Jeder Mensch will ankommen - Sven Lager - E-Book

Jeder Mensch will ankommen E-Book

Sven Lager

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Beschreibung

Wer Flüchtlingsarbeit machen will, fragt nach Erfahrungen, die andere bereits gemacht haben, und sucht Gleichgesinnte. Sven Lager und Gerold Vorländer gründeten das "Refugio" – ein Gemeinschaftshaus der "Berliner Stadtmission", in dem Geflüchtete und Einheimische gemeinsam leben und arbeiten. In diesem Buch schildern sie Hintergründe und Formen der Flüchtlingsarbeit und machen deutlich, wie der christliche Glaube sie bei ihrer Arbeit leitet. Dabei kommen Geflüchtete, einheimische Bewohner und Mitarbeitende aus verschiedenen Projekten zu Wort und erzählen lebendig ihre Geschichten: welche Hoffnungen und Herausforderungen, Emotionen und Unsicherheiten eine Rolle spielen. Welche Konflikte entstehen und wie man damit umgehen kann. Eine ermutigende Inspiration für das eigene Handeln.

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Seitenzahl: 180

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Sven Lager ı Gerold Vorländer

Jeder Mensch

will

ankommen

Erfahrungsberichte und Anregungen für die Arbeit mit Geflüchteten

© Brunnen Verlag Gießen 2017

Umschlagfoto: Aman Ahmed Khan/shutterstock

Umschlagillustration: Seita/shutterstock

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

Fotos im Innenteil: Sven Lager, außer S. 62: Gerold Vorländer und S. 105: Peiroti Nasser

Satz: DTP Brunnen

Druck: CPI Books GmbH, Leck

ISBN Buch 978-3-7655-2076-1

ISBN E-Book 978-3-7655-7476-4

www.brunnen-verlag.de

Inhalt

Der Sprung ins Wasser – Alex erzählt

Zu diesem Buch

Flüchtlingsarbeit der Berliner Stadtmission

Sharehaus Refugio

Werkstatt für Himmlische Gesellschaft – Biblische Perspektiven

I. Auf der Suche nach einer Zuflucht

Mahamoud

Lena erzählt

Lukas erzählt

Gespräch 1

In Sicherheit!

Infoblock 1: Fluchtursachen

II. Qualifizierte Zeit

Ernüchterung

Geflüchtete im Pilgerzimmer

Erfahrungen aus dem Sprachcafé

Gespräch 2

Ein langer Sommer

Infoblock 2: Integrationsarbeit von Beginn an (mit sechs Projektideen)

