und ihm vorwerfen, sich nicht um seine Tochter zu kümmern und stattdessen nur zu saufen. Es ist keine gute Idee. Stimmen dringen aus der Küche.

»Soll Natalie so werden wie du?«, schreit Mama so laut, dass alle es hören können. »Sieh nur, was aus dir geworden ist. Keine Arbeit! Den ganzen Tag vor der Glotze! Nur Wodka im Kopf! Zu nichts zu gebrauchen, nicht mal im Bett! Was willst du noch hier? Unserer Tochter ein Vorbild sein? Mir den Feierabend verderben? Verschwinde! Los! Mach, dass du fortkommst! Mir reicht´s! Hält ja keiner mit dir aus! Ständig diese negative Energie! Weil du nichts gebacken kriegst. Ich will leben, verstehst du? Tanzen. Lachen. Etwas von der Welt sehen! Meinst du, es gefällt mir, jeden Tag für nichts ins Büro zu fahren?«

Er geht nicht darauf ein, sondern ist bei seinem Lieblingsthema. »Der von den USA unterstützte Putsch in Kiew ...«

»Dient dir als Vorwand für deine Sauferei«, unterbricht sie ihn. »Dabei hast du keine Beweise für diese Behauptung.«

»Und die Rede von Victoria Nuland? Fünf Milliarden Dollar für den Regimechange? Ist das nichts?«

»Lass mich damit in Ruhe! Wie oft soll ich es wiederholen? Ich interessiere mich nicht für Politik. Ständig das Gejammer über deine Heimat. Geh zurück, wenn dir was dran liegt, und kämpfe für die gerechte Sache. Ich halte dich bestimmt nicht auf.«

Mama lacht laut auf, als hätte sie einen Witz gemacht.

»Verstehst du? Ich lebe in Deutschland. Ohne unsere Tochter ...«

Sie beendet den Satz nicht. Natalie kann sich denken, was sie meint. Nur wegen ihr ist Mama noch hier. In der Vorstellung nimmt Natalie die Schusswaffe aus dem Tresor und steckt sich den Lauf in den Mund. Sie schüttelt den Gedanken schnell ab und verlässt ihr Zimmer, um Mama zu begrüßen. Erzählt lautstark von der Schule, von der Mathearbeit morgen, als hätte sie den Streit nicht gehört oder könnte ihn mit ihren Wichtigkeiten übertönen.

Mama hat Mandelkuchen mitgebracht und kocht Teewasser auf. Unbeeindruckt davon gießt er sich ein Glas Wodka ein. Warum steht er nicht auf und deckt den Tisch? Es würde Mama gefallen. Wie oft hat sie es gesagt. Natalie holt das Service aus dem Schrank und das Besteck, dazu eine Kerze. Sie zündet sie an und kann kaum erwarten, in ihrem Zimmer die Zeichnung von der großen Traurigkeit fortzusetzen. Sie wird die Makarow im Hintergrund andeuten. Die Hausaufgaben wird sie morgen früh erledigen oder von einer Mitschülerin abschreiben. Für die Matheklausur braucht sie nicht zu lernen, sie hat den Stoff im Unterricht verstanden.

Natalie nimmt das Schweigen am Tisch wahr. Es ist, als würde ihr die Luft zum Atmen genommen. Ein unverfängliches Thema fällt ihr nicht ein. In ihrem Kopf verfestigt sich der Wunsch zu fliehen. Sie verschlingt den Mandelkuchen, ohne etwas zu schmecken, und beobachtet, wie er im Kuchen herumstochert wie zuvor in dem Mittagessen. Sie erträgt es nicht, spürt die Trockenheit ihrer Oberlippe und fährt sich mit der Zunge darüber.

»Kannst du die dämliche Angewohnheit bei Tisch nicht sein lassen?«, schreit Mama sie an.

Natalie könnte ausflippen, doch Papas Blick hält sie zurück. Er würde sie verteidigen, Mama ihr Geschirr zerdeppern, wie bei dem Streit vor ein paar Tagen, und sich im Schlafzimmer einschließen.

Natalie entschuldigt sich mit der Matheklausur morgen und räumt ihr Geschirr in die Spülmaschine. Auf ihrem Zimmer quälen sie Magenschmerzen. Sie legt sich einen Moment aufs Bett, um mit einem Wärmekissen auf dem Bauch zu entspannen. Das hat ihr in letzter Zeit immer geholfen. Sie fühlt die Erleichterung, sieht sich ihre Zeichnung von der großen Traurigkeit an und arbeitet die Makarow schemenhaft im Hintergrund ein.

