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"Dass das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den harten Stein besiegt, du verstehst, das Harte unterliegt". Laotse Der Missbrauch eine Intrige? Bewährungshelferin Marie Marler zweifelt an der Schuld des Physiotherapeuten, der nach Verbüßung seiner Freiheitsstrafe bei ihr unter Führungsaufsicht steht. Hauptkommissar Christian Kramer, der für die Überwachung rückfallgefährdeter Sexualstraftäter zuständig ist, fehlt jegliches Verständnis für seine Freundin. Der Mord ein Racheakt? Alles deutet darauf hin, wäre da nicht das eindeutige Alibi des Hauptverdächtigen. Und die Tatausführung spricht für die organisierte Kriminalität. Polizeiarbeit im Milieu der Bewährungshilfe – das ist äußerst realistisch geschildert und äußerst spannend erzählt. WDR 5, Mordsberatung zu: "Schweigen ist Tod)"
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Das Buch: »Dass das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den harten Stein besiegt, du verstehst, das Harte unterliegt.« Laotse
Der Missbrauch eine Intrige?
Bewährungshelferin Marie Marler zweifelt an der Schuld des Physiotherapeuten, der nach Verbüßung seiner Freiheitsstrafe unter ihrer Führungsaufsicht steht. Hauptkommissar Christian Kramer, der für die Überwachung rückfallgefährdeter Sexualstraftäter zuständig ist, fehlt jegliches Verständnis für seine Freundin. Der Mord ein Racheakt? Alles deutet darauf hin, wäre da nicht das eindeutige Alibi des Hauptverdächtigen. Und die Tatausführung spricht für die organisierte Kriminalität.
Der Autor: Peter Märkert ist in Bochum aufgewachsen und lebt auch dort. Er studierte Informatik und Sozialwesen, arbeitete als Taxifahrer, als Sozialarbeiter im Vollzug und als Bewährungshelfer. Die Erfahrungen aus dem Milieu verarbeitet er in seinen Justizkrimis, die im Ruhrgebiet zwischen JVA, Drogen, Mord spielen und in denen er den Hintergründen von Verbrechen und Schuld nachspürt.
Diese Publikation wird in der Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet abrufbar.
Die Personen und Handlungen in dem Justizkrimi sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit einer lebenden oder toten Person wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.
© Peter Märkert
September 2021
Januar 2025
– alle Rechte liegen beim Autor –
Adresse:
Peter Märkert
Dürerstr. 62
44795 Bochum
URL: http://petermaerkert.de
E-Mail: [email protected]
Coverfoto: Aylin Reckermann
Covergestaltung: Jen Maerkert
Autorenfoto: Ulf Peter Quooß
Veröffentlicht über tolino-media
EAN: 9783754610282
Für Isa
Nichts ist leichter als Selbstbetrug, denn was ein Mensch wahrhaben will, das hält er auch für wahr.
Demosthenes
Kapitel 1
Immer auf der Überholspur sein. Zeigen, dass man der Beste ist. So erwartet es sein Vater. Schon als Fünfjähriger hat Kai Rista am Reck im Garten Mut und Ehrgeiz zu beweisen. Es bedeutet, immer aufs Neue hinzufallen, die Zähne zusammenzubeißen, aufzustehen und es erneut zu versuchen. Mutter greift nicht ein. Zu streng, zu fordernd ist die Darstellung des allzu Mächtigen, der von einem mythischen Kampf spricht zwischen Gewinnern und Verlierern, und behauptet, die Menschen strebten nicht nach Gerechtigkeit, sondern einzig danach, der Erste, der Beste zu sein. Dafür gelte es, sich so früh wie möglich vorzubereiten und jeden Tag aufs Neue zu trainieren. Alles andere würde sich mit der Zeit von selbst ergeben.
Kai glaubt seinem Vater und kämpft in der Schule und bei Wettkämpfen um die Position des Siegers. Mit dem zweiten Platz gibt er sich nicht zufrieden. Loser verachtet er genau wie sein Vater. Niemals lässt er seine Sitznachbarn bei Klassenarbeiten abschreiben. Er hütet sein Wissen wie einen Schatz und ist stolz, die besten Noten zu erhalten, auch wenn er in der Klasse als Streber gilt.
In der Pubertät interessieren sich seine Mitschüler für die Mädchen in der Stufe. Er weicht ihnen aus und redet sich ein, keine Zeit für Liebeleien zu haben. Er nutzt jede freie Minute für ein Einser-Abitur, um ein Medizinstudium aufzunehmen. Vater wünscht es und er widersetzt sich nicht. Wagt es nicht, sich zu widersetzen, er denkt nicht mal daran. Er hat sich damit abgefunden, den Wunsch seines Vaters zu erfüllen, dem trotz bester Noten im Abitur ein Studium verwehrt blieb. Stattdessen hatte er den familiären Transport- und Kurierdienst weiterzuführen, um den Fortbestand des kleinen Unternehmens zu sichern. Vater betont bei jeder Gelegenheit, welchen Verzicht es für ihn bedeutete und welche Freude, dem Sohn das Studium zu ermöglichen.