III. Konflikte und Integration

Massenschlägerei und Versöhnung

Eine herausfordernde Mieterversammlung

Gespräch 3

Von unbeaufsichtigten Kindern und abgerupften Blumen

Infoblock 3: Straftaten von und an Flüchtlingen

IV. Interkulturelle Begegnung

Begegnungen mit dem Grundgesetz

Rama und die Höflichkeit

Hassan und das Geld

Gespräch 4

Gemeinsam essen

Infoblock 4: Integrationsarbeit mit Empathie und Kenntnissen

V. Respekt, Zeugnis und die Bedeutungvon persönlichem Glauben

Vom Träumen und Glauben – Meriem erzählt

Esra – eine junge Frau zwischen den Welten

Als Muslim ernst genommen werden

Brückenbauerin zwischen Religionen und Kulturen

Infoblock 5: Dialog, Mission, Respekt

Taufen im Hermsdorfer See

VI. Erneuerung

Malakeh, Königin der Küche

Mahamoud 2

Gespräch 5

Eine neue Familie

Infoblock 6: Ehrenamt und Berufsfindung

VII. Gemeinschaft leben

Storytelling und Ordnung

Landgasthof

Fortsetzungsgeschichten

1. Versuch abgebrochen

2. Abgeschoben

3. Grauer Alltag

4. Nasib will nicht ausziehen.

Ausblick

Danksagung

Der Sprung ins Wasser – Alex erzählt

Zwei Stunden lang schwamm ich im Mittelmeer. Unser Boot, das uns von Libyen nach Italien bringen sollte, war eins von den vielen, die gekentert sind. Gott sei Dank sah ich die Gefahr frühzeitig und hab mich mit einem Sprung ins Wasser gerettet. Die meisten anderen sind ertrunken, als das Boot umschlug. Im unteren Deck waren Familien. Die hatten keine Chance zu entkommen. Als ich dann im Meer schwamm, war um mich herum kein Leben – keine Menschenseele. Aber ich wusste, ich werde leben! Genau da habe ich die Ruhe und die Kraft Gottes in mir gespürt.

Irgendwann hat mich die italienische Küstenwache aus dem Wasser gezogen.

Schon 2006 bin ich aus Syrien geflohen. Damals gab es gerade die Verhaftungswelle von Oppositionellen durch das Assad-Regime und wie in den Vorjahren viele Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Stellen. Und der IS kam immer weiter voran. Ich habe mich nach Libyen abgesetzt und dort erst mal als Journalist in einem syrischen Oppositionsbüro gearbeitet. Nebenher baute ich einen kleinen Laden für Laptop­reparaturen auf und heiratete wieder.

Aber dann kam der IS auch nach Libyen. Eines Tages nahmen sie mich gefangen. Ich wurde monatelang eingesperrt und gefoltert. Aber irgendwie konnte ich Vertrauen zu einem meiner Wächter aufbauen. Ich hatte auch noch Geld. Und so hat der mir geholfen, zu fliehen und ein Boot nach Europa zu erwischen. Meine Frau und mein Sohn mussten leider zurückbleiben.

Von Italien kam ich mit der Bahn nach Deutschland, Frankfurt, Dortmund und von dort hat man mich nach Berlin geschickt. Ich weiß noch genau: Da stand ich im Hauptbahnhof mit einer Wegbeschreibung zu einer Notunterkunft in Spandau. Die hatte man mir beim LaGeSo (Landesamt für Gesundheit und Soziales, Registrierstelle) ausgehändigt. Aber ich hatte keine Ahnung, wo das ist und wie ich dahin finden sollte. Es war auch schon Abend. Da habe ich einfach auf Englisch eine etwas ältere Frau angesprochen, ob sie mir vielleicht helfen kann. Die schaute erst mich an, dann den Zettel. Und dann sagte sie: „Kommen Sie, ich bring Sie hin.“ Dabei musste sie selbst gar nicht nach Spandau! Da fährt man ja bestimmt eine halbe bis Dreiviertelstunde hin vom Hauptbahnhof. Aber sie ist mit mir in die S-Bahn gestiegen und hat mich bis vor die Tür der Notunterkunft gebracht. Ich war tief berührt und ihr so dankbar. An diesem Abend habe ich beschlossen: Ich will Deutschland etwas zurückgeben. Wenn es hier solche Menschen gibt!

In Spandau musste ich erst mal einige Zeit ins Krankenhaus, wegen der Folterverletzungen, die der IS mir zugefügt hatte, und anderen Beschwerden, die von der Angst kamen. Einige Zeit später lernte ich durch zwei Künstlerinnen aus Weißensee bei einem Projekt Sven Lager kennen. Der leitete das erste Sharehaus in Kreuzberg. So ein Nachbarschafts­projekt, wo jeder hinkommen und etwas gestalten kann, und wo viele Veranstaltungen stattfanden. Im Haus, in der Wohnung drüber, wohnte schon ein syrischer Flüchtling, Musiker und Christ. Den lernte ich da kennen. Mit Sven und im Sharehaus wurde ich auch Christ. Der Islam war mir schon lange fremd gewesen, ich war eher ein Zweifler. Ich komme aus einer jüdischen Familie, die vor drei Generationen nur aus politischen Gründen zum Islam übergetreten ist, und ich lehnte Religion eigentlich ab. Auf der Flucht aber hatte ich wieder Gottes Gegenwart gespürt und in Deutschland war ich endlich sicher genug, mich dafür entscheiden zu können. Mein Christsein zog allerdings viele Schwierigkeiten nach sich – für meine Frau in Libyen und unter anderen muslimischen Geflüchteten. Aber mein Glaube war stark.