Die Zeit verfliegt. Niemand ruft sie zum Abendessen, niemand schickt sie wie sonst ins Bett. Vorsichtig öffnet sie die Zimmertür. Stille. Sie huscht ins Bad, macht sich fertig, knipst das Licht aus und versucht, einzuschlafen.

 

*

 

Ein Lichtschein dringt ins Zimmer. Sie schreckt aus dem Schlaf auf, erkennt Papa. Er sagt nichts, steht nur da. Sie denkt an die Schusswaffe. Trägt er sie bei sich? Wo ist Mama? Natalie erinnert sich an seine Worte:

Die Makarow hat einen eingebauten Schalldämpfer.

Soll sie sich aufrichten, um ihm zu zeigen, dass sie wach ist? Ihm in die Augen sehen, um zu verhindern, dass er abdrückt? Sie hat es irgendwo gelesen.

Papa verlässt das Zimmer. Sie atmet tief durch, ihr Herzschlag beruhigt sich. Die Wohnungstür wird ins Schloss gezogen. War das ein Abschied? Will er sich draußen das Leben nehmen? Natalie zieht sich blitzschnell an, klettert über den Balkon vor dem Fenster und folgt ihm. Er geht zielstrebig in den Stadtpark und wird an einer Parkbank neben einer Laterne von ihr Unbekannten herzlich begrüßt. Sie beobachtet, wie ihm eine Flasche gereicht wird, die er an den Mund setzt. Sein Gegenüber ist größer und trägt einen Vollbart. Über der Brust erkennt sie ein Holzkreuz.

Es gefällt Natalie nicht, was sie sieht. Doch zumindest plant Papa nicht, sich umzubringen. Sie läuft den Weg zurück, wittert überall Gefahren und rennt die letzten Meter, als wäre der Tod hinter ihr her. Endlich zuhause! Sie klettert über den Balkon und verkriecht sich unter der Bettdecke.

Am frühen Morgen wird sie von ihrem Smartphone geweckt. Mama hat ihr vor der Arbeit das Frühstück auf den Esstisch gestellt.

Natalie wirft einen Blick in das elterliche Schlafzimmer. Ein Geruch von Alkohol und Schweiß schlägt ihr entgegen. Er hat in der Nacht den Weg zurückgefunden und liegt auf dem Bett. In der Küche trinkt sie einen Schluck Kakao im Stehen, isst ein halbes Käsebrötchen und verlässt die Wohnung in Richtung Schule.

 

Kapitel 2

Juni 2016

Natalie konzentriert sich auf die Matheklausur. Sie löst die Aufgaben mit Leichtigkeit. In der Pause wird das Thema Klausur von den Mitschülerinnen schnell abgehandelt. Sie unterhalten sich lieber über den geplanten Urlaub in den Sommerferien.

Für Natalie wird es den nicht geben. Ihre Mama betont ständig, dafür fehle ihnen das Geld. Aber sie möchte mitreden. Dazugehören. Sie fantasiert einen Urlaub in Italien. Mit jedem Wort glaubt sie mehr an ihren Traum, ein Hotel direkt am Meer mit einem endlosen weißen Strand. Die anderen belächeln sie und lassen sie stehen. Sie könnte heulen über ihre durchschaubare Angeberei. Wie gerne würde sie verreisen und das Meer sehen. In dem Moment versteht sie Mama. Papas verdammte Sauferei macht ihr Leben kaputt.

Auf dem Rückweg überlegt Natalie, ihn auf den Wodkakonsum und den nächtlichen Ausflug anzusprechen. Beim Mittagessen wirkt er erstaunlich nüchtern, er fragt sogar nach der Schule. Sie freut sich über sein wiedererwachtes Interesse, erzählt von der gelungenen Matheklausur und ihrem Klassenlehrer, der sie für die Beteiligung am Unterricht gelobt hat. In früheren Zeiten hatte Papa ihr jeden Wunsch erfüllt. Er müsste nur eine Arbeit finden, dann könnten sie in den Ferien verreisen wie die anderen. Mama wäre zufrieden und sie würde in der Schule wieder dazugehören.

Nach dem Essen räumt sie die Küche auf und stellt die Spülmaschine an. Wenn Mama kommt, soll alles blitzblank sein, um ihr keine Gelegenheit zu bieten, sich aufzuregen.