Kai Rista ist stolz, zu den Medizinern zu gehören. Mit Disziplin und Lerneifer schafft er die Staatsexamen mit Bravour. Er absolviert die Facharztausbildung und erhält die Approbation. Nach Jahren im Krankenhaus und einer erfolgreichen Dissertation übernimmt er als Dr. Kai Rista eine Kinderarztpraxis in Bochum-Linden mit vielen Privatpatienten. Er leistet sich eine teure Loftwohnung im Künstlerviertel Ehrenfeld und einen Sportwagen. Er hat es geschafft, gehört zu den Siegern, bewundert von seinem Vater und der Familie.
Die Frauen stehen Schlange. So erzählt es zumindest seine Mutter den Verwandten. Sie wartet auf eine Schwiegertochter und Enkel, doch diesmal gehorcht er nicht. Er kann sich ein Leben zu zweit, zu dritt oder viert nicht vorstellen. Es würde bedeuten, alles zu teilen, was er sich so zielstrebig aufgebaut hat. Dazu ist er nicht bereit. Er spürt kein Verlangen nach einer festen Beziehung und redet sich ein, für seine Arbeit zu leben. Wenn Kollegen von ihren Beziehungskonflikten berichten, ist er froh, seine Freizeit ohne Stress nach eigenen Wünschen gestalten zu können. Ihm reichen die Gespräche mit seinen medizinischen Fachangestellten und den Müttern seiner kleinen Patienten. Besonders bei Frau Allenstein und ihrer Tochter Emilie lässt er sich viel Zeit. Das Mädchen ist ohne Vater aufgewachsen und himmelt ihn genauso an wie ihre Mutter.
Kapitel 2
Seinen sechsunddreißigsten Geburtstag feiert Dr. Rista mit zwei befreundeten Ärzten in seiner Wohnung. Nach einem guten Essen und ein paar Gläsern Champagner überreden sie ihn zu einem Besuch im Spielcasino in Dortmund und bestellen ein Taxi.
Beim Eintritt ist Dr. Rista von der Atmosphäre des Casinos beeindruckt. Er hält sich nur kurze Zeit bei den Automaten im Erdgeschoss auf und betritt voller Ehrfurcht den großen Spielsaal. Er kauft Jetons und wagt sich an den Roulette-Tisch. Er nimmt sich vor, nur kleine Summen zu setzen und bei Rot, seiner Lieblingsfarbe, und geraden Zahlen zu bleiben.
Gewinne wechseln sich mit Verlusten ab. Schon nach kurzer Zeit reicht es ihm nicht mehr. An seinem Geburtstag will er das Besondere erleben. Er überwindet sich und setzt die Hälfte seiner Jetons auf Zero. Während sich die Kugel im Kessel dreht, spürt er ein Kribbeln im Bauch wie bei einer Achterbahnfahrt.
Zero! Der Croupier schiebt ihm die Jetons zu. So einen Kick hat er bisher nicht erlebt. Es ist wie im Film. Er setzt erneut auf Zero, obwohl die Kollegen den Kopf schütteln, die aus der Entfernung sein Spiel beobachten. Er starrt auf die Kugel, beschwört sie regelrecht und zittert vor Anspannung. Zero kommt ein zweites Mal. Es ist unglaublich. Die Kollegen kommen heran, um ihm zu gratulieren. Er setzt auf Serien und sein Glück dauert an. Er ist der geborene Spieler. Kleine Verluste steckt er lachend weg. Das Schicksal meint es gut mit ihm.
Eine blonde Schönheit kommt an den Roulette-Tisch. Sie sieht ihn aus klaren dunklen Augen an. Er weicht dem Blick aus, konzentriert sich auf das Spiel und macht seine Einsätze. Sie lacht und setzt kleine Summen auf die gleichen Felder. Der Croupier schiebt ihnen die Jetons zu.
Die Kollegen drängen ihn zum Aufbruch, geben schließlich auf und verabschieden sich. Er beachtet sie nicht. Zu groß ist sein Glücksgefühl. Seine Aufmerksamkeit gilt dem Spiel und der Schönheit an seiner Seite. Der Gegensatz ihrer dichten hellblonden Haare mit den braunen Augen fasziniert ihn. Sie duftet anders, intensiver, strahlt mehr Sinnlichkeit aus als die Mütter in seiner Praxis. Oder liegt es an seinem Glück, das ihn für ihre Reize empfänglicher macht. Er stellt sich ihr vor und fragt nach ihrem Namen. Sie kommt nah an ihn heran und flüstert: »Estella«. Genauso erscheint sie ihm. Wie ein geheimnisvoller Stern. Zusammen überlegen sie die nächsten Einsätze und fiebern dem neuerlichen Gewinn entgegen, während die Kugel im Kessel ihre Bahnen dreht.
In der Nacht ist an Trennung nicht zu denken. Estella steigt zu ihm ins Taxi und begleitet ihn nach Bochum in seine Wohnung. Sie erzählt, dass sie sich in Italien von ihrem Freund getrennt hat und längere Zeit in Deutschland bleiben will. Sie fragt nach seinem Leben und er berichtet von seiner Arztpraxis und den Kindern. Sie sind in guter Stimmung und trinken Champagner.
Zu vorgerückter Stunde überlegt sie, ein Taxi zu bestellen. Er überredet sie, bis zum Morgen zu bleiben. Sie lässt sich darauf ein, betont allerdings, zu einer neuen Beziehung nicht bereit zu sein und für einen One-Night-Stand nichts übrig zu haben. Es stört ihn nicht. Es reicht ihm, dass sie über Nacht bleibt. Er überlässt ihr das selbstgebaute Bett und bereitet sich einen Schlafplatz auf der Couch.
Am frühen Morgen wird er von seinem Smartphone geweckt. Er geht zu Estella, um zu prüfen, ob sie noch schläft, und sieht in ihre dunklen Augen. Sie lädt ihn ein, sich zu ihr aufs Bett zu legen. Er kommt ihrem Wunsch nach. Sie rückt näher. Er spürt ihre Wärme, könnte endlos so liegenbleiben, doch beim Blick auf seine Wanduhr schreckt er auf.
»Um acht beginnt die Sprechstunde!«, ruft er und läuft ins Bad. Er beeilt sich, bei ihr dauert es länger. Er nutzt die Zeit, um ein schnelles Frühstück vorzubereiten und ihr einen kleinen Anteil des gestrigen Gewinns in einen Briefumschlag zu stecken, auf den er mit großen Lettern schreibt: Für Estella. Er wundert sich selbst über seine Großzügigkeit und überlegt, ob sie es missverstehen könnte. Zu spät, sie kommt aus dem Bad, steuert auf den Tisch zu und öffnet den Brief. Sie legt ihn beiseite, ohne das Geld zu zählen, und bedankt sich. Es klingt, als wäre sie beleidigt. Er versucht, den Eindruck der Käuflichkeit zu verwischen, dankt ihr für den schönen Abend und bittet sie, seine Glücksfee zu bleiben. Ohne ihre Unterstützung hätte er niemals so großartig gewonnen. Er redet vom Schicksal, das sie zusammengeführt hat, schreibt sich ihre Handynummer auf und verspricht, sie am Abend anzurufen.
Er drängt zum Aufbruch und beobachtet Estella, die eilig ihre Sachen zusammenpackt. Er möchte nicht zu spät in die Praxis kommen, hasst es, wenn das Wartezimmer bei seinem Eintreffen überfüllt ist. Im Treppenhaus fragt er nach ihrer Adresse. Sie wohne in Unna bei ihrer Cousine. Er bietet ihr an, sie am Hauptbahnhof abzusetzen, von seiner Wohnung in Ehrenfeld sei es nicht weit. Sie zieht es vor, bei dem sonnigen Wetter zu laufen. Er brauche sich keine Gedanken zu machen, sie nutze Google-Maps auf ihrem Smartphone. Es reiche, wenn er ihr die Richtung zum Zentrum beschreibe. Sie spaziere gerne durch Fußgängerzonen, bevor die Geschäfte öffneten. Sie liebe das erwachende Leben überall und würde sich irgendwo in ein Café setzen, um die Menschen zu beobachten. Er überlegt, ob ihr Entschluss an der Hektik liegt, die er verbreitet, doch möchte nicht nachfragen, sie auch nicht überreden, mit ihm zu fahren. Es würde ihn Zeit kosten, sie am Bahnhof abzusetzen. Er deutet zum Schauspielhaus, die Königsallee runter, dann laufe sie direkt auf das Bermuda3eck und die Fußgängerzone zu. Sie gibt ihm einen Kuss auf die Wange und verschwindet.
Auf der Fahrt zur Praxis vermisst er sie schon. Er ärgert sich, nicht gleich beim Abschied ein neues Date verabredet zu haben. Im Rückblick erscheint ihm das gemeinsame Frühstück unromantisch, als hätte er sie für den Abend als Begleitung gebucht. Ob sie es so empfunden hat? Es lag an dem Briefumschlag. Warum wollte er ihr unbedingt etwas von seinem Gewinn abgeben? Sie hatte selbst eine kleine Summe gewonnen. Stattdessen hätte er sie überreden sollen, in seiner Wohnung auszuschlafen und in Bochum zu bleiben, um den Abend oder das gesamte Wochenende zusammen zu verbringen. Er hätte ihr einen Wohnungsschlüssel anvertrauen sollen. Warum hat er es nicht versucht? Hat sie seine mangelnde Erfahrung bemerkt? Fühlte sie sich nicht begehrt? Hätte er fordernder sein sollen? Er würde gerne mit jemandem darüber sprechen, doch es ist niemand da, an den er sich mit solchen Fragen wenden könnte. Ein Gefühl der Einsamkeit bemächtigt sich seiner. Estella hat nicht nach seiner Handynummer gefragt. Das muss nichts bedeuten. Sie kann ihn in der Praxis erreichen. Er hat die Sprechstunde erwähnt, um den frühen Aufbruch zu erklären. Nach ihrer Arbeit hat er sich nicht erkundigt, auch ihre genaue Adresse in Unna nicht hinterfragt. Sie wird damit rechnen, dass er sich meldet. Als Italienerin erwartet sie von dem Mann die Initiative. So wird es sein, oder? So muss es sein. Sonst wird er verrückt. Er kennt sich zu wenig aus. Außerdem ist die Zeit zu schnell verflogen. Woher kommt sein Misstrauen? Sie erwähnte die Trennung in Italien. Zu einer neuen Beziehung wäre sie nicht bereit. Es hat ihn verunsichert. Er wird sie von der Praxis aus anrufen, sich nach der genauen Adresse erkundigen und sie zum Essen einladen. Er weiß wenig von ihr, kann kaum erwarten, mehr zu erfahren. Er überlegt, sie schon über die Freisprechanlage im Auto anzurufen, doch lässt davon ab, um nicht gleich zu Beginn den Eindruck zu erwecken, aufdringlich zu sein.
