Jehovas Gefängnis - Oliver Wolschke - E-Book

Jehovas Gefängnis E-Book

Oliver Wolschke

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Beschreibung

Jahrzehntelang ist Oliver Wolschke ein vorbildlicher Zeuge Jehovas: Er lebt seinen Glauben, feiert weder Weihnachten noch Geburtstage, betet täglich und erzieht seine Kinder nach den Richtlinien der Gemeinschaft. Doch eines Tages beginnt er, an den Glaubenslehren zu zweifeln. Er fängt an, sich mit den Hintergründen der Gemeinschaft zu beschäftigen, und stößt auf immer mehr Ungereimtheiten. Wie oft kann die Organisation das Datum der endzeitlichen Entscheidungsschlacht Harmagedon noch nach hinten verschieben, bevor die Anhänger misstrauisch werden? Wieso wird die Sexualität so vehement unterdrückt? Und wie kommt die Gemeinschaft an ihre vielen Immobilien? Mit 31 Jahren tritt Oliver Wolschke aus. Nach seinem Austritt gelten er und seine Frau als Abtrünnige, verlieren nicht nur Freunde, sogar Familienangehörige wenden sich von ihnen ab. Sie müssen sich ein neues Leben aufbauen. In diesem ergreifenden Buch berichtet Oliver Wolschke von seiner Zeit bei den Zeugen Jehovas sowie von seinem harten Weg in ein neues Leben.

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Oliver Wolschke

JEHOVAS

GEFÄNGNIS

Oliver Wolschke

JEHOVAS

GEFÄNGNIS

Mein Leben bei den Zeugen Jehovasund wie ich es schaffte, auszubrechen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2019

© 2018 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Matthias Teiting

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagabbildung: © Harry Schnitger

Satz: ZeroSoft, Timisoara

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook by ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-1172-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0114-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0115-1

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

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INHALT

Prolog

Erwacht!

Stufe Null

Das Portal

Stufe 1

Der Wachtturm

Von guten und schlechten Zeiten

Road to Paradise

Vor Gericht

Die Rückkehr

Stufe 2

Ein leichter Schubs

Der Ausstieg

Stufe Null

Epilog

Danksagung

Anmerkungen

PROLOG

Lieber Jehova,

es ist eine Weile her, seitdem ich mich das letzte Mal bei dir gemeldet habe. Ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich war, als wir das erste Mal miteinander sprachen. Eigentlich war es kein richtiges Gespräch – schließlich habe nur ich etwas gesagt, zudem leise in Gedanken. Man hatte mir beigebracht, dass du es gern hast, wenn man zu dir spricht. Ich muss sieben Jahre alt gewesen sein, als ich verstand, dass das Gebet zu dir eine zentrale Rolle in meinem Glauben spielen würde.

Mittlerweile bin ich 33 Jahre alt. Die vergangenen Monate waren sehr turbulent, aber das weißt du sicher. Ich habe mir vorgenommen, dir davon zu erzählen. Nicht in Form eines Gebetes, sondern in einer Art Brief. Du hast damit ja angefangen. Man hat mir erzählt, dass die Bibel ein Brief von dir an die Menschheit sei. In diesem Schreiben wolltest du uns erklären, was dein Plan mit uns Menschen wäre und weshalb du uns erschaffen hast.

Mit meinem Brief möchte ich dir nun meine Gedanken mitteilen, wie ich mich gefühlt habe, als ich ein Teil deiner Organisation wurde und warum ich mich schlussendlich von ihr getrennt habe. Ich musste raus, weil ich für mich keinen anderen Ausweg sah. Wie du weißt, ist eine Trennung mit viel Schmerz und Verlust verbunden, außerdem erwartet mich wohl bald der ewige Tod in Harmagedon, wo all die Menschen unerreichbar sein werden, die mir ans Herz gewachsen sind und die ich hinter mir lassen musste.

Ich werde versuchen, den Brief verständlich zu schreiben, damit keine Missverständnisse aufkommen. Ich werde mich nicht metaphorisch ausdrücken, und weitestgehend auf Gleichnisse verzichten – allenfalls werde ich dies deutlich erkennbar machen. Es wird nicht nötig sein, einen Absatz aus einem vorderen Kapitel mit einem anderen aus einem hinteren Kapitel zu vergleichen, um meine Worte zu entschlüsseln. Wenn ich »Tage« schreibe, dann meine ich Tage – nicht Jahre oder Wochen. Wenn ich einen Ort beschreibe, dann beziehe ich mich auf einen real existierenden Ort – nicht auf eine symbolhafte Gegend. Es wird auch nicht nötig sein, einen Verlag mit der Publikation weiterer Bücher zu beauftragen, die meinen Brief und die darin enthaltenen Kapitel erklären. Mein Ziel ist es, verstanden zu werden, deshalb werde ich mich einfach und klar ausdrücken.

Mir ist früh beigebracht worden, dass die leitende Körperschaft – die spirituelle Führung der Zeugen Jehovas, sesshaft im Bundestaat New York – von dir eingesetzt worden ist und unter deiner Anleitung Publikationen veröffentlicht, die von der Verlagsgesellschaft der Watchtower Bible and Tract Society – nachfolgend als Wachtturm-Gesellschaft oder WTC* bezeichnet – vertrieben werden. Wenn ich in meinem Brief das eine oder andere Mal auf diese Druckerzeugnisse zurückgreife, dann weil ich in diesen Texten während einer langen Zeit deine Gedanken gefunden habe.

Mit sechs Jahren habe ich dich kennengelernt. Im Alter von 31 Jahren bin ich aus deiner Organisation, den Zeugen Jehovas, ausgestiegen.

*  Mit »Wachtturm-Gesellschaft« (WTG) sind alle Rechtskörperschaften und Tochtergesellschaften der » Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania« sowie der » Watch Tower Bible and Tract Society of New York« gemeint, welche in Summe als Zeugen Jehovas wahrgenommen werden oder diesen dienen. Darunter auch die »Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft der Zeugen Jehovas, e. V., Selters/Taunus« eine Rechtskörperschaft der Religionsgemeinschaft der »Zeugen Jehovas in Deutschland K.d.ö.R.«

»Aber ein Mensch kann nicht ändern, was er ist. Er kann andereüberzeugen, dass er jemand anderes ist, aber niemals sich selbst.«

Die üblichen Verdächtigen (1995)

ERWACHT!

Wir beteten als Familie meist vor dem Essen. Das Gebet durfte nur ich sprechen, da ich das Haupt der Familie war. Unsere Kinder falteten ihre Hände, senkten ihren Kopf und warteten darauf, dass Papa zu Gott sprach.

Als Zeuge Jehovas spricht man keine auswendig gelernten Bitten, wie das Vaterunser, eher sagt man, was einem gerade einfällt und wofür man dankbar ist. Kurz vor dem Essen machte ich mir ein paar Gedanken, was ich sagen würde, schließlich aßen wir täglich, und ich wollte mich nicht wiederholen oder das Gebet als lästige Gewohnheit hinter mich bringen. Meinen Kindern wollte ich zeigen, wie man betete und dass es mir eine ernste Angelegenheit war.

An jenem Tag im März 2017 fiel es mir schwer zu beten. Ich war gerade »erwacht«. Mir kam es mit einem Mal so vor, als hätte ich die Jahre zuvor nur mit mir selbst geredet, und nur meine Familie hätte mir zugehört – niemand sonst. Ich hatte erhebliche Zweifel, was meinen Glauben betraf, und fühlte mich innerlich zerrissen. Trotzdem wollte ich mir nichts anmerken lassen, also betete ich. Ich hatte über die Jahre einige Satzbausteine entwickelt, die ich nun einfach aneinanderkettete. Es war ein merkwürdiges Gefühl, meiner Familie etwas vorzumachen, und ich dachte: »So kann es nicht weitergehen!«

Es war das letzte Gebet, das ich sprach.

Einige Monate zuvor hatte ich im Internet etwas gelesen, das meine »Firewall« – ein über Jahre innerlich aufgebauter Schutz vor Kritik – nachhaltig zersetzte. Eine Glaubensschwester lud mich in eine Face-book-Gruppe ein, die von Anhängern der Zeugen Jehovas gegründet worden war. Dort diskutierte man angeregt über die Frage, ob Haustiere das bevorstehende »Ende« – Harmagedon – überleben würden. Einige meinten, dass die Chancen für ein Überleben von Susi und Strolch recht hoch seien, immerhin habe Gott bei der Sintflut mithilfe der Arche die Tiere ja vor dem sicheren Ertrinken beschützt.

Viele Anhänger sind eher liberal und in ihren Ansichten gemäßigt. Sie machen sich keine Gedanken über belanglose Dinge, etwa ob Haustiere den Eingriff Gottes überleben werden. Andere hingegen könnte man als fanatisch bezeichnen, besessen davon, auf alles eine Antwort zu finden.

Ich gehörte zur ersten Gruppe, daher nahm ich die Diskussion nicht sonderlich ernst. Aber ein Kommentar machte mich stutzig. Die Frage, die eine Frau dort äußerte, war einfach und logisch, und trotzdem war sie mir nie in den Sinn gekommen: »Wie viele Kinder hat Gott mit in die Arche genommen?«

Ich weiß nicht, ob es der Umstand war, dass ich inzwischen der Vater von zwei Kindern war – ob deshalb diese Frage so einiges in mir auslöste. Warum war ich nie zuvor auf den Gedanken gekommen, dass Gott damals hatte Kinder ertrinken lassen? Dass er womöglich wieder Kinder sterben lassen würde?

Die Frage ließ mir keine Ruhe. Ich durchsuchte die Publikationen der Zeugen Jehovas, um herauszufinden, wie die Organisation zu diesem Thema stand. Und was ich las, machte alles nur noch schlimmer: dass nämlich den Menschen, die während der Sintflut umkamen, keine Auferstehung im zukünftigen Paradies auf der Erde zuteil würde, da sie ja von Gott persönlich bestraft worden waren. Und die Kinder zahlten eben für die Sünden ihrer Eltern.

Ich stellte mir in Gedanken meine zwei Söhne vor. Zu dem Zeitpunkt, als Noah die Tiere in die Arche führte, waren sie in meiner Vorstellung drei und fünf Jahre alt. Ihre Eltern glaubten nicht an die Warnungen Noahs. Meinen Kindern war es egal, ob Mama und Papa über Noah lachten. Sie verstanden die Zusammenhänge noch nicht. Meine Söhne fanden es aber sehr spannend, dass von überall Tiere herkamen, die sie noch nie gesehen hatten, und sie spielten mit ihnen, streichelten sie, lachten und hatten eine Menge Spaß. Mit einem Mal fing es an zu regnen. Meine Jungs freuten sich zunächst über die Pfützen, sprangen hinein und plantschten herum. Sie lachten und waren glücklich. Dann stieg das Wasser immer höher, bis zu ihren Hälsen. Sie schrien, sie verstanden nicht, was geschah, sie riefen nach Mama und Papa. Sie konnten nicht schwimmen und hielten sich an den Händen. Plötzlich verloren sie den Boden unter ihren Füßen. Sie wollten nach Luft schnappen, stattdessen drang Wasser in ihre Lungen.

Ich erinnerte mich an ein Bild, das ich schon als Kind in meinem Kinderbuch der Zeugen Jehovas zu sehen bekam, auf dem eine Frau versuchte, sich vor den Wassermassen auf eine Bergspitze zu retten und in ihrem Arm ein Neugeborenes hielt – dessen Ende jedoch besiegelt war.

Auf einmal kam mir alles so grausam vor. »Warum hat Gott so etwas getan?«, fragte ich mich.

In den nächsten Wochen begann ich, die Geschichten der Bibel näher zu untersuchen. Vor allem die Lehren, mit denen ich aufgewachsen war, unterzog ich einer kritischen Betrachtung. Etwas, das mir zuvor nicht in den Sinn gekommen wäre. Mir wurde bewusst, dass die Hauptlehre der Zeugen Jehovas auf einer historischen Berechnung aufbaute, die mittlerweile komplett widerlegt worden war – dazu später mehr. Jedenfalls fiel mit dieser Erkenntnis das Kartenhaus allmählich in sich zusammen. Denn alles, was meinen Glauben ausmachte, war von dieser einen, widerlegbaren Lehre abhängig.

Ich fragte mich, ob vielleicht das, wovon ich seit Jahren überzeugt gewesen war, wonach ich mein Leben ausgerichtet hatte, worauf ich wöchentlich enorm viel Zeit aufwandte und wofür ich sogar den Tod in Kauf genommen hätte, auf Fehlinformationen und falschen Annahmen beruhte. Ich überlegte, warum es zum Beispiel auch heute noch Menschen gab, die daran glaubten, dass die Erde eine Scheibe wäre. Klar, sie taten damit niemandem weh, aber trotz aller Beweise waren sie überzeugt, die Wahrheit zu kennen. Ich dachte darüber nach, warum sich Menschen in religiösen Sondergemeinschaften wohlfühlten und nicht bemerkten, dass sie auf selbst ernannte Führer hereinfielen, nur weil diese ihnen ihr Seelenheil versprachen. Warum merkten die Menschen nicht, was mit ihnen geschah? War ich vielleicht selbst auf eine solche Gruppe hereingefallen? Woran würde ich das erkennen?

Die Zeugen Jehovas glauben wie so viele andere Gruppierungen auch, dass sie und nur sie die Wahrheit erkannt hätten. Alle anderen Menschen seien fehlgeleitet.

Als ich mich mit der Geschichte der Zeugen Jehovas befasste, wurde mir klar, dass die Ansichten der Gründungsmitglieder den heutigen Anhängern größtenteils vorenthalten oder in gemäßigter Form präsentiert werden. Das betrifft zum einen die Weltuntergangsvorhersagen durch die spirituelle Leitung der Zeugen Jehovas – die leitende Körperschaft –, aber auch die kruden Ansichten über Bluttransfusionen, Organtransplantationen oder Impfungen, welche man allesamt mit dem Hinweis auf Kannibalismus oder die schlechten Charaktereigenschaften ablehnte, die dadurch übertragen werden könnten. Während die Organisation damals noch die Exkommunikation der katholischen Kirche kritisierte, da sie nicht mit der Bibel übereinstimme, führte man diese irgendwann selbst ein und wurde bei der Umsetzung so streng, dass heute sogar Familien entzweit werden.

Alles, was ich jahrelang akzeptiert hatte, wie etwa die Verweigerung von Bluttransfusionen oder der Kontaktabbruch zu den Ausgeschlossenen, kam mir mit einem Mal grausam und zerstörerisch vor.

Das Problem war, dass ich mit niemandem darüber sprechen konnte. Sobald ich von meinen Zweifeln berichtet hätte, wäre wahrscheinlich ein Prozess in Gang gesetzt worden, der mich vor die Ältesten – die lokalen Führer einer Gemeinde – gebracht hätte. Man hätte mich gefragt, ob ich noch Vertrauen in die Organisation habe, und meine Antwort wäre vielleicht »Nein« gewesen, was vermutlich den sofortigen Ausschluss nach sich gezogen hätte.

Ich wollte mir zunächst sicher sein, bevor ich mich jemandem anvertraute. Ich überlegte, ob ich irgendwo in meinen Recherchen etwas übersehen hatte, einem Denkfehler aufgesessen war. Ich zweifelte zwar an den Lehren, aber vor allem an mir selbst – ob ich nicht vielleicht dem Teufel auf den Leim gegangen war, wovor man mich schließlich seit meiner Kindheit immer wieder gewarnt hatte.

Doch meine Nachforschungen führten mich zu noch tieferen Unstimmigkeiten. Ich haderte mit mir, ob ich nicht einfach die Zweifel beiseite legen könnte, wie ich es schon einmal getan hatte, und mit der Zeit würden sie sich in der hintersten Ecke meiner Gedanken dann auflösen.

Aber dieses Mal war es anders. Ich hatte zwei Kinder, war für sie verantwortlich. Aufgrund meiner Stellung innerhalb der Gemeinde erwartete man von mir, dass ich mit meinen Kindern das wöchentliche Bibelstudium anhand der Publikationen der Zeugen Jehovas durchführte. Und nun tat ich mich plötzlich schwer, ihnen weiterhin etwas beizubringen, von dem ich selbst nicht mehr so recht überzeugt war.

Ich hatte die Sorge, dass die Ältesten meine Kinder irgendwann auf unser Familienstudium ansprechen und dann in Erfahrung bringen könnten, dass dies bei uns nicht mehr stattfand. Es war ein Teufelskreis. Wenn ich meine Kinder nicht streng nach dem Glauben erzog, dann würden sie sich womöglich davon abwenden, und von mir würde man dann erwarten, dass ich den Kontakt zu ihnen abbrach. Oder ich erzog sie in dem Glauben, von dem ich nicht mehr zu hundert Prozent überzeugt war, und irgendwann stieg dann ich aus, wodurch sie gezwungen wären, den Kontakt abzubrechen.

Wie ich es auch drehte, die Zukunft, die ich mir ausmalte, hatte nichts Ehrliches mehr zu bieten. Ich begriff zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass der Kontaktabbruch, den Zeugen Jehovas gegenüber Ausgeschlossenen pflegen, für mich zu einem Druckmittel geworden war, wie man es oft in destruktiven Gemeinschaften findet. Es hielt mich davon ab, mit jemandem zu sprechen oder einen Ausstieg ernsthaft in Erwägung zu ziehen.

Ich begann, mir Berichte und Videos von Aussteigern anzusehen, die mich emotional sehr mitnahmen. Unter Tränen berichteten diese Menschen von der Einsamkeit, die sie nach dem Ausstieg erlebten, davon, dass sämtliche Freunde und Familienangehörige sie mieden. Einige berichteten, dass ihre Partner den Schritt nicht mitgegangen seien, wodurch ihre Ehen zu einem traurigen Ende gekommen waren. Einige hatten den Absprung erst geschafft, als ihre Kinder bereits getaufte Zeugen Jehovas waren, die dann den Kontakt zu ihren Eltern abbrachen.

Ich wusste nicht, ob meine Frau mitziehen würde. Es stand sehr viel auf dem Spiel. Immer stärker kam der Wunsch in mir auf, dass meine Kinder frei und losgelöst von den Ansichten der Zeugen Jehovas groß werden sollten, frei von Teufel, Harmagedon und anderen Ängsten, unter denen ich als Kind litt. Dass sie in der Schule ganz normal an allen Aktivitäten zu Weihnachten und Ostern teilnehmen könnten und nicht wie schon im Kindergarten davon ausgeschlossen würden. Mein Wunsch war es, dass sie jeden Menschen als ihren Freund bezeichnen dürften, ohne dass die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft eine Rolle spielte. Sie sollten beruflich den Weg einschlagen können, den sie mochten. Und ich wollte nicht, dass sie als Jugendliche bei einem »Fehltritt«, wenn sie etwa mit jemandem Sex ohne Trauschein hätten, vor drei Ältesten treten müssten, um ihnen davon zu erzählen, so wie ich es selbst erlebt hatte. Ich war ihr Vater – mit mir könnten sie über so etwas sprechen, aber doch nicht mit anderen Männern, um ihre Absolution zu erhalten!

Ich hatte allerdings ein Problem. Wenn meine Frau den Weg nicht mitgehen würde, wäre es schwer, meine Kinder von all diesen Dingen fernzuhalten. Ich machte mir auch Gedanken, wie meine Kinder reagieren würden. Immerhin hatten wir sie über Jahre dahingehend erzogen, dass unser Glaube der richtige Weg sei. Jede Woche nahmen wir sie mit zu den Gemeindetreffen. Wir erzählten ihnen, wie wichtig diese Treffen seien und dass Jehova sich über den Besuch der Zusammenkünfte freue. Wir hatten auch begonnen, sie in den Predigtdienst von Tür zu Tür mitzunehmen. Sie überreichten den Menschen einen Wachtturm oder ein Faltblatt. Freunde hatten sie größtenteils nur in unserer Gemeinde, mit denen sie gemeinsam aufgewachsen waren. Würden sie verstehen, dass sie ihre Freunde von nun an nicht mehr sehen könnten? Wie sollte man einem Kind diese Konsequenz erklären? Wie erklärt man einem Kind, dass Oma und Opa vielleicht den Kontakt abbrechen würden und sie ohne diese Menschen groß werden?

Auch war ich mir bewusst, dass wir unserer Freunde beraubt würden – der Menschen, die wir seit vielen Jahren kennen und lieben gelernt hatten. Unter Zeugen Jehovas sucht man sich seine Freunde in der Regel nur unter Gleichgesinnten, darauf legt die Organisation viel Wert. Sie warnt regelrecht davor, Freundschaften in der Welt zu schließen. Heute ist mir klar, dass diese Vorauswahl einen Ausstieg umso schwerer macht, denn niemand möchte gerne allein sein. Gerade bei den großen Entscheidungen, die das Leben auf den Kopf stellen, braucht man Menschen, die einen auffangen. Doch draußen in der Welt wartet niemand auf einen Zeugen Jehovas.

Was sollte ich tun? Ich konnte mich nicht mehr länger auf eine Bühne stellen und den Menschen vom Paradies erzählen oder den Kindern erklären, wie gut es sich auswirke, sich nur Freunde in der Organisation zu suchen.

Mir fehlte der Mut, mich meiner Frau zu öffnen. Ich wusste nicht, was mich erwarten würde. Ich saß da, schaute ins Leere. Ich konnte meiner Frau und den Kindern kaum noch zuhören. Ich malte mir in Gedanken die Zukunft aus, versuchte einen Mittelweg zu finden.

Meine Frau bemerkte, dass etwas nicht stimmte – dass ich irgendetwas verheimlichte. Und an jenem Samstag im März 2017 ließ sie nicht locker – biss sich regelrecht fest. Ich sagte ihr, dass ich einfach nicht sprechen könnte über das, was mich beschäftigte. Ich hätte Angst, alles kaputt zu machen. Das beunruhigte sie natürlich noch mehr. Ich wusste, nun musste es raus.

Ich fing sehr behutsam an. Stück für Stück offenbarte ich ihr die Gedanken, die mich belasteten. Sie wurde sehr ruhig. In ihrem Kopf ging sie die Szenarien durch, die meine Überlegungen zur Folge haben könnten. Meiner Frau wurde klar, dass sie mich aus meinen Zweifeln wohl nicht mehr herausbekommen würde, zu viel hatte ich bereits hinterfragt, um je wieder ein überzeugter Zeuge sein zu können.

Wir standen in der Küche, und sie sagte zu mir unter Tränen: »Diesen Weg kann ich nicht mit dir gehen. Wir haben uns so viel aufgebaut. Du weißt, dass du damit womöglich unsere Familie zerstörst.«

»Am Arsch der Welt ist ein Zimmer für uns bestellt«.

STUFE NULL

1985 wurde ich als einziges Kind meiner Eltern in Berlin geboren – genauer gesagt im Bezirk Friedrichshain, in Ost-Berlin. Meine Eltern waren bereits vier Jahre verheiratet. Meine Mutter war Kellnerin, mein Vater arbeitete als Fahrer für einen Wäschereidienst. Uns ging es, so denke ich heute, recht gut. Wir lebten im dritten Obergeschoss eines Mehrfamilienhauses in der Dolziger Straße, nahe der Frankfurter Allee. In einem Hinterhaus. Direkt unter unserer Dreizimmerwohnung lebte eine Familie, mit deren Tochter ich gut befreundet war. Sie hieß Jennifer. Auf der anderen Straßenseite, schräg gegenüber, wohnte mein Freund Sebastian.

Über den Hof gelangte man zum Vorderhaus. Ging man nach links, kam man an einer Tankstelle vorbei, und nur ein paar Meter weiter gab es einen Spielplatz, den ich regelmäßig aufsuchte. Rechts von unserem Haus, nur ein paar Schritte entfernt, war mein Kindergarten. Da meine Eltern berufstätig waren, war ich dort immer sehr lange zu Gast. Einmal, daran erinnere ich mich gut, durfte ich sogar bei meiner Erzieherin übernachten, da man mich irgendwie vergessen hatte.

Ein erwähnenswerter Tiefpunkt war die Faschingsfeier im Kindergarten. Auf den Fotos von damals ist meine Enttäuschung nicht zu übersehen. Meine Eltern hatten den Termin verschwitzt, und so war ich als Einziger ohne Kostüm angetanzt. Glücklicherweise hatte meine Erzieherin das Kostüm eines Hofnarren in einer Plastiktüte parat – wobei die Bezeichnung »Kostüm« übertrieben ist. Es handelte sich um eine bunte Stoffmütze, ähnlich einem Papierboot, sowie um ein paar Stoffdreiecke, die als Kette aneinandergereiht um meine Schultern gelegt wurden. Dazu trug ich einen weißen Pulli mit bunten Kreisen und eine olivgrüne Strumpfhose. Während alle anderen aufwendig geschminkt waren und sich als Cowboy, Indianer oder Löwe verkleideten, fühlte ich mich mit dem Einweg-Hofnarren-Kostüm wie das fünfte Rad am Wagen. Ein Gefühl, an das ich mich bald gewöhnen sollte.

In unserer Wohnung gingen alle Zimmer von einem langen Flur ab. Ganz vorne befand sich das riesige Wohnzimmer. Dahinter kam die Küche, die einladend und gemütlich war. Auf der linken Seite gab es eine Küchenzeile mit Gasofen, und am hinteren Ende der Küche stand ein Holztisch, dessen Maserung aussah, als hätte man ihn direkt aus einem Stück Baum geschnitten. Selbst die Rinde war am Rand des Tisches noch erhalten. Man saß auf zwei dazu passenden Holzbänken, und ich erinnere mich, dass immer Kerzen bei uns brannten, was das wohlige Bild abrundete.

Mein Vater liebte Kerzen. Auf dem Holztisch stand ein silberfarbener, dreiarmiger Kerzenständer, und sobald eine Kerze heruntergebrannt war, stellte er die nächste obenauf. Das Wachs lief herunter, und da mein Vater es nie entfernte, wurden der Leuchter und der Tisch irgendwann eins. Es sah aus wie ein Wachsturm.

An der Wand hing ein Holzbrett, auf dem die Worte eingraviert waren: »Am Arsch der Welt ist ein Zimmer für uns bestellt«. Ich liebte diese Küche. Selbst als ich älter wurde und nicht mehr in dieser Wohnung lebte, habe ich gerne dort gesessen und mit meinem Vater über Gott und die Welt philosophiert.

Hinter der Küche ging das Badezimmer vom Flur ab, und darauf folgte mein Kinderzimmer. Ich spielte gerne mit Bauklötzen, aber nichts ging über mein rotes Schaumstoffpferd, auf dem ich durch die ganze Wohnung ritt. Allerdings sagte ich damals nicht »Pferd«. Pferde hießen in meiner Welt »Dapo«.

Ich liebte Dapos. Das kam wohl daher, dass ich mit meiner Familie regelmäßig zu Besuch auf der Galopprennbahn in Berlin Hoppegarten war. Mich beeindruckten vor allem die Jockeys, wie sie im rasanten Tempo fast stehend auf den Pferden über die Rennbahn schwebten und sich nur mit ihren Fußspitzen auf den Steigbügeln hielten. Ich wollte auch mal Jockey werden. Meine Eltern waren mit einigen von ihnen befreundet und feierten nach einem Renntag gelegentlich Partys in der nahe gelegenen Gaststätte. Ich erinnere mich an einen Geburtstag, als einer der Jockeys mich besuchte und mir ein Feuerwehrauto schenkte.

Abgesehen von diesen Ereignissen habe ich an meine Kindheit und die gemeinsame Zeit mit meinen Eltern nur sehr wenige Erinnerungen. Nicht einmal den Mauerfall habe ich wahrgenommen. Woran ich mich aber sehr wohl erinnern kann, das sind die Anlässe im jährlichen Kalender – Weihnachten, Geburtstage und Ostern.

Es gibt keinen Weihnachtsmann

Seit dem Jahr 1927 feiern die Zeugen Jehovas nicht mehr Weihnachten. Als Kind habe ich gelernt, dass dieses Fest böse ist. Generell begehen die Zeugen Jehovas keines der Feste, die in unserer Kultur sonst üblich sind – es gibt kein Ostern, kein Silvester, keine Geburtstage.

Speziell Weihnachten feiern die Zeugen Jehovas nicht, weil Jesus sehr wahrscheinlich nicht im Dezember geboren wurde und zudem nicht ausdrücklich befohlen hat, seinen Geburtstag zu feiern. Verboten hat er es allerdings auch nicht.

An Silvester wiederum lassen Zeugen Jehovas es nicht krachen, weil das Fest heidnischen Ursprungs ist und sein eigentlicher Sinn darin besteht, dass man die bösen Geister verjagt.

Und »da viele Osterbräuche ihren Ursprung in alten Fruchtbarkeitsriten haben«, feiern Zeugen Jehovas auch nicht Ostern, obwohl das Osterfest immerhin einen biblischen Hintergrund hat.

Geburtstage werden nicht gefeiert, weil zwei Begebenