Jeder Einzelne - Peter Märkert - E-Book

Jeder Einzelne E-Book

Peter Märkert

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Christina wird am Sonntagmorgen tot aus der Ruhr geborgen. Hauptkommissar Kramer und sein Team finden heraus, dass sie in der Nacht unter dem Einfluss von K.-o.-Tropfen vergewaltigt wurde. Alle Indizien sprechen gegen ihren Freund Marc Kröner. Bewährungshelferin Marie Marler und ihre Freundin Lena Saga glauben an seine Unschuld.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2019

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47

 

Das Buch: Christina wird am Sonntagmorgen tot aus der Ruhr geborgen. Hauptkommissar Kramer und sein Team finden heraus, dass sie in der Nacht unter dem Einfluss von K.-o.-Tropfen vergewaltigt wurde. Alle Indizien sprechen gegen ihren Freund Marc Kröner. Bewährungshelferin Marie Marler und ihre Freundin Lena Saga glauben an seine Unschuld. Auch der U-Häftling Denny unterstützt ihn. »Nichts geschieht ohne Grund«, sagt er. »Es ist immer nur ein Kreis, der sich schließt.«

 

 

Der Autor: Peter Märkert ist in Bochum aufgewachsen und wohnt auch dort. Er studierte Informatik und Sozialwesen und arbeitete als Taxifahrer, als Sozialarbeiter im Vollzug und als Bewährungshelfer. Die Erfahrungen aus dem Milieu verarbeitet er in seinen Justizkrimis, die im Ruhrgebiet zwischen JVA, Drogen, Mord spielen, und in denen er den Hintergründen von Verbrechen und Schuld nachspürt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Nationalbibliothek; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet abrufbar.

 

Alle Personen und Handlungen im vorliegenden Roman sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit einer lebenden oder toten Person wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.

 

© Peter Märkert

November 2019

Dezember 2024

– alle Rechte liegen beim Autor –

Adresse:

Peter Märkert

Dürerstr. 62

44795 Bochum

URL: http://petermaerkert.de

E-Mail: [email protected]

Coverfotografie: Aylin Reckermann

Covergestaltung: Jen Maerkert

Autorenfotografie: Ulf Peter Quooß

 

veröffentlicht über tolino media

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Isa

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

»Denn ihr müsst wissen, meine Lieben, dass jeder Einzelne von uns zweifellos Verantwortung trägt für alle und jeden auf Erden.«

Fjodor Dostojewski, 1879, Petersburg

Kapitel 1

 

Die Welt stürzt ab. Glassplitter und Blut an seinen Händen, dem Hemd, den Sitzen. Es riecht nach Benzin. Er will raus und versucht, die Tür zu öffnen. Sie klemmt. Das Seitenfenster ist gesprungen. Er drückt die Scherben nach außen und zwängt sich ins Freie. Hört die Stimme von Christina, die ihn ruft. Dann ist es still. Unheimlich still. Sein Mund ist trocken, der Hals wie ausgedörrt.

Marc schreckt aus dem Albtraum hoch. Kopfschmerzen, Durst quälen ihn. Er tastet sich ins Bad, trinkt Wasser aus dem Kran. Der Unfall seiner Eltern. Wieso kam Christina darin vor? Wo ist sie? Er betrachtet seine glasigen Augen im Spiegel, die gerötete Gesichtshaut und versucht, sich zu erinnern.

Es waren eindeutig zu viele Kölsch auf der Feier seiner Schwester. Katrin feierte mit ihrem Freund die Einweihung der gemeinsamen Wohnung in Köln. Er wollte mit seiner Freundin dort übernachten, bis Christina den Eifersuchtsanfall bekam.

Er sucht das Handy, wählt ihre Nummer. Das Rufzeichen ertönt. Einmal, zweimal, dreimal … irgendwann gibt er auf. Ihre Eltern kann er nicht anrufen, kann ihnen unmöglich sagen, dass er nicht weiß, wo ihre Tochter steckt. Er hat versprochen, sie wohlbehalten zurückzubringen. Kaum zu glauben, sie behandeln Christina wie ein Kind, meinen, alle Welt müsste auf sie aufpassen. Dabei wird sie in einem Monat einundzwanzig. Am besten legt er sich wieder hin. Morgen wird sich alles klären. Er liegt auf dem Bett, versucht einzuschlafen, doch kann das Denken nicht abstellen.

Christina war den ganzen Abend an seiner Seite, bis ein früherer Schulfreund sie in der Küche auf gemeinsame Lehrer ansprach. Das nahm er zum Anlass, die Dunkelhaarige mit den großen Augen zu suchen. Sie war ihm gleich aufgefallen, stand etwas abseits. Vor Christina hatte er sich nicht getraut, sie anzusprechen.

Er entdeckte sie im Wohnzimmer mit seiner Schwester. Ihre Blicke begegneten sich, er war fasziniert von ihrer Ausstrahlung, doch zögerte, sich in das Gespräch einzumischen. Er blieb in ihrer Nähe und hoffte auf eine günstige Gelegenheit, bis Christina ihn in die Seite stieß.