Er erreicht die Praxis leicht verspätet, die Stühle im Wartezimmer sind besetzt. Er wollte es vermeiden. Es löst einen Erwartungsdruck aus, den er für seine Migräneanfälle verantwortlich macht. Lieber ist er der Erste in der Praxis, um sich langsam auf die Sprechstunde vorzubereiten. Er grüßt mit einem freundlichen Lächeln, das er sich gegenüber den Eltern und ihren Kindern angewöhnt hat, und bittet seine beiden medizinischen Fachangestellten, einen Moment mit dem ersten Patienten zu warten. Er eilt an seinen Schreibtisch im Behandlungszimmer. Wie gerne würde er einen Tag freinehmen, um in aller Ruhe über die Nacht nachzudenken und das nächste Treffen mit Estella zu planen.
Es klopft an der Tür. Die beiden Mitarbeiterinnen kommen herein, ohne auf eine Antwort zu warten. Dr. Rista hält sich den Telefonhörer ans Ohr und bittet um ein wenig Geduld. Der Druck im Kopf steigt. Sie lassen sich nicht abwimmeln, gratulieren ihm nachträglich zu seinem Geburtstag, den er völlig vergessen hat. Er nimmt den bunten Blumenstrauß entgegen, den sie hinter sich versteckt haben und ihm reichen. Praktisch, wie sie sind, haben sie eine Vase mit Wasser dabei. Er bedankt sich, kündigt ein gemeinsames Frühstück in den nächsten Tagen an und bittet um zwei, drei Minuten Geduld, bevor sie den ersten Patienten hereinschicken. Kaum ist er allein, tippt er die Nummer in sein Diensttelefon.
»Diese Rufnummer ist uns nicht bekannt, aber wir können Sie gern mit der Auskunft verbinden.«
Hat er in der Eile die Zahlen falsch notiert? Er wiederholt die Eingabe mit dem gleichen Ergebnis. Die Kleinen im Wartezimmer und auf dem Flur sind nicht zu überhören. Die Stimmen der Mütter auch nicht, die sich im Vorzimmer beschweren. Sie wollen, dass es vorangeht und nicht endlos warten. Er gibt schweren Herzens nach, lässt die kleinen Patienten nacheinander ins Behandlungszimmer kommen. Die Krankengeschichten lenken ihn kurzzeitig ab, doch während der Mittagspause in der Pizzeria und Trattoria Al Dente in Bochum-Linden wählt er erneut Estellas Nummer. Es bleibt bei der Ansage »diese Rufnummer ist uns nicht bekannt ...« Er drückt sie weg. Was hat er erwartet? Es ist sinnlos. Er hat den Moment am Morgen vor Augen, wie sie ihn bat, sich zu ihr aufs Bett zu legen. Er hat seine Chance nicht genutzt.
Am späten Nachmittag fühlt er sich erschöpft von der Arbeit und der vergangenen Nacht. Er ist es nicht gewohnt, so wenig zu schlafen. Beim Betreten der Wohnung verfällt er in eine sentimentale Stimmung. Er versteht es nicht. Nichts war passiert, keine heiße Liebesnacht oder dergleichen. Trotzdem vermisst er sie. Ihr Duft liegt in der Luft, das zerwühlte Bett erinnert ihn an die Nacht, der Kaffeebecher mit dem Abdruck des Lippenstiftes an das Frühstück. Und da ist noch etwas, das er nicht verstehen kann, das ihm das Herz zusammenschnürt. Sie hat den Briefumschlag auf dem Stuhl liegen lassen, das Geld nicht mal angerührt. Er kann nicht mehr klar denken. Möchte mit ihr sprechen, sie fragen, was los ist, ob es falsch war, es ihr anzubieten. Er wollte sie nicht beleidigen. Bilder entstehen in seinem Kopf, wie Estella angewidert auf den Umschlag mit dem Geld blickt. Er hat es gut gemeint, wollte sie an dem Gewinn teilhaben lassen und ihr eine Freude bereiten.
Warum hat er ihre Nummer nicht sofort in sein Smartphone eingegeben und sie zur Probe angerufen? Er überlegt, die Reihenfolge der Ziffern zu ändern, eine Verwechslung ist schnell passiert. Doch es sind zu viele Möglichkeiten, es hat keinen Sinn. Wartet sie auf seinen Anruf und ist genauso enttäuscht wie er? In seiner Wohnung hält er es nicht aus. Er ärgert sich, sie nicht gebeten zu haben, in aller Ruhe auszuschlafen, zu duschen und bei ihm zu entspannen, bis er von der Arbeit kommt, um gemeinsam etwas zu unternehmen. Stattdessen bietet er ihr Geld an. Es ist nicht mehr zu ändern. Er hat sich damit abzufinden.
