Jazz – wir nannten's Musik - Eddie Condon - E-Book

Jazz – wir nannten's Musik E-Book

Eddie Condon

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Beschreibung

Das "Jazz Age" – zum Leben erweckt! Chicago und New York in den 20er Jahren, die Prohibition in vollem Gange und mittendrin eine Gruppe jazzbegeisterter Kids: Inspiriert von den schwarzen Ursprüngen der damals noch anstößigen Musikrichtung, finden sich junge Künstler aus weiten Teilen Amerikas zusammen und gründen gemeinsam die erste Generation weißer Jazz-Musiker. Eddie Condon, der aus einer musikalischen Familie stammte, kam als junger Banjospieler nach Chicago und widmete sein Leben dem Dixieland-Jazz. Sein schlagfertiger Witz ist ebenso legendär wie die Musik, die er spielte. Condons Biografie steckt voller abenteuerlicher Anekdoten der Jazzgeschichte und skizziert Porträts vieler, die heute zu den ganz Großen in diesem Genre zählen; unter anderem Bix Beiderbecke, Fats Waller, Jack Teagarden, Frank Teschemacher, Red McKenzie, Louis Armstrong und Bing Crosby.

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Seitenzahl: 464

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Titel der Originalausgabe:

WE CALLED IT MUSIC A Generation of Jazz, erschienen 1947,

Henry Holt and Company, New York

Bildnachweis:

Alle Bilder stammen aus dem Condon Privatarchiv

Besuchen Sie uns im Internet unter

www.langen.mueller-verlag.de

Überarbeitete und ergänzte Neuauflage

© für die Originalausgabe und das eBook: 2016 LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH

© 1960 Nymphenburger Verlagshandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung nach der Ausgabe von 1960

Übersetzung: Rolf Düdder und Herbert Schüten

Übersetzung der Texte von Maggie Condon und Hank O’Neal: Ursula Bischoff

Satz und eBook-Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-7844-8264-4

VORWORT

ES WAR ANFANG 1969. Ich war noch keine zwölf und hatte begonnen, mich ein bisschen für Jazzmusik zu interessieren.

Also tat ich das Nächstliegende: Ich ging zur Bücherei und schaute nach, ob es ein Regal mit der Überschrift »Jazz« gab. Obwohl es die Stadtbibliothek Münster war, in der ich mich umsah, wurde ich fündig.

Neben den auch schon für damalige Verhältnisse üblichen Nachschlagewerken und historischen Abrissen zum Thema »Jazz« fiel mit ein Buch auf, dessen Cover das Foto eines flott-elegant gekleideten Mannes zierte, der eine Gitarre in der Hand hielt (was – nur vier Saiten?) und heiterversonnen ins Nichts schaute.

Das Buch hieß Jazz – wir nannten’s Musik von Eddie Condon.

Ich lieh es zusammen mit einigen anderen Jazzbüchern aus und nahm es mit nach Hause, wo es direkt nach dem hastigen Studium eines damals allgemein anerkannten Jazz-Geschichtsbuchs dafür sorgte, dass das Thema »Hausaufgaben« in den kommenden Tagen für mich eine eher untergeordnete Rolle spielte.

Eddie Condons Buch machte mit seinen Anekdoten, mit seinen Personenbeschreibungen, mit seinem von mir damals als ungeheuerlich empfundenen Humor die Welt des »Jazz Age« lebendig.

Bix Beiderbeckes Mütze, Fats Wallers Durst, Bud Freemans verrostetes Saxophon, die Partygäste an Red McKenzies Koffer-Schlagzeug … Fußnoten von Fußnoten der Jazzgeschichte, und doch irgendwie unvergessliche Eindrücke, die selbst heute noch automatisch in meinem Kopf auftauchen, wenn ich irgendwo die Namen dieser Größen der frühen Jazzer-Generation lese.

Als die Segnungen des Internets irgendwann (mit allerdings beachtlicher Verzögerung) in mein Leben traten, gehörten »Eddie Condon« und »Red McKenzie« zu den ersten Namen, die ich in die Filmchen-Suchmaschine eingab.

Ich wurde sogleich fündig. Ja – die gab es wirklich! Sogar im Film!

Und all die Red Nichols’, Pee Wee Russells, Paul Whitemans, Fats Wallers, Frank Teschemachers und Mezz Mezzrows aus Eddie Condons Buch auch.

Zurück in das Jahr 1969.

Die Lektüre von Eddie Condons Buch hatte mich so gepackt, dass ich mir zu meinem Geburtstag im Sommer von meinen Eltern ein Banjo wünschte.

Ich spielte zwar schon einige Jahre Klavier (wenn auch noch eher unjazzig und gewiss nicht ganz so wuchtig wie Fats Waller), aber (auch das lernte man aus Eddies Buch): Ein Zweitinstrument konnte auf keinen Fall schaden.

Mein Geburtstag kam – und mit ihm das Banjo. Und dazu gab es noch ein Album von … Eddie Condon.

Meine Eltern hatten wirklich gut aufgepasst.

Es darf bezweifelt werden, ob 1969 bis 1971 irgendein anderer Münsteraner Gelegenheit hatte, »Jazz – wir nannten’s Musik« zu lesen. Ich erneuerte und erneuerte meine Ausleihe, denn ein Leben ohne dieses Buch schien mir öde und sinnlos.

Ich nahm es mit zur Schule, ins Zeltlager und in die Badewanne. Ich konnte es auswendig. Und mein Banjospiel wurde auch etwas besser. Viele Jahre später kam dann noch eine viersaitige Tenorgitarre dazu, das Instrument, das seit den Mittdreißigern als Mr. Condons Markenzeichen galt.

Irgendwie konnte ich nicht aufhören, ein bisschen Eddie Condon sein zu wollen.

Lese ich Eddies Autobiographie heute, fällt mir auf, dass es durchaus Gründe gibt, warum Eddies schriftstellerische Arbeiten nicht in einem Atemzug mit denen von Thomas Mann, Frank Kafka oder Emile Zola genannt werden.

Unstrittig aber ist, dass Eddie Condons Erinnerungen ein wunderbares, warmherziges und humorvolles Buch füllen, das uns die Ära des Hot Jazz näher bringt als sämtliche musikwissenschaftlichen Abhandlungen über die Geschichte der frühen Jazzmusik unter der besonderen Berücksichtigung avancierter Hot-Solistik nebst gründlicher Analyse unterschiedlicher Stilmerkmale der Solisten im Hinblick auf ihr regional-musikalisches Umfeld im Wandel der Zeiten.

Oder so ähnlich.

Herr im Himmel – am Ende zählt doch nur Bix Beiderbeckes Mütze, oder?

Mein erstes Banjo und die Eddie-Condon-LP von damals habe ich heute noch.

Und jetzt auch wieder das Buch. Man kann sich freuen.

Götz Alsmann

IMPRESSIONEN AUS MEINER KINDHEIT

Von Maggie Condon

WENN ICH AN DIE KINDHEIT mit meinem Vater denke, erinnere ich mich an drei Dinge:

Für ihn drehte sich alles um Musik.

Meine Schwester Liza und ich sahen ihn nur in der Zeit zwischen unserer Rückkehr aus der Schule und seinem Aufbruch in den Club gegen 18 Uhr. Wir pflegten im Badezimmer auf dem Rand der großen alten Porzellanbadewanne zu sitzen und zuzuschauen, wie er sich einseifte und rasierte. Dabei versuchte er, uns Lieder mit seinen bevorzugten Akkorden beizubringen, sang uns eine Phrase mit einem wunderbaren Akkordwechsel von Dur zu Moll vor und ermutigte uns, sie so lange zu wiederholen, bis wir sie beherrschten.

Die Badezimmer-Tapeten mit einem Muster aus großen Provence-Rosen waren in musikalische Graffiti umgestaltet worden, angefüllt mit handgeschriebenen Liedtiteln, die das Wort »Rose« enthielten. Es begann damit, dass mein Vater den Text des Songs My Wild Irish Rose auf der Wand notierte. Wenn Pee Wee Russell, Bing Crosby, Johnny Mercer oder Willard Robison zu Besuch kamen, fügten sie ihre jeweiligen Lieblingsmelodien hinzu.

Von unserer Wohnung aus konnten wir die Nebelhörner der Schiffe vernehmen, die in den Hafen von New York einliefen. Mein Vater lauschte oft und erklärte: »Das ist ein Des« oder »Das ist b-Moll«. Wir besaßen keinen Plattenspieler, aber es gab bei uns zu Hause immer viel Live-Musik mit Pee Wee, Wild Bill Davidson, Bobby Hackett und Louis Armstrong, die ständig bei uns zu Gast waren. In seinen eigenen vier Wänden spielte Dad ausschließlich Klavier, und ich erinnere mich, dass Willard Robison und Johnny Mercer ihn inständig baten, seine einzigartigen Akkordkombinationen auf unserem alten Klavier zum Besten zu geben.