Im Sharehaus trafen wir uns mindestens einmal in der Woche zum Essen. Sven erzählte mir, dass er vielleicht bald ein Zimmer für mich hätte. Die Berliner Stadtmission hatte ein Haus in Nord-Neukölln. Sven, seine Frau Elke, Gerold Vorländer und Andreas Schlamm von der Berliner Stadtmission überlegten gerade, wie das Sharehaus dort in größerem Maßstab aufgebaut werden könnte. Zusammen mit anderen Geflohenen wurde auch ich gefragt, ob ich einziehen möchte. Und so entstand das Refugio, wo Flüchtlinge und Einheimische zusammen wohnen.

Im Juli 2015 bin ich dann dort eingezogen, als einer der Ersten. Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich sicher, wirklich geborgen. Ich fing dann auch ziemlich bald an, zu den Bibelmeditationen zu gehen, die Sven anbietet. Und wie schon im kleinen Sharehaus zuvor haben wir viel zusammen gebetet und er hat mich auf meinem schwierigen Weg begleitet.

Ich bin Deutschland und den Menschen sehr dankbar. Was für ein schönes Land. Jetzt wollte ich Deutschland endlich etwas zurückgeben! Ich wusste inzwischen auch durch die Arbeit der Berliner Stadtmission, dass es in Berlin viele Obdachlose gibt. Und ich kann ganz gut kochen. Also dachte ich mir, ich könnte ja für die mal was kochen. Ich hatte auch schon Pläne, wie ich das anfangen wollte. Dorit, die bei der Stadtmission arbeitet, und Christoph von meiner Gemeinde, dem Kreuzbergprojekt, hatten Lust, mir zu helfen.

Von dem Geld, das ich vom Arbeitsamt bekomme – die bezahlen ja auch noch mein Zimmer im Refugio –, kaufte ich Lebensmittel. Und dann kochten wir auf unserer Etagenküche im Refugio. Große Töpfe voll. Als wir fertig waren, packten wir alles ein – auch noch ein kleines Klapptischchen – und fuhren mit den Sachen zum Kotti (Platz am Kottbusser Tor in Kreuzberg). Wir dachten, da würden wir Obdachlose treffen. Aber da gab es überhaupt keine. Wir standen ein bisschen dumm herum mit unserem Essen. Zum Glück kam gerade eine Bekannte vorbei, die uns den Tipp gab, zum Alexanderplatz zu fahren. Da fanden wir dann Obdachlose und begannen, an die unser Essen zu verteilen. Die haben erst ziemlich gestaunt. Aber ich glaube, die fanden das dann wirklich gut.

Von da an habe ich das fast jeden Samstag gemacht. Mal alleine, mal mit anderen.

Tabea, die ein Praktikum im Refugio machte, postete dann irgendwann mal ein Foto von mir mit meinen Töpfen auf dem Alexanderplatz auf Facebook. Vorne an dem Tischchen klebt immer ein Zettel: „Give ­Something Back To The German People“ – und meine E-Mail-Adresse. Das war total verrückt: Ein paar Tage später ging dieser kleine Facebook­eintrag um die halbe Erde. Und hier in Berlin standen die Zeitungen und Fernsehsender regelrecht Schlange. Ich wollte doch nicht berühmt werden! Aber die Aufmerksamkeit tat mir erst mal gut. Ich konnte meine Geschichte erzählen, die Geschichte vieler Menschen, die fliehen mussten. Und dass wir gerne aktiv Danke sagen wollen, statt nur in Heimen und Notunterkünften warten zu müssen.

