Janusz Korczak - Themen seines Lebens -  - E-Book

Janusz Korczak - Themen seines Lebens E-Book

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Beschreibung

Das Denken und Handeln des »Vaters fremder Kinder«

- Ein einzigartiger Verständnisschlüssel für das Werk Janusz Korczaks

- Ausgestattet mit einem umfangreichen Titel-, Namen- und Sachregister

Das umfangreiche publizistische und literarische Werk Janusz Korczaks ist ohne Kenntnis der biografischen Hintergründe, vor denen es entstanden ist, nur schwer zu verstehen. Hier zeichnet Friedhelm Beiner nach, in welchen Lebensabschnitten und unter welchen Eindrücken der Arzt, Literat und Pädagoge seine Themen entwickelte. In der Entfaltung der Lebensthemen Korczaks entsteht so eine einzigartige Werk-Biografie. Sie reicht von den Erinnerungen Korczaks an seine Kinder- und Jugendzeit bis zum Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto, das Korczak am 4. August 1942 abbrechen muss, weil die Nazi-Schergen ihn und seine Kinder in die Todeswaggons nach Treblinka trieben.

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Seitenzahl: 466

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Janusz Korczak und Stefania Wilczyńska Anfang der 30er-Jahre (Bild im Korczak-Archiv, Israel)

Inhaltsverzeichnis

EinführungGeburt und Herkunft: 1878 (79?)1. Erinnerungen an die Kindheit: 1878 – 18902. Gymnasialzeit: 1891 – 18983. Die Studentenzeit: 1898 – 19054. Kinderarzt und Publizist: 1905 – 19125. Gründer einer Kinderrepublik: 1912 – 19136. Ein »poetischer Pädagoge«: 1913 – 19147. Die Zeit des Ersten Weltkrieges: 1914 – 19188. Konturierung des Erziehungsmodells: 1918 – 19209. Allein mit Gott: 1920 – 192110. Erzieher der ErzieherInnen: 1921ff11. Reformator der Kinderliteratur und Kinderpresse: 1923 – 1926ff12. Mahner und Forscher: 1926 – 193313. Zeiten des Zweifelns und der Depression: 1933 – 193814. Zeiten der Reflexion: 1938 – 193915. Kämpfer in Zeiten des Krieges: 1939 – 194216. Autor des Ghetto-Tagebuches: 1942Sach- und TitelregisterNamenregisterBibliographische Angaben zu Janusz Korczak:Copyright

Einführung

Das in den Bänden 1 bis 15 der Sämtlichen Werke veröffentlichte Gesamtwerk des Janusz Korczak alias Henryk Goldszmit1 ist in einem großen Zeitraum entstanden (1892 bis 1942) und hat natürlich enge biographische Bezüge, ohne die es nur schwer zu verstehen und zu würdigen ist.

Im vorliegenden Band wird darum beschrieben, in welchen Lebensabschnitten welche Themen entwickelt wurden und worauf sie im Kern abzielen. Die Darstellung ist kalendarisch geordnet, so dass mit der Entfaltung der Themen seines Lebens zugleich eine Art Werk-Biographie Korczaks entsteht.

In sechzehn Kapiteln, die sechzehn Lebensabschnitten mit je speziellen Arbeitsschwerpunkten gewidmet sind, werden die Breite und Tiefe des Korczak’schen Denkens und Handelns nachgezeichnet:

Angefangen von Erinnerungen an die Kindheits- und Jugendjahre, über die Werkanfänge in der Studentenzeit, hin zur Tätigkeit als Kinderarzt und Publizist; über den Wechsel zur Pädagogik, hin zur Gründung einer Kinderrepublik; vom Einsatz als Lazarett-Arzt im Ersten Weltkrieg bis zu Zeiten, in denen er sich »Allein mit Gott« fühlte; von der Konturierung eines eigenen Erziehungsmodells bis hin zur Reformierung der Kinderliteratur; über Zeiten des öffentlichen Mahnens und Forschens, des Zweifelns, der Depression und des Reflektierens über Einsamkeit und Heiterkeit; bis er schließlich zum Kämpfer für das Überleben der Kinder im Warschauer Ghetto und zum Verfasser des letzten Tagebuchs wird, das er am 4. August 1942 jäh abbrechen muss, weil die Nazi-Schergen ihn und seine Kinder in die Todeswaggons nach Treblinka treiben.

Die Werkbiographie enthält – in enger Anlehnung an die Bände 1 – 15 und authentische Dokumente und Zeitzeugenberichte – eine biographisch gegliederte und wissenschaftlich bearbeitete Zusammenfassung des gesellschaftskritischen und reformpädagogischen Gesamtwerks Korczaks, das er in 24 Büchern und über 1000 Fachartikeln in einem Zeitraum von 50 Jahren verfasste und zum größten Teil zu seinen Lebzeiten publizierte. Der unveröffentlichte Nachlass ist in das Gesamtwerk integriert und wird in der Werkbiographie mit ausgewertet.

Zur Erleichterung des Zugriffs auf einzelne Titel, Begriffe oder Lebensereignisse enthält der Band ein ausführliches Register.

Mit der vorliegenden Veröffentlichung wird die vollständige Hinterlassenschaft Janusz Korczaks, eines der größten Pädagogen und Humanisten des zwanzigsten Jahrhunderts, inhaltlich zusammengefasst, biographisch strukturiert und fachwissenschaftlich kommentiert.

Im Mai 2010

Friedhelm Beiner

Geburt und Herkunft: 1878 (79?)

Aufgrund der fast vollständigen Vernichtung des polnischen Judentums und der Niederbrennung und Zerstörung von Korczaks Geburtsstadt Warschau durch die Nazis gibt es keine Dokumente über die Geburt und Namensgebung des Henryk Goldszmit; es gibt lediglich einige Selbstzeugnisse in seinen Schriften, die den Anfang des Lebensweges des späteren Arztes, Erziehers und Poeten ein wenig erhellen: So findet sich in seinem letzten Typoskript, dem Pamiętnik, was mit »Tage- oder Erinnerungsbuch«2 übersetzt werden kann, unter dem Datum 21. Juli 1942 die Notiz: »Morgen werde ich dreiundsechzig oder vierundsechzig. Mein Vater ließ für mich mehrere Jahre keine Geburtsurkunde ausstellen.«

Korczaks Geburtstag ist demnach der 22. Juli des Jahres 1878 oder 1879.

Und zu seinem Vornamen erläutert er im selben Text: »Ich bin nach meinem Großvater benannt, und Großvater hieß mit Vornamen Hersz (Hirsz).

Mein Vater hatte das Recht, mich Henryk3 zu nennen, denn selbst hatte er den Namen Józef 4 erhalten.«5

Und dank der Recherchen der Warschauer Korczak-Forscherin Maria Falkowska6 wissen wir auch etwas über seine Herkunft: Henryks Vater, Józef Goldszmit (1846 – 1896), ist ein angesehener, gut verdienender Rechtsanwalt. Mit einer Arbeit zum Scheidungsrecht, einigen literarischen Texten sowie Appellen an polnische Juden trat er öffentlich in Erscheinung. Obwohl selbst als Mitglied der jüdischen Religionsgemeinschaft aufgewachsen, fördert er als Anhänger der Aufklärungsbewegung »Haskala« die Integration der jüdischen Bevölkerung in die polnische Kultur und Gesellschaft; so plädierte er beispielsweise an die orthodoxen Juden, ihre Kinder verstärkt in weltliche Bildungsinstitutionen (Kindergärten u. ä.) zu schicken.7

Henryks Mutter, Cecylia Goldszmit (1857 – 1920), ist eine gebürtige Gębicka. Sie steht dem Familienhaushalt vor, in welchem es eine Köchin, eine Putzfrau und ein Kindermädchen gibt.

Henryk hat eine vier Jahre ältere Schwester; sie heißt Anna.

Henryks Großvater, Hersz Goldszmit (1804 – 1872), war Chirurg. Er und seine Frau Chana Goldszmit (1806 – 1867) lebten als sozialpolitisch engagierte Bürger in Hrubieszów (unweit Lublin). Während ihr ältester Sohn Ludwik 18jährig zum Christentum konvertierte, setzten ihre beiden anderen Söhne, Jakub und Józef (Henryks Vater), die Bestrebungen ihrer Eltern für eine Verständigung zwischen dem christlichen und dem jüdischen Teil der polnischen Gesellschaft fort.

Urgroßvater Goldszmit war Glaser.

Henryks Großvater, Józef Adolf Gębicki (1826 – 1877), war erfolgreicher und angesehener Kaufmann in Kalisz. Seine Frau Emilia (Mina) Gębicka (geb. 1830) lebt seit dem Tod ihres Mannes in der Familie ihrer Tochter Cecylia, Henryks Mutter. Sie und ihr Enkel Henryk haben ein herzliches Verhältnis miteinander.

Urgroßvater Gębicki promovierte 1808 an der Erfurter medizinischen Fakultät.

1. Erinnerungen an die Kindheit: 1878 – 1890

1.1 Vorschulzeit (1878 – 1885)

In einem Glückwunschbrief des erwachsenen Korczaks an einen neuen Erdenbürger lesen wir: »So viele Papiere sind mir abhanden gekommen, aber den Brief eines Rabbiners, der mich gesegnet hat, als ich geboren wurde, den habe ich noch.«8 Und in dem schon erwähnten Pamiętnik finden wir seine Erinnerungen an die Kindheit:

»Nicht umsonst hat mich Vater in meiner Kindheit eine Schlafmütze und einen Trottel genannt und in stürmischen Augenblicken sogar einen Esel und Idioten. Allein die Großmutter hat an meinen Stern geglaubt. Sonst aber – war ich ein Faulpelz, eine Heulsuse, ein Tölpel … und zu nichts zu gebrauchen.… Großmutter gab mir Rosinen und sagte: ›Du Philosoph‹. Angeblich gestand ich dem Großmütterchen schon damals in einem vertrauten Gespräch meinen kühnen Plan zur Umgestaltung der Welt.… Ich war damals fünf und das Problem beschämend schwer: Was tun, damit es keine schmutzigen, zerlumpten und hungrigen Kinder mehr gibt, mit denen ich nicht spielen darf, im Hof, wo unterm Kastanienbaum, in einer blechernen Bonbonbüchse, in Watte eingepackt, mein erster mir nahe stehender und geliebter Toter beerdigt liegt, wenn auch nur ein Kanarienvogel. Sein Tod warf die geheimnisvolle Frage nach der Konfession auf. Ich wollte ein Kreuz auf sein Grab stellen. Das Dienstmädchen sagte, nein, das sei ein Vogel, etwas sehr viel Niedrigeres als ein Mensch. Sogar zu weinen sei Sünde. Soweit das Dienstmädchen. Schlimmer freilich war, dass der Sohn des Hausmeisters befand, der Kanarienvogel sei Jude. Und ich. Ich sei auch Jude, er aber sei Pole, Katholik. Er im Paradies, ich hingegen würde, sofern ich keine unanständigen Ausdrücke gebrauchte und daheim Zucker stähle, den ich ihm gehorsam brächte – nach meinem Tod in etwas kommen, das zwar nicht die Hölle sei, aber es sei dort finster. Und ich hatte Angst in einem dunklen Zimmer. Der Tod. – Der Jude. – Die Hölle. Das schwarze jüdische Paradies. – Übergenug, um mir Gedanken zu machen.«9

Wie andere über ihn denken, ergibt sich aus Unterhaltungen der Erwachsenen: »Ich war ein Kind, das ›sich stundenlang mit sich allein beschäftigen kann‹, bei dem ›man nicht merkt, dass ein Kind im Hause ist‹.

Klötze (Bausteinchen) bekam ich mit sechs Jahren; ich hörte auf, damit zu spielen, als ich vierzehn war.

›Schämst du dich nicht? So ein großer Junge. – Nimm dir doch was vor. – Lies. – Bauklötze – ausgerechnet …‹

Meine Mutter pflegte zu sagen: ›Dieser Junge hat keinen Ehrgeiz. Ihm ist egal, was er isst, wie er sich kleidet, ob er mit einem Kind aus seinen Kreisen spielt oder mit den Hausmeisterkindern. Er schämt sich nicht, mit Kleinen zu spielen.‹

Ich befragte meine Bausteine, andere Kinder, Erwachsene, was sie seien. Ich machte mein Spielzeug nicht kaputt, es interessierte mich nicht, warum die Puppe im Liegen die Augen geschlossen hatte. Nicht der Mechanismus, sondern das Wesen der Sache – die Sache an sich.«10

Das Verhältnis zu seinem Vater beschreibt der erwachsene Korczak rückblickend sehr lebendig: »Zu Recht vertraute Mama die Kinder der Obhut des Vaters nur ungern an, und zu Recht begrüßten wir – meine Schwester und ich – mit schauderndem Entzücken und stürmischer Freude selbst die übermütigsten, anstrengendsten, die unausgegorensten und in ihren Folgen beklagenswertesten ›Überraschungen‹, die Papa, dieser nicht sonderlich solide Pädagoge, mit einer überaus eigentümlichen Intuition für uns erfand, und wir vergaßen sie nie. Er zog uns an den Ohren, dass es schmerzte, trotz strengster Kritik von Seiten der Mama und der Großmama. ›Wenn das Kind taub wird, hast du es dir zuzuschreiben.‹ …

Ich erinnere mich, dass ich meinen Schal verlor. Und ich erinnere mich, dass Vater, als ich noch am dritten Tag im Bett lag, auf mich zukam und Mama ihn streng zurechtwies: ›Du hast kalte Hände. Geh nicht zu ihm.‹ Vater verließ fügsam das Zimmer und warf mir im Hinausgehen einen verschwörerischen Blick zu. Ich antwortete ihm mit einem verstohlen schalkhaften Blick, der etwa besagte: ›Alles in Ordnung.‹ Ich glaube, wir fühlten beide, dass letztlich nicht sie – Mama, Großmama, die Köchin, meine Schwester, das Dienstmädchen und Fräulein Maria (für die Kinder) – diesen ganzen Weiberzwinger regierten, sondern wir, die Männer. ›Wir sind die Herren im Haus. Wir geben nach um des lieben Friedens willen.‹«11

Zusammen mit seinem Vater macht Henryk aber auch beängstigende Erfahrungen, beispielsweise das Kennenlernen des Teufels in einem Kindertheater: »Im Saal war es unerträglich heiß. Die Vorbereitungen zogen sich schier unendlich in die Länge. Die Geräusche hinter dem Vorhang hielten uns in einer Anspannung, die jedes den Nerven erträgliche Maß überstieg. Die Lampen schwelten. Die Kinder drängelten. ›Rutsch weiter!‹ ›Nimm deine Hand da weg!‹ ›Tu dein Bein zur Seite.‹ ›Fläz dich nicht auf mich.‹ Klingeln. Eine Ewigkeit lang. Klingeln. Solche Gefühle hat ein Pilot unter Beschuss, der selbst alles schon verschossen, nichts mehr zu seiner Verteidigung hat, aber dem die wichtigste Aufgabe noch bevorsteht. – Es gibt kein Zurück, und er hat keinen Wunsch, keine Lust, keinen Gedanken mehr an eine Umkehr. Ich glaube nicht, dass der Vergleich fehl am Platz ist. Es begann. Etwas Einmaliges, Einzigartiges, Endgültiges. An die Menschen erinnere ich mich nicht. Ich weiß nicht einmal mehr, ob der Teufel rot war oder schwarz. Wohl eher schwarz, er hatte einen Schwanz und Hörner. Keine Puppe. Ein leibhaftiger. Kein verkleidetes Kind. Ein verkleidetes Kind? An solcher Art Ammenmärchen können nur die Erwachsenen glauben. Der König Herodes in eigener Person sagt ja zu ihm: ›Satan!‹ Und so ein Gelächter und solche Sprünge und so ein echter Schwanz und so ein ›Nein‹ und so eine Ofengabel und so ein ›Komm mit mir‹ habe ich nie mehr gesehen, nie mehr gehört, und ein Ahnen, wenn es nun wahr ist, dass es die Hölle wirklich gibt.«12

Trotz aller problematischen und aufregenden Erlebnisse in der Kindheit erfährt der kleine Henryk aber in seiner Familie doch auch viel Zuwendung und Selbstbestätigung, so dass er sein erstes Lebensjahrsiebt später sehr positiv resümieren kann: »Wenn ich mein Leben zurückverfolge, dann gab mir das siebte Jahr das Gefühl für den eigenen Wert. Ich bin. Ich habe ein Gewicht. Eine Bedeutung. Man sieht mich. Ich kann. Ich werde.«13

1.2 Grundschulzeit (1885 – 1890)

Mit 7 oder 8 Jahren beginnt für Henryk die Schulzeit, über die es ebenfalls keine Dokumente gibt, und noch weniger Selbstzeugnisse als über die Vorschulzeit. Mit der Grundschule wird er aber lebenslang keine guten Erinnerungen verbinden: »In der Freta-Straße gab es noch die Schule von Szmurlo. – Dort bekam man die Rute.«14

»Als ich acht Jahre alt war, da ging ich in diese Schule. Das war meine erste Elementarschule, sie hieß – vorbereitende Schule. Ich kann mich daran erinnern, dass ein Junge damals Prügel gekriegt hat. Der Kaligraphielehrer schlug ihn. Ich weiß nur nicht, ob der Lehrer Koch hieß, und der Schüler Nowacki, oder der Schüler Koch, und der Lehrer Nowacki. Ich hatte damals grässliche Angst. Ich hatte so das Gefühl, dass, wenn man mit Nowacki fertig ist, könnte man mich fassen. Und ich schämte mich furchtbar, weil man ihn nackt schlug. Alles hatte man ihm aufgeknöpft. Und vor der ganzen Klasse, anstatt der Kaligraphie. …«15

»Überhaupt waren zu meiner Zeit die Schulen nicht gut. Streng ging es dort zu und langweilig. Nichts haben sie erlaubt. So fremd war es dort, kalt und stickig; wenn ich später davon träumte, wachte ich immer schweißgebadet auf und immer glücklich, weil es ein Traum war, nicht Wirklichkeit.«16

Das einzige Foto aus Henryk Goldszmits Grundschulzeit wird der Kinderbuchautor Janusz Korczak später in seinem berühmten Kinderbuch König Maciuś der Erste17 veröffentlichen:

2. Gymnasialzeit: 1891 – 1898

Wahrscheinlich ab dem Jahr 1891 besucht Henryk das humanistische Gymnasium im Warschauer Stadtteil Praga.18 Mit Ausnahme der Religionsstunden müssen auf den Gymnasien Warschaus alle Fächer auf Russisch unterrichtet werden.19 Henryk erfährt nun am eigenen Leibe, was schon Dostojewski und Tschechow bemerkt hatten, nämlich, dass die russische Schule »auf einer seltenen Vereinigung von Unbildung, geistloser Stoffanhäufung und Drill« beruht.20

In seiner Gymnasialzeit führt Henryk Goldszmit sein erstes Tagebuch, das er als Erwachsener unter dem Titel Beichte eines Schmetterlings veröffentlichen wird. Dank dieser Beichte bleibt uns das Erleben des Jugendlichen Henryk nicht ganz verborgen.