»Ich will sofort hier weg.«

Er hatte sie nicht kommen sehen, sich zu sehr auf die Dunkelhaarige konzentriert. Er versuchte, Christina abzulenken. »Entschuldige. Ich wollte dich mit deinem Schulfreund nicht stören. Ihr hattet euch sicher lange nicht gesehen und viel zu erzählen. Warte, ich zapfe uns zwei Kölsch.«

»Kannst du dir sparen«, zischte sie mit einem Blick, als hätte sie ihn beim Sex mit ihrer besten Freundin erwischt.

»Warum? Was hast du? Was ist passiert?«, fragte er, dabei wusste er genau, was mit ihr los war. »Wir haben meiner Schwester versprochen, bei ihr zu übernachten.«

»Hör auf mit dem Scheiß«, erwiderte sie nur. »Ich veranstalte einen Riesenkrach, wenn du nicht sofort kommst. Das schwöre ich.«

Er fühlte sich schlagartig nüchtern. Versuchte es erneut, leise, beschwichtigend. »Sag wenigstens, was du hast.«

Auf ihrer Stirn bildeten sich Falten, die ein Donnerwetter ankündigten. »Glotzt die Tussi da stundenlang an und fragst, was ich habe?«

Das hatte jeder mitgekriegt. Er wollte den Streit nicht in die Länge ziehen, doch die Feier auch nicht verlassen. »Was willst du deinen Eltern sagen, wenn du mitten in der Nacht bei ihnen auftauchst?«, flüsterte er. »Die denken, wir übernachten in Köln.«

Sie schüttelte den Kopf und ging stur in Richtung Ausgang. Seine Schwester mischte sich ein. »Ich habe extra das Bett im Gästezimmer bezogen.«

Christina verschwand im Hausflur, ohne zu antworten. Ja, sie verabschiedete sich nicht einmal. Er entschuldigte sich bei Katrin, umarmte sie und winkte den anderen zum Abschied zu. Der Blick der Dunkelhaarigen schien ihn festhalten zu wollen, doch er lief Christina hinterher.

In seinem alten Golf drehte sie den Sitz nach hinten, nahm sich die braune Wolldecke vom Rücksitz und herrschte ihn an: »Ich will nichts mehr hören. Bring mich nach Hause und Schluss.«

Er irrte durch Köln, bis er sich an sein Smartphone erinnerte und die Heimatadresse in den Routenplaner eingab. Der gleichmäßig unterbrochene Mittelstreifen auf der Autobahn ermüdete ihn. Er spürte, wie ihm die Augen zufielen, und versuchte, dagegen anzukämpfen, indem er sich die Frau auf der Feier vorstellte. Die großen Augen, die braunen Haare bis zum Po, die silbernen Ohrringe, den schwarzen Pulli über der Jeans, die verzierten Chucks. Sie hatte ihn genauso interessiert angesehen wie er sie. Oder hatte er es sich eingebildet? Nein, sie hatte ihn an der Tür mit ihrem Blick aufhalten wollen. Das war eindeutig.

Ein LKW tauchte vor ihm auf wie aus dem Nichts. Er wechselte auf die Überholspur. Zu hastig, Christina stieß mit dem Kopf gegen die Scheibe und stöhnte: »Kannst du nicht aufpassen?«

Er antwortete nicht. Sie schlief weiter. Gott sei Dank kann man sie im Schlaf wegtragen, ohne dass sie es merkt.

Das ist es. Er spürt kalten Schweiß auf der Stirn. Er hat Christina nicht geweckt. Sie wird ihm nie verzeihen, sie vergessen zu haben. Er springt aus dem Bett, streift sich Jeans und Pullover über. Wenn sie noch im Auto schläft, wird er sie nach Linden fahren, ohne über den Zwischenstopp vor seiner Haustür zu reden. Er nimmt die Schlüssel und verlässt die Wohnung.

Kapitel 2

 