Danach schrieben mich Leute an, die mir Geld geben wollten. Aber das wollte ich nicht. Es ist ja mein Dankeschön von meinem wenigen Geld. Ich habe genug, um die Lebensmittel zu bezahlen. Lieber sollen sie selbst so etwas tun für Obdachlose oder andere in Not, statt zu ver­suchen, sich mit Geld für mein Projekt „freizukaufen“.

Viele verschiedene Menschen helfen mir. Ein gutes Dutzend. Da sind Geflüchtete und Einheimische aus dem Refugio, sogar die kleine Tochter eines Ehrenamtlichen, ein deutscher Muslim war mal dabei, es kommen auch immer wieder neue Leute. Eine ganz tolle Truppe und immer wieder eine schöne Erfahrung am Alexanderplatz.

Die große Medienaufmerksamkeit ist inzwischen zum Glück vorbei. Wir wurden so oft gefilmt beim Essenverteilen, das war auch anstrengend. Jetzt ist es friedlicher. Ich kann mich wieder mehr um mein Leben kümmern. Deutsch lernen zum Beispiel ist für mich nicht so einfach. Man kann sich hier in Berlin wunderbar auf Englisch verständigen. Und ich habe sehr viel zu tun. Ich suche Arbeit, mache vielleicht mal wieder einen Computershop auf. Und langsam wird das auch mit der Sprache besser. Im Refugio versuchen wir, Deutsch miteinander zu sprechen. Ich habe jedenfalls hier wunderbare Menschen kennengelernt und Freunde gefunden. Manchmal habe ich Lust, aufs Land zu ziehen. Ruhe zu haben und Frieden. Aber ich will auch mein Projekt nicht aufgeben. Ich hoffe, dass ich noch mehr zurückgeben und Deutschland Gutes tun kann.

Die traurige Realität vieler Geflüchteter in Deutschland ist, dass ihre Familien weiterhin im Kriegsgebiet leben müssen. Alex konnte seine Familie aus Libyen nicht nachholen. Im April 2016 geschah das Furchtbare: Sein vierjähriger Sohn starb bei Kämpfen zwischen IS und Oppositionskräften. Es war schrecklich für Alex, und dann auch noch so weit weg zu sein. Er konnte nicht zur Beerdigung fahren. Im Refugio trafen wir uns als Hausbewohner und mit seinen Freunden zu einem Trauergottesdienst für seinen Sohn. Es war ein Tag mit vielen Tränen und herzlicher Anteilnahme. Und diese Anteilnahme hatte trotz allem Schrecken auch etwas Heilsames für Alex.

Zu diesem Buch

Menschen fliehen nach Europa, nach Deutschland. Das ist kein neues Phänomen. Und doch hat die enorm hohe Anzahl von neu ankommenden Flüchtlingen im Jahr 2015 unsere Gesellschaft, ja ganz Europa durchgerüttelt wie schon lange nicht mehr. Auch wenn im darauffolgenden Jahr der Flüchtlingszustrom durch harte Maßnahmen erheblich eingedämmt wurde, besteht kein Zweifel, dass dieses Thema uns auch weiterhin intensiv beschäftigen wird. Neue Flüchtlinge werden Wege finden. Wir werden auch weiterhin herausgefordert sein, damit umzugehen, möglichst konstruktiv. Und Christen sehen sich dabei besonders in der Verantwortung – vor Gott und den Menschen.

In diesem Buch möchten wir Geschichten aus der Flüchtlingsarbeit der Berliner Stadtmission erzählen. Sehr unterschiedliche Geschichten oder auch Geschichten mit sehr unterschiedlichen Facetten, schönen und schweren, traurigen und fröhlichen. So wie die von Alex. Wir erzählen von Menschen, von dem, was sie erlebt haben und was sie bewegt. Dabei spielt es keine so große Rolle, aus welchem Land sie stammen. Auch Deutsche brauchen manchmal eine Zuflucht, sehnen sich nach Gemeinschaft und suchen nach Erneuerung. Jeder Mensch will ankommen.

Wir wollen berühren, inspirieren und informieren. Im besten Fall führt das dazu, dass Sie, unsere Leser, sich durch die Lektüre ermutigt und ein Stück weit befähigt fühlen, selbst etwas dazu beizutragen, dass sich die Schatten, die Kälte nicht weiter ausbreiten, sondern mitten in allen Schwierigkeiten Rettungsflöße gebaut werden, damit Menschen nicht untergehen. Dass Sie die Scheu, die Unsicherheit vor dem Fremden verlieren und Lust bekommen, mit anderen zusammen etwas zu gestalten. So viel Gutes ist möglich! Mit Gottes Hilfe, mit der Kraft seines Geistes erst recht. Und gerade in unserer Zeit, in der die See auch in unserem Land rauer wird, braucht es Christen, die nicht von der Furcht zu versinken getrieben werden, sondern vom Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit – mitten in der Welt.

Wir erzählen die Geschichten auf unterschiedliche Weise. Zum Teil liegen Interviews zugrunde, die wir in kurze Ich-Erzählungen umgearbeitet haben. Zum Teil berichten wir von Erfahrungen, die Mitarbeitende in verschiedenen Flüchtlingseinrichtungen oder Gemeinden der Berliner Stadtmission gemacht haben. Oder wir beschreiben Personen, die wir in ihrer Einzigartigkeit stellvertretend für viele andere in den Blick rücken.

Die Geschichten sind verschiedenen Themenräumen zugeordnet. Wir beiden Autoren, Sven und Gerold, diskutieren jeweils, welche grundsätzlichen Erkenntnisse sich aus den Geschichten gewinnen lassen. Bevor wir einen Themenraum verlassen, geben wir noch einige zusätzliche Informationen oder auch biblisch-theologische Hintergründe. Die verschiedenen Textarten sind auch grafisch unterschieden, sodass Sie jeweils klar erkennen, ob Sie eine Geschichte vor Augen haben, einem Gespräch „zuhören“ oder weitere Informationen erhalten.

Nachdem wir sozusagen im Foyer unkommentiert auf uns haben wirken lassen, was Alex erzählt hat, befinden wir uns jetzt bildlich im Informationszentrum. Hier skizzieren wir zunächst die Projekte und Einrichtungen der Berliner Stadtmission in der Flüchtlings­arbeit. So lassen sich später die kurzen Geschichten ohne weitere Erklärungen zuordnen.

Im Zentrum steht aber das sicher ungewöhnlichste Projekt: das Refugio, von dem Alex schon erzählt hat. Deshalb sollen die Leit­gedanken, die Struktur der Arbeit und die biblische Vision des Refugios ausführlich vorgestellt werden.

Flüchtlingsarbeit der Berliner Stadtmission

Zunächst aber wollen wir einen kurzen Überblick über den in dieser Form jüngsten, aber inzwischen sehr breit aufgestellten Arbeitszweig der Berliner Stadtmission geben: Aus den gesammelten Erfahrungen als Trägerin von unterschiedlichen, staatlich geförderten Einrichtungen der Flüchtlingshilfe, als Erfinderin des Refugios, als Netzwerk für Ehrenamtliche und als für Geflüchtete engagierte Gemeinden entsteht ein Gesamtbild. Und die verschiedenen Perspektiven bieten hoffentlich ausreichend Anknüpfungspunkte zu den Erfahrungen und Fragen einer breiten Leserschaft.