2.1 Beichte eines Schmetterlings (1892ff)

Die Aufzeichnungen beginnen am 1. April (wahrscheinlich im Jahr 1892): »Ich habe Zosia wiedergesehen. Ich liebe sie aufs Neue. Diese unglückliche Liebe und der Tod der teuren Großmama haben bewirkt, dass ich nicht weiß, was mit mir geschieht. Ich leide, aber ich lästere nicht.«21

Frustrationen, aufwühlende Erlebnisse und jugendliche Träume vertraut Henryk ab dem 1. April diesem Tagebuch an.

Zosia, zu der er eine »reine und jungfräuliche Liebe« empfindet, erscheint ihm allerdings schon bald als »etwas Unerreichbares, Imaginäres«.22 Später wird er ihr in seinem Buch Kajtuś, der Zaubere, ein Denkmal setzen.23 Vorerst verlagert er seine Interessen und setzt sich eine ehrgeizige Lebensaufgabe: »Die Natur erforschen, den Menschen nützlich sein, den Landsleuten zur Ehre gereichen – das ist das erhabene Lebensziel. So oder überhaupt nicht leben.« Folgerichtig konzentriert er sich auf den Erwerb von Wissen und auf weitere Reflexionen über seinen Werdegang. Er wünscht sich, Unsterbliches zu vollbringen, fühlt sich mit seinem Wunsch jedoch von niemandem verstanden. Begeistert von den polnischen Klassikern der Literatur träumt er davon, selbst ein erfolgreicher Schriftsteller zu sein: »Erst in der letzten Zeit ist in mir der Geist des Strebens nach einer höheren Idee, schöneren Neigungen erwacht. Ich bin jetzt 14. Bin ein Mensch geworden – weiß, denke. So ist es: cogito ergo sum. Ach, wie schwer war das Leben genialer Menschen; Menschen, die nicht verstanden wurden, deren Verstand ihrer Zeit weit vorauseilte. Ich fühle mich von der Vorsehung inspiriert, etwas Großes, Unsterbliches zu vollbringen. Wenn der Tod nicht meinen Lebensfaden durchschneidet, werde ich berühmt. Werde ich es!?«24

Im Pamiętnik erinnert er sich, dass die Gedanken des Vierzehnjährigen in verschiedene Richtungen gingen: »Erstes Nachdenken über erzieherische Reformen. – Ich lese. – Erstes Suchen und Sehnen. – Mal Reisen und stürmische Abenteuer, ein andermal ein zurückgezogenes Familienleben, die Freundschaft (Liebe) mit Stach. Der oberste Traum unter vielen: er Priester, ich Arzt in jenem kleinen Städtchen. Ich denke über Liebe nach, bisher habe ich nur gefühlt, geliebt.« Jetzt aber geht es tiefer und weiter: »Die interessante Welt ist nicht mehr außerhalb meiner. Jetzt ist sie in mir. – Ich bin nicht dazu da, geliebt und bewundert zu werden, sondern um zu handeln und zu lieben. Es ist nicht Pflicht meiner Umgebung, mir zu helfen, sondern ich habe die Pflicht, mich um die Welt, um den Menschen zu kümmern.«25

»Als ich fünfzehn Jahre alt war, verfiel ich einer wahnsinnigen Lesewut. Die Welt verschwand vor meinen Augen, nur das Buch existierte … .«26

Auch als Gedichtschreiber versucht sich der jugendliche Henryk – allerdings mit mäßigem Erfolg, wie er sich selbst später erinnert:

2.2 Mein letztes Gedicht (1893)

Vierzehn- oder fünfzehnjährig sucht er Aleksander Świętochowski, einen bekannten polnischen Positivisten und Redakteur der Zeitschrift Prawda, auf und trägt ihm sein »letztes Gedicht« vor. Fünfunddreißig Jahre später erinnert sich Janusz an den Auftritt: »Das Gedicht war lang und endete so:

Schon will ich nicht mehr wissen, träumen oder glauben. Erspart mir neue Enttäuschung, neue Prüfung, lasst mich sterben, lasst mich nicht mehr leben, statt des Lebens lasst das Grab mich finden.

Er (Świętochowski) lächelte betrübt. ›Nun, wenn du unbedingt willst, kann man dich ja lassen.‹ … Ich hörte auf, Gedichte zu schreiben. Ich bin dankbar für die wohlwollende Kritik.«27

2.3 »Die Welt reformieren heißt …« (1894/95)

Statt ans Gedichteschreiben denkt der Sechszehnjährige im Tagebuch (Beichte eines Schmetterlings) über eine notwendige Verbesserung der Welt und der Erziehung nach. Bekannte Reformer der Erziehung sind für ihn frühe Identifikationsmodelle: »Spencer, Pestalozzi, Fröbel usw. Einst wird auch mein Name in dieser Reihe stehen.«28 Seinen Mitschülern pädagogisch unter die Arme zu greifen macht ihm Freude und verweist ihn auf eine mögliche Berufung. Obwohl seine Familie auf das Geld angewiesen ist (es wird neuerdings für teure Klinikaufenthalte seines Vaters benötigt), hat Henryk Skrupel, sich seinen Nachhilfeunterricht bezahlen zu lassen: Am Ende der Sommerferien von 1894 notiert er: »In Warschau erwarten mich meine Nachhilfestunden. Die ideale Frau G., und wie sie dennoch zu feilschen versteht. Wie widerwärtig für mich. Ist es nicht eine Schande, Geld zu nehmen für die Erfüllung der erhabenen Berufung, die darin besteht, den Geist zu fördern, das Denken zu entwickeln – ich wiederhole – darf man für alleinige Pflichterfüllung Geld nehmen? Die kapitalistische Gesellschaftsordnung muss abgeschafft werden, ich weiß nur nicht wie.«29

Wie zum Beleg für seine Berufung bringt er 1895 seine erste pädagogische Erkenntnis zu Papier: »Die Welt reformieren heißt, die Erziehung reformieren …«30

2.4 Der Gordische Knoten (1896)

In der satirischen Wochenschrift Kolce (Stacheln) tritt er 1896 mit der Humoreske Der Gordische Knoten an die Öffentlichkeit und unterzeichnet den Text mit seinem ersten Kryptonym »Hen«. In der Redaktion dieser Zeitschrift wird sein Talent entdeckt und gefördert werden. Schon der erste Beitrag thematisiert Erziehungsfragen:

»Bleich, zitternd, mit zerzausten Haaren ging ich durch die Welt. Zweifel und schreckliche Vorahnungen – mir blutete das Herz. Finde ich irgendwann eine Antwort auf die Frage, die mir das Hirn zermartert? … Plötzlich erblicke ich ihn. Ein grauhaariger Greis mit einem runzeligen Gesicht. Auf seinem Antlitz zeichnet sich majestätischer Ernst ab, er ist erleuchtet von der starken Kraft der Ausgeglichenheit, der Ergebenheit in sein Schicksal, der Versöhnung mit seinem Los. Ihn frage ich; möge er mir Antwort geben: ›Meister!‹, rief ich und vertrat ihm den Weg, ›sag mir, sage, ob eine Zeit kommen wird, wo die Frauen ihre Gedanken an Kleider, Moden und Spaziergänge verwerfen, wo die Väter ihre Fahrräder und ihre ›grünen Tische‹ in eine Ecke feuern und die Eltern die Erziehung ihrer Kinder in Angriff nehmen werden? …‹<

Der Mond trat hinter den Wolken hervor und mir trat der kalte Schweiß auf die Stirn. Er aber erhob beide Hände zum Himmel und nach einer langen Weile des Schweigens begann er so: ›Menschenskind! Junger Mann! Ich lebe schon sehr viele Jahre auf dieser Welt und diese Augen, die bald der Schatten des Todes in Nebel hüllen wird – haben schon viel gesehen; und sie haben Wunder gesehen, wahre Wunder. – Dieses Jahrhundert ist das Jahrhundert der Träume. Vor meinen Augen wurde das Olivenöl durch Petroleum ersetzt, das Petroleum durch Gas, das Gas wurde mit dem Auernetz umhüllt, heute ist die Elektrizität beherrschend. … Das XIX. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Wunder. Denk nur, wie viele Erfindungen uns in den letzten Jahren begeistert haben, wie viele bedeutende Menschen uns mit ihrem Glanz geblendet haben … Ja, wir dürfen glauben, dass der lang ersehnte Augenblick naht, wo die Mütter anstelle der ›allerneuesten Romane‹ irgendein pädagogisches Werk zur Hand nehmen, der Moment, wo die pädagogischen Bücher nicht mehr auf den Regalen der Buchhandlungen vermodern …‹<

›Meister, du hast den Gordischen Knoten durchschlagen, du hast das Problem gelöst, das wie ein Geier meine Eingeweide fraß. Aber sag, wann wird dieser gesegnete Augenblick eintreten?‹ ›Er wird kommen‹, gab er zur Antwort und hob die Hände zum Himmel. …

Hätte ich vor einem Jahrhundert gelebt, so hätte ich meine Erzählung mit den Worten beendet: Der Alte verschwand. Oder: Er fiel auf die feuchte Erde, und als ich seine Hand berührte – war sie kalt. Er war tot. Aber ich mache einen anderen Schluss: Nach einer Weile trat der Alte auf mich zu und sagte: ›Ich bekomme drei Rubel.‹«31

2.5 Tod des Vaters (1896)

Am 25. April 1896 stirbt Henryks Vater nach mehreren längeren Aufenthalten in einer Anstalt für Geisteskranke.

Henryks Familie trauert um den Ehemann und Vater Józef Goldszmit und beerdigt ihn auf dem alten jüdischen Friedhof an der Warschauer Okopowa-Straße. Sein Grab ist dort erhalten geblieben. Auf dem Grabstein steht:

Józef Goldszmit,Vereidigter Advokat;er durchlebte 50 Jahre, starb am 26. April 1896.Friede seiner Seele.Dem geliebten Ehemann und Vater.Die Ehefrau und die Kinder.

Die Krankenhausaufenthalte Józef Goldszmits haben allmählich alle materiellen Ressourcen der Familie verschlungen. Ohne das Einkommen eines Geldverdieners steht die Familie nun vor dem finanziellen Ruin. Die wertvollen Möbel und Gemälde müssen im Pfandhaus veräußert werden, die Mutter bemüht sich um eine Beschäftigung und Henryk verstärkt seinen Einsatz als Nachhilfelehrer, um den Unterhalt der Familie zu sichern.

In Korczaks Schriften erfährt man allerdings kaum etwas von seinen damaligen Entbehrungen. Interpretiert man jedoch das Kapitel »Reich – arm« in seinem späteren Buch Lebensregeln autobiographisch, so erfährt man: »Ich war reich, als ich noch klein war, später war ich arm, ich kenne also das eine wie das andere. Ich weiß, dass man so oder so anständig und gut, aber auch reich und sehr unglücklich sein kann.«32

2.6 Frühling (1897)

Nach dem Tod des Vaters intensiviert der Gymnasiast neben der Nachhilfe seine Schreibtätigkeit und veröffentlicht bereits im Jahr 1897 zwanzig Feuilleton-Artikel in der Zeitschrift Kolce, für die der Text Frühling stellvertretend stehen mag:

»Ein kleiner Spatz flatterte von einem Kamin, drehte sich hierhin und dorthin und landete im Sächsischen Garten. Die Bäume waren mit frischen Blättern bedeckt, die Sonne schien warm. Dem Spätzchen war so wohl, so wohl. Es atmete tief ein, senkte das Köpfchen und rief aus: ›Frühling!‹ Das Hündchen entwischte aus dem Zimmer, schnupperte entlang der Hofmauer, bellte den Hauswirt, der vorbeiging, an, wedelte mit dem Schwanz und rief aus: ›Frühling!‹ Die Fliege schaute hinaus auf Gottes Welt. Sie rieb die verschlafenen Augen, reinigte die verstaubten Flügel und flog durchs offene Fenster auf die Straße. Dort war es warm und lustig. Die Fliege lächelte, setzte sich auf irgendein Dach, hob ihre beiden Vorderbeinchen und rief freudig aus: ›Frühling!‹ Aus seiner Wohnung kam die Krone der Schöpfung – der Mensch; er dachte an die Mieterhöhung, überlegte sich, ob er im selben Loch bleiben oder in ein anderes umziehen sollte. Und plötzlich hüpften ihm lustige Sonnenstrahlen direkt auf seine Nase und von der Nase in die Augen. Die Krone der Schöpfung, der Mensch, kniff die Augen zusammen, blickte nach der Sonne, seufzte betrübt und sagte: ›Jetzt fängt wieder dieser Kampf um Kleider und Hüte an!‹«33

2.7 Wohin? (1898)

Nach seinen frühen Publikationserfolgen beteiligt sich der Gymnasiast an einem im Namen von Jan Ignacy Paderewski ausgeschrieben literarischen Wettbewerb und reicht ein Theaterstück mit vier Akten ein mit dem Titel: Wohin? (Którędy?)

Als ihm beim Abschluss der Arbeit einfällt, dass ihm noch ein Pseudonym für die Autorenschaft fehlt, greift er zu seiner aktuellen Lektüre, der Geschichte von Janasz Korczak und der schönen Schwertfegerstochter vom polnischen Schriftstellers Kraszewski und unterzeichnet mit dem Namen des Titelhelden.

In der Liste der 1899 beim Wettbewerb ausgezeichneten Arbeiten wird dann auch sein Stück erscheinen, allerdings – bedingt durch einen Druckfehler – nicht unter dem Namen Janasz, sondern Janusz Korczak.

Das Stück ist nicht erhalten geblieben, aus der Beschreibung der Jury wissen wir aber, dass es sich um eine literarische Bearbeitung des Verlustes seines Vaters gehandelt haben dürfte. Die Tragödie des geisteskranken Vaters geht nämlich nicht spurlos am jungen Henryk vorüber, und sie wird ihn zeitlebens belasten. Noch als Vierundsechzigjähriger gesteht er: »Ich fürchtete mich panisch vor der Irrenanstalt, in die mein Vater mehrmals eingeliefert worden war. Also ich – der Sohn eines Umnachteten. Also erb – lich belastet. Jahrzehnte ist das her, und bis heute quält mich der Gedanke zeitweise.«34 Aber die literarische Beschäftigung mit der Krankheit seines Vaters hilft dem Halbwaisen, seinen Weg weiterzugehen. Auch spätere Schicksalsschläge wie den Tod seiner Mutter wird er literarisch bearbeiten, um darüber hinwegzukommen. Auch sein Theaterstück Senat der Verrückten – 1931 uraufgeführt – spielt in einer Anstalt für Geisteskranke und thematisiert depressive Zustände der Gesellschaft.35

3. Die Studentenzeit: 1898 – 1905

Nach seinem Abitur beginnt Henryk Goldszmit im Studienjahr 1898/99 – trotz seiner schriftstellerischen Ambitionen – ein Studium der Medizin.

Als Begründung für diese Studienwahl erklärte der Studiosus seinem Schul- und Jugendfreund Leon Rygier (1875 – 1948), mit dem er seine Leidenschaft fürs Schreiben teilt: » … der Schriftsteller soll, meiner Ansicht nach, den Ehrgeiz haben, die menschliche Seele nicht nur zu kennen, sondern sie auch zu heilen. Er sollte bestrebt sein, ein Erzieher zu werden, wie beispielsweise unser Prus. Ich wiederhole es, um Erzieher zu werden, muss man Diagnostiker sein. Die Medizin hat hier eine Menge zu sagen.«36 Auch in seinem Jugendtagebuch hatte er schon der Medizin den Vorrang vor der Literatur eingeräumt: »Ohnehin werde ich nicht Literat, sondern Arzt. Literatur – das ist das Wort, und die Medizin – das sind Taten.«37

In der unter russischer Verwaltung stehenden »Kaiserlichen Universität zu Warschau« schreibt er sich als Medizin-Student ein. Die Warschauer Hochschule ist keine Elite-Universität, worauf Korczaks Biographen schon früh hingewiesen haben: »Für den Werdegang des künftigen Pädagogen konnte die ›offizielle‹ Universität Warschau kaum Anregungen bieten. Die Professorenschaft dieser Universität war vielleicht in fachlicher Hinsicht tüchtig, in allen anderen Rücksichten jedoch – und vornehmlich in der Weite des geistigen Horizontes – mit Sicherheit die ärmste des Russischen Reiches. Übertriebenes Reglement und Schikanen prägten sie kaum weniger als das russische Gymnasium, und überdies stellte sie einen Verbannungsort für missliebige Professoren dar, die sich wegen ihrer geringen Qualifikation oder auch wegen politischer Unzuverlässigkeit mit der ihnen fremden Welt Warschaus abzufinden hatten und dort ihrerseits streng überwacht wurden. Immerhin blühte während der Studienzeit Korczaks in Warschau noch eine andere Hochschule, die illegale und konspirative ›Fliegende Universität‹, an der die bedeutendsten Gelehrten des damaligen Königreichs Polen lehrten, immer auf der Flucht vor der allmächtigen Gendarmerie, die alle Privatwohnungen nach ›heimlichem Unterricht‹ zu durchschnüffeln das Recht hatte. An dieser ›Fliegenden Universität‹ hatte auch die spätere Nobelpreisträgerin Maria Curie-Skłodowska ein Jahrzehnt zuvor entscheidende Impulse empfangen und gegeben.«38

An der Fliegenden Universität halten zu Henryk Goldszmits Zeiten »Gelehrte wie der bedeutendste polnische Soziologe Ludwik Krzywicki, der bekannte Geograph und Publizist Wacław Nałkowski, der Pädagoge Jan Władysław Dawid, der Philosoph Mahrburg, der Orientalist Radlinski und viele andere ihre Vorlesungen«.39 »Ohne wissenschaftliche Arbeitsstätte mit modernen Forschungsmitteln, ohne deren technische Bequemlichkeiten und deren Wechselbeziehungen von Versuchsreihen – dabei jedoch stark engagiert in aktuellen sozialen Fragen – tendieren sie alle zur Philosophie hin.«40 Ihre Fragen stellen sie auf einem weit gespannten Problemhintergrund, und sie bemühen sich um übergreifende Deutungen von Grenzbezirken der einzelnen Fachdisziplinen.41

Korczak studiert Anatomie und Bakteriologie bei Professor Edward Przewóski, Biologie bei Professor Nikolaj Nasonow und Psychatrie bei Professor Aleksander Szczerbakow.42 In seinem Gesuch, dem später zum Zwecke einer »Bewerbung« verfassten kurzen Lebenslauf, wird er einiges zu den Ergebnissen seiner akademischen Qualifizierung festhalten: »Ich halte mich für einen Eingeweihten auf den Gebieten der Medizin, der Erziehung, der Eugenik und der Politik.«43 Wobei das »Eingeweiht-Werden« in die Medizin und die Eugenik an der regulären Universität stattfindet, die Einführung in die Erziehung und Politik eher an der Fliegenden Universität. Darüber hinaus hebt Korczak im Gesuch seine Qualifizierung in der »Sozialarbeit« hervor: »Zur Sozialarbeit haben mich erzogen: Nałkowski, Straszewicz, Dawid, Prus … .«44 Des Weiteren betont er die Statistik: »Bücher über Statistik vertieften mein Verständnis des medizinischen Fachwissens. – Die Statistik vermittelt die Disziplin des logischen Denkens und der objektiven Einschätzung eines Faktums.«45 Und Statistik vertritt der schon erwähnte Soziologe Krzywicki, der – wie der Polenkenner Hans Roos herausstellt – als »erster das Kapital von Marx und einige Werke von Friedrich Engels ins Polnische übersetzte und dank seiner eigenen reichen wissenschaftlichen Produktion geradezu als ›Nestor des polnischen Sozialismus‹ gelten kann … Von ihm lernte Korczak neben den theoretischen Grundfragen eines stets humanen Sozialismus die Methoden der empirischen Soziologie und der Statistik, die beide bis zuletzt konstitutive Elemente seiner Pädagogik darstellten.«46

Sicherlich wirken sich insbesondere die Atmosphäre und der Geist der Fliegenden Universität auf Korczaks Denken aus. Von hier geht eine nonkonformistische Stimmung aus, die in der Idee der sozialen Verantwortung mündet. Zeugnisse der Epoche und auch spätere biographische Studien betonen die befruchtende Rolle der Fliegenden Universität auf die damaligen Akademiker und ihre zu sozialen Aktivitäten ermunternde Funktion. 47

Zu mehreren Hörern und Dozenten der Fliegenden Universität entwickelt der Student Henryk enge Beziehungen. So freundet er sich etwa mit dem Ethnographen und Sozialkritiker Ludwik Stanisław Liciński an, dem späteren Autor der Novelle Aus dem Tagebuch eines Herumtreibers.48 Mit ihm unternimmt er Ausflüge in die Randgebiete Warschaus und trifft dabei auf Armut, Hunger und Kriminalität bei den Bewohnern der Elendsviertel in den Stadtteilen Powiśle, Stare Miasto und Ochota. Hier erfahren sie unmittelbar und ungeschminkt, unter welchen materiellen und moralischen Bedingungen unterprivilegierte Kinder in Polen aufwachsen müssen. Gemeinsam suchen sie nach Perspektiven für soziale Veränderungen und werden dabei sicher auch inspiriert durch sozial eingestellte literarische Vorbilder. 49 So entschließt sich Korczak schon bald, die Wirkungsstätten des Sozialpädagogen Pestalozzi in der Schweiz aufzusuchen, dessen Werk zu dieser Zeit in Polen popularisiert wird.

3.1 Die Schweizreise (1898)

Nicht nur sein Interesse an Pestalozzis Wirken, auch die Anspannungen der sehr ereignisreichen letzten Monate und Jahre sind für Henryk Anlass, Abstand zu nehmen. Die Krankheit und der Tod seines Vaters und die damit verbundene Trauer, die notwendige Umstellung auf die neuen materiellen Verhältnisse seiner Familie, die geistigen Anspannungen, die Abiturexamen, Studienwahl und Orientierungs-Semester mit sich brachten – verlangen nach Entspannung und Erholung: »Wenn unser Geist, ermüdet von den Sorgen des Alltags, die Nerven, von der fieberhaften Arbeit geschwächt, und unser ganzer Organismus, in seinen Grundfesten erschüttert, anfangen, ihren Dienst zu versagen, dann ist es heilsam, sich aus der ungesunden Umgebung loszureißen, eine Zeitlang die Probleme, das, was uns beschäftigt, in Beschlag nimmt und lästige Pflicht ist, abzuschütteln und zu vergessen. Neue Gesichter, eine neue Umgebung, neue Lebensbedingungen, neue Empfindungen und Eindrücke löschen rasch das im Gedächtnis aus, was am ärgsten zugesetzt hat, und stärken uns moralisch, indem sie den Hunger nach neuen Eindrücken stillen.«50 So heißt es im Reisemosaik51, dem Bericht, den Korczak über seine Schweizreise nach den ersten Semesterferien im Jahr 1898 verfasst. In Zürich trifft er einen polnischen Studenten, der später über ihn berichtet: »Das erste Mal begegnete ich Henryk Goldszmit in Zürich, wohin er als Student der Universität Warschau in den Sommerferien gereist war. … Mir fiel das lebhafte Interesse meines Kollegen Henryk für die Schweizer Kinder und die einschlägigen Institutionen auf: Schulen, Spitäler für Kleinkinder, Pestalozzi-Anstalten. Ich muss gestehen, dass meine Kollegen und ich erst durch ihn etwas mehr über diesen berühmten Schweizer Pädagogen und Kinderfreund erfuhren. Die Reise Henryks nach Zürich hatte eigentlich die nähere Bekanntschaft mit Pestalozzis Leben und Werk zum Ziel. Während unserer Spaziergänge und Ausflüge redete er viel darüber, wie gut es die Kinder in der Schweiz haben, und verglich bekümmert ihre Lebensbedingungen mit der Situation in Warschau.«52

Während des Schweizaufenthalts nimmt Henryk im August 1898 am II. Zionistenkongress teil, der in Basel stattfindet.53

3.2 Im Dienste der Volksbildung (1898/99)

Seinen Bericht über die Schweizreise veröffentlicht er in der Zeitschrift Leihbibliothek für alle (Czytelnia dla Wszystkich). Diese Schrift wird ab 1899 weitere Korczak-Artikel publizieren und seinen Namen einer weiteren Leserschaft bekannt machen. (Die Zusammenarbeit mit Kolce wird fortgesetzt.) Leihbibliothek für alle trägt den Untertitel »Literatur- und Romanwochenschrift für die polnische Familie«. Henryk findet hier ein Forum für familiale Unterhaltung und Weiterbildung, da die Zeitschrift der Volksbildung dienen will. Die im Titel enthaltene Formel »für alle« macht ihre publizistische Perspektive deutlich. Die Formel wurde vom polnischen Bildungstheoretiker Mieczysław Brzeziński geprägt, der geschrieben hatte: »Es gibt keine Bildung für untere Gesellschaftsschichten, sondern nur eine Bildung für alle.«54 Die Beiträge der Zeitschrift behandeln darum Probleme einer breiten Bevölkerungsschicht; sie haben Ratgebercharakter und sind didaktisch aufbereitet.

Auch die ersten sozialmedizinischen Aufsätze veröffentlicht der angehende Mediziner Goldszmit in dieser Zeitschrift schon im Jahr 1898 erscheint ein Aufruf zur Gesundheitserziehung im Sinne Sebastian Kneipps.55

3.3 Die Auszeichnung (1899)

Am 23. März 1899 erfolgt die Auszeichnung für sein Theaterstück Wohin? aus dem Jahr 1898. In der erhalten gebliebenen Begründung der Jury wird der Protagonist des Stückes als ein unter Geisteszerrüttung leidender Familienvater beschrieben, der wunderliche Dinge sieht und erlebt sowie hellseherische Fähigkeiten besitzt. Dem Verfasser wird »eine ehrenvolle Auszeichnung für ein Stück verliehen, das im Ganzen auf eine erfolgreiche schriftstellerische Zukunft des Autors hindeutet«.56

Im Jahr der Auszeichnung publiziert der junge Literat in der Zeitschrift Czytelnia dla Wszystkich Aufsätze zu sozialen Themen, kleine Prosastücke, einige Gedichte und einen bedeutenden, grundlegenden pädagogischen Aufsatz: Die Entwicklung der Idee der Nächstenliebe im 19. Jahrhundert. Er enthält Korczaks pädagogisches Credo, das eine falsche Beurteilung der Kinder durch die Erwachsenen als das zentrale Erziehungsproblem der Gesellschaft benennt und korrigiert:

3.4 Das pädagogische Credo (1899)

Der grundlegende Irrtum der Erwachsenen bestehe, so der jugendliche Kritiker, in deren Annahme, dass das Kind erst durch ihre Erziehung zum Menschen werde, statt zu begreifen, dass es bereits Mensch ist: »Kinder werden nicht erst Menschen, sie sind es bereits, ja sie sind Menschen und keine Puppen; man kann an ihren Verstand appellieren, sie antworten uns, sprechen wir zu ihren Herzen, fühlen sie uns. Kinder sind Menschen, in ihren Seelen sind Keime aller Gedanken und Gefühle, die wir haben, angelegt. Deshalb muss man diese Keime entwickeln, ihr Wachstum einfühlsam lenken.«57

Diese neue Sicht vom Kind wird Korczak schrittweise weiterentwickeln.

Schon im nächsten Jahr erscheint eine erste umfangreichere pädagogische Abhandlung aus seiner Feder:

3.5 Kinder und Erziehung (1900)

In sieben Abschnitten legt er hier zum einen eine schonungslose Kritik an der lebensfernen Schule Polens vor, die den Schülern toten Lehrstoff eintrichtere und so die Persönlichkeit der jungen Menschen deformiere. Zum anderen tritt er für eine partnerschaftlich-soziale Erziehung ein: »Der frühere Despotismus hat sich in der Erziehung überlebt, die frühere Angst der Kinder vor ihren Eltern ist im Laufe der Zeit verschwunden – aber was soll an ihre Stelle treten? Liebe, Achtung und Vertrauen – das ist die Antwort der Vernunft. …

Und das Kind braucht den Glanz des Glücks und die Wärme der Liebe. Gewährt ihm eine helle Kindheit, und gebt ihm einen Vorrat an Lachen für das ganze lange und dornige Leben. Die Kinder sollen lachen, sie sollen fröhlich sein.«

Und ganz im Geiste der aktuellen internationalen Ansätze einer sozialen Bewegung formuliert er seine Alternative zu dem vorherrschenden Erziehungsziel, das er als »Wissen um des Wissens willen« charakterisiert und ablehnt: »Für die soziale Arbeit sind vor allem Gesundheit, starker Wille, ein stark entwickelter Altruismus, ein tiefes Pflichtgefühl, eine Kenntnis des Lebens und der Menschen und dann erst Wissen erforderlich. Vor allem muss man das Kind lehren zu schauen, zu verstehen und zu lieben, danach erst lehre man es lesen; man muss dem Jugendlichen beibringen, handeln zu können und zu wollen und nicht nur zu wissen und Kenntnisse zu haben. Man muss sie zu Menschen erziehen, nicht zu Gelehrten.«58

Den Zyklus Kinder und Erziehung veröffentlicht der Autor in der illustrierten literarischen Wochenschrift Wędrowiec (Der Wanderer), in der viele bekannte polnische Autoren publizieren. Korczak unerzeichnet seinen Beitrag zum ersten Mal mit dem vollen Pseudonym Janusz Korczak. Seine erste öffentliche Wettbewerbsarbeit hatte der Setzer ja versehendlich mit Janasz Korczak gezeichnet. In der Zwischenzeit verwendete unser Protagonist unterschiedliche Kryptonyme, die er von seinen Namen ableitete: Hen., G., Hagot., Janusz., H. G., Hen. Ryk., t., J. K., Ryk., J. Korczak.

3.6 Sozialpädagogisches Engagement(1900/01)

Wie schon in Kinder und Erziehung deutlich wurde, ist der junge Korczak vor allem sozialpädagogisch interessiert. Im Jahr 1900 wird er darum nicht nur Mitglied der »Gesellschaft für Sommerkolonien in Warschau«59, die sich für erholungsbedürftige, benachteiligte Kinder einsetzt, sondern nimmt vermehrt am Leben ärmerer, sozialschwacher Menschen teil, um ihre Lage kennen zu lernen und besser verstehen zu können. Und dabei verändert sich seine Einstellung gegenüber den Menschen, dieses ihm ungewohnten und manchmal auch gefährlichen Milieus.

Leon Rygier erinnert sich an jene Zeit: »Manchmal war er auch in der Kneipe von Zacisze, auf halbem Weg zwischen Warschau und Marki. Diese Kneipe wurde von so finsteren Typen besucht, dass ich ihn einmal beunruhigt fragte, ob er dort nicht um sein Leben fürchte. ›Aber was kann mir denn schon passieren‹, antwortete er erstaunt. ›Schließlich gehe ich ja nicht als Detektiv, sondern als Freund dorthin.‹ ›Was heißt das – als Freund?‹ ›Na ja … Wenn ich zwischen zwei Übeln zu wählen hätte, so würde ich hungrige Wölfe im dichten Wald den gemästeten Schweinen im Salon vorziehen.‹«60 Und seine Erfahrungen in diesem ihm fremden Milieu verarbeitet er auf die für ihn typische Art: dokumentarisch, aufklärerisch, mit erzieherischen Absichten. In der Zeitschrift Kolce, für deren gesellschaftskritische Rubrik Feuilleton der Kolce er jetzt die Federführung übernehmen soll, bekennt er: »Ich bin ein Mensch, den die Fragen der Erziehung unbeschreiblich interessieren.«61 Und in dieser Rolle beschreibt er dann in der Rubrik die Lebenswelt von Straßenkindern und anderen Benachteiligten, denen er sich in seinen Streifzügen angenähert hat.

In einer literarischen Reportage der Monatsschrift des Polnischen Kurier dokumentiert er das, was er allenthalben vorfindet: Warschauer Elend.62 Neben der Beschreibung von Missständen macht er hier auch seinen Zugang zum Milieu deutlich: keinen Einfluss nehmen, sondern zuhören, ergründen und schriftlich festhalten. Und die Wertvorstellungen der »Elenden«63 erlebt er so: »›Wir fürchten keine Not‹ – das ist ein allgemeiner Grundsatz der Notleidenden von Geburt an. Sie haben sich daran gewöhnt, sie sind damit vertraut, sie haben sich eine besondere Philosophie, ja sogar einen speziellen Moralkodex geschaffen, und wenn sich die Stimme der geplagten Seele erhebt, dann ersticken sie sie im Wodka und entledigen sich ihrer mit einem zynischen Scherz.«64

Neben der empathischen Beschreibung des Lebens der Benachteiligten prangert Korczak auch die Dekadenz der Begüterten und den Pseudo-Glanz der bürgerlichen Welt und ihre unangemessenen Erziehungsvorstellungen an. Im Artikel Affenliebe (im Original in deutscher Sprache) wendet er sich beispielsweise gegen eine falsch verstandene »pädagogische« Liebe: »Affenliebe – das ist eine der größten Katastrophen der Menschheit …, es ist eine Liebe, unbestreitbar, aber nicht die, die den Geist und das Gefühl im Kind weckt und die Phantasie lenkt, sondern die, die den Bauch mit Süßigkeiten voll stopft, mit hübschen Kleidchen die Leere kaschieren will, die Eltern selbst unglücklich macht, das Kind verdirbt und die Pest in der ganzen Gesellschaft verbreitet … Affenliebe … Warum hat sich die polnische Pädagogik nicht diesen großartigen Terminus zu eigen gemacht?«65

Aus dem reichen sozialpädagogischen Material, den Beobachtungen, Streiflichtern, »frischen« Notizen und seinem kritischen Durchleuchten des Milieus, veröffentlicht in fortschrittlichen Zeitschriften, entwickelt sich auch das Thema des ersten Buches des Volksbildners Korczak. Im Buchverlag von Czytelnia dla Wszystkich erscheint der »Roman«:

3.7 Kinder der Straße (1901)

Tadeusz Kończyc charakterisierte den Autor und sein erstes Buch in einer Rezension:

»Kinder der Straße66 – die Romanskizze aus der Feder des begabten Humoristen und Journalisten Janusz Korczak – zeigt, dass der junge Autor anscheinend das Leben der Warschauer Gassenjungen kennt, denn in seinem Roman gab er uns sehr gut erfundene und glaubwürdig gezeichnete Pflastertypen. Das Ganze ist von edlem Optimismus durchtränkt, gekennzeichnet durch altruistische Bemühungen um soziales Verhalten und die Bildung der breiten Massen. Der Roman verdient, aufmerksam gelesen zu werden, obwohl er in der Form mehr an ein lebendig skizziertes Feuilleton als an ein romanhaftes Kunstwerk erinnert.… Viel subtile, sanfte Ironie, Humor, Leben, authentische Sprache – dies sind die guten Charakteristika von Herrn Korczaks Roman, welcher schnell unter die Leute kommen und unsere Leserschaft interessieren sollte, denn das verdient er wirklich. Dem jungen Schriftsteller, welcher sich mit dem Herzen zu der ihm fremden, geistig unterlegnen Masse hingezogen fühlt und der er Licht bringen will, ihm gebührt Ermutigung für seine ehrliche Arbeit und restlose Anerkennung … «67

3.8 Didaktische Ambitionen (1902)

Der Autor von Kinder der Straße und Kenner des »Milieus« weitet seine praktisch-didaktischen Tätigkeiten weiter aus: Ab 1902 unterstützt er die Lehrtätigkeit von Stefania Sempołowska, die ein geheimes Erziehungsinstitut für Mädchen führt, in dem – parallel zur Fliegenden Universität – engagierte Wissenschaftler und Pädagogen lehren.68 Darüber hinaus wird er in den kostenlosen Lesesälen der »Warschauer Wohltätigkeitsgesellschaft« als Bildungshelfer tätig. Diese größte soziale Organisation im Königreich Polen, bereits 1814 gegründet, kümmert sich um Alte, Waisen und notleidende Kinder; sie organisiert Krippen, Kindergärten, Nähstuben, Billigküchen, Volksbäder und unterhält ein weit verzweigtes Netz kostenloser öffentlicher Bibliotheken, wo freiwillige Helfer die autodidaktischen Arbeiten der Leser unterstützen. Denn auch hier sieht man in der Förderung von Bildung und Ausbildung einen wichtigen Schwerpunkt der Hilfe. Helena Bobińska, gemeinsam mit Korczak in einer Leihbibliothek tätig, erinnert sich später an jene Zeit: »Samstagabends wurde der ›Lesesaal‹ buchstäblich von einer Schar Halbwüchsiger gesprengt. Henryk Goldszmit herrschte, ohne den Kopf zu heben, in einer verblüffenden Art und Weise über diese Masse.«69 Und Korczak selbst schreibt in seiner Kurzbiographie: »Die mehrjährige Arbeit in einer kostenlosen Leihbücherei bot mir ein reiches Beobachtungsmaterial.«70

Eine wichtige didaktische Aufgabe sieht der junge Korczak auch in der Vermittlung von vorbildlichen Biographien an die heranwachsende Generation. In seinem Aufsatz Lebensläufe, veröffentlicht in der Pädagogischen Rundschau (Przegląd Pedagogiczny), heißt es 1902: »Die Phantasie der Kinder und Jugendlichen mit Heldengestalten zu bevölkern, die nicht mit dem Schwert, sondern mit Erfindungen und Entdeckungen gekämpft haben, die dem Denken der Menschen neue Wege gebahnt haben, von denen etliche in Werkstätten und Laboratorien umgekommen sind, die ihr Feld des Kampfes und des Ruhmes waren, kurz, die Vorstellungswelt der Jugend nicht nur mit Napoleons, sondern auch mit Gestalten wie Tyrtaios, Archimedes und Lavoisier zu bevölkern – ist von großer Wichtigkeit.«71 Konsequenterweise beobachtet er das Leseangebot für die Jugend unter dieser Perspektive; und später wird er selbst kindgerechte Biographien schreiben.

3.9 Ein umtriebiger Student (1902)

Neben seinen didaktischen verfolgt der vielseitige Student natürlich auch medizinische Interessen. Im Jahr 1902 schließt er sich dem Verein »Warschauer Hygienegesellschaft« an, einem Fachverband für Ärzte mit den Sektionen öffentliche Hygiene, Erziehung und Gesundheit. Denn trotz der Vielfalt seiner Aktivitäten im schriftstellerischen, didaktischen und sozialen Bereich ist er ja vor allem Student der Medizin. Und in seinem Medizinstudium versäumt er es offenbar auch nicht, die einschlägigen Inhalte und Methoden zu studieren, denn wie sonst wäre er zu einer so wichtigen Erkenntnis über das Forschen gekommen, wie er sie 1902 en passant in einem Feuilleton zu Papier bringt: »Forschung zu betreiben – das bedeutet, ein gegebenes Faktum hundertmal nachprüfen, sich von der Phantasie nicht hinreißen lassen, alle für und wider ausschließen, ohne vorgefasste Pläne, Vorurteile und Ziele.«

Diese Erkenntnis erscheint etwas »versteckt« in einer Humoreske, von denen Korczak im Jahr 1902 allein 47 im Feuilletonteil der Kolce publiziert. In manchen dieser Texte eröffnet er dem Leser durch seine humorvollsatirische Darstellungsform einen neuen Zugang zu durchaus ernsten Problemen.

Diese Kunstfertigkeit Korczaks wird uns bei der Erörterung der »Pädagogik mit Augenzwinkern« wiederbegegnen (Pkt. 14.8).

Der Text, dem das obige Zitat entnommen ist, kann für die umfangreiche Feuilleton-Produktion des Medizinstudenten stehen:

Gehirn oder Magen?

»Meine Leser!

Heute schon kann ich es wagen kundzutun, dass ich auf dem besten Wege bin, eine der genialsten Entdeckungen zu machen, die das zwanzigste Jahrhundert in seiner Geschichte verzeichnet. Meine Entdeckung ruft eine gewaltige Revolution in der Wissenschaft und im gesellschaftlichen Leben der Menschheit hervor. …

Es gab eine Zeit, da wurden alle Gefühle im Herzen lokalisiert. Daraus entstanden die irrtümlichen Bezeichnungen: ein gutes, ein böses, ein empfindsames, ein goldenes Herz, ein Herz aus Stein, ein dankbares, offenes Herz. Das hat sich bis heute in der Umgangssprache erhalten.

Dann gab es eine Zeit, wo man das ganze geistig-seelische Ich des Menschen im Gehirn und in den Nerven situierte. Man sprach und spricht noch von einem empfindlichen und überempfindlichen Gemüt, von nervösen Menschen, von Gemütstiefe, durchdringendem Geist, flachem sensiblen Gemüt usw.

Ich aber habe zahlreiche Beweise, die ich im Laufe von Untersuchungen und durch Erfahrungen gesammelt habe, dass das Organ der Gedanken und Gefühle des Menschen weder das Herz noch das Gehirn ist, sondern einzig und allein der Magen.…

Schon zuzeiten meines Junggesellendaseins hatte ich festgestellt, dass zwischen meinen Gedanken und Gefühlen und dem Grad der Völle und der Qualität des Inhalts meines Magens – ein enger Zusammenhang besteht. Ich schenkte dem zunächst keine Aufmerksamkeit, aber der Zusammenhang war so offensichtlich und kontinuierlich, dass ich die Sache zu erforschen begann, zuerst aus Neugier, später mit wachsendem Interesse, schließlich unter Verzicht auf alle anderen Gedanken.

Ich bemerkte nämlich, dass in meinem geistigen Ich öfters Trauer aufkam – auf dem Hintergrund eines leeren Magens; und so auch Empfindsamkeit, Rührseligkeit, Mitgefühl; dagegen waren Zufriedenheit mit dem Leben und eine gewisse Gefühllosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen Fragen – das Ergebnis eines vollen Magens.

Es kam vor, dass ich meinen Magen überladen hatte und dann erfasste mich Überdruss, wenn nicht gar Hass gegenüber dem Leben.

Das war jedoch erst der schwache Beginn weiterer großer Entdeckungen. Ich war erst auf dem Weg zu weiteren märchenhaft neuen und durch ihre Wucht verblüffenden – Beobachtungen.

Forschung zu betreiben – das bedeutet ein gegebenes Faktum hundermal nachprüfen, sich von der Phantasie nicht hinreißen lassen, alle für und wider ausschließen, ohne vorgefasste Pläne, Vorurteile und Ziele.

Hier ist ein Teil meiner Notizen – nur ein winziger Bruchteil dessen, was ich besitze: die Notizen der letzten paar Tage.

Am fünfzehnten Dezember des laufenden Jahres aß ich zu Mittag Graupensuppe, ein Kotelett mit harten Nudeln und zwei Schnitten Brot; danach ging ich spazieren.

Auf den Straßen wimmelte es von Menschen.

›Ach‹, dachte ich, ›wenn man diese Massen sieht, wie sie sich durch die Straßen wälzen, möchte man ihnen eine umfassende, breit angelegte Idee einflößen und sie zu der Arbeit heranziehen, die der Menschheit die Morgendämmerung eines neuen Lebens verkünden soll, voll großer Liebe, großer Geistesanstrengungen und großer Opferbereitschaft. …

Am sechzehnten Dezember dieses Jahres aß ich überhaupt nicht zu Mittag; danach ging ich spazieren.

Auf den Straßen wimmelte es von Menschen.

›Abscheuliche, gedankenlose, öde, dumme Masse‹, dachte ich, ›warum treibst du dich da herum, wohin strebst du, was hast du für ein Ziel? … Ach, mit meinem zornigen Blick möchte ich euch das gedankenlose Lächeln auf euren feisten Gesichtern vergiften!‹

Am siebzehnten Dezember dieses Jahres aß ich zum Mittagessen ein halbes Pfund Brot mit gewöhnlichem Käse, aber ohne Butter, und trank zwei Gläser Tee, eines davon – mit Zucker. Danach ging ich spazieren.

Auf der Staße wimmelte es von Menschen.

›Was ist das Leben wert?‹, dachte ich. ›Sorgen, Trauer, Schwierigkeiten, ein Gekeife um den Teller voll Essen – Pflichten, Tränen, Trübsal – und schließlich das bleiche Gespenst des Todes. Lohnt es sich, zu kämpfen und sich zu empören, lohnt es sich, zu lieben und zu hassen? … Ihr dauert mich, meine Brüder – ihr tut mir leid, leid, leid.‹

Am achtzehnten Dezember des laufenden Jahres wurde ich zu einem Mittagessen eingeladen – danach konnte man sich die Finger lecken. So ein Süppchen, sag ich dir – so lange ich lebe habe ich so was noch nicht gegessen. Dann Reh, ein Weinchen, verschiedene Schikanen sag ich dir. Wieder Wein. Dann noch einmal verschiedene Spezialitäten. Dann ein Zigarrchen, schwarzer Kaffe mit Likör. Und das alles bei einer Einladung zum Mittagessen. …

Danach ging ich hinaus auf die Straße.

Auch diesmal wimmelte es von Menschen.

›Jeder von ihnen hat ein Haus, eine Familie, nur ich laufe einsam durch die Welt‹, dachte ich. ›Aber irgendeine weibliche, herzerwärmende Hand und das Gezwitscher von Kindern, das schmückt doch das Leben.…‹

Am neunzehnten Dezember nahm ich Rhabarberpastillen und war auf Diät. Ich trank Tee mit Zitrone und aß Zwieback.

Ich ging spazieren.

Die Leute strömten nach allen Seiten.

›Wenn diese Masse böse oder gut wäre‹, dachte ich, ›aber sie ist gedankenlos. Es gibt in ihr nichts, was man tadeln oder loben könnte – sie ist fade wie Lakritze …‹

… Ich würde wohl meine Leser beleidigen, wenn ich die Bedeutung dieser Notizen noch erklären würde. Die Evidenz meiner Behauptung scheint in jedem Buchstaben auf. Leute mit einem weniger beweglichen Verstand können mich trotzdem fragen, welche gesellschaftliche Bedeutung meine Entdeckung hat.

Ist das nicht klar? Man muss ein starkes Menü zusammenstellen, um in den Mägen der Menschen einen Boden zu schaffen, auf dem ein jungfräulicher Wald emporschießen würde, ein Wald der Zuneigung zu seinem Nächsten – und des Glücks für den Besitzer des entsprechenden Magens selbst. Mit anderen Worten, ich eröffne die Diskussion darüber, welche Mahlzeit die Reichen veredeln kann, die Armen versöhnen und die Menschheit beglücken.

Die Wissenschaft aber erhält von mir eine neue Wahrheit zum Geschenk, die Korrektur eines fatalen Irrtums. …«72

Über das Privatleben des Studenten Goldszmit ist wenig bekannt. Sicher ist aber, dass er Kontakte zu politisch Gleichgesinnten pflegt und beispielsweise des öfteren im Haus von Wacław Nałkowski weilt, dem angesehenen Geographen und Pädagogen, einem seiner »Erzieher in der Sozialarbeit«.73Von Nałkowskis Tochter Zofia wird berichtet, dass sie zusammen mit Henryk Goldszmit, Ludwik Liciński und anderen Freunden verschiedene »Spelunken« Warschaus besucht habe.74

3.10 Meine weisen Gedanken (1903)

»Ich war ein unendlich geschwätziges Kind und die Lehrer sagten: ›Wenn ein Stummer so viel reden könnte, wie du Unnötiges schwätzt, wäre er nicht stumm …‹

Heute denke ich nur:

›Wenn ein des Schreibens Unkundiger nur so viel schreiben könnte, wie des Schreibens Kundige unnötigerweise schreiben (und leider auch drucken) – wäre er kein Unkundiger mehr.‹75

Mit solchen kurzen Sentenzen nimmt sich der viel schreibende Student 1903 selbst auf den Arm! Von Juni 1902 bis April 1904 bringt Kolce unter der Rubrik Meine weisen Gedanken (Moje mądre myśli) zehn Texte mit Aphorismen unter seinem Namen heraus.76 Und im Jahr 1938 werden noch einmal Aphorismen zum Thema Erziehungskunst erscheinen.

3.11 In einer Sommerkolonie (1904)

In den Semesterferien des Jahres 1904 beteiligt sich der Student Goldszmit erstmals an der Durchführung einer Freizeit in der Sommerkolonie »Michałówka«, in der sich arme und schwächliche Großstadtkinder erholen können.77 Dabei macht er als Betreuer beeindruckende Erfahrungen mit bedürftigen Kindern, die aus »finsteren Kellerwohnungen« und traurigsten sozialen Verhältnissen kommen. Aber hier, in der freien Natur, dürfen sie für eine kurze Zeit ihr Elend vergessen und einen offenen Himmel erleben.

Der mitfühlende Student verarbeitet seine Erfahrungen auf literarische Weise: Seine Notizen eines Betreuers werden eingeleitet mit einem poetischen Stimmungsbild:

Der Regenbogen

»›Was ist das?‹, fragen sie. ›Ein Regenbogen.‹ Sie heben den Blick und schauen: hübsch – sonderbar, sehr sonderbar. Die Kinder verstummen. Für einen Moment herrscht vollkommene Stille: Keines der Kinder bricht sie mit einem Wort, einem Ausruf. Ein buntes Band zieht sich als voller, ebenmäßiger Halbkreis weit über den Himmel. – Ein Triumphbogen.

›Was ist das – ein Regenbogen? Wo kommt er her? Warum und wozu?‹

Die Kleineren kehren zu ihren Spielen zurück.

Regentropfen hängen an den Nadeln der Kiefern; in jedem Tropfen – ein neuer Regenbogen. Hübsch – sehr hübsch …

Der Regenbogen am Himmel wird fahler, verschwimmt – zerreißt, löst sich auf – und ist verschwunden. Er war da – und ist weg. – Die Kinder schauen noch: Das letzte Fetzchen verschwindet. – Er war da – und ist fort. – Wo ist er hin? …

Kinder aus dunklen, feuchten Stuben, aus düsteren Chederschulen, schmutzigen, stinkenden Hinterhöfen – in die Sonne, in den Wald, auf die Wiese, mit dem Ball in der Hand …

Regenbogen – Traum des Himmels, kurzer Seufzer der Sonne; Regenbogen – stille Sehnsucht.«78

Was vermittelt der Berichterstatter mit diesem Bild?

Die Freizeiterlebnisse stehen im krassen Gegensatz zur düsteren Lebenswelt der Kinder in Warschau, in der ihre Erfahrungen und ihr Erleben in kaum vorstellbarer Weise eingeschränkt sind. Plötzlich sehen sie einen Regenbogen. »Was ist das?« Sie haben noch nie einen Regenbogen gesehen – in ihre Hinterhof-Behausungen der Großstadt drang kaum ein Sonnenstrahl. Erst der Sommerkolonieaufenthalt gibt ihnen die Chance, die Schönheiten der Natur kennen zu lernen. Dies neuartige Erlebnis erstaunt die Kinder derart, dass»vollkommene Stille« eintritt; etwas Ungewöhnliches in einer Kinderschar. – »Die Kinder verstummen. Für einen Moment herrscht vollkommene Stille: Keines der Kinder bricht sie mit einem Wort, einem Ausruf.« Um eine solche Wirkung zu erzielen, muss ein Ereignis schon eine große Faszination ausüben. Die folgenden Fragen »Wo kommt er her? Warum und wozu?« spiegeln die kindliche Erfahrung mit der Welt wider: Zwar haben sie schon gelernt, dass es ein Ursache-Wirkungs-Prinzip gibt und dass es für ein Ereignis meistens einen Grund gibt – aber solch ein Phänomen ist ihnen völlig unbekannt.

»Die Kleineren kehren zu ihren Spielen zurück.« – Die Jüngeren haben eine kürzere Konzentrationsspanne, auch sehen sie wohl noch nicht das Symbolträchtige des Regenbogens, verspüren nicht die »stille Sehnsucht«, die den Erzähler und wahrscheinlich auch die älteren Kinder beeindrucken, denn diese »schauen noch: Das letzte Fetzchen verschwindet. « – Sie möchten den Anblick bis zuletzt auskosten, spüren etwas von der Sehnsucht.

Zwischen dem Verhalten der Kinder steht die stimmungsvolle, poetische Darstellung des Regenbogens selbst. Der Begriff wird siebenmal gebraucht und zusätzlich werden noch Synonyme verwendet: »vollkommen ebenmäßiger Halbkreis«, »Triumphbogen«, »Traum des Himmels, kurzer Seufzer der Sonne«. Und ein weiteres Bild: »Regentropfen hängen an den Nadeln der Kiefern; in jedem Tropfen ein – neuer Regenbogen.« Auch in den kleinsten Tränen schimmert die Hoffnung und Traumkraft eines Regenbogens. Doch der ist vergänglich, denn – er »wird fahler, verschwimmt – zerreißt, löst sich auf – und ist verschwunden«. Erzähler und Kinder beobachten den verschwindenden Regenbogen sehr genau und schauen ihm sehnsüchtig hinterher – bis er verschwindet.

Diese Kinder kommen aus »schmutzigen, stinkenden Hinterhöfen«, und nur in der Sommerkolonie haben sie Gelegenheit, auch einmal »in die Sonne, in den Wald, auf die Wiese« zu kommen, um dort zu spielen und für eine kurze Zeit glücklich zu sein.

»Manche kommen mich in Warschau besuchen; spielen Domino und Lotterie – am Sabbatabend«79, schreibt Korczak am Ende der Notizen eines Betreuers, – und noch fast dreißig Jahre später erinnert er sich: »Während meiner Studentenzeit arbeitete ich in den Sommerkolonien. Im Herbst fingen die Kinder aus den Kolonien an, mich zu besuchen, und so entstand in meiner Wohnung so eine Art Kinderclub.«80

3.12 Zusammenarbeit mit der Gruppe um Głos (1904/05)

Im November 1904 beendet Henryk Goldszmits seine Arbeit für die Zeitschrift Kolce.81 Die Humoresken und Satiren, die er hier in den Jahren 1898 bis 1904 unter wechselnden Kryptonymen veröffentlichte, füllen in den Sämtlichen Werken (dt.) einen eigenen Band mit über 700 Seiten (Bd. 2).

Alternativ zur Tätigkeit für Kolce beginnt er ab 1904 eine enge Zusammenarbeit mit der berühmten radikal-sozialen Wochenschrift Głos (Die Stimme) und mit den fortschrittlichen Intellektuellen, die sich um dieses Blatt versammeln und im Untergrund Bildungsarbeit betreiben. Ihr führender Kopf ist Jan Władysław Dawid, welcher starken Einfluss auf Korczak ausübt. Er steht der Polnischen Sozialdemokratie nahe und brachte Głos ab 1900 »als ›Sozial-Demokratische Zeitung‹ mit dem Aufruf ›Proletarier aller Länder, vereinigt Euch‹ heraus«.82

In Głos äußern sich viele bekannte Schriftsteller, Wissenschaftler und sozial engagierte Menschen wie Stanisław Przybyszewski, Stanisław Brzozowski, Ludwik Krzywicki, Stefan Żeromski und Wacław Nałkowski zu aktuellen Zeitfragen. Die Zeitschrift verfolgt nach eigenem Zeugnis zwei Aufgaben: »Wir werden dem täglichen Leben folgen, … die Zeitgeschehnisse registrieren und unter die Lupe nehmen – wir werden sie mutig und unabhängig beurteilen. Die zweite Aufgabe verstehen wir als Arbeit an der geistigen und ethischen Entfaltung der gesellschaftlichen Kultur, als Arbeit an der Förderung eines intensiveren geistigen Lebens.«83

Diese ethische Färbung der Głos dürfte Korczak bewogen haben, die Zusammenarbeit mit ihr aufzunehmen. In Głos veröffentlicht er 1904 und 1905 ca. 50 Artikel. Er gehört zu den Autoren der Kolumnen Am Rednerpult84 und Streiflichter85. Dort behandelt er vermeidbares soziales Elend, mangelnde Hygiene und Mängel in der Krankenversorgung. Neben Berichten über kindliche Betteleien im Sächsischen Garten und im Warschauer Rotlichtmilieu geht es um Ansteckungsherde für Tripper, um »Engelmacherinnen« (mit unehelichen Kindern), um vermeidbare Pockentote und um Arbeits- und Wohnungslose, die auf der Straße aus Schwäche zusammenbrechen. Außerdem werden Schulprobleme der Gegenwart, die jüdische Frage, aber auch die Philanthropie thematisiert, »aber nicht so sehr als eine Erscheinung der Barmherzigkeit, sondern als ein Zeichen der Verlogenheit und des Egoismus’ der Besitzenden. Weil die Philanthrophie in dieser Form unmoralisch oder mehr noch … langfristig unwirksam ist, fordert er … eine gesetzliche Regulierung des Schicksals der Benachteiligten.«86