Der Blick ins Auto sagt ihm, dass der Golf leer ist. Trotzdem reißt er die Fahrertür auf, starrt auf den Beifahrersitz, auf die braune Decke, als läge Christina darunter. Nein, sie ist aufgewacht und hat gedacht, er hätte sie mit Absicht im Auto gelassen. Sie wird voller Zorn zum nächsten Taxistand gelaufen sein oder sich mit ihrem iPhone ein Taxi gerufen haben. Hat sein Anruf sie geweckt? Er hatte es endlos klingeln lassen. Er könnte die Taxifahrer am nahen Schauspielhaus fragen, ob sich eine Zwanzigjährige mit dunkelblonden Haaren, einem kurzen Kleid und kniehohen Stiefeln ein Taxi nach Linden genommen hat. Warum sollte er das tun? Er kann froh sein, dass sie weg ist und er sich die Auseinandersetzung mit ihr erspart. Woher kommt die Unruhe? Er beugt sich über den Fahrersitz, um die beiden Kaffeebecher aus der Halterung zu nehmen. Christinas ist voll, sie hat ihn nicht angerührt. Er stülpt den vollen in seinen leeren Becher und sieht den Polizeiwagen, der in die Straße einbiegt. Für Sekunden ist er wie gelähmt. Bis er den Golf verlässt, ohne sich umzusehen. Er achtet auf seine Schritte und stolpert prompt über die Stufen vor der Haustür. Kaffee spritzt an seine Hose. Er spürt Blicke im Rücken. Seine Hände zittern. Er findet das Türschloss nicht. Zwingt sich zur Ruhe. Endlich schafft er es, hastet die Treppe hoch und öffnet die Wohnungstür. Verschließt sie von innen und knipst das Flurlicht an. Verdammt, das Licht verrät, wo er wohnt. Er schaltet es wieder aus und fragt sich, ob sie das Licht gesehen haben. Doch das brauchen sie nicht. Sie werden über Funk fragen, wem der Golf gehört, und bei ihm schellen, um einen Alkoholtest durchzuführen. Er wird nicht öffnen, sondern aus dem Küchenfenster im ersten Stock in den Garten springen, über den Zaun klettern und in die Stadt laufen. Im Intershop einen Kaffee trinken, um einen klaren Kopf zu bekommen. Der Kaffeebecher fällt ihm ein, er erinnert ihn an den Rasthof Remscheid. Er hatte dort gehalten, um Kaffee zu holen, auch für Christina, falls sie auf dem Weg aufwachen würde.

Eine Autotür schlägt zu. Er lauscht zum Wohnzimmer hin, zur Straße, und schleicht zum Fenster. Vor seinem Golf parkt der Polizeiwagen. Zwei Beamte stehen an der Haustür. Er schreckt zurück. Zu spät. Sie haben ihn gesehen. Er muss ihnen öffnen und irgendetwas erzählen. Sonst verliert er den Führerschein, den Aushilfsjob als Taxifahrer. Was erzählt man in solch einer Situation?

Es schellt. Er hastet ins Bad, gurgelt mit einer Mundspülung. Denkt, dass es nicht reicht, ihn sogar noch verdächtiger macht. Es schellt erneut. Er schaltet das Flurlicht an, drückt die Haustür auf und wartet an der Tür. Ein kräftiger Uniformierter um die fünfzig und seine junge Kollegin kommen die Treppe herauf. Er versucht, überrascht zu wirken. »Ich dachte, es wäre meine Freundin.«

Sie grüßen, stellen sich vor. Der Beamte fragt: »Gehört Ihnen der schwarze Golf vor der Tür?«

»Ja, das ist meiner«, bestätigt er.

»Wir haben beobachtet, wie Sie aus dem Auto stiegen«, mischt sich die junge Beamtin ein.

Er unterbricht sie: »Ich habe nach meiner Freundin gesehen, die damit unterwegs war. Ich konnte nicht schlafen, sah aus dem Fenster.« Er deutet zum Wohnzimmer. Die Beamten sehen dorthin. Seine Hoffnung wächst, sie zu überzeugen. »Plötzlich stand mein Golf da. Ich wartete, aber Christina kam nicht. Da habe ich unten nachgesehen.« Er lächelt die Beamtin an, sie lächelt zurück. »Verstehen Sie, warum meine Freundin einen fast vollen Kaffeebecher im Auto lässt. Da sehen Sie.« Er deutet auf die Flecken an seiner Hose. Hoffentlich haben sie nicht gesehen, dass er zwei Becher aus dem Wagen genommen hat. Aber nein, er hatte Christinas in seinen gestülpt. Er hält inne, als würde er die Beamten erst jetzt richtig wahrnehmen. »Hat Christina mit dem Golf einen anderen Wagen beschädigt? Sie hat erst gerade erst ihren Führerschein gemacht.«

»Nein«, erwidert der Beamte. »Wir haben Sie hinter dem Steuer gesehen.«

Er errötet unfreiwillig. »Nein, ich saß nicht am Steuer. Ich habe den Kaffeebecher aus der Halterung genommen. Als Sie schellten, dachte ich, Christina hätte sich draußen versteckt, um mich zu überraschen. Da habe ich mich wohl geirrt. Sie wird zum Intershop gelaufen sein, um Bekannte zu treffen und was zu trinken. Ich werde sie suchen.«

»Vorher verschließen Sie Ihren Golf«, unterbricht ihn die junge Beamtin. »Wie kann man die Fahrertür so weit auflassen?«

Er ist überrascht. »Entschuldigen Sie.« Na klar, er war mit dem Kaffeebecher beschäftigt. »Ich werde den Wagen sofort abschließen.«

Die Beamten stehen da, als würden sie auf etwas warten. Warum gehen sie nicht, wo alles geklärt ist? Überlegen sie, einen Alkoholtest durchzuführen oder ihn mit auf die Wache zu nehmen? Er könnte sich ohrfeigen für sein Gerede. Da ertönt das Handy in seiner Hosentasche. Am liebsten würde er die Wohnungstür zuwerfen. Er beherrscht sich so eben, holt das Handy hervor und drückt auf Verbindung.