Mit „Haus Leo“ wurde dieser Arbeitszweig 2010 begonnen. Das Haus Leo ist eine Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlingsfamilien aus der ganzen Welt. Anders als bei vielen anderen Flüchtlingswohnheimen gibt es hier in den Zwei-Zimmer-Wohnungen mit eigener Küche und Nasszelle eine geschützte Privatsphäre. Eine stabile Umgebung sowie das Zusammenleben unterschiedlicher Menschen (Senioren, Studenten, Freiwillige) auf dem Campus der Stadtmission in der Nähe des Hauptbahnhofes fördert die Integration. Die Bewohner werden beraten und bei ihren ersten Schritten im Alltag begleitet. Die Sozialarbeiter sind behilflich in der Kommunikation mit Behörden, anderen öffentlichen Institutionen (Schulen, Kitas, Ärzten …) und bei der Suche nach Wohnungen oder Praktikums- und Ausbildungsplätzen. Darüber hinaus stehen sie für Seelsorge und Gespräche zur Verfügung. Und es werden Freizeitaktivitäten für Kinder und Erwachsene angeboten.

Im Herbst 2014 kam mit „Haus Leo II“ ein zweiter Gebäudetrakt mit etwas kleineren Wohnungen, aber gleichem Programm hinzu. Insgesamt gibt es in beiden Häusern zusammen etwa 140 Wohnplätze vor allem für Familien.

Der Name Leo kommt vom österreichischen Markgrafen Leopold VI., um 1200 n. Chr., der jedem, der einen bestimmten Eisenring am Stefansdom in Wien ergriff, Asyl, das heißt Schutz vor Verfolgung zusicherte. Markgraf Leopold VI. bestimmte in seiner Zeit auch mehrere Klöster zu Asylklöstern. Der Ausdruck „im Leo sein …“ erinnert daher an seinen Namen und bezeichnet einen Ort der Zuflucht und des Schutzes.

Als im Spätherbst 2015 in Deutschland die sogenannte Flüchtlingswelle einen ersten Höhepunkt erlebte, wurde die Stadtmission vom Berliner Senat angefragt, ob sie eine Notunterkunft für neu ankommende Flüchtlinge erstellen und betreiben könne. Geplant war eine Traglufthalle, so wie sie im Winter vorher schon für Obdachlose als Notübernachtung erprobt worden war.

Schon einen Monat nach der Anfrage standen auf einem beschlagnahmten Kunstrasenplatz einer umfangreichen Sportanlage (am Poststadion) in Moabit die beiden unterschiedlich großen Traglufthallen mit 6-Bett-Kabinen (Raum in Raum), einem großen Aufenthalts- und Essensbereich, einem Indoorspielplatz und insgesamt 294 Plätzen. Anfänglich betrug die Bleibedauer nur wenige Nächte, bald aber kam das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) weder mit der Registrierung noch mit der Weitervermittlung hinterher. So stieg die Bleibedauer kontinuierlich bis auf über ein halbes Jahr an. Gelegenheit, intensiv mit den Geflüchteten zu arbeiten: vom Sprachelernen ab der ersten Woche über kulturelle Freizeitveranstaltungen, Praktikumsvermittlungen bis zu ersten Begegnungen mit dem Grundgesetz (vgl. „In Sicherheit!“). Ende 2015 erhielt die Willkommens- und Integrationsarbeit in diesen beiden auch „balloon“ genannten Hallen den Integrationspreis von Berlin-Mitte.

Weil der Zustrom von Flüchtlingen bis zur Schließung der Balkanroute im Frühjahr 2016 anhielt, wurden immer neue Notunterkünfte gebraucht. Und natürlich Träger, die für die immer schwieriger zu organisierende Arbeit Verantwortung übernahmen.