Er wechselt die Kleidung, rennt aus dem Haus und startet den Sportwagen. In Höhe der Königsallee blitzt es rötlich auf. Er sieht auf das Tachometer und verflucht die Radarfalle. Warum gibt es um diese Zeit auf der vierspurigen Straße eine Geschwindigkeitskontrolle? Das ist kein gutes Vorzeichen. Es droht ihm ein Bußgeldbescheid, sogar ein vierwöchiges Fahrverbot. Eine innere Stimme mahnt ihn, seinen Plan zu verwerfen und zurückzukehren, um sich für die morgige Sprechstunde auszuschlafen. Wer sagt ihm, dass Estella im Casino ist? Er ignoriert die Mahnung und setzt die Fahrt mit gleicher Geschwindigkeit fort.
Kaum hat er den Eingang des Spielcasinos passiert, sucht er sie überall, doch er findet sie nicht. Kann es sein, dass sie zuhause geblieben ist und ihn nicht wiedersehen will? Enttäuscht begibt er sich an den Spieltisch, beginnt seine Einsätze mit den Serien, mit denen er gestern das Spiel beendete. Doch das Glück hat ihn verlassen und seine Stimmung rutscht vollends in den Keller. Der vergangene Abend lässt sich nicht wiederholen. Jeder weiß von den Gewinnern am Spieltisch, die an den folgenden Tagen alles verlieren. Wie kann er so naiv sein, zu glauben, bei ihm wäre es anders? Es treibt ihn aus der Spielbank in seinen Sportwagen und zurück nach Hause.
In seiner Loftwohnung räumt er gründlich auf. Er entsorgt alles, was ihn an die Nacht erinnert, duscht ausgiebig und sieht sich eine Diskussionsrunde im Fernsehen an. Die Stimmen rauschen an ihm vorbei. Ein monotoner Singsang ohne Bedeutung. Immer wieder ist er mit den Gedanken bei Estella. Hatte sie sich nur zu ihm gesellt, um an seinem Glück teilzuhaben? Warum hat sie ihn begleitet? Ihre Haare waren gefärbt. Wer mit dunkelbraunen Augen ist von Natur hellblond? Und der Name, Estella, ein Künstlername? Für welche Kunst? Ist er auf eine Professionelle hereingefallen? Nein, sie hat nicht mal das Geld angenommen. Es passt nicht zusammen. Sie hat ihm eine falsche Handynummer gegeben, weil sie sich auf keine Beziehung einlassen wollte. So wird es sein.
Er versucht zu schlafen, doch die Gedanken kreisen in seinem Kopf. Warum hat sie den Briefumschlag nicht eingesteckt? Es war sicher kein Versehen. Er ist ihr nicht gleichgültig, oder? Er springt auf, mixt sich einen Longdrink, eine Cola mit Jack Daniels, trinkt ihn in wenigen Zügen aus, bereitet sich einen zweiten mit mehr Whiskey und einen dritten. Er wird die Kränkung nicht hinnehmen, wird versuchen, den Abend und die Nacht mit ihr zu wiederholen und alles anders zu machen. Oder soll er aufgeben? Nein, so ist er nicht erzogen worden. Er erinnert sich an das Reck aus frühen Kindertagen. Man konnte hinfallen, musste aber gleich wieder aufstehen.
Kapitel 3
Am Samstagmorgen hat er keine Lust, aufzustehen. Er überwindet sich, duscht, schlüpft in seinen Trainingsanzug, holt die Tageszeitung aus dem Briefkasten und bereitet das Frühstück zu. Der Kaffee schmeckt bitter. Alles langweilt ihn: die Zeitung, das Essen, das Alleinsein. Seine Gedanken kreisen um Estella. Er staubsaugt die Wohnung, bezieht das Bett neu in der Hoffnung, dass er sie am Abend im Casino antrifft und sie ihn wieder nach Hause begleitet.
Er bereitet sich vor, reinigt seinen Sportwagen, leistet sich ein neues Jackett in der Stadt. Er fährt zum Supermarkt, um Champagner für die Nacht und ein üppiges Frühstück für Sonntagmorgen einzukaufen. Die Vorbereitungen auf das erhoffte Date mit Estella machen ihm Spaß, er fragt sich, wie er mit dem bisherigen Leben zufrieden sein konnte.