»Es herrscht Krieg im Donbass zwischen der russischen und der ukrainischen Bevölkerung. Nach dem Maidanaufstand in Kiew haben die Russen die Krim eingenommen.«

»Warum?«, versucht Natalie auf ihn einzugehen, obwohl sie das Thema nicht interessiert. Für sie gehörte die Krim immer zu Russland. Wie oft hat er ihr von der russischen Schwarzmeerflotte vor Sewastopol erzählt. Doch sie möchte nicht abweisend sein wie ihre Mama.

»In der Welt dreht sich alles um Macht und Geld«, antwortet er. »Wenn du reich bist, kannst du alles machen. Du kannst reisen, wohin du willst. Du bist frei.«

»Ja!« Ihre Augen strahlen. »Wir könnten nach Italien ans Meer fahren. Am Strand malen. Oder Museen besuchen. Das Mädchen mit dem Perlenohrring von Vermeer in Amsterdam. Du warst so begeistert, als du mir davon erzählt hast. Auch von Guernica von Picasso in Madrid.«

Natalie hat sich hinreißen lassen. Sie spürt, es waren nicht die richtigen Worte. Nach einem kurzen Schweigen sagt sie. »An unserer Schule gibt es einen Streitschlichter-Kurs. Ich habe mich angemeldet.«

Sein Gesicht hellt sich auf. »Ich war früher in der Friedensbewegung. Nie wieder Krieg! Aber die jungen Leute lassen sich verführen.« Seine Augen füllen sich mit Tränen. »Selbst wenn es ihr Leben kostet.«

Mit den Worten verschwindet er im Keller und kehrt nach kurzer Zeit mit einer Flasche Wodka zurück.

Was hat sie falsch gemacht? Hätte sie nicht nachfragen dürfen, ihn nicht an frühere Zeiten erinnern dürfen? Ist es besser zu schweigen oder ihm zu widersprechen wie Mama? Aber das nützt auch nichts.

»Verrate mich nicht«, sagt er. »Es ist meine Heimat. Deine Großeltern leben in Donezk. Bochums Partnerstadt. Wir werden sie besuchen, wenn du älter bist. Wir beide. Mama möchte nicht dorthin. Wir fahren erst nach Wien, dann zum Schwarzen Meer.« Er nimmt ein Taschentuch, um sich Tränen aus den Augen zu wischen.

Dient ihm sein Gerede nur als Vorwand, um sich zu betrinken, wie Mama sagt? Soll sie ihm die Flasche wegnehmen? Das schafft sie nicht, das ist unmöglich. Sie ist seine Tochter. »Wir können am Sonntag zum Schießstand gehen«, versucht sie, ihn auf andere Gedanken zu bringen. »Wir waren so lange nicht mehr da.«

»Deine Mutter will das nicht. Sie wird sich wieder aufregen. Wir haben im Moment nicht die beste Beziehung, da möchte ich sie nicht reizen. Ich suche mir erst eine Arbeit, dann wird alles wie früher sein. Versprochen.« Er nimmt sie in den Arm.

Natalie lässt sich darauf ein. Sie erinnert ihn, wie er ihr als Kind das Zeichnen beigebracht hat. Immer nur Ausschnitte, bis der andere erraten konnte, was auf dem Bild entstehen sollte. Gegenstände, Tiere oder bekannte Gesichter. Sie hat es geliebt. Durch das Küchenfenster erkennt sie Mama, die ihren alten Golf am Straßenrand einparkt.

»Ich habe Hausaufgaben zu erledigen«, entschuldigt sich Natalie schnell. Ihr Papa schüttet sich ein Glas Wodka ein. Warum? Er weiß doch, wie Mama reagiert, wenn er sich betrinkt. Will er sie ärgern? Ein anderer Gedanke quält sie. Sie hat im Internet von Depressionen gelesen. Ein erkrankter Pilot hatte in den französischen Alpen ein Flugzeug abstürzen lassen. Alle Passagiere waren gestorben, darunter eine Schulklasse. An das genaue Datum erinnert sie sich nicht, nur an die Diskussionen in ihrer Klasse.

Die Wohnungstür wird aufgeschlossen. Soll sie Mama abfangen, bevor sie ihn mit der Flasche Wodka sieht? Natalie flitzt hin. Nach der kurzen Begrüßung erzählt sie von der Schule und der Matheklausur und überlegt, ihr die Zeichnung von der großen Traurigkeit zu zeigen. Lieber nicht! Mama wirkt gereizt von der Arbeit. Wie so oft. Ihr Bild könnte einen Wutanfall auslösen.

Ihre Mutter lässt sie im Flur stehen. Offenbar hat sie die Situation durchschaut. In der Küche dauert es nicht lange, bis der Streit aufflammt. Das Abendessen fällt wieder aus. Niemand ruft Natalie. Obwohl sie Hunger auf ein Spiegelei und Brot hat, wagt sie sich nicht in die Küche.