So kam im Oktober 2015 eine weitere Notunterkunft in Spandau hinzu, und zwar in einer ehemaligen Zigarettenfabrik, mit zunächst bis zu 1000 Plätzen. Dort allerdings fehlten über Monate die notwendigen baulichen und hygienischen Voraussetzungen, die zwar von den zuständigen Behörden in Aussicht gestellt, aber nicht verwirklicht wurden. Unversehens und ungewollt war die Stadtmission verantwortlich für eine Einrichtung, die von den Bedingungen her über ein halbes Jahr lang im Grunde katastrophal war. Wie in solchen Umständen Gewalt zu vermeiden, wenigstens einzudämmen, und Frieden aufzubauen oder zu bewahren war – das war die extreme Herausforderung für ein Team, das erst während der laufenden Arbeit langsam zusammengestellt werden konnte. (Mehr dazu in Kapitel 2 und 3.)

Im Sommer 2015 wurde in einem traditionsreichen fünfstöckigen Gebäude der Stadtmission in Nord-Neukölln eine ganz neue Form von Integrationsarbeit eröffnet: Das Sharehaus Refugio (kurz: Refugio), gemeinsames Leben von Geflüchteten und Einheimischen als „Heimat auf Zeit“. Hier kommt fast brennglasartig zusammen, was in anderen Einrichtungen und Initiativen oft unverbunden ist. Zugleich ist es die Einrichtung, in der christliches Leben und Zeugnis am ausdrücklichsten gelebt werden kann, auch deshalb, weil es nicht von staatlicher Förderung abhängig ist.

Aber auch die allermeisten Stadtmissionsgemeinden waren ab Sommer 2015 im wahrsten Sinne des Wortes herausgefordert: entweder bei den Einrichtungen in eigener Trägerschaft oder aber – und das am häufigsten – in Flüchtlingsunterkünften und -heimen anderer Träger in unmittelbarer Nachbarschaft zur Gemeinde. Schön ist dabei zum Beispiel die Geschichte der Jungen Kirche Berlin-­Treptow (JKB), die zwei Monate lang in Gottesdiensten und Gebetszeiten danach fragte, welche Aufgabe Gott ihr wohl zugedacht habe. Genau am Montag nach dem Ende dieser Predigtreihe kam die Information, dass unmittelbar gegenüber eine neue Erstaufnahme eingerichtet würde – verbunden mit der Anfrage, ob die JKB zunächst mal die Kleiderkammer organisieren könne. Und schon am nächsten Wochenende ging es los.

Aber hier wie auch in den anderen Gemeinden und Unterkünften waren und sind die Erfahrungen nicht nur positiv. Immer gab und gibt es Konflikte, Enttäuschungen – und die immer neue Anforderung, sich nüchtern und aufmerksam der aktuellen Situation zu stellen. Einfach nur nett zu sein, ist nirgendwo die Lösung, sondern verschärft oft die Probleme. Genauso wie umgekehrt jede ideologische Antwort, jede Scharfmacherei, von welcher Seite auch immer.

Trotzdem sind wir überzeugt – und das zeigen unsere vielfältigen Geschichten –, dass in diesem Ringen um Menschenwürde und Integration eine biblische Kernaussage verwirklicht wird: „Der Fremde soll unter euch wohnen wie ein Einheimischer. Denn auch ihr wart Fremde in Ägypten“ (Hesekiel 47,22). Und bei allem Engagement für die Geflüchteten dürfen auch die nicht vergessen werden, die sich schon länger fremd fühlen – im eigenen Land.

Es geht immer um Menschen! Um Gottes willen.

Sharehaus Refugio

Anfang 2014 war das Schriftstellerehepaar Elke Naters und Sven Lager nach einem zehnjährigen Südafrika-Aufenthalt mit ihren Kindern nach Berlin zurückgekommen. In Südafrika waren die beiden – Elke kirchenfern und esoterisch interessiert und Sven als überzeugter Atheist – Christen geworden. Und von dort brachten sie das Sharehaus mit, ein im Grunde ganz schlichtes, aber wirkungsvolles Konzept, das sie entwickelt und auch schon umgesetzt hatten, um der sozialen Kälte entgegenzuwirken: eine Alternative zu Beziehungslosigkeit und Parallelgesellschaften einerseits und zu Hilfsprogrammen andererseits, die die Bedürftigen abhängig halten oder machen. Stattdessen das Motto: „Teilen macht reich.“ Es ging also darum, eine Form der Begegnung auf Augenhöhe zu schaffen, wo jeder Ideen und Gaben einbringen kann, aber auch mit seinen Bedürfnissen ernst genommen wird, sodass im Teilen eine offene, kreative und solidarische Gemeinschaft entsteht, in der jeder Gebender und Nehmender ist.