Am Abend bricht er voller Vorfreude zum Spielcasino auf und setzt sich auf der Fahrt ein Limit von zweihundert Euro. Es ist ja nicht das Glücksspiel, das ihn reizt. Er möchte Estella wiedersehen. Mit anderen Gästen passiert er den Eingang und durchsucht die Spielsäle. Die Hoffnung, die ihn treibt, wird enttäuscht. Schon überlegt er, das Casino zu verlassen. Doch sie könnte später am Abend eintreffen. Er erinnert sich nicht genau, wann sie Donnerstag an den Spieltisch kam, es war auf jeden Fall zu vorgerückter Stunde. Er wechselt sein Geld in Jetons und begibt sich an den Roulette-Tisch. Zu Beginn setzt er kleine Summen auf Rot und gerade Zahlen. Gewinne und Verluste wechseln sich ab. Er versucht es mit Zero. Die Kugel dreht sich im Kessel. Er sieht nicht hin. Der Croupier verkündet die Dreizehn und zieht seinen Einsatz ein. Er setzt auf Zahlenreihen, doch das Pech haftet an ihm. Er wechselt weitere zweihundert Euro in Jetons und verliert sie in kurzer Zeit. Er redet sich ein, es geschieht, weil Estella nicht bei ihm ist. Trauer und Wut wechseln sich ab. Auf dem Rückweg überlegt er, ob sie mit ihrer Cousine nur einmal in der Woche das Casino besucht.
Am Donnerstag ist er zurück am Roulette-Tisch, nachdem er sie vergeblich in der Spielbank gesucht hat. Nach ersten Gewinnen glaubt er an den großen Erfolg. Er setzt auf einzelne Zahlen und verliert alles. Mit der Kreditkarte kauft er Jetons hinzu. Spät in der Nacht ist jegliche Hoffnung zerstört, sie wiederzusehen. An die Verluste darf er nicht denken. Er verlässt die Spielbank mit dem Vorsatz, nie wieder zurückzukehren.
In den folgenden Wochen versucht er, Estella und das Roulette aus seinen Gedanken zu verdrängen. Er besucht seine Eltern, kauft den Kaffeevollautomaten, den er sich immer gewünscht hat, und das E-Bike, um damit zur Arbeit zu fahren. Er überlegt sich eine Route durch das Dürertal und den Schlosspark, um die Hauptstraßen zu umgehen. In der Praxis leistet er Überstunden und schaut an den Abenden Serien auf Netflix. Egal, was er anstellt, die Sehnsucht bleibt. Je mehr er sich einredet, einer Illusion nachzuhängen, desto stärker fühlt er den Zwang, wieder hinzufahren und nach ihr zu suchen. Den inneren Zwiespalt erträgt er nicht. Seine Laune verfinstert sich, er schreit die medizinischen Fachangestellten in der Praxis für jeden Fehler an und spürt, dass sie ihm aus dem Weg gehen. So möchte er nicht weitermachen und plant am folgenden Donnerstag einen Besuch im Casino. Es ist nicht allein die Sehnsucht nach Estella, die ihn treibt, er möchte das Glücksgefühl erleben, das ihn am ersten Abend durchflutete. In den Nächten träumt er von hohen Gewinnen und der Bewunderung der anderen Gäste.
Der Traum erfüllt sich nicht. Am Donnerstag nicht, in den folgenden Wochen nicht. Seine Verluste wachsen und er nimmt sich bei jedem Verlassen der Spielbank vor, sie nie mehr zu betreten. Doch nach kurzer Zeit sitzt er erneut voller Hoffnung auf das große Glück am Roulette-Tisch. Er setzt sich immer wieder eine Tageshöchstgrenze und kämpft mit sich, sie bei Verlusten einzuhalten, doch scheitert und kauft mit der Kreditkarte Jetons nach. Im Spielsaal wird er zu einer anderen Person. Er folgt der Stimme seiner Kindheit, die ihm vorgaukelt, es zu schaffen, wenn er sich nur genügend anstrengt.
Er vernachlässigt seine Wohnung, die ihm so viel bedeutete. Auch den Sportwagen pflegt er nicht mehr. Das überzogene Girokonto blendet er aus seinen Gedanken aus, bis seine Hausbank ihn schriftlich um ein Gespräch bittet. Er ist verzweifelt, überlegt hin und her, ruft seinen Kundenberater an und vereinbart einen Termin. Vorher besucht er seine Tante und überredet sie zu einer Investition von dreißigtausend Euro. Angeblich mit der Aussicht auf schnelle und erhebliche Gewinne an der Börse. Er schwärmt von einem baldigen Durchbruch bei der Krebsforschung. Die beteiligten Aktien würden in kurzer Zeit hohe Renditen erzielen. Es fühlt sich falsch an, doch er benötigt das Geld, um sein Konto zu decken, die Mieten für die Wohnung und die Praxis zu bezahlen. Dazu seine medizinischen Fachangestellten zu entlohnen und die monatlichen Kreditraten zu tilgen. Dem Kundenberater kündigt er den Eingang von dreißigtausend Euro an und verlässt zufrieden die Bank.
Voller Hoffnung kehrt er an den Spieltisch zurück, um die Verluste der vergangenen Zeit auszugleichen. Er gibt nicht auf und kämpft bis zum letzten Euro. Mit jedem Spieltag fühlt er sich dem Abgrund näher, doch schafft es nicht, aufzuhören. Er benötigt weiteres Geld, um den anfänglichen Glückstag zu wiederholen. Er nutzt seine Überzeugungskraft als Kinderarzt und tritt bei wohlhabenden Müttern seiner Patienten als Vermittler von lohnenden Aktienpaketen auf, die er mit glaubwürdigen Verträgen schmückt. Es kommt ihm zugute, dass die Sparkassen und Banken kaum Zinsen auf Sparbücher bezahlen und Aktien allgemein beworben werden.