 

*

 

Natalie wird von Geräuschen geweckt. Es ist dunkel im Zimmer. Sie hört, wie sich Papa aus der Wohnung schleicht. Merkt Mama es nicht? Hat sie so einen tiefen Schlaf? Oder ist sie froh, dass er geht?

Natalie folgt ihm erneut über den Balkon. Dieses Mal will sie nicht allein zurückkehren, sondern ihn zur Rede stellen. Sie rennt die letzten Meter, bis sie außer Atem die Parkbank mit den Fremden erreicht.

»Geh nach Hause«, sagt Papa. »Ich komme nach, versprochen. Lass mir Zeit, nur eine Stunde. Das ist wichtig für mich. Eine Ablenkung. Mit deiner Mutter kann ich nicht reden. Sage ihr nichts davon. Wecke sie nicht.«

Natalie bleibt standhaft, auch wenn der Mann mit dem Holzkreuz über der Brust sie die ganze Zeit anstarrt. Sie hört den Geschichten zu, die sie sich erzählen. Von Trennung, Krankheit, Verlust und Politik. Die Stimmen verebben. Stille kehrt ein. Es ist die Gelegenheit, ihren Vater zum Aufbruch zu drängen. »Papa, lass uns nach Hause gehen. Bitte!«

Er scheint sich erst in diesem Moment an ihre Anwesenheit zu erinnern und versucht, sie wegzuschicken. Sie weigert sich, spät in der Nacht den Weg allein anzutreten. Sie weint, zerrt an ihm und hofft, dass er nachgibt. Die Fremden unterstützen sie, besonders der Mann mit dem Holzkreuz. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis Papa sich von ihr mitziehen lässt.

Sein schwankender Gang auf dem Heimweg ist ihr unangenehm. Sie kommen nur langsam voran. So will sie ihn nicht. Nie im Leben möchte sie so werden wie er. Dabei war er mal ihr Vorbild. Sie nimmt sich vor, später genug zu verdienen, um mit ihm zu verreisen.

»Es hat keinen Sinn«, sagt er leise.

Was meint er? Die Ehe? Die Arbeitssuche? Oder sie, seine Tochter? Sie denkt an die Makarow. Wird er in der Nacht die Schusswaffe nehmen? Hätte sie ihn lieber bei seinen Freunden lassen sollen?

»Das Leben«, unterbricht er ihre Gedanken. »Es ist nicht zu ertragen. Man muss es loslassen, verstehst du? In der Jugend, ja, da ist es leicht. Wenn man Wünsche hat ... Träume. Ich hatte sie, als ich meine Eltern in Donezk verließ, um mir eine neue Heimat zu suchen. Ich habe sie nicht gefunden. Jeden Tag fällt mir das Aufstehen schwerer. Das Leben gleitet mir aus den Händen.« Er zeigt sie ihr, öffnet sie, als würde etwas herausfallen. Sie betrachtet die langen Finger. Die hat sie von ihm geerbt. Wie kann sie in dem Moment daran denken? Was stimmt mit ihr nicht? Warum bedeutet sie ihm nichts mehr? Gehört sie nicht zu seinem Leben? Sie spürt Tränen auf ihrem Gesicht.

Sie erreichen das Mehrfamilienhaus. Sie möchte Mama nicht wecken und lieber über den Balkon klettern. Er ist einverstanden. Sie schickt ihn vor. Beim ersten Versuch rutscht er zurück ins Gras. Dabei ist es kinderleicht, er muss nur über das Geländer steigen. Sie ist froh, dass er wieder aufsteht, und versucht, ihm zu helfen. Vergebens, sie rutschen zusammen ab. Sie kann sich wegdrehen, um zu verhindern, dass er auf sie fällt. Beim dritten Mal gelingt es mit aller körperlichen Anstrengung, ihn über das Geländer zu schieben. Kaum ist er in ihrem Zimmer, wirft er sich aufs Bett.

»Ich darf sie nicht wecken. Sie regt sich auf und kann nicht mehr einschlafen. Sie muss am frühen Morgen zur Arbeit«, flüstert er.

Natalie fürchtet, dass Mama die Aktion gehört hat. Sie lauscht auf ihre Schritte im Flur und rechnet mit einem Wutanfall. Das hat sie davon, ihn nach Hause zu holen. Doch es bleibt ruhig. Sie quetscht sich neben ihn an die Wand. Der Alkoholgeruch ist penetrant und ekelhaft, dazu schnarcht er. Wie hält Mama das aus? Sie verlässt das Bett und öffnet die Balkontür, um frische Luft hereinzulassen. Aus dem Schrank holt sie ihren Schlafsack und kriecht tief hinein. Bei dem Schnarchen kann sie nicht einschlafen. Sie wechselt auf den Balkon und legt sich in ihren Liegestuhl. Insgeheim verachtet sie ihre Mama, der sie durch die ständigen Vorwürfe und Wutanfälle die Schuld gibt. Sie sieht auf ihr Smartphone: schon nach drei Uhr. Sie stellt den Wecker eine halbe Stunde später und schließt die Augen.

Ihre Eltern streiten auf einer Brücke, während sie auf dem Geländer turnt und abzustürzen droht. Mama wird aufmerksam, kommt schreiend auf sie zu. Sie erschrickt und fällt in die Tiefe. Bewegt Arme und Beine und fliegt wie ein Vogel. Ein Kribbeln packt sie. Es ist völlig irre, durch die Luft zu gleiten.

Ein Glockenspiel stört. Sie liegt im Schlafsack auf ihrem Bett. Allein. Papa muss sie hinübergetragen haben. Sie huscht ins Bad und macht sich für die Schule fertig. Ein Blick ins elterliche Schlafzimmer. Er liegt ausgestreckt auf dem Bett, Mama ist unterwegs zur Arbeit. In der Küche steht das Frühstück bereit. Natalie denkt an ihren Traum. Wie schön wäre es, fliegen zu können. Sie nimmt sich vor, die Szene nach der Schule zu zeichnen.

 

Kapitel 3

Oktober 2016

 

Es ist Sonntag, Natalies vierzehnter Geburtstag. Um neun hält sie es im Bett nicht mehr aus. Sie schleicht zur Tür und sieht hinaus. Nichts ist vorbereitet. Keine Luftballons, nicht mal Lametta wie früher. Die Eltern haben ihren Festtag vergessen. Sie schließt sich in ihrem Zimmer ein, um ihre Tränen zu verstecken. Erinnert sich an das letzte Jahr, an den weinroten Hartschalenkoffer, den sie sich für die Klassenfahrt gewünscht hatte, und in den sie sich sofort verliebte. Sie holt ihn aus dem Schrank und streicht mit der Hand über die geriffelte Fläche.

Aus der Küche dringt Mamas laute Stimme. Natalie hält sich die Ohren zu. Es nützt nichts. Das Geschrei ist nicht zu überhören. Jetzt den Koffer packen, über den Balkon klettern und verschwinden. Aber wohin? Papas Eltern leben in Donezk. Natalie kennt die genaue Adresse nicht. Mit Mamas Eltern in Bayern herrscht nach dem Streit vor zwei Jahren Funkstille. Sie öffnet die Zimmertür einen Spalt.

»Jawohl. Immer nur saufen. Jetzt fängt es schon morgens an. So findest du nie eine Arbeit. Man sieht dir die Sucht auf zehn Meter an. Du wirst deinen Freunden im Park immer ähnlicher. Da gehörst du hin, zu den Pennern.«

Er mischt sich ein. »Ist es das, was du willst? Um mit anderen Männern zu vögeln. Das ganze Gerede nur, um mich loszuwerden.«

»Wen meinst du? Nenn mir nur einen Namen! Hoffentlich erzählst du Natalie nicht so einen Schwachsinn.«

»Und wer ist dieser Dieter auf deinem Handy?«

»Was hast du an meinem Smartphone zu suchen?«

Es folgt ein Knall, das Splittern von Glas.Hat sie ihn getroffen? Ihn verletzt? Oder er sie? Natalie hält es nicht aus. Sie muss nachsehen, läuft zur Küche. Auf den ersten Blick nimmt sie keine Verletzungen wahr, kein Blut. Glasscherben liegen verstreut auf den Fliesen. Er steht so verloren da. Sie stürzt sich in seine Arme, kann nicht anders. Mama verlässt prompt die Küche. Die Tür knallt heftig zu.

Sie hilft ihm, die Scherben aufzusammeln und die Fliesen zu wischen. Ihre Hände zittern. Sie würde alles geben für eine Versöhnung. Es wäre ihr Geburtstagsgeschenk. Sie öffnet das Küchenfenster, um frische Luft hereinzulassen. Geräusche im Flur, die Wohnungstür wird zugeschlagen. Das war es mit ihrer Hoffnung auf eine Versöhnung an ihrem Geburtstag. Durch das Fenster beobachtet sie Mama, die einen Koffer in den alten Golf wuchtet und sich ans Steuer setzt. Sie fährt los, ohne sich zu verabschieden. Sie teilt ihr nicht mal mit, wohin sie will und wie lange sie bleibt.