Das war ein Gedanke, der bei leitenden Mitarbeitern der Berliner Stadtmission sofort zündete. Denn gerade in einer Organisation mit einem so breit aufgestellten Hilfsprogramm merkt man deutlich, dass erst dann wirklich geholfen ist, wenn die Klienten, Gäste und Bewohner verschiedener Einrichtungen Zugang zu ihren eigenen Ressourcen bekommen, Selbstvertrauen entwickeln und aktiviert werden. Und das nicht nur, um ihre eigenen Probleme zu lösen, sondern um etwas beizutragen zum biblischen Leitwort: „Suchet das Beste der Stadt und betet für sie zum Herrn“ (aus Jeremia 29,7).

Die Berliner Stadtmission beauftragte also die beiden Schriftsteller, in Kreuzberg ein Pilotprojekt dieser Art zu starten, als offenes Nachbarschaftshaus mit einfachen Begegnungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Dieses kleine Sharehaus in Kreuzberg wurde aber nicht nur eine Art Versuchsballon, in dem wichtige Erfahrungen für den Berliner Kontext gesammelt werden konnten. Hier wuchs zugleich ein Teil des Kernteams für das Neue, Größere heran: Einheimische, die aktiv mitgestalten wollten, und Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern.

Nach etwa achtmonatiger Planungszeit konnte dann im Sommer 2015 das Sharehaus Refugio seine Türen öffnen, ein fünfstöckiges Jugendstilgebäude mit großem Saal, Büroräumen und Zimmern auf drei Etagen, in denen früher einmal ein Seniorenheim war.

Hier wohnen inzwischen etwa zwanzig Einheimische und zwanzig Geflüchtete1 in drei WGs mit jeweils gemeinsamer Küche. Das bedeutet: Leben teilen, Sprache und Kultur lernen, Freundschaften schließen, über Glauben reden, Grundlagen für die berufliche Entwicklung legen. Zuflucht auf Zeit und auf Augenhöhe untereinander. Dazu ein gemeinsam eingerichtetes Café (mit Barista-Kaffee) und ein großer Saal für Veranstaltungen, Sprachtandems (eine Lernmethode, bei der zwei Partner mit unterschiedlicher Muttersprache sich gegenseitig die jeweils fremde Sprache beibringen) und Gottesdienste.

1 Wir nennen die Menschen, die hierher geflohen sind, zum besseren Verständnis „Flüchtlinge“ oder lieber „Geflüchtete“ (engl. refugees); sie selbst bevorzugen die Bezeichnung „Ankommer“ (engl. newcomer).

Das Refugio-Leitbild fasst die Grundgedanken so zusammen:

Mission

Unsere Mission ist es, den Mitbewohnern ein „Refugio“ zu bieten, das heißt einen Ort, an dem sie

Zuflucht finden,

Gemeinschaft leben,

Erneuerung erfahren und selbst zur Erneuerung (der Gesellschaft) beitragen können.

Dabei setzen sich die Mitbewohner zusammen aus Einheimischen und Neuangekommenen (insbesondere Flüchtlingen) in Deutschland.

Konkretionen

Zuflucht verstehen wir als einen Ort, der Schutz bietet – einerseits vor Diskriminierung, Hass und Gewalt, andererseits vor Einsamkeit und Haltlosigkeit.

Zuflucht bedeutet für uns auch Heimat, in der die Bewohner dazugehören, zur Ruhe kommen und Annahme erfahren.

Gemeinschaft