Luisa, die Mutter seiner kleinen Patientin Emilie, die in der Innenstadt eine Boutique unterhält, ist bereit, zusammen mit ihrer Freundin fünftausend Euro bei ihm zu investieren. Zum Vertragsabschluss lädt sie ihn in ihre Wohnung ein und serviert ein Drei-Gänge-Menü, begleitet von einem passenden Wein. Die teure Einrichtung, das vorzügliche Essen beeindrucken ihn. Es ergeben sich weitere Treffen, bei denen er ihr und Emilie kleine Geschenke macht. Sie besuchen zu dritt eine Zirkusvorstellung und altersgerechte Kinofilme.
Er spürt die Zuneigung von Luisa und ihrer Tochter, doch sie kommen in seinem Kindheitstraum nicht vor. Es gelingt ihm nicht, auf die Nächte in der Spielbank zu verzichten. Er fürchtet den Moment, an dem die Investoren ihre Anlagen von ihm zurückfordern.
Seine Tante ist die Erste, die ihn um die Rückzahlung bittet. Sie möchte ihr Erspartes für eine umweltgerechte Modernisierung ihres Eigenheims einsetzen. Er versucht, sie hinzuhalten, argumentiert mit möglichen Verlusten bei der kurzen Zeit. Doch sie pocht auf den Vertrag und droht, seine Eltern einzuschalten. Das kann Dr. Rista nicht zulassen. Er möchte an Vaters Bild von ihm als dem ›Gott in Weiß‹ nicht rütteln. Sein alter Herr darf nicht erfahren, dass er Schwierigkeiten hat, die Tante auszuzahlen. Er sucht fieberhaft nach einer Lösung. Ein günstiger Zufall hilft ihm, er trifft einen verheirateten Mitarbeiter mit einer Geliebten in eindeutiger Situation im Ruhrpark. Er nutzt die Gelegenheit und überredet ihn zu einer Investition von fünfzigtausend Euro. Doch es ist zu spät. Die Tante hat seine Eltern eingeschaltet. Seine Mutter ruft ihn während der Sprechstunde an.
»Vater ist außer sich«, hört er ihre weinerliche Stimme. »Er ist auf dem Weg zu dir.«
Dr. Rista überlegt sich Rechtfertigungen. Die Aktien seien eine gute Geldanlage, sonst hätte er die Tante nicht zu der Investition überredet. Er werde ihr das Ersparte in zwei Wochen auszahlen. Es bestehe kein Problem. Er habe es herausgezögert, um den besten Verkaufspreis zu erzielen. Er hofft, den Vater damit zu beruhigen, doch sein Gewissen quält ihn, als Lügner enttarnt zu werden. Was ist aus ihm geworden? Er nimmt sich vor, nie mehr ein Spielcasino zu betreten, und wartet voller Anspannung. Der Druck im Kopf steigt. Minuten vergehen wie Stunden. Er empfindet die Versagensängste, die ihn in der Kindheit zu Höchstleistungen trieben, doch Vater kommt nicht. Seine Mutter ruft an, spricht von einem Unfall, Hirnblutungen, der Intensivstation. Es ist ein Schock, er fühlt sich schuldig. Nach der Sprechstunde fährt er zum Krankenhaus. Vater ist nicht ansprechbar, er wurde ins künstliche Koma versetzt.
Nach vierzehn Tagen zahlt Dr. Rista die Tante von der Anlage des neuen Investors aus. Wochen später wird sein Vater als Pflegefall zu seiner Mutter entlassen. Sie hadert mit dem Schicksal, wirft es ihm vor. Er erträgt die Schuldgefühle nicht und will mit einem Schlag alles verändern. Noch einmal gewinnen. Der Gedanke treibt ihn in den folgenden Wochen immer wieder an den Roulette-Tisch.
Der untreue Investor aus dem Ruhrpark kündigt den Vertrag über fünfzigtausend Euro. Er habe sich mit seiner Ehefrau ausgesprochen. Sie halte nichts von dem Gewinnstreben an der Börse und bestehe auf der sofortigen Kündigung. Sie plane im Keller des Hauses eine Sauna einzurichten und eine bald fällige Hypothek zumindest zum Teil abzulösen.
Es ist ein Schlag ins Gesicht. Dr. Rista versucht, ihn hinzuhalten, doch der Investor pocht auf die im Vertrag zugesicherte Rückzahlung innerhalb eines Monats. In seiner Selbstüberschätzung hatte Dr. Rista den Passus aufgenommen. In größter Not vertraut er sich Luisa an. Sie ist entsetzt, droht, ihn nie wiedersehen zu wollen. Doch schon am nächsten Abend überzeugt er sie von seinem Plan, den aufdringlichen Anleger für einige Zeit loszuwerden. Für ihre Unterstützung erklärt er sich bereit, gegen seine Spielleidenschaft anzukämpfen.
Luisa vereinbart einen Termin bei der Suchtberatung des Diakonischen Werks. Es wird ihm eine Therapie in der Bernhard-Salzmann-Klinik in Gütersloh empfohlen. Gemeinsam mit Luisa fährt er hin und erhält einen Aufnahmetermin in drei Wochen. Davor renoviert er mit ihr die Praxis. Sie suchen aktuelles Spielzeug für das Wartezimmer aus. Er vertieft sich wie nie in die Krankengeschichten seiner Patienten und verschiebt mehrmals die Therapieaufnahme. Nach ein paar Wochen hält er sie für überflüssig und meint, die Spielsucht ganz allein überwunden zu haben. Die Behandlung in der Bernhard-Salzmann-Klinik sagt er endgültig ab.
Mit Luisa und ihrer Tochter besucht er seine Eltern. Die Mutter ist begeistert, sie notiert sich den Namen der Boutique und verspricht, sie bald dort zu besuchen. Sein Vater gesellt sich für kurze Zeit in seinem Rollstuhl dazu. Vor Luisa betont er, wie stolz ihn der Sohn mit der Berufswahl gemacht hat, die auf seiner konsequenten Erziehung zum Erfolg beruhte.
In der Nacht träumt Dr. Rista vom Roulette-Tisch. Alle um ihn herum sind skeptisch, doch er setzt auf Zero und verfolgt voller Spannung mit Estella an seiner Seite die Kugel im Kessel. Bevor sie einlocht, wacht er auf. Er fühlt sich um das Ergebnis betrogen, möchte nicht aufstehen, nicht zur Praxis fahren. Er fragt sich, ob es den Geburtstag jemals gegeben hat und das Ganze nicht nur ein Traum war. Der Wunsch, der Drang wird stärker, es noch einmal zu versuchen.
Am Donnerstag besucht Luisa mit der Tochter ihre Eltern in Osnabrück. Dr. Rista steckt zweihundert Euro ein, lässt die Kreditkarte in der Wohnung und fährt nach Dortmund. Er möchte Estella begegnen. Ein letztes Mal, um herauszufinden, ob sie noch den gleichen Zauber auf ihn ausübt wie damals. Er redet sich ein, dass sie da ist, da sein muss, doch sie ist es nicht und bei den ersten Einsätzen am Roulette spürt er, dass ihm die Kugel nicht gehorcht. Er verliert das abgezählte Geld in kurzer Zeit und ärgert sich, die Kreditkarte in seiner Wohnung gelassen zu haben.
Am Freitag fährt er direkt nach der Sprechstunde zum Casino. Luisas Anruf ignoriert er und ruft nicht zurück. Er möchte den Verlust vom Vorabend zurückholen. Er hat seine Kreditkarte dabei, setzt sie wieder und wieder ein, um Jetons zu kaufen. Der erhoffte Gewinn stellt sich nicht ein. Desillusioniert will er die Spielbank verlassen.
An der Tür begegnet ihm Estella. Sein Puls schnellt hoch. Sie wirkt reizvoller als in seinen Träumen. Hatte sie ihn damals wirklich in seine Wohnung begleitet? Er kann es nicht glauben und begrüßt sie überstürzt. »Wo warst du? Ich habe dich überall gesucht.«
»Warum hast du nicht angerufen?«, fragt sie zurück. »Ich war die ganze Zeit bei meiner Cousine in Unna.«
Ihre klaren braunen Augen berühren ihn wie damals. Er lädt sie zu einem Glas Champagner ein, doch sie schüttelt den Kopf und wendet sich ab. Er versucht, sie aufzuhalten. »Nur eine Stunde. Du warst unter der Nummer nicht zu erreichen. Ich hatte sie bestimmt falsch notiert. Es musste an dem Morgen alles so schnell gehen.«
Sie deutet auf zwei kräftige Männer in Designer-Anzügen. »Ein anderes Mal ... vielleicht.« Sie entfernt sich mit den Begleitern in Richtung Ausgang. An der Tür dreht sie sich um, winkt und verschwindet. Er hat das Gefühl, in einen Abgrund zu stürzen. Setzt am Spieltisch, was die Kreditkarte ihm ermöglicht, und verliert alles.
Auf dem Rückweg überlegt er, mit dem Sportwagen über die Sauerlandlinie zu jagen und das Steuer loszulassen. Warum ist Estella nicht geblieben? Lag es an ihren Begleitern? Wer waren die Männer? Zwei Freunde? Zwei Freier? Zwei Bewacher? Hat sie seine Verluste beobachtet und ihm etwas vorgespielt? Hatte er damals die falsche Telefonnummer notiert und sie war enttäuscht, dass er nicht anrief? Er erinnert sich, mit welcher Verachtung er immer auf Verlierer herabgesehen hat, und möchte nicht wahrhaben, dass er dazugehört.
Nach einer schlaflosen Nacht voller Selbstzweifel ruft er Luisa an und entschuldigt sich bei ihr. Er habe es am Vortag nicht geschafft, zurückzurufen. Er lädt sie und Emilie am Sonntag zum gemeinsamen Kochen ein und nimmt ihre erfreute Zusage wahr. Er kauft auf dem Markt ein und bereitet alles vor.
Am nächsten Tag ist es soweit. Sie schneiden zusammen Kartoffeln und Gemüse, dünsten den Lachs. Er spielt und albert mit Emilie herum, die ihn als Papa anredet. Nach dem Essen stellt er ihr das Kinderprogramm auf dem Fernseher ein.