Natalie schließt sich in ihrem Zimmer ein. Sie wählt die Kurzwahl auf ihrem Handy, erreicht nur die Mailbox. Sie bittet Mama um einen Rückruf. Nichts passiert. Sie denkt an ihren Traum, setzt sich an den Zeichentisch und skizziert ihren Flug aus dem Balkonfenster in den dunkelblauen Himmel hinein.

Am Abend ist Mama immer noch nicht zurück. Nicht mal ein Anruf. Keine Nachricht. Natalie geht in die Küche. Papa hockt auf der Bank am Tisch und starrt ins Leere. Vor sich eine Flasche Wodka und ein halbgefülltes Glas. Für ihn scheint die Zeit stillzustehen.

»Wo kann sie sein?«, fragt sie.

Er zuckt mit den Schultern. »Bei ihrem Lover. Wo sonst? Das ganze Theater, um bei ihm zu sein.«

»Meinst du diesen Dieter?«

»Du kennst ihn schon?«, fragt er und nimmt einen Schluck Wodka.

»Nein, den Namen habe ich bei eurem Streit zum ersten Mal gehört.«

Sein Blick wandert zum Fenster. Natalie spürt, es zieht ihn in den Park, ins Freie. Nur ihr zuliebe sitzt er noch in der Küche. Soll sie ihm sagen, dass sie allein zurechtkommt? Ist es so? Sie wünscht es sich, aber sie spürt ihre Angst in der leeren Wohnung voraus. Er verschwindet im Schlafzimmer und kommt mit zwei Schlafsäcken zurück.

»Wir schlafen im Park. Der Wetterbericht hat eine milde Nacht vorausgesagt. Deine Mutter und ich, wir haben gerne im Freien übernachtet.«

Sie ist überrascht. Fragt nicht nach, sondern packt den Schulrucksack für Montagmorgen. Es gefällt ihr nicht, aber was bleibt ihr übrig, wenn Mama bei diesem Dieter ist. Sie möchte den Abend nicht allein verbringen. Auf dem Weg bestätigt er ihre Vorahnung.

»Ich gehe nicht zurück, Natalie. Mit deiner Mutter unter einem Dach, das funktioniert nicht mehr. Jeden Tag Vorwürfe. Ich war soweit. Die Makarow. Du hast es gesehen. Weißt du, ich suche eine andere Wohnung für uns beide. Überleg mal, wir kochen zusammen, essen, was uns schmeckt. Wir gehen sonntags zum Schießstand. Wie früher. Ohne ihre Vorwürfe. Wir sind frei. Was sagst du? Ich sehe sonnige Zeiten. Haben wir immer gesagt, erinnerst du dich?«

Warum sieht er sie bei seinen Worten nicht an? Weil er selbst nicht daran glaubt. Sie durchschaut das. Es war eine ihrer ersten Zeichnungen. Die Sonne über einer grünen Landschaft mit einem kleinen Haus. Sonnige Zeiten wird es nicht geben, nicht mit ihm. Niemals wird er mit ihr allein wohnen. Dazu wird es nicht kommen. In seinem Zustand findet er weder eine Wohnung noch eine Arbeit, genau wie Mama sagt. Nichts wird wie früher sein. Er wird sein Leben bei den Freunden verbringen. Sie kann sehen, wo sie bleibt. Der Wodka ist ihm wichtiger, das ist die bittere Wahrheit. Sonst würde er an ihrem Geburtstag zuhause bleiben. Ohne Mama könnten sie Lasagne bestellen und die ganze Nacht Filme streamen. Sie liebt es, aus der Realität auszusteigen, wenn auch nur für wenige Stunden. Sie steigert sich in den Wunsch hinein, erinnert sich, wie sie mit ihm den Film über Frida Kahlo gesehen hat, und bemerkt kaum, dass sie bei seinen Freunden angekommen sind.

Der mit dem Holzkreuz über der Brust heißt Josef. Sie soll ihn Seelsorger nennen, weil er immer aus der Bibel vorliest und jeden von Jesus überzeugen will. Dazu passt der Vollbart, denkt sie. Papa erklärt, dass die Freunde ihm den Titel gegeben haben, weil er Wodka mit ihnen teilt wie der Gottessohn Wein mit den Jüngern. Er habe eine Wohnung, verbringe trotzdem jeden Abend im Park. Für Natalie zaubert er eine Dose Fanta aus einem großen Rucksack und schüttet einen Schluck aus der durchsichtigen Flasche hinein.

»Glücklich sind die, die Frieden stiften, denn Gott wird sie seine Kinder nennen. Matthäusevangelium«, sagt er.

Sie trinkt die gepanschte Fanta, obwohl der Beigeschmack bitter ist. Sie hofft, sich damit zu betäuben, und denkt an ihre Zeichnung von der großen Traurigkeit.

Josef erkundigt sich nach ihrem Alter. Es ist ihr peinlich. Sie schweigt.

»Sie ist heute vierzehn geworden«, sagt Papa. Warum hat er am Morgen nicht daran gedacht?

Josef holt einen Zwanziger aus der Hosentasche und drückt ihn in ihre Hand. Das erste Geschenk an ihrem Festtag. Von einem Fremden. Ihr ist zum Weinen zumute. Sie bedankt sich mit einer Umarmung. Das hat sie bei Mama gelernt. Er hält sie fest, streichelt über ihren Rücken. Was denkt er sich? Sie macht sich los, rückt von ihm weg. Er kommt hinterher, nimmt eine weitere Fanta, trinkt einen Schluck, um die Dose mit Wodka aufzufüllen. Sie sieht zu Papa, der ihr wohlwollend zunickt.

»Du bist jetzt ein großes Mädchen«, lallt er. Es scheint ihm nichts auszumachen, dass sie Wodka trinkt. Nach der zweiten Dose wird die Müdigkeit stärker. Sie nimmt ihren Schlafsack und entfernt sich von den Erwachsenen hinter eine alte Platane. Papas lallende Stimme begleitet sie.

»Dass keiner auf die Idee kommt, sie anzurühren.«

Es dreht sich alles, wenn sie die Augen schließt, dazu quält sie ein Brechreiz. In der Nacht springt sie mehrmals auf, um sich zu übergeben. Sie überlegt, nach Hause zu laufen, um am Morgen in ihrem Bett aufzuwachen. Hat sie den Wohnungsschlüssel mitgenommen? Da ist er, Gott sei Dank! Mama hat nicht zurückgerufen. Was ist, wenn sie die Nacht bei diesem Dieter verbringt? Natalie möchte nicht in eine leere Wohnung kommen, das wäre ihr zu unheimlich. Sie spürt die feuchte Kälte, kriecht in den Schlafsack und fällt in einen unruhigen Schlaf.

Sie soll die Kerzen ausblasen. Es gelingt ihr nicht. Warum schaut Mama so giftig? Aber ... das gibt es nicht! Sie ist nackt. Wie ist das möglich? Sie hatte das Jeanskleid herausgelegt auf den Stuhl in ihrem Zimmer. Sie will es holen. Mama hält sie auf und sagt schreckliche Worte. Wieder ist Natalie nicht so, wie sie sein soll. Sie errötet, weiß nicht, wie das passieren konnte. Er versucht, Mama zurückzuhalten. Wie immer gibt es Streit, sogar vor den Gästen. In der Mitte des Raums steht ein mit Kränzen geschmückter Sarg. Sie schaudert. Darin liegt sie. Es ist ihre Beerdigung. Wie kann sie tot sein, wenn sie das miterlebt? Oder erlebt man es mit, wenn man tot ist? Jemand will sie zudecken. Er ahnt nicht, dass sie fliegen kann. Sie erhebt sich aus dem Sarg, schwebt vorbei an den Gästen, fliegt aus dem Saal heraus in den Himmel hinein. Ein Gedanke nimmt Gestalt an. Nie mehr zurück!

Kapitel 4

Mai 2020

 

»Hätte ich mehr Zeit für die Klientin gehabt, wäre sie vielleicht noch am Leben«, sagt Udo Fröbel beim Mittagessen in der Kantine des Landgerichts Bochum.

Bewährungshelferin Marie Marler überlegt, von wem ihr Kollege spricht. Er ist erst am Morgen aus seinem dreiwöchigen Urlaub zurückgekehrt.

»Die Kleptomanin, ich habe dir von dem Fall erzählt. Das Amtsgericht hatte ihr die erneute Bewährung nur unter der Bedingung einer Therapie gegeben. Ich hatte sie vor meinem Urlaub vermittelt. Beim letzten Gespräch habe ich sie kaum wiedererkannt. Die Therapeutin hat einen Missbrauch durch den Großvater aufgedeckt, der ihr heimlich Geld zugesteckt hatte. Die Klientin hatte es vollständig verdrängt.«

»Hat sie sich während deines Urlaubs das Leben genommen?«, fragt Marie nach.

»Ja. Es war die erste Nachricht, die ich heute Morgen erhalten habe.«

»Das tut mir leid! Ich weiß, wie sehr du sie gemocht hast.« Marie drückt ihn kurz, bevor sie sich an die Coronaregeln erinnert und zurückweicht. »Es ist schrecklich.«

»Ja, ich frage mich die ganze Zeit, ob sie besser die Freiheitsstrafe abgesessen hätte«, sagt er.

»Dann hätte sie sich deswegen umgebracht. Wir können nicht alle retten, das sind deine Worte, Udo.«

»Danke, dass du mich daran erinnerst. Gab es sonst etwas in der Zeit? Neue Coronaregeln?«

»Wir sollen den Außendienst auf wichtige Termine beschränken und die Mitarbeiter in zwei Gruppen aufteilen, die abwechselnd vor Ort und im Home-Office arbeiten. Ich hoffe, dass die Maßnahmen schnell vorübergehen.«

 

*

 

Marie arbeitet lieber von ihrem Büro aus. Im Home-Office denkt sie an ihren Nachbarn und Exfreund, Christian Kramer, den Hauptkommissar der Mordkommission. Bei aller Gegensätzlichkeit in ihren beruflichen Ansichten haben sie sich privat immer gut verstanden. Oder redet sie sich die Vergangenheit schön? Bei der Betreuung des Physiotherapeuten vor einem halben Jahr haben sie sich richtig gefetzt. Braucht sie das? Sucht sie die Auseinandersetzung, den Streit? Die andere Sicht? Sie erinnert sich, wie sie am Morgen im Pyjama bei ihm in der Nachbarwohnung frühstückte und sie zusammen den Tag planten. Wird es jemals wieder so sein?

Sie nimmt einen Termin beim Landgericht wahr und trifft im Foyer auf Manfred Schulz, den Kollegen ihres Exfreundes bei der Mordkommission. Sie winkt ihm zu. Ein Handschlag oder gar eine Umarmung wie in Vor-Corona-Zeiten ist bei der aktuellen Ansteckungsgefahr nicht angesagt. Soll sie weitergehen oder ihn auf seinen Exkollegen ansprechen? Schulz wendet sich zum Ausgang. Sie muss sich beeilen.

»Hast du was von Christian gehört?«, ruft sie ihm zu.

Er dreht sich um, kommt bis auf die vorgeschriebenen eineinhalb Meter an sie heran. »Ich wollte dich auch danach fragen. Seine Beurlaubung endet in diesem Monat. Ich bin selbst gespannt, ob er zurückkommt. Du hast also nichts von ihm gehört. Ist denn ein neuer Nachbar bei dir eingezogen?«

Marie schüttelt den Kopf. »Ist alles unverändert. Nein, nicht ganz. Gestern war ein Brief in seinem Briefkasten.«

»Du meinst, er hat den Nachsendeauftrag nicht verlängert?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Es kann sich auch um einen Irrläufer handeln. Das wäre nicht der erste in dem halben Jahr.«

Schulz sieht sie mit einem prüfenden Blick an. »Sobald ich was von ihm höre, rufe ich dich an, Marie.«

Auf dem Weg zurück ins Büro erinnert sie sich an die Anfänge der Beziehung, wie Christian mit ihrer Lieblingspizza vor der Tür stand. Sie konnten über alles sprechen und der Sex war aufregend. Sieht sie nur die positiven Augenblicke? Freundinnen haben ihr geraten, ihn aufzugeben, als er sich bei der Mordkommission für ein halbes Jahr beurlauben ließ, um zu seiner Exfreundin nach Berlin zu gehen.

Zurück im Büro betrachtet sie die Fotos auf ihrem Handy aus der gemeinsamen Zeit und fühlt sich ihm immer noch nah. Wie wird es weitergehen? Hat er die Nachbarwohnung gekündigt? Sie überlegt hin und her, wie sie reagieren soll, wenn er vor ihr steht. Oder wird er die Wohnung still und heimlich auflösen, ohne sich bei ihr zu melden? Sie horcht in sich hinein, ob es ihr lieber wäre. Die Antwort lautet nein. Sie hofft auf ein Wiedersehen. Sie setzt Kaffee auf und fragt ihre Kollegin und Freundin Nina aus der Geschäftsstelle, ob sie ihr Gesellschaft leistet.

»Ich habe Manfred Schulz beim Landgericht getroffen«, beginnt Marie das Gespräch.

---ENDE DER LESEPROBE---