»Seid ihr gut angekommen? Ich habe mir solche Sorgen gemacht.« Seine Schwester. Immer macht sie sich Sorgen. Immer im falschen Augenblick. Da fällt ihm etwas ein. »Christina. Wo bist du? Was? Im Intershop? Ich soll nachkommen«, stottert er ins Smartphone, nickt den Polizisten zu: »Vielen Dank für Ihre Mühe. Ich schließe den Wagen sofort ab.« Er spricht wieder ins Handy: »Du hättest wenigstens schellen können. Du weißt, dass ich nicht schlafen kann, wenn du mit dem Golf so spät unterwegs bist.« Er wartet ein paar Sekunden, muss ihr vor den Beamten Zeit lassen für eine Antwort, sagt dann: »Ja, okay. Ich komme nach. Aber zu Fuß. Ich habe ein paar Bier getrunken. Wenn ich mich beeile, bin ich in fünfzehn Minuten da.« Er beendet das Gespräch und bedankt sich bei den Beamten mit einem Handschlag. Versichert ihnen noch einmal, die Fahrertür sofort zu verschließen. Sie verabschieden sich. Vom Wohnzimmerfenster aus beobachtet er, wie sie in den blauen Passat steigen und losfahren. Er atmet auf, ist stolz, einen kühlen Kopf bewahrt zu haben. Seine Schwester wird er später vom Intershop aus zurückrufen, um ihr alles zu erklären. Ihr Anruf kam zur richtigen Zeit.

Kapitel 3

 

Das hätte Christina ihrem Freund nicht zugetraut. Erst blamiert er sie auf der Feier, indem er mit der Tussi flirtet, dann lässt er sie vor seiner Haustür im Auto schlafen. Obwohl sie ihn gebeten hatte, sie bei ihren Eltern in Linden abzusetzen. Was bezweckt er damit? Dass sie schellt und sich mit ihm versöhnt? Warum sollte sie das tun? Er hat sich nicht mal für sein Verhalten auf der Feier entschuldigt. Das wäre das Mindeste gewesen. Sie hätte ihm eine knallen können für den verdorbenen Abend. Der einzige Lichtblick auf der Feier war ihr Exfreund Rainer. Mit ihm hatte sie nicht gerechnet, war ganz schön verunsichert. Nein, sie wird nicht schellen, sondern sich ein Taxi nehmen. Sie öffnet die Tür so weit, dass sie herausschlüpfen kann, und schließt sie sofort wieder. Wenn Marc am Fenster steht, soll er ihr Verschwinden nicht bemerken. Sie ärgert sich über die Innenbeleuchtung im Golf, die verzögert erlischt, und hofft, dass er nicht hingesehen hat. Ach, soll er ihr zum Schauspielhaus nachlaufen, sie wird sich nicht umstimmen lassen. Auf dem Weg erinnert sie sich, wie er die Tussi auf der Feier seiner Schwester anstarrte. Dabei sah sie völlig unscheinbar aus trotz der langen Haare. Klein. Unauffällig gekleidet. Kaum geschminkt. Sie hatte allein herumgestanden und Marc mit Riesenaugen angehimmelt. Echt peinlich. Der Tussi konnte nicht entgangen sein, dass Marc zu ihr gehört. Kaum ist er ohne sie im Wohnzimmer, macht die Kuh sich an ihn heran. Zehn, höchstens zwanzig Minuten, länger hatte sie sich nicht mit ihrem Ex unterhalten. Sie hätte hingehen, ihr ein Kölsch ins Gesicht schütten sollen. Was regt sie sich auf? Marc kann sie vergessen. Der zieht sie runter, und sie hat sich geschworen, keine Beziehung zu führen, die sie runterzieht. Zudem hat er ihr nichts zu bieten. Im Studium ein Flop, kaum Geld, um etwas zu unternehmen. Einen Kurzurlaub in Holland, jetzt die Feier bei seiner Schwester. Sie muss Rainer zustimmen. Marc ist ein echter Langweiler. Aber sie hat es ihm gegeben, sich richtig aufgeregt. Das mag er nicht, der Feigling, so einen Krach vor anderen. Da ist er blass geworden und ihr hinterhergelaufen wie ein begossener Pudel. Selbst seine Schwester konnte ihn nicht aufhalten, obwohl sie gesehen hatte, wie er mit Thomas ein Kölsch nach dem anderen getrunken hatte. Sie hätte sich gewünscht, Marc wäre auf dem Rückweg in eine Polizeikontrolle geraten, schon um seiner Gleichgültigkeit mal richtig einen Denkzettel zu verpassen. Ihm ist alles egal, der Job, das Studium, jetzt sogar der Führerschein. Nicht mal ihre Stiefel hat er beachtet, die sie sich für die Feier gekauft hatte. Ist er bisexuell oder steht heimlich auf Männer? Sie mag keine Typen, die auf nichts achten. So weit ist es gekommen, dass er sie im Auto schlafen lässt. Das wird sie ihm nicht verzeihen, das steht fest. Überhaupt wird sie die Beziehung beenden und Rainer anrufen, sobald sie zuhause ist. Er hatte gleich ihre Klamotten bewundert und sie gefragt, ob sie sich in der Nacht noch treffen könnten, natürlich ohne ihren Anhang. Sie hatte versprochen, es zu versuchen.

Am Schauspielhaus wartet kein Taxi am Halteplatz. Wie sollte es um diese Zeit anders sein? Sie setzt sich auf die kleine Mauer und sucht ihr iPhone. Kramt in ihrer Jacke, leert die Handtasche aus. Es muss da sein. Oder ist es ihr im Auto aus der Tasche gefallen, während sie schlief? Auf der Feier hatte sie es noch. Ohne Smartphone fühlt sie sich als halber Mensch, doch zurück zu Marc möchte sie auf keinen Fall. Sie müsste ihn bitten, im Auto nachzusehen. Er würde sich entschuldigen und endlos mit ihr über den Abend diskutieren. Das Treffen mit Rainer könnte sie vergessen. Nein, sie will ihren Plan umsetzen, erst zu ihren Eltern, sich neu stylen und vom Festnetz Rainer anrufen. Sie holt die Visitenkarte hervor, die er ihr gegeben hatte mit seiner Nummer.

Ein Taxi fährt vorbei. Sie ärgert sich, nicht schnell genug gewunken zu haben. Es dauert ihr zu lange, sie entschließt sich, zum Bahnhof zu laufen. Da gibt es immer Taxen. Sie erreicht das Bermuda3eck, läuft durch die Fußgängerzone. Vor dem Café Konkret erkennt sie Hannah, die in den BMW ihres Vaters steigt. Sie könnte sich einklinken und mit ihnen nach Linden fahren wie erst vor zwei Wochen. Sie zögert einen Moment. Hannah ist mit Marcs Freund zusammen und würde sie auf ihn ansprechen. Sie möchte das nicht und läuft weiter, als hätte sie Hannah nicht erkannt. Sie nimmt das erste Taxi am Hauptbahnhof und wählt den Rücksitz, um einem Gespräch mit dem Fahrer auszuweichen. Sie nennt ihm die Adresse in Linden. Er dreht sich um. Dunkle Augen, schwarze lockige Haare. Mitte zwanzig. Ismail, ein Kollege von Marc. Das gibt es nicht. Bochum ist kein Dorf, wo man die Taxifahrer persönlich kennt. Marc hatte ihn ihr vorgestellt und auf der Fahrt nach Köln erzählt, dass der Kollege auf der Herner Straße mit überhöhter Geschwindigkeit geblitzt wurde und den Führerschein für vier Wochen abgeben muss. Entweder fährt er ohne oder Marc hat ihr Unsinn erzählt. Das wäre nicht das erste Mal.

Sie beobachtet, wie Ismail den Taxameter einschaltet und losfährt. Die Fahrtkosten kann Marc ihr zurückerstatten. Warum musste sie auf der Rückfahrt einschlafen? Klar, vergangene Nacht konnte sie die Serie auf Netflix nicht ausschalten.

Der Taxifahrer beobachtet sie im Rückspiegel. »Wo hast du Marc gelassen?«

»Lass mich mit dem in Ruhe. Wir haben Stress«, erwidert sie knapp.

»Wird sich legen«, lacht er. »Wenn du willst, fahr ich dich zu ihm und spiel den Vermittler.«

»Untersteh dich! Ich will nach Hause.«

»Was willst du samstagnachts bei deinen Eltern?«

»Schlafen, einfach nur schlafen«, erwidert sie.

»Das glaub ich dir nicht. Du willst dich neu stylen und wieder los, was?« Er lacht.

Sie spürt, wie es in ihr kocht. »Was ist mit deinem Führerschein?«, giftet sie zurück und nimmt durch den Rückspiegel sein überraschtes Gesicht wahr.

»Hat er dir erzählt, was? Ja, stimmt. Ich muss vier Wochen ohne fahren. Scherz! Ich fliege morgen mit meiner Freundin nach Bodrum, besuche die Familie. Genieße die Sonne, das Meer. Nebenbei renoviere ich bei meinen Großeltern das Haus, das habe ich ihnen schon lange versprochen. Den Führerschein werfe ich beim Straßenverkehrsamt in den Briefkasten, ist alles geklärt. Wenn ich zurückkomme, hole ich ihn wieder ab.«

Kurz vor dem Haus tippt sie ihn an. »Meine Eltern brauchen nicht zu sehen, dass ich mit dem Taxi komme. Sie regen sich unnötig auf.«

»Okay.« Er stoppt den Wagen ein paar Meter entfernt. »Das Angebot steht. Ich bring dich zu Marc zurück, wenn du willst. Ohne Aufpreis.«

Sie gibt ihm das Fahrgeld. »Warte zehn Minuten. Falls meine Eltern nicht da sind, kannst du mich wieder mitnehmen. Ich habe keinen Schlüssel dabei.«

»Zehn Minuten, nicht länger.«

Sie denkt an Rainer. Auf der Feier kamen die alten Gefühle wieder hoch. Woran war die Beziehung gescheitert? Sie versteht es nicht. Rainer ging es genauso, zumindest drückte er sich so aus. Die Einladung war unverschämt. Wie konnte er Marc derart ignorieren? Sie erinnert sich an Rainers Worte, er würde die ganze Nacht auf ihren Anruf warten, um sie bei ihren Eltern abzuholen. Zu den Worten gab er ihr die Visitenkarte.

Kapitel 4

 

Marc läuft die Königsallee runter in Richtung Intershop. Unterwegs erinnert er sich, was er seinem Vater, dem Staatsanwalt, alles erzählte, wenn der ihn in seinem Arbeitszimmer verhörte. Es reichte ein Fehler bei den Hausaufgaben, eine Klassenarbeit, die nicht gut ausgefallen war. Er saß mit hochrotem Kopf vor dem riesigen Schreibtisch, hinter dem Vater so erhaben wirkte, und kam sich unendlich klein vor. Er dachte sich Geschichten aus, um ihn abzulenken, erzählte von unfähigen Lehrern, welche die Klasse nicht disziplinieren konnten, von Gewalt und Drogen an der Schule. Er erzählte nur von anderen, dabei wünschte er sich ein Ende der schrecklichen Verhöre. In den Nächten belauschte er die Streitigkeiten zwischen den Eltern und sagte seiner Mutter, wenn sie allein waren, Mitschülern hätten ihre Noten nach der Trennung der Eltern verbessert. Doch es war aussichtslos. Mutter war nicht dazu bereit, auch wenn sie oft damit drohte.

Er erreicht den Intershop, drängt sich zur Theke und bestellt bei der freundlichen Kellnerin mit der Latzhose und dem geflochtenen Zopf ein Altbier. Versucht dabei ein Lächeln und spürt, wie es ihm misslingt, weil er so voller Gedanken steckt. Schon ärgert er sich, das Bier überhaupt bestellt zu haben. Wäre er nur zu Hause geblieben. Jetzt hängt er hier rum bei dem Krach und dem Gedränge. Er überlegt, den Laden zu verlassen, ohne sich um die Bestellung zu scheren, da entdeckt er am anderen Ende der Theke seinen Freund Oliver, der ihn in der gleichen Sekunde erkennt und zu ihm rüberkommt. Blonde kurze Haare, graublaue Augen, immer gut gelaunt.

»Hallo Oliver. Ist Hannah schon weg?« Seine Freundin ist ein paar Jahre jünger als er, sie besucht noch das Gymnasium.

»Ihr Vater hat sie vor einer Stunde abgeholt«, erwidert er. »Ich habe Kommilitonen getroffen, sonst wäre ich schon weg.«

Marc freut sich, nicht mehr alleine zu sein. Er lacht die Kellnerin an, die ihm das Altbier auf die Theke stellt und die Bestellung von Oliver aufnimmt.

»Wart ihr nicht bei deiner Schwester in Köln eingeladen?« Oliver mustert ihn.

»Du kennst Christina. Es gab Stress. Sie wollte mitten in der Nacht nach Hause.«

»Und du bist gefahren, nachdem du mit deinem Schwager ein paar Kölsch getrunken hattest.«

»Woher weißt du das?«

»Ich kenn dich doch. Marc, wach auf! Spätestens, wenn du keinen Führerschein mehr hast, ist sie weg.«

»Sie hat so ein Theater veranstaltet vor den anderen Leuten«, versucht er, sich zu rechtfertigen. »Nur weil ich eine Frau auf der Feier angesehen hatte. Ich ertrage so einen Stress nicht seit dem Unfall meiner Eltern.«

»Schieb nicht alles darauf. Es geht um Christina und dich. Mach Schluss, wenn du keine Lust auf ihre Szenen hast.«

»Sofort, wenn du mir sagst, wo sie steckt. Ich weiß es nicht! Mach mir echt Sorgen.«

Oliver zieht die Augenbrauen hoch. Seine typische Geste, wenn er etwas nicht versteht.

»Sie schlief auf der Rückfahrt ein«, erklärt Marc. »Seitdem ist sie verschwunden.«

»Wie wäre es mit anrufen?«, fragt Oliver.

»Habe ich versucht. Was meinst du? Sie meldet sich nicht. Ist eingeschnappt.«

»Ruf ihre Eltern an. Frag, ob sie da ist.«

»Um diese Zeit? Ihr Vater bringt mich um.«

»Dann rufe ich Christina an.« Er nimmt sein Handy und wählt die Nummer. Der Ruf geht raus, doch es nimmt keiner ab. »Was hat deine Schwester dazu gesagt, dass ihr so früh gegangen seid?«

»Scheiße, die muss ich zurückrufen. Warte einen Augenblick.« Die Lautstärke in dem Laden stört. Er geht vor die Tür, wählt Katrins Nummer. Sie regt sich auf, dass er die Feier so früh verlassen hatte, und fragt, was bei dem Anruf los war. Er beschreibt ihr die Situation mit den Polizeibeamten.

»Nur wegen Christina«, schimpft Katrin. »Die ist verrückt. Macht Rainer an und regt sich auf, wenn du mit Lena flirtest.«

»Mit wem habe ich geflirtet?«

»Nicht so scheinheilig, bitte! Mit Lena. Vor mir brauchst du das nicht abzustreiten.«

»Die Dunkelhaarige am Fenster war Lena?«, fragt Marc.

»Erinnerst du dich nicht? Ich habe mit ihr in der Kinderklinik in Bochum gearbeitet. Ich hatte dir von ihrem Vater erzählt.«

»Ja, ich erinnere mich. Und Christina hat sich an diesen Rainer herangemacht? Ist das wahr?«

»Ja, klar. Sie kennen sich aus der Schule. Er war ein paar Klassen weiter, war erst mit ihrer Freundin Alessa zusammen. Ich hatte den Eindruck, er wollte Christina die ganze Zeit ansprechen. Na, in der Küche hat er es ja geschafft. Und glaub mir, sie wartete darauf. Mir kann sie nichts vormachen.«

»Und ihre Eifersucht …«

»War gespielt«, unterbricht Katrin. »Sie wollte zurück, um sich mit ihm zu treffen.«

»Meinst du?« Es kommt überraschend, doch Katrin wirkt überzeugt.

»Rainer hat die Feier direkt nach euch verlassen. Das war kein Zufall. Sonst bleibt er bis zum Schluss. So wie sie sich aufgemacht hatte, konnte er es sich nicht entgehen lassen.«

»Sie war total müde auf der Rückfahrt, ist sogar im Auto eingeschlafen. Weil sie die letzte Nacht ihre Serie auf Netflix geguckt hatte und nicht schlafen konnte.«

»Na, sie wird aufgewacht sein«, lacht Katrin. »Sonst würdest du sie kaum suchen. Mach dir nichts draus. Ihr habt nicht zusammengepasst. Du bist zu harmoniebedürftig. Sie nutzt das aus.«

»Das sagt Oliver auch. Den hab ich im Intershop getroffen.«

»Bestell ihm einen schönen Gruß. Und komm morgen um zwei zum Mittagessen. Ist eine Menge übriggeblieben.«

Kapitel 5

 

»Ich möchte nicht stören«, sagt Christina an der Tür.

»Du störst nicht«, erwidert er freundlich. »Komm nur rein.«

Sie folgt ihm in den Flur. »Ich habe mein iPhone im Auto vergessen. Ich müsste nur kurz anrufen.«

Er schließt die Tür, nimmt ihr die Lederjacke ab. »Gab es Stress?«

»Ja. Ich wollte nach Hause. Leider sind meine Eltern nicht da und ich habe den Schlüssel liegenlassen. Ich habe echt das Gefühl, heute hat sich alles gegen mich verschworen.«

»Du kannst hier schlafen, wenn du willst. Ist ja schon spät.« Er lächelt.

»Furchtbar nett von dir, aber ich möchte keine Umstände machen. Ich brauche nur ein Telefon.«

Er geht voraus ins Wohnzimmer. Auf dem Flachbildschirm an der Wand erkennt sie eine Frau auf einem Bett. Sie ist nackt und an Händen und Füßen gefesselt. Er nimmt die Fernbedienung, schaltet den Fernseher aus.

Sie bleibt stehen: »Bist du allein?«

»Ja«, antwortet er. »Ich habe einen Cocktail erfunden. Willst du probieren?«

»Ich weiß nicht. Oder doch, ein Cocktail ist okay, bring bitte das Telefon mit.«

»Na, du wirst staunen.« Er verschwindet in der Küche. Sie lässt sich auf der Couch nieder, zupft an ihrem kurzen Kleid und schlägt die Beine übereinander mit den hohen Stiefeln. Er kommt mit zwei Gläsern mit Eis, Zuckerrand und weißen Strohhalmen zurück. Setzt sich auf den Sessel gegenüber und prostet ihr zu. Sie löst ihre gespannte Haltung, beugt sich zum Tisch, nimmt einen tiefen Zug. »Wirklich gut. Ein bisschen wie Caipirinha.«

»Na, hör mal! Das ist eine eigene Kreation.«

Sie empfindet einen salzigen Nachgeschmack. »Das Telefon. Ich rufe nur kurz an.«

»Ja, okay. Ich hole es gleich.« Er prostet ihr zu, lächelt immer noch. Sie beugt sich zum Strohhalm, trinkt. Verschluckt sich. Hustet. Er steht auf, klopft ihr auf den Rücken.

»Möchtest du etwas anderes? Cola, Wasser? Soll ich einen Kaffee kochen?«

»Nein, danke. Ich möchte dich nicht aufhalten.« Sie spürt seine Blicke, die Spannung im Raum, doch schafft es nicht, aufzustehen, kann sich nicht aufraffen und bleibt sitzen. Nippt an ihrem Cocktail. Immer wieder. Er lobt ihre Figur, ihre Kleidung.

»Du kannst andere haben«, sagt er. »Siehst verdammt gut aus. Verstehst, dich super zu kleiden.«

»Danke. Ich glaube, ich sollte wirklich anrufen. Sonst schaffe ich es nicht mehr und du hast mich die ganze Nacht am Hals.« Sie errötet, trinkt den Cocktail aus.

»Ein Glas zum Abschied.« Er geht in die Küche, kommt mit zwei gefüllten Gläsern zurück. Sie kämpft gegen eine aufkommende Übelkeit an. »Du kannst mir das Rezept aufschreiben.«

»Das wird nicht verraten«, lacht er.

Sie versteht nicht, was daran lustig ist, zieht an dem Strohhalm und trinkt.

»Musik fehlt zum Cocktail«, stellt er fest. »Magst du was Bestimmtes?«

»Lady Gaga.« Sie merkt, wie ihr das Sprechen schwerfällt, lehnt sich auf der Couch zurück.

»Natürlich. Lady Gaga.« Er sieht sie an, als warte er auf etwas. Sieht sie immerzu an. Sie mag es nicht, so angestarrt zu werden, richtet sich auf, zieht an ihrem Kleid. Nimmt noch einen Schluck. Shallow erklingt aus der Bluetooth Box. Sie wippt im Takt. Sofort wird ihr schwindelig. Sie kneift die Augen zusammen. Er kommt an den Tisch, beugt sich zu ihr.

»Richtig gewählt?«

»Ja, gefällt mir.« Sie spürt seinen Blick auf ihrem Dekolleté, ihren Beinen, kommt sich in dem dünnen Kleid nackt vor, wünschte einen hochgeschlossenen Pullover und Jeans zu tragen.

»Du gefällst mir«, sagt er, nimmt die Gläser, geht in die Küche. Etwas stimmt nicht. Der Schwindel, die Übelkeit. Ein Rauschen im Kopf, das stärker wird. Zu viel Alkohol. Nichts mehr trinken, nur schlafen, für einen Moment die Augen schließen. Halt! Sie muss anrufen, hat immer noch kein Telefon. Sie spürt, wie ihr alles zu viel wird. Wo wollte er hin? Sie erinnert sich nicht. Da sitzt er ja. Auf dem Sessel ihr gegenüber. Wie viel Uhr es wohl ist? Er reicht ihr das Cocktailglas, fordert sie auf, zu trinken. »Weißt du, wie viel Uhr ist es?«, fragt sie.

Er zeigt auf die Wanduhr. Sie erkennt die Zeiger nicht, sieht alles verschwommen. Was würde sie darum geben, in ihrem Bett zu liegen. Sie möchte aufstehen, ins Bad gehen. Sie muss hier raus, aber schafft es nicht, zumindest noch nicht. Sie muss sich erst ein bisschen hinlegen, ein paar Minuten Kräfte sammeln. Sie versucht, die Stiefel abzustreifen, die sie mit den Nylonstrümpfen und dem kurzen Kleid für die Feier bei Marcs Schwester gekauft hatte. Er springt herbei, hilft ihr aus den Stiefeln. Sie streckt sich aus, dreht sich von ihm weg, murmelt eine Entschuldigung. Versteht er sie nicht? Sie spürt seinen Atem, den Körper neben sich. Sie will das nicht, will ihn nicht so nah. Will ihn abwehren. Ihr fehlt die Kraft. Sie fühlt sich wie gelähmt, spürt, wie er den Reißverschluss ihres Kleides aufzieht, es von ihrem Körper streift. Sie möchte sich auf der Couch aufrichten. Es gelingt ihr nicht. Er ist über ihr, öffnet den BH, zieht ihr den Slip aus. Sie möchte weg. Weg von ihm. Ein blaues Kondom. Sie sieht es in seiner Hand. Er streift es über. Sie versucht, sich zu befreien. Er ist überall mit seinen Händen. Sie spürt ihn hinter sich. Will schreien. Kein Laut dringt aus ihrem Mund. Er hatte ihr was ins Glas gemixt. Das ist es. Hatte es von Anfang an geplant, als sie vor seiner Tür stand.

»Aufhören! Ich will das nicht!« Sie hört ihre Stimme nicht. Fühlt sich außerhalb ihres Körpers, als würde sie das Geschehen von außen betrachten. Er zittert. Atmet stoßweise. Stöhnt. Wird endlich ruhig. Zieht sich zurück. Sie muss ihm mitteilen, dass sie nichts sagt. »Ich sage nichts. Versprochen. Ich sage nichts.«

Er reagiert nicht. Sie wiederholt ihre Worte. Er steht auf, nimmt seine Sachen und geht aus dem Zimmer. Wohin? Er kann sie nicht so liegen lassen. Ihr wird schwindelig. Sie braucht Hilfe. Marc. Sie muss es ihm erzählen.

Kapitel 6

 

Unter der Dusche klingen ihm ihre Worte nach: Ich sage nichts. Versprochen. Ich sage nichts. Was könnte sie auch sagen, die Verführerin, die mitten in der Nacht vor seiner Tür stand. Sich in ihrer erotischen Aufmachung auf dem Sofa rekelte, einen Cocktail nach dem anderen schlürfte und ihn nach dem Rezept fragte. Musik von Lady Gaga wollte sie hören, forderte ihn mit laszivem Blick auf, ihr die Stiefel abzustreifen, sie auszuziehen, um es ihr zu besorgen.

Er stellt die Dusche ab.

---ENDE DER LESEPROBE---