Die Trap Line

An den Sonntagnachmittagen in New York nahm er mich gelegentlich auf eine Tour durch seine sogenannte »Trap Line« mit, ein Ausdruck der Hummerfänger für die aufgereihten Fallen, die sie regelmäßig in Augenschein nehmen. Bei Dad war damit der Besuch seiner Lieblingslokale gemeint, von Greenwich Village bis Harlem – das Toots Shor’s, Jimmy Ryan’s, Costello’s, der 21 Club und Small’s. Dort war ich immer das einzige Kind, und ich erinnere mich, dass mein Vater und seine Geschichten stets im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen.

Eddie hatte nie Bargeld bei sich, aber er wurde in seinen Stammlokalen auch nie zur Kasse gebeten. Wenn er zufällig von einem Barkeeper bedient wurde, der ihn nicht kannte, nahm er seinen Hut ab, um ihm die Innenseite zu zeigen, wo sein Name vermerkt war, und sagte: »Setzen Sie es auf meine Rechnung.« Auf dem Nachhauseweg ging er nie an einem Bettler vorüber, ohne ihm einen Quarter – einen Vierteldollar – zu schenken.

Später am Abend, vor dem Schlafengehen, pflegte ich vor dem Wohnzimmerfenster zu stehen und ihm nachzuschauen, wenn er mit seiner Gitarre durch den Washington Square Park eilte, bis er meiner Sicht entschwand.

Drei Dinge, die ihn zu Tränen rührten

Dazu gehörten: Mahalia Jackson, die am Weihnachtsabend im Fernsehen The Lord’s Prayer sang. Bix Beiderbecke, der In A Mist auf dem Klavier spielte. Und meine Aquarelle aus dem Kunstunterricht, die ich ihm zeigte. Er war die meiste Zeit damit beschäftigt, zwischen dem Condon Club, Konzerten und Aufnahmeterminen hin und herzupendeln, und ich denke, er war traurig, weil ihm bewusst wurde, dass ihm ein großer Teil meiner Kindheit entging.

Doch an den Sommerwochenenden, die wir an der Atlantikküste von New Jersey verbrachten, waren wir eine richtige Familie. Am Strand gab es jede Menge Live-Musik, Grillfeste, streunende Katzen und Hunde. Mom pflegte sich in einem Gummireifenschlauch in Ufernähe auf den Wellen treiben zu lassen, während sich Dad ins Meer stürzte und geradewegs in Richtung Horizont schwamm, bis er nicht mehr zu sehen war.

Liza, Eddie und Maggie am Monmouth Beach in New Jersey, 1950

DIE FAMILIENTAFEL

DAVID CONDON

geboren am 1. Januar 1827

in der Grafschaft Limerick, Irland

MARGARET CONDON

geb. Hayes, geb. am 15. 12. 1834

in der Grafschaft Limerick, Irland

heirateten am

19. August 1855 in

Springfield, Mass.

JOHN CONDON

geboren am 1. Januar 1861 in Ottawa,

MARGARET CONDON

geb. McGrath, geb. am 11. 2. 1865

in Ottawa, Illinois

Illinois, heirateten

am 11. Februar 1885

in Benton County,

Indiana

CLIFFORD CONDON

geboren am 27. November 1885 in Benton County, Indiana

LUCILLE CONDON

geboren am 17. März 1887 in Benton County, Indiana

FLORENCE (DOT) CONDON

geboren am 2. Oktober 1889 in Benton County, Indiana

GRACE CONDON

geboren am 24. Dezember 1891 in Benton County, Indiana

HELENA CONDON

geboren am 2. Mai 1895 in Benton County, Indiana

MARTINA CONDON

geboren am 10. Mai 1899 in Benton County, Indiana

JOHN CONDON

geboren am 28. Juni 1901 in Benton County, Indiana

JAMES (PAT) CONDON

geboren am 29. Juli 1903 in Benton County, Indiana

ALBERT EDWIN (EDDIE) CONDON

geboren am 16. November 1905 in Benton County, Indiana

Vorne: Helena, Pat, John, jr., Eddie, Martina; Mitte: John, Margaret; Hinten: Clifford, Dot, Lucille, Grace

INHALT

Ein paar englische Schuhe

Momence

Chicago Heights

Peavey’s Jazz Bandits

Junger Mann mit Mütze

Chicago – 1924

Bildung, Bix und Bessie

35. Straße und Calumet

Wohlstand

»Three Deuces«

Das armseligste 7-Mann-Orchester der Welt

Eine Handvoll Harlem

Die Blue Blowers

Geburtstagsfeier für Joe

Panik und Bauchspeicheldrüsenentzündung

Nicks Kneipe und die Revolution

Summa Cum Laude

Town Hall

Der Mann, der den Jazz lebte – Hank O’Neal

Die Chicagoer Bands

Namenverzeichnis

FÜR BIX

ich hoffe, dass er seine Mütze

nicht mehr trägt

Singet ihm ein neues Lied;

machet’s gut auf Saitenspiel mit Schall.

PSALM XXXIII, 3. VERS

Ein Paar englische Schuhe

ES WAR SONNTAG, GEGEN ABEND. Maggie war aus dem Park zurück. Liza war in ihrer Spielecke und bemutterte eine Puppe. Phyllis war in der Küche und färbte einige Lappen um. Ich hatte mich gerade entschlossen, doch keine Zigarette anzustecken; ich war zu faul, um den Rauch zu inhalieren. Das Telefon klingelte. Es war John McNulty, der von irgendwoher nördlich der 42. Straße anrief.

»Nach acht Jahren habe ich gerade zum ersten Mal wieder einen gehoben. Du bist der Erste, dem ich es sage«, erklärte er. »Ich möchte dir meine englischen Schuhe zeigen. Ich komme sofort runter.«

Ich legte auf und teilte Maggie mit: »John McNulty wird uns besuchen.« Sie kannte ihn nicht.

»Ist das ein Mann?«, fragte sie.

»Er ist Schriftsteller«, sagte ich. Sie gab sich mit dieser Erklärung zufrieden. »Darf ich ihn mit meinem Hammer hauen?«, fragte sie.

McNulty hatte sich verändert; sein Gesicht war braungebrannt. Er war vom Tageslicht begeistert. »Man braucht sich nur hineinzulegen. Es füllt einen mit Energie«, erklärte er. »Ich glaubte nicht, dass das möglich sei, aber es klappt.« Wir begutachteten die englischen Schuhe. Sie waren klasse, konservativ und anscheinend von guter Passform. Wir tranken einen. McNulty schaute Maggie an und rückte seinen Stuhl etwas an mich heran.

»Ich konnte mir dich nie als Familienoberhaupt vorstellen«, sagte er mit leichtem Unterton.

»Mein Schwiegervater ist Rechtsanwalt und einer der besten Gewehrschützen des Landes«, antwortete ich. »Er errang schon einmal den Nationalpreis für Kunstschützen.«

McNulty nickte. »Ein Mann sollte zur Ruhe kommen«, sagte er. Wir tranken in Ruhe. »Also, jetzt hast du eine eigene Kneipe«, sagte er, »deine eigene Band, eine Frau und zwei Töchter. Deine Mutter würde stolz auf dich sein.«

Wir tranken noch einen. »Ich hörte dein Programm Eddie Condon’sJazz Concert, als ich in Kalifornien war«, sagte John. »Warum wird es nicht mehr gesendet? Ich kannte Männer, die samstagnachmittags nicht zum Pokern gingen, damit sie es zu Hause hören konnten.« Ich erzählte ihm die Geschichte. Johnny O’Connor, Fred Warings Manager, hatte uns dem Sender Blue Network aufgeschwatzt. Wir benutzten den Strom und die Studios des Senders, sonst nichts. In der Manuskript-Abteilung hefteten wir jede Woche unsere Programmzettel ab. Später zerrissen wir sie wieder. Wir brachten uns selbst einen Ansager mit, Fred Robbins, ein Mann, der etwas vom Jazz verstand. Wir machten das Programm ad libitum in Text und Musik. Wir holten uns selbst Gastsprecher heran – John O’Hara, den Schriftsteller; Joe McCarthy von der Illustrierten Yank; George Frazier von Life. Die Show wurde jede Woche übertragen und nach Übersee geschickt, um dort für die Truppen gesendet zu werden; sie kam bei den Umfragen der GIs in Europa und auch am Pazifik auf den ersten Platz. Sie lief achtundvierzig Wochen lang; dann wurde etwas frisches Blut in den Vorstand des Blue Network geschüttet und beschlossen, dass mit dem Programm etwas geschehen müsste. Inzwischen stieg dessen Beliebtheit an; überall zogen es die Soldaten der Hit Parade vor, die auf dem zweiten Platz rangierte, und auch der Command Performance, welche den dritten Platz einnahm. Die Einsendungen waren eine Sensation. Die Briefe der Soldaten sagten alle das Gleiche: »Ihre Musik kommt gleich nach einem Heimaturlaub.«

Ernie Anderson und ich trafen uns mit den Leitern der Verkaufs- und Manuskript-Abteilungen und mit dem neuen Vorstand. Es wurde eine Menge geredet. Endlich sagte einer der Vorstandsleute, der Name des Programms müsse geändert werden. »Was meinen Sie, wie es heißen sollte?«, fragte Ernie. »Saturday Afternoon SeniorSwing«, sagte der Vorstand. »Warum?«, fragte Ernie. »Der jetzige Titel ist zu lang«, sagte der Leiter. Ernie schaute mich an. Ich zählte an meinen Fingern ab. Eddie Condon’s Jazz Concert enthielt dreiundzwanzig Buchstaben, Saturday Afternoon Senior Swing hatte achtundzwanzig. »Diese Burschen sind wirkliche Vorsteher«, flüsterte ich Ernie zu. »Pass auf!« Ein wenig später sagte ein anderer Geschäftsführer: »Ich denke, wir sollten einen Komiker reinbringen. Ich schlage Jackie Kelk vor.«

»Wer ist Jackie Kelk?«, fragte ich. Das Vorstandsmitglied starrte mich an. »Jackie Kelk ist der Homer in der Aldrich-Familie«, sagte er. »Was ist das?«, wollte ich wissen. Die Lippen des Vorstandsmitgliedes wurden schmaler. »Sie kennen die Aldrich-Familie nicht?«, fragte er und neigte sich etwas zu mir herüber. Ernie trat mich unter dem Tisch. »Ich kenne vom Radio nur zwei Dinge«, sagte ich. »Wie man seine Uhr danach stellt und wie man es ausdreht.« Es wurde noch mehr geredet. Dann wurde das Ultimatum gestellt: Wir könnten die neue Form des Programms akzeptieren, den Komiker inbegriffen, oder wir könnten es aufgeben. Eines der älteren Vorstandsmitglieder wollte uns helfen. »Lasst euch ein paar Tage Zeit zum Überlegen und sagt uns dann Bescheid.«

»Wir brauchen keine paar Tage«, sagte Ernie. »Wir können Ihnen schon jetzt die Antwort geben: Nein, und zwar in Sperrschrift.«

McNulty nickte, als ich fertig war. »Ich befürchtete schon, meine Meinung über den Rundfunk ändern zu müssen, als sie euch Jazz spielen ließen, ohne irgendetwas zu unternehmen, um ihn zu verlausen«, sagte er. »Ich freue mich, dass sich der Rundfunk nicht geändert hat. Das gibt mir ein Gefühl der Sicherheit.«

Maggie kam herüber und lehnte sich an Johns Knie. Wir tranken noch einen. John hatte etwas im Sinn. »Es erscheint ein neues Buch«, sagte er. »Sie sammeln die einzelnen Geschichten, die ich für den New Yorker über Tim geschrieben habe, um einen Band daraus zu machen. Ich glaube, sie wollen es Third Avenue, New York, nennen.« Er drehte sein Glas in der Hand und schaute auf seine englischen Schuhe. Dann kam’s heraus. »Du musst auch ein Buch schreiben«, sagte er. Wir nahmen noch einen Drink. Maggie langweilte sich bei uns. Sie ging zu Liza, um gemeinsam mit ihr den Laufstall auseinanderzunehmen. »Wie soll ich das machen, und worüber soll ich schreiben?«, fragte ich. John stand auf. »Habt ihr eine Schreibmaschine im Haus?«, fragte er. »In der Küche«, sagte ich. »In der Brottrommel.«

Wir gingen in die Küche, machten die Brottrommel auf und holten die Schreibmaschine heraus. John spannte einen Bogen Papier in die Maschine. »Wann und wo wurdest du geboren?«, fragte er. Ich sagte es ihm. Er schrieb auf das Blatt: Goodland, Indiana, 16. November 1905. Dann drehte er ein paar Zeilen weiter und schrieb: Jetzige Adresse: Washington Square North, New York City.

»Du hast jetzt nur noch das auf das Papier zu bringen, was zwischen diesen beiden Zeilen passiert ist«, sagte er. »Versuch es. An was kannst du dich erinnern?«

Ich zog den Küchenstuhl heran. John setzte sich. Wir starrten zusammen auf das Papier. »Schreib auf: Katze«, sagte ich. John tippte das Wort.

Als wir in Momence, Illinois, wohnten, hatten wir eine Katze, die hieß Gieronimo. Eines Tages ging meine Schwester Martina in die Hütte auf dem Hof, in der wir die Maiskolben verwahrten, und setzte sich auf einen Stuhl. Sie fiel hintenüber, schlug auf Gieronimo und brach ihm das Rückgrat. Er war noch nicht tot, darum erschlug ihn mein Bruder mit einem Baseballschläger. Dann buddelten wir ein Grab, begruben ihn und machten ein Kreuz darauf.

Wir nahmen einige Maiskörner und schrieben damit seinen Namen in den weichen Dreck. Als wir vom Essen zurückkamen, hatten die Hühner unseres Nachbarn die Körner aufgepickt und beinahe auch Gieronimo gefressen. »Weißt du noch, wie wir die Hütte am Normandy Beach bei Barnegat Bay nahmen, der Hurricane kam und vier Türen aus der Garage blies, die Lampen ausgingen und das Wasser die Straße heraufkam?«, fragte Phyllis. Sie färbte immer noch ihre Tücher. »Schreib auf: Schuhe«, sagte ich. John tippte das Wort.

Eines Abends kam John Steinbeck in die Kneipe und sagte zu mir: »Eddie, warum spielst du nicht wieder Banjo? Es ist das einzige amerikanische Instrument, und es sollte für die einzige amerikanische Musik benutzt werden. Warum spielst du auf so einem Instrument für Liebhaber, einer Gitarre?« Ich sagte: »John, das Banjo verschwand mit den Knopfschuhen.« John beugte sich herüber und flüsterte mir ins Ohr: »Eddie, Knopfschuhe werden wieder modern.«

»Weißt du noch, als du mit Mezzrow zusammen wohntest? Du hattest mit mir am 4. Juli eine Verabredung. Wir hatten den ganzen Tag nichts zu tun, und Mezzrow sagte: ›Macht euch keine Sorgen. Ich kenne eine Delikatessenhandlung, die um fünf Uhr aufmacht. Da können wir uns ein paar Truthahnhälse kaufen‹«, erinnerte sich Phyllis.

»Schreib auf: Lord«, sagte ich.

John tippte das Wort.

Jimmy Lord war ein Junge aus Chicago, der Klarinette und Saxophon spielte und der auch Arrangements schrieb. Er spielte oft mit uns im Palace Gardens in Chicago; er hatte einen gelben Mormon-Wagen. Als ich den einmal zu fahren versuchte, habe ich ihm die Gangschaltung kaputtgerissen. Einen Sommer lang mietete seine Mutter, Ann Lord, eine Wohnung in New York, im Osten, ganz in der Nähe des River House. Ich war pleite, und sie ließ mich dort wohnen. Ich hatte nicht einmal das Fahrgeld, um quer durch die Stadt zu fahren, aber als ich ankam, war da ein japanischer Butler, der für mich sorgte. In der Wohnung war eine große Bibliothek, mit einem acht Fuß langen Gesellschaftsalmanach. In dem Sommer habe ich für mein Leben genug gelesen.

Jimmy sah ich zuletzt in Princeton, wo ich bei einer Hausparty mit Red McKenzie’s Mound City Blue Blowers spielte. Jimmy hatte Tuberkulose. Er war aus einem Sanatorium mit dem Entschluss entlaufen, sich durch eigene Willenskraft zu heilen. Er wollte mit uns in Princeton spielen und beharrte darauf, dass er es schaffen würde. Nach der Party fanden wir ihn auf der Treppe sitzend. Er ruhte sich aus, bevor er die nächste Stufe in Angriff nahm.

»Komm, wir helfen dir, Jimmy«, sagte McKenzie. »Wir tragen dich hinauf.« Jimmy lehnte ab. »Ich muss es selbst schaffen«, sagte er. »Daran komme ich nicht vorbei.«

In der Woche darauf starb er.

»Weißt du noch, wie wir damals nach Minneapolis fuhren und mein Bruder Sam am Steuer nicht wach bleiben konnte? Du durchwühltest das ganze Gepäck, um die Benzedrin-Tabletten zu finden, die ganz unten im letzten Koffer lagen. Sam nahm sie und schlief sofort ein. Er wachte erst nach zehn Stunden wieder auf«, sagte Phyllis. McNulty ging wieder in das Wohnzimmer. »Warum möchtest du, dass ich ein Buch schreibe?«, fragte ich ihn. »Ich bin so allein«, sagte er.

Nachdem er gegangen war, kletterte Maggie auf meinen Schoß. »Das ist ein netter Mann«, sagte sie. »Ich habe ihn nicht gehauen.« Sie kuschelte ihre Arme zurecht und schlief ein. Ich döste mit ihr.

Was war denn noch? dachte ich. Als Joe McCarthy in der Radio-Show auftrat, mussten wir sein Manuskript vom State Department genehmigen lassen. Dieses einzige Mal sollten wir ablesen, was vorbereitet war. Es war ein Gag darin. Ich sagte: »Joe, ich hörte, dass du aus Boston stammst.« Joe sagte: »Ja, ich gehöre zu den Spitzengardinen-Iren von Massachusetts.« Ich fragte: »SpitzengardinenIren? Was für Iren sind das?« Joe erklärte: »Spitzengardinen-Iren sind Leute, die frisches Obst im Hause haben, selbst wenn kein Mensch krank ist.« Das State Department lehnte die Erteilung einer Genehmigung ab. Irland, ein neutrales Land, könnte verletzt werden.

Vinton Freedley lehnte es ab, eine Genehmigung für das Manuskript einer Bühnenfassung von Dorothy Bakers Young Man With A Horn zu erteilen, ein Roman, der durch die Karriere von Bix Beiderbecke inspiriert worden war. Es war eine weise Entscheidung. Burgess Meredith sollte den Bix spielen, der in dem Buch Rick heißt. Margaret Sullavan war Ricks Freundin Amy North. Mir wurde die Rolle des Banjospielers Bobby LaPorte angeboten; meine Aufgabe sollte es sein, Rick vom vielen Saufen abzuhalten. An einer bestimmten Stelle sollte ich in das Studio kommen, einen Mantel umgehängt, sollte zum Himmel sehen und sagen: »Mann, was ist das hier für eine merkwürdige Kneipe! Ich möchte nur wissen, wie die wohl den Vorhang runterkriegen.« Charles MacArthur wurde gerufen, um das Manuskript zu bearbeiten; er schrieb Pariser Szenen hinein. Dorothy Baker ging dann, weil sie ein Baby bekam, und Freedley kam zur Besinnung. Die Show wurde fallengelassen; Bix war gerettet.

Meredith hatte eine andere Idee. Er rief mich von New York an, als ich in der Brass Rail in Chicago spielte. »Du machst jetzt einen eigenen Club auf«, sagte er. »Du kannst dein eigener Boss sein, dir selbst eine Band aussuchen und Jazz so spielen, wie du ihn gerne spielst. Tyrone Power und ich werden dir den Rücken stärken.«

»Wie viel verstehen Ty und du vom Geschäft?«, fragte ich. »Könnte einer von euch beiden mit einiger Intelligenz ein Stück Rindfleisch aussuchen?«

»Nein«, sagte er.

»Ich auch nicht«, erklärte ich ihm. »Ich weiß, dass ihr beide in Ordnung seid und auch etwas Geld habt. Wenn ich wieder in New York bin, gehen wir damit zum Würfeln. Auf diese Weise verlieren wir es schneller und haben mehr Spaß daran.«

»Wir machen einen Club auf«, sagte Meredith. Er ist immer kurz entschlossen. Aber wir taten es doch nicht. Das Nachtclub-Geschäft ist nichts für Amateure; es ist genauso voller Tricks wie der Börsenhandel mit Gewinn.

Einige Jahre später sagte Pete Pesci, der Miteigentümer von Julius’: »Warum machst du nicht einen eigenen Laden auf?« Dies war das Angebot, auf das ich gewartet hatte. »Willst du mein Geschäftsführer werden?«, fragte ich. Er lächelte. »Warum nicht? Ich mag deine Musik. Ich könnte sie dann da haben, wo ich arbeite.« Pete wusste, wie man Rindfleisch aussucht. Er wusste auch, wie man eine Kneipe aufzieht.

Eddie vor seinem Club in der West Third Street in New York

Wir mieteten den alten Howdy-Club, 47. West Third Street. Ich unterschrieb den Pachtvertrag am Freitag, dem 13. Juli 1945. »Das wird uns Glück bringen«, sagte Pete. »Wir werden ’ne Masse Gäste haben.« Wir eröffneten am 20. Dezember. »Was willst du auf der Bühne tragen?«, fragte Bud Freeman. »Schuhe«, sagte ich. In der Band waren Wild Bill Davison, Joe Marsala, Dave Tough, Gene Schroeder am Klavier, Brad Gowans, Posaune, und Bob Casey am Bass. Joe Sullivan wechselte sich mit der Band ab, er spielte Pianosoli. Jack Bland, Max Kaminsky, Tommy Dorsey und George Wettling kamen herein. In der Menge waren allein sieben Smiths aus Minneapolis. Die Leute standen auf dem Flur und warteten auf den Einlass. Wir hatten das größte Vestibül-Geschäft in der Stadt.

Ein besonderes Trio von Julius’ Stammkunden kam immer wieder – Chelsea Quealey, Dan Qualey (mit langem »a«) und Jake Qualey (mit kurzem »a«). Wenn sie mit mir in der Bar waren, gab mir das ein Gefühl der Sicherheit. Wenn ich sie nicht mehr vorstellen konnte, ohne die Namen durcheinanderzubringen, dann wusste ich, dass es Zeit war, auf Bier umzusteigen.

»Jetzt ist es so weit«, sagte Phyllis und schaute auf die Menge. »Dein Leben beginnt mit vierzig.«

»Es ist ein Kompromiss«, sagte ich. »Town Hall mit Getränken.«

Pa würde seinen Spaß daran gehabt haben; er musste aus seiner Kneipe erst nach Hause gehen, um Musik zu hören und um sie zu spielen. Nach dem Abendessen nahm er dann seine Fiedel; eines der Mädchen begleitete ihn am Klavier. Manchmal spielte mein Bruder Cliff auf dem Althorn. Es war immer Musik im Haus. Ich summte Turkey In The Straw, noch bevor ich Mama sagen konnte; Papa sang es mir vor, wenn er mich auf den Knien schaukelte. Freunde und Verwandte aus Indiana kamen ständig zu uns zu Besuch. Allem Anschein nach hatten sie oft Geschäfte in Illinois abzuschließen.

Indiana war ein trockener Staat. Manchmal kamen meine Onkel. Sie blieben bei uns, und ich hörte zu, wenn sie von der alten Farm in Indiana und von Großvater David Condon erzählten, der aus Irland gekommen war und vor meiner Geburt starb. Er muss ein großer Mann gewesen sein, dachte ich; seine Söhne waren groß und stark, aber sie sprachen über ihren Vater, als ob er noch größer und stärker als sie alle zusammen gewesen wäre. Sie sprachen über den Saloon, den Pa in Indiana, in Goodland, hatte, bevor der Staat trocken wurde. Nach einer Weile standen sie dann auf und besuchten den Saloon, den Pa in Momence, Illinois, hatte. Der Saloon war mal auf dieser oder jener Straßenseite, das hing davon ab, wie die Leute wählten. Range Street lief mitten durch Momence, und mitten durch die Range Street lief …

Momence

DIE KNEIPE WAR auf der einen Seite der Straße, oder aber auch auf der anderen Seite, das hing davon ab, wie die Leute wählten. Range Street lief mitten durch Momence, und mitten durch die Range Street lief die Grenze, die Momence Township von Ganeer Township trennte. Die Gemeindewahlen waren eine volkstümliche politische Ablenkung. Die eine oder die andere dieser Stadtgemeinden wählte jeweils die »Trockenen« hinein und die »Feuchten« heraus, oder die Feuchten herein und die Trockenen hinaus. Ein Mädchen namens Laura Brady hatte einen Hutladen auf der anderen Seite der Straße, gegenüber der Wirtschaft, und dabei blieb es. Wenn Lauras Seite feucht war und Pas Seite trocken, dann tauschte sie ihren Laden mit ihm aus. Wenn Pas Seite dann wieder mal trocken wurde und Lauras feucht, dann zogen sie wieder um. In jedem Fall war Lauras Laden gegenüber der Kneipe, und Pas Kunden hatten nur zu überlegen, ob sie links oder rechts hineingehen mussten, wenn sie die Straße heraufkamen, damit sie ein Bier kriegten und nicht etwa einen Hut. Schließlich wurden beide Seiten trocken, und Pa musste aufgeben. Aber das war erst später.

Pennies wurden nie in die Kasse gelegt; Pa hatte den Aberglauben, sie dürften zu nichts anderem als zu karitativen Zwecken ausgegeben werden. Er steckte sie in einen Mixbecher ganz hinten an der Theke, und er instruierte die Kellner, es genauso zu machen. Ich schickte die Kinder, die draußen herumliefen, ein Stück weiter nach hinten. Dann ging ich von der Straße aus hinein, schritt durch den kalten Bierdunst bis ans Ende der Theke, wartete auf eine günstige Gelegenheit, steckte meine Hand in den Mixbecher, nahm eine Handvoll Pennies und rannte aus dem Hinterausgang wieder hinaus. Dann leerten wir alle Kaugummi-Automaten der Stadt.

Manchmal trafen wir auf Cliff, meinen ältesten Bruder. Er arbeitete für das Kraftwerk, und man konnte ihn überall treffen, wenn er auf einen Mast kletterte oder einen Kurzschluss reparierte. Wir hörten ihm zu, wenn er sang; Allan von der Schmidt kam vorbei und spielte auf dem Kornett. Cliff betätigte abends die Filmvorführmaschinen im Bijou. Während sein Gehilfe zwischen der ersten und zweiten Vorführung den Film zurückspulte, ging er nach unten und sang auf der Bühne den Schlager des Tages. Dazu wurden farbige Diapositive gezeigt. Wenn er morgens zur Arbeit ging, hielt er an der Drogerie, wo der Film ausgeliefert wurde. Er packte die Dias mit dem Tagesschlager aus und studierte sie; irgendwo auf dem Weg traf er dann auf Allan, und der musste ihm die Melodie auf seinem Kornett vorspielen.

Wenn wir Cliff fanden und er ein neues Lied einstudiert hatte, dann war es uns meist einen Nickel oder einen Dime wert. Cliff sang alles vom Tenor bis zum Bass; er war der erste Mann im Chor der St. Patrick’s-Kirche, der Rest des Condon-Mobs stand hinter ihm.

Gut geschätzt hatte Momence 3000 Einwohner und ein paar Flusshühner. Es gab eine Menge Franzosen, Polen und Condons. Unsere Familie arbeitete nach demokratischen Grundsätzen; draußen traten wir geeint gegen alle Welt an, zu Hause schlugen wir uns – aus Trainingsgründen. Wenn einer von uns einen Auftrag von Ma bekam, dann konnte er ihn entweder selbst ausführen oder versuchen, einen anderen ranzukriegen. Mama konnte so zu Dot (sie war auf Florence getauft, aber sie weigerte sich, darauf zu hören) sagen: »Geh hinunter und schau mal nach dem Ofen.« Dann konnte es sein, dass ich gerade durch die Hintertür hereinkam – das war kürzer, als um das Haus herumzugehen, und da war auch immer mal die Gelegenheit, von Ma eine Süßigkeit oder ein Stück Kuchen zu ergattern. »Geh runter und schau nach dem Ofen«, würde Dot dann zu mir sagen. Dann ging ich zurück zur Kellertür, die Treppe halb hinunter, wieder herauf und sagte: »Er ist noch da«, bevor ich mich davonmachte. Nach unseren Regeln war das fair.

Ich hatte eine Art Tarnfarbe: bei mir war alles khaki – meine Hosen, das Hemd, meine Haut und mein Haar. Manchmal sah mich Ma nicht einmal, wenn ich direkt vor ihr stand; dann zog sie Jim, den Nächstälteren, zu irgendeiner Arbeit heran. Wir mussten die Maiskolben, die Ma zum Ofen anzünden brauchte, hereinholen. Wenn wir uns stritten, wer den Korb tragen sollte, sagte Ma: »Tragt ihn zusammen, oder ich schneide euch die Haare.« Einmal schnitt sie uns tatsächlich die Haare ab. Wir schämten uns wochenlang, wenn wir nach draußen mussten.

Als wir alt genug waren, mussten Jim und ich das Geschirr abtrocknen; wir schmissen eine Menge dabei hin, aber das war zu der Zeit schon ein alter Trick, und kein Mensch kam, um uns die Trockentücher wegzunehmen. »Werft nur nicht die Pluggy Mitchell Schüssel hin«, pflegte Ma zu sagen. Ich wusste nicht, warum die Pluggy Mitchell Schüssel so genannt wurde, aber ich schätzte, Pluggy müsste wohl ein Mordskerl sein, darum ließ ich sie nie fallen.

In der Familie gab es ’ne Menge interner Ausdrücke. Ein Glas Schnaps hieß »Mr. Smith’s Other«. Irgendwo in Indiana gab es einmal eine Mrs. Smith, die jeden Tag einem Mr. Smith das Mittagessen brachte. Das Paket enthielt Fleisch, Kartoffeln, Brot, Kuchen, Kaffee und »das andere« – eine halbe Flasche Whisky.

Wenn jemand irgendetwas oder irgendeinen anderen kritisierte, so endete es mit der Frage: »Was ist mit Hank?« Ich hatte einen Freund, dessen Vater viel älter als seine Mutter war. Einmal hörte ich, wie eine meiner Schwestern sagte, das sei aber komisch mit Hanks Vater, so alt zu sein und dann noch einen so jungen Sohn wie Hank zu haben. Da stürzte ich in die Küche und rief mit erhobenen Fäusten: »Was ist mit Hank?«

Wir hatten auch noch eine Geheimsprache, die wir Hudge Gudge nannten. Wir lernten sie von einem Franzosen, George Bourjois. Er quasselte Englisch so schnell und mit einem so fürchterlichen Akzent, dass man sein Gerede wie eine Fremdsprache studieren musste. Wir sprachen auch Englisch, besonders unter uns Freunden – Boonya Bydalek, Neun-Zehen Demack, Schweinchen Jarvis, Nachtfalke und »88« Mitchell, Ziege Bukoski, Bulldogge Reynolds, Schlange Kirby, Blümchen Gibeault, Ratte Bukoski und Kittyboo Chipman.

Wir saßen alle zusammen am Tisch, und wenn einer noch einmal aufstand, weil er etwas vergessen hatte, dann war er für diese Mahlzeit fertig. Jeder wollte noch etwas von ihm geholt haben; wenn er vor dem Nachtisch wieder auf seinen Stuhl kam, dann war er eine Gazelle. Ma backte alles selbst, die Mädchen halfen ihr dabei – Brot, Kuchen, Strudel, Torten, Semmeln. Pa brachte gewöhnlich Gäste zum Mittagstisch mit; irgendeiner aus dem trockenen Indiana kam immer schon mal vorbei. Er erhielt dann einen Schluck von »Mr. Smith’s Other« und setzte sich zu uns zum Essen. Ein alter Freund der Familie, aus Goodland, wurde sentimental, als er uns verließ; er schüttelte Pa die Hand und sagte: »Komm doch mal raus und besuche mich, und bringe …«, dann schaute er sich um und sah, wie wir ihn alle anstarrten, »… und bringe die lieben Kinder mit.«

Das Haus in Momence, Eddie im Vordergrund, Illinois, 1907

Gelegentlich sahen wir Onkel Jerr, einen von Mas Brüdern. Jerr meinte, man könne auf zwei Arten leben; man könne sein Vergnügen haben, oder man könne arbeiten. Jerr zog das Vergnügen vor, darum fror die Familie seine Erbschaft ein und rationierte sie; er erhielt immer nur kleine Raten ausbezahlt. Jerr machte das großen Spaß, vor allem als einer der Männer, die an dieser Rationierungsmaßnahme beteiligt waren, eine Bankpleite verursachte. »Der einzige Unterschied zwischen mir und Dennis«, sagte er über einen seiner fleißigen und wirtschaftlich vorsichtigeren Brüder, »ist, dass Dennis eine Bügelfalte in seinen Hosen hat.« Einmal nahm Jerr tatsächlich eine Arbeit an, bei Leuten im Wald. Er kam schnell zurück. »So was habe ich noch nicht gesehen«, sagte er. »Nichts zu lesen, außer dem, was auf den Zuckersäcken und auf dem Einwickelpapier steht. Das schlechteste Essen, das ich je aß. Der gebratene Speck war so hart, dass er hochflog und einem die Augen ausstieß, wenn man ihn mit der Gabel aufnehmen wollte. Und dafür, dachten sie, würde ich den ganzen Tag arbeiten.«

Jerr trug einen Rollkragenpullover, Derbyhosen, Tennisschuhe und einen Gentleman-Schnurrbart. Wenn er eine Rate seiner Erbschaft erhielt, ging er vom trockenen Indiana in das feuchte Illinois. Einmal wurde er eine Zeitlang vermisst. Zu der Zeit fand man einen Körper, der mit dem Gesicht nach unten in einer Kiesgrube in der Nähe des Kankakee Sees trieb. Die Größe, die Kleidung, der Schnurrbart und eine Narbe an der Lippe wiesen auf Jerr hin. Er wurde identifiziert und nach Indiana überführt. Die Familie zog ihm einen Phantasieanzug an und hielt einen erstklassigen Leichenschmaus ab; die besten Köche in Benton County schickten ihre Kostproben; die Leute kamen aus drei Staaten – Freunde, Verwandte und Feinschmecker. Alles lief gut ab, bis Jerr hereinkam; da er Pantoffeln trug, hörte ihn niemand. Er ging direkt zu seiner Schwester Mary und sagte: »Was, in Teufels Namen, soll das heißen, dass ihr mich nicht zu meinem eigenen Leichenschmaus einladet? Bin ich denn ein so schlechter Kerl?« Die Frauen fielen um wie die Fliegen. Als dann diejenigen, die nicht ohnmächtig geworden waren, schließlich sahen, dass ihm kein Rattenschwarm folgte und dass auch kein Wasser aus seinen Kleidern tropfte, erkannten sie schließlich, dass er lebte. Es wurde anschließend noch eine sehr dufte Party.

Jerr starb schließlich in einem Krankenhaus, dabei gewann er die Wette mit dem Mann im benachbarten Bett; Jerr wettete, er sei zuerst dran, und er war es auch. Er stieg mit einer roten Weste in den Sarg; er hatte nicht sehr viel Respekt vor dem Tod. Einmal, als ein Knecht Amok lief und dabei seinen Arbeitgeber tötete, sagte man Onkel Jerr, dass dieser Mann zum Hängen verurteilt worden sei. »Zur Hölle«, sagte Jerr. »Sie sollten ihn schärfer bestrafen und ihm den Kautabak entziehen.«

Wir schwammen oft in einem Steinbruch in der Nähe von Momence. Die erste Felskante lag zehn Fuß unter der Wasseroberfläche, man konnte sie also nicht sehen. Schwimmen lernte man im Fluss; der Steinbruch war nichts für Anfänger. Eine Schmalspurbahn führte in die Grube hinein. Wir benutzten sie zu den Aufnahmeprüfungen in unsere Bande. Wenn man tauchen konnte, die Hände an die Schienen brachte, sich Hand über Hand nach unten zog und dort eine Weiche umstellte, dann war man aufgenommen. Die Kinder oben konnten das »Klick« hören, wenn unten die Weiche umschlug.

Im Fluss fischten wir, ruderten, schwammen und legten Netze aus. Ein Netz reichte fast von der einen bis zur anderen Sandbank. Es wurde mit Gewichten unter Wasser gehalten. Auf seiner ganzen Länge hatte es Haken. Man musste nur die Köder auf die Haken stecken und zweimal am Tag wiederkommen, um die Fische zu holen. Wenn wir nichts Besonderes im Netz hatten, besuchten wir die anderen Netze, besonders diejenigen, die den Prairies gehörten. Die Prairies waren eine große Familie, die am Fluss wohnte. Pa sagte, sie hätten ihren Namen auf jeden Fisch im Kankakee gestempelt. Wir haben den Stempel niemals gesehen, obwohl wir oft jeden Fisch in den Netzen der Prairies kontrollierten. Schließlich kamen die Prairies mit Gewehren und setzten sich auf die Flussbänke. Wir mussten unsere wissenschaftlichen Untersuchungen aufgeben.

Im Fluss waren auch seichte Stellen, eine davon, etwa drei Meilen südlich der Stadt, hatte einen sandigen Grund. Dorthin gingen wir im Sommer schwimmen. John musste eine Bandage tragen, um eine verletzte Kniescheibe und eine tückische Hüftgelenkerkrankung zu korrigieren. Martina schlug sich für ihn, und wir alle halfen ihm, die Bandagen abzukriegen, damit er schwimmen konnte. Ma wunderte sich, warum er abends so müde war, aber das Schwimmen brachte es fertig. John konnte seine Bandagen schließlich wegwerfen und ohne Hilfe laufen.

Über den Fluss spannte sich in der Mitte der Stadt eine Brücke. Eines Tages hängten Jim und ich Lloyd Black daran auf. Er wollte uns nicht sein neues Taschenmesser geben. Wir zogen ein Seil durch seinen Gürtel, ließen ihn hinunter und dann hängen. Irgendwer sah uns dabei und erzählte es Pa. Er ging zur Brücke und zog Lloyd wieder herauf, dann kam er und fand uns. Wir probierten das Messer aus: wir schnitten unsere Initialen in die Fensterbänke des Hauses, das sich der Bankier der Stadt gerade neu bauen ließ.

Schließlich zwangen sie mich in die Schule. Alle katholischen Kinder der Stadt gingen in die St. Patrick’s-Akademie. In der Mehrzahl waren dort Internatsschüler untergebracht, die auf uns eifersüchtig waren, weil sie uns beneideten. Wir gingen in die Schule, aßen Äpfel und konnten jeden Tag nach Hause. Ihre Eltern lebten getrennt oder waren viel unterwegs. Sie riefen uns immer etwas nach, wenn wir nach Hause gingen. Im Winter machten wir Schneeballschlachten; jeder Schneeball enthielt einen Stein. Im Sommer schwänzten wir schon freitags die Schule und wurden montags von Pater LaBrie mit dem Lineal verdroschen. Aber das Herumlaufen in den Wäldern und das Rumoren auf dem Fluss war uns die Sache wert. In den Wäldern pflückten wir Veilchen.

Die meisten Katholiken in der Stadt waren Kanadier französischer Herkunft. Pater LaBrie hielt jeden Sonntag seine Predigt in französischer und in englischer Sprache. Zu Hause wurden wir auch in Religion unterrichtet. Wir hatten ein altes Familienkruzifix, so schwer wie ein Bleirohr, mit einem kleinen Schädel und Knochen am unteren Ende. Eines Tages nahm mich Ma auf den Schoß, legte das Kruzifix auf den Tisch und erzählte mir von Jesus. Zum Abschluss fragte sie mich: »Ist da noch etwas, was du mich gerne fragen möchtest?« Ich zeigte auf den Schädel und die gekreuzten Knochen. »Wer ist dieser kleine Dummkopf da unten?«, fragte ich.

Dann musste ich schließlich auch zur ersten Kommunion. Am Tag vor diesem Ereignis ging ich in die Kirche und erzählte Pater LaBrie meine Sünden. Als ich zurückkam, ging ich in die Küche, wo Ma am Herd arbeitete. »Hast du gut gebeichtet?«, fragte sie.

»Oh, sicher«, sagte ich. »Es war prima.«

»Was hast du Pater LaBrie denn erzählt?«

»Och, all das Zeug, was ich nicht tun darf.«

»Dass du nicht tust, was ich dir sage, zu spät zum Essen kommst, Märchen erzählst und dich mit Jim schlägst?«

»Sicher, den ganzen Kram.«

»Hast du ihm erzählt, wie du mit Jim Hufeisen abgestimmt hast und ihr euch über eine Tonhöhe gestritten habt und du mit dem Hufeisen nach ihm geworfen hast?«

»Jim macht sich nichts mehr daraus. Ich habe ihn nicht getroffen, er haute mir eine runter und brach mir einen Zahn aus.«

»Nun, was hast du Pater LaBrie denn sonst noch erzählt?«

»Och, so den normalen Kram, wie Ehebruch.«

»Ehebruch?« Sie machte den Ofen auf und steckte ihren Kopf hinein, um nach dem Maisbrot zu schauen.

»Ja sicher, vierzehnmal.«

»Das ist aber oft. Was sagte Pater LaBrie?«

»Er sagte, ich dürfte das nicht so oft machen. Er sagte, ich solle mich bezähmen.«

»Na, ich hoffe, du tust es auch. Wie kommst du nur dazu, so oft Ehebruch zu begehen?« Sie konnte anscheinend nicht rauskriegen, was mit dem Brot los war; sie blieb immer noch mit dem Kopf im Ofen.

»Ja, das ist immer, wenn ich allein bin.«

»Allein? Ach so, natürlich. Ich vergaß es ganz, dass du so Ehebruch begehst.«

»Sicher. Ich gehe ganz allein in eine Ecke und fluche wie der Teufel. Es ist schon sehr schlecht.«

»Das glaube ich auch. Ich fürchte, du musst dich zusammennehmen.«

Martina wurde bei den Gebeten in eine falsche Richtung gelenkt. Grace unterrichtete sie; Martina wiederholte jeden Abend ihre Worte. Eines Abends leierte Grace »Heilige Maria, voller Gnaden …«, als sie von Martina unterbrochen wurde. »Ich kann jetzt selber beten«, sagte sie. »Geh du raus.« Grace war das recht; sie nahm an, ihre Arbeit sei getan; die Nonnen von St. Patrick würden ihr den letzten Schliff geben. Jahre vergingen, bis Ma zufällig einmal hörte, wie Martina betete: »Hail Mary, full of Martina …« statt »Hail Mary, full of grace …«

Martina war die jüngste Schwester; sie schlug sich für John, aber nur mit Nichtverwandten. Zu Hause boxte mich Jim, dann erzählte ich das John, dann boxte John den Jim, dann erzählte Jim das der Martina, und Martina verhaute John. Da ich der Jüngste und Kleinste war, hatte ich keinen, an den ich mich hängen konnte, außer Byron Tenant. Byron war etwas komisch, aber man konnte gut mit ihm auskommen. Wenn wir Weintrauben pflückten, aß er die Haut und spuckte das Traubenfleisch aus. Er stopfte sich Kieselsteine in die Nasenlöcher und rannte den ganzen Tag damit herum. Einmal hat Ma Byron und mich damit beauftragt, den Keller aufräumen. Auf den Regalen fanden wir eine Menge schöner Flaschen. Das Zeug darinnen war von wundervoller Farbe; manches war grün, manches gelb, und wieder anderes war weiß. Wir tranken aus jeder Flasche ein wenig. Ma fand uns unter dem Kirschbaum im Hinterhof, eingeschlafen und voll von Absinth, Crème de Menthe, Fernet Branca, Benediktiner, Chartreuse und Strega.

Bevor ich das erste Mal zur Kirche ging, hatte ich die blasse Vorstellung, die Messe sei ein Gesangsfest. An jedem Sonntagmorgen wurde in allen Ecken des Hauses das Programm des Chores geprobt; die Klänge kamen aus der Küche, dem Esszimmer und aus den verschiedenen Schlafzimmern. Jeder, der durchs Wohnzimmer kam, schlug einen Akkord auf dem Klavier an, um die Tonlage festzustellen. Bei meinem ersten Besuch in der St. Patrick’s-Kirche saß ich mit Ma im Familienstuhl. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich hinter und über mir den Chor entdeckte. Da rief ich: »Huhuuu, Lucille!« Ma befahl, ich solle mich umdrehen und stillsitzen. »Warum müssen wir denn nach dort schauen?«, wollte ich wissen. Ich konnte nicht herausfinden, warum die Leute zum Altar starrten, obwohl die Musik doch von einer ganz anderen Seite kam. Als ich die Sache begriffen hatte, wollte ich Messdiener werden. Ich war zu jung, aber ich überredete die Messdiener, mich für die Benediktion als Kerzenjunge zu trainieren. Heimlich übten sie mit mir, und am Sonntagnachmittag ließen sie mich los. Alles war in Ordnung, bis die Zeit kam, da sich Pater LaBrie neben den Altar zu setzen hatte. Just zur gleichen Zeit wollte auch ich mich ganz gern hinsetzen. Ich schaute mich um, erblickte einen Stuhl und kletterte hinauf. Pater LaBrie setzte sich auf mich. Es war sein Stuhl.

»Sei nicht so ehrgeizig«, flüsterte er, nachdem wir uns wieder voneinander getrennt hatten. »Du bist zu jung, um schon Bischof zu sein.«

Pater LaBrie sah aus wie eine gutmütige Bulldogge. Pa sagte, er sei der einzige zivilisierte Mann in Momence. Er hatte einen weichen, feuchten Händedruck und einen Neffen namens Gabriel, der studieren wollte, um Priester zu werden. Einmal nahm uns Gabriel mit in den Keller, und wir probierten den Messwein. Eine Sorte war reichlich trocken, die andere war süß. Wir tranken von beiden. Nichts passierte. Wir wurden nicht besser. Gabriel entschloss sich, doch nicht Priester zu werden.

Jim und ich hatten einen Gefährten namens Andy Peterson, der war nicht zu erschüttern. Wir hatten einmal eine Fehde mit ihm; Jim und ich versteckten uns hinter einer Hecke, und als Andy mit dem Roller vorbeifuhr, warfen wir ihm Steine an den Kopf. Er stieg von seinem Roller und sah uns mit einer sehr traurigen Miene an. »Das ist ein Höllending«, sagte er. »Ich dachte, dass ihr Kerle meine Freunde seid.«

Als der erste Frost kam, gingen wir alle zusammen los, um Walnüsse zu sammeln. An einem Herbsttag saßen wir oben in einem Baum, als Andy eine Idee hatte. »Wenn ich einen Regenschirm hätte, könnte ich ihn als Fallschirm benutzen und hier hinunterspringen«, sagte er. »Geh nach Hause und hol mir einen, Albert!« Unser Haus war nur eine Ecke weiter, also rannte ich zurück und nahm einen Schirm aus der Diele. Wir stiegen alle vom Baum und beobachteten Andy. Er öffnete den Schirm, krabbelte an das Ende des höchsten Astes und sprang. Soweit ich mich erinnern kann, kam er geradewegs nach unten. Als wir ihn auflasen, sagte er zu mir: »Das war nicht der richtige Schirm. Geh nach Hause und hol mir einen größeren. Ich versuche es noch einmal.«

Andy war an dem Tag bei uns, als wir unser erstes gebrauchtes Fahrrad bekamen. Die Lenkstange war lose, und wir hatten Schwierigkeiten, die Mutter so fest anzuziehen, dass sie festsaß. Wir steckten einen Schraubenschlüssel auf die Mutter, und als wir nicht weiter anziehen konnten, holte Jim einen Baseballschläger. »Haltet das Rad fest. Ich schlage gegen den Schraubenschlüssel«, sagte er. Dann nahm er den Schläger in beide Hände und holte mit aller Kraft nach hinten aus. Er traf Andy, der hinter ihm stand, platt auf den Kopf. »Entschuldigt bitte«, sagte Andy. »Ich wusste nicht, dass ich im Wege stand.«

Wir nahmen das Fahrrad mit zum Fluss hinunter, um es auszuprobieren. Sämtliche Kinder der Prairies liefen uns nach. Es waren fünfzehn, und alle wollten einmal fahren. Wir gaben beim Größten nach, weil wir schätzten, dass wir ihn nicht verhauen konnten. Er trug eine Mütze; er setzte sie kess auf die Stirn und stieg auf das Rad. Als er startete, rutschte die Lenkstange wieder ab, sodass er vornüberglitt. Seine Kappe rutschte ihm über die Augen, und er fuhr geradewegs in den Fluss hinein. »Die Fische werden wissen, wer das ist«, sagte Jim. »Sie sind alle mit ihm verwandt.«

Wir waren gegen die Prairie-Kinder, weil sie mitselbstgemachten Bomben fischten. Sie füllten Karbid in Flaschen, taten Wasser dazu, stopften die Korken darauf und warfen die Flaschen in den Fluss. Fangleinen waren schon schlimm genug; wir machten sie aus Telefondraht, und jede hatte ungefähr fünfzig Haken. Wir pullten im Ruderboot von einer Sandbank zur anderen, zogen die Leine ins Boot, nahmen die Fische ab und steckten neue Köder auf die Haken. Wir fingen Katzenfische, Rotfische, Seebarsche, Kaulköpfe, Hechte und Karpfen. Wir brauchten ’ne Menge Vogelfleisch als Köder. Die Telefondrähte aus der Stadt führten über den Fluss hinweg, und es saßen immer ’ne Menge Schwalben drauf. Wir schossen sie mitSchleudern ab, holten sie aus dem Wasser und zerlegten sie. Andy Peterson zeigte uns, wo wir die beste Munition für unsere Schleudern finden konnten. In der Stadt war eine Fabrik, die Leitern herstellte. Bei der Fabrikation wurden kleine Metallstücke von den Enden der Sprossen gesägt. Diese Stücke passten genau in die Schleudern; wenn man einen starken Arm hatte, waren sie fast so gut wie eine Gewehrkugel.

Ein Mann, er hieß Holycross, hatte auf einer Insel im Fluss ein Sommerhaus. Einmal musste er mit seiner Familie zu einer Beerdigung; die Reise dauerte eine Woche, und er fragte uns, ob wir während seiner Abwesenheit auf das Haus achten wollten. Wir wollten – John, Jim, Martina und ich. Auf der einen Seite der Insel war der Flusslauf seicht; das Vieh kam vom Festland herüber, um tagsüber auf der Insel zu grasen. Wir melkten die Kühe trocken und trugen mit den jungen Bullen Ringkämpfe aus, bis sie erschöpft waren.

Auf der anderen Seite des Festlandes war in der Nähe eine große Hühnerfarm. Wir paddelten mit einem Boot hinüber, krochen durch das Unterholz und schossen pro Tag drei Brathühner zum Mittagessen mit einem 22er-Gewehr. Als Mr. Holycross zurückkam, beschwerten sich die Farmer von beiden Seiten bei ihm. Er ging zu Papa.

Pa hatte viel Geduld und eine Menge Humor. Eines Tages erhielt er von einem Staatsschulbeamten einen Brief, der ihn auf das viele unentschuldigte Fernbleiben seiner Söhne von der Schule hinwies. Der Briefkopf war mit einem feinen Siegel geschmückt; es hatte irgendetwas mit dem Erziehungsministerium zu tun. Pa setzte sich hin und schrieb eine Antwort. Was er schrieb, haben wir nie erfahren, aber als er fertig war, nahm er einen Silberdollar aus seiner Tasche, legte ihn auf den Kopf des Briefbogens und schlug so fest er konnte mit einem Hammer darauf. Dann kritzelte er noch unter seine Unterschrift: »PS. Bitte beachten Sie mein Siegel!« Der Hammer, den er benutzte, war derselbe, den Lucille einmal bei ihm gebraucht hatte. Als sie noch ein Kleinkind war, fand sie ihn auf dem Fußboden des Wohnzimmers, sie schleppte ihn hinaus auf die Terrasse, wo Pa in einer Hängematte schlief. Sie gebrauchte beide Hände und schaffte es, den Hammer hochzuheben und Pa genau zwischen die Augen zu schlagen. Ma sagte immer, dies sei der Augenblick gewesen, an dem er seine großartigen Kenntnisse der englischen Sprache an den Tag gelegt habe.

Ich hörte nur einmal, wie er sein ganzes Vokabularium benutzte. Es war in der Nacht, als einer von uns vergessen hatte, die Murmeln wegzuräumen. Wir hatten eine große Sammlung: gläserne, ganz bunte und einfarbige. Sie sollten immer in einer Blechdose aufbewahrt werden, aber an dem Abend lagen sie verstreut oben auf der Treppe. Pa hatte lange, schmale Füße, aber sie waren nicht so schmal, dass sie nicht doch auf die Murmeln traten. Ich hörte, wie er vom Treppengeländer abprallte; ich war entzückt über seine Worte.

Wir wunderten uns immer, woher er wusste, wo wir waren und was wir machten, aber da die Wirtschaft den ganzen Tag über geöffnet hatte, war das doch eine ziemlich einfache Sache; wenn ein Gast kam und ein Glas Bier trank, erwähnte er nebenher, dass Jim und ich im Fluss fischten oder dass Martina mit Pas neuem Gewehr auf Spatzen schoss. Pa war ein meisterhafter Jäger; er belieferte die Nonnen in der Schule mit Enten und Wild, je nach Jahreszeit. Er hatte eine große Waffensammlung, manche Stücke daraus waren antik. Als mein Bruder John und Jack Clegg eine Fahrt nach New Orleans machten, im Kanu, den Kankakee, den Illinois und den Mississippi hinunter, achtete John sehr darauf, nur keines der antiken Stücke mitzunehmen. Er nahm die neuen Gewehre, die schönsten, die Pa je besessen hatte. Ihr achtzehn Fuß langes Old Town Kanu kenterte während der Fahrt. John und Jack kamen wieder herauf, die Gewehre blieben unten.

Eines Tages musste sich Pa wirklich Sorgen machen. Der Kankakee war im Frühling immer sehr hoch; meine Schwestern Grace und Dot paddelten in einem flachen Boot mit nur einem Paddel, das sie jedoch verloren. Sie winkten angestrengt den Farmern zu, die aber dachten, es handele sich um pure Freundlichkeit, und zurückwinkten. Betty, unsere braunweiße irische Setterhündin, rannte am Ufer entlang, sprang dann ins Wasser und schwamm hinter dem Boot her, bis sie total erschöpft war. Grace und Dot zogen sie ins Boot. Als Pa hörte, dass die Mädchen auf dem Fluss waren, schickte er ein paar Einspänner hinterher, die am Ufer entlangfuhren, bis sie das Boot sichteten. Als die Farmer von den Leuten im Einspänner die Lage erfuhren, telefonierten sie einem Mann namens Hoag; er wohnte ein Stück weiter den Fluss hinunter und zog ein Boot ins Wasser, um sie zu retten. Zur gleichen Zeit, als er die Mädchen ans Ufer brachte, waren wir auch alle dort; wir waren in einem Wagen hingefahren. Grace und Dot waren völlig verängstigt, aber Martina dachte, es habe sich um einen tollen Spaß gehandelt. »Hey, Mr. Hoag«, sagte sie. »Kommich jetzt auch mal dran?«

John Condon

Es kam die Zeit, da wir Betty abschießen mussten, weil sie zu alt geworden war. Wochenlang sprachen wir davon, wir wollten die Exekution möglichst vermeiden. Betty war zwölf Jahre lang ein Mitglied unserer Familie. Als ich noch klein war, ging Ma an einem regnerischen Abend in einem Regenmantel auf den Hof hinaus. Ich hörte, wie Betty sie ankläffte. Ich rannte zur Tür und sagte: »Na, Betty Condon, kennst du deine eigene Mutter nicht?« Wenn ich vom Haus wegging, lief Betty hinter mir her und suchte mich; wenn ich auf die Straße ging, drückte sie mich sanft auf den Gehweg zurück; sie stieß mich nach Hause, wenn sie meinte, es sei Zeit für mich, nach Hause zu gehen. Als ich mich einmal bei einer politischen Versammlung verirrte, war es Betty, die mich schließlich auf der Rednertribüne fand; ich saß auf Gouverneur Dunns Schoß. Wenn wir von der Exekution sprachen, wurden die Jungen halb verrückt, und die Mädchen schluchzten in einer Tour.

Schließlich sagte Martina: »Ich tu’s.« Sie steckte sich einen von Pas 38er-Revolvern in die Bluse, rief Betty und ging mit ihr zum Fluss hinunter. Als sie zurückkam, fehlte eine Kugel, und Betty war tot.

Aber Martina hatte Betty nicht erschossen. Wir fanden das lange Zeit später heraus. Sie ging zu einer einsamen Stelle am Fluss, zog die Kanone heraus und zielte auf Betty. Betty kroch zu ihr heran, schaute auf und winselte. Martina konnte nicht abdrücken. Sie setzte sich auf einen Felsen und heulte, bis George Terell, ein ihr bekannter Junge, mit einem 32er-Gewehr vorbeikam. Er erschoss Betty und warf die Leiche in den Fluss. Martina schluchzte dazu. Als alles vorbei war, trocknete Martina ihre Tränen, schoss einmal in die Luft und ging nach Hause.

Ich vermutete zunächst, Martina hätte Betty erschossen. Damals dachte ich, sie sei sehr tapfer. Ich erinnerte mich des Vorfalls, als Martina entscheiden musste, ob sie mich oder Betty vor dem Ertrinken retten sollte; sie entschloss sich, uns beide zu retten, und sie schaffte es auch. Es war im Winter. Martina, Betty und ich waren zum Fluss gegangen, um Hockeystöcke zu schneiden. Das machten wir so: Wir bogen Weiden herunter, kohlten die Zweige an der Biegung an und schnitten sie dann an der Gabel ab.

Das Eis war tückisch. Zunächst hatte es gefroren, dann getaut, dann war wieder Frost. Oben war eine dünne Eisschicht, dann kam ’ne Menge Wasser, und darunter war festes Eis. Martina und ich machten uns zum gegenüberliegenden Ufer auf. Das Eis krachte, aber wir dachten, wir würden es schaffen. Dann rannte uns Betty nach, und ihr Gewicht war zu viel; wir gingen alle drei ins Wasser. Martina war groß genug, um auf der dicken Eisschicht unter dem Wasser zu stehen, aber sie musste mich hochhalten, damit ich atmen konnte, und sie musste auch noch einen Weg durch das dünne Eis zum Ufer hin brechen. Sie machte es ganz gut, bis sie merkte, dass Betty, die schwer und schon alt war, große Schwierigkeiten hatte, um an der Oberfläche zu bleiben. Sie löste den Griff, mit dem sie mich hielt, und langte nach Betty. Dann fiel ich ihr wieder ein, und sie griff erneut nach mir. Später gab sie zu, überlegt zu haben, wer es wohl wert gewesen wäre, zuerst gerettet zu werden. Während sie so überlegte, stieß sie mich immer weiter vorwärts, zerschlug das Eis und drehte sich nach Betty um, um sie ein Stück weiterzuziehen. Irgendwie kamen wir alle drei ans Ufer; Martina war tagelang erschöpft, und Betty und ich hatten uns eine Erkältung zugezogen.

Nach Bettys Ermordung fingen Martina und ich einen Straßenköter ein, aus dem wir einen Foxterrier machten. Ich hielt ihn fest, während Martina ihm den Schwanz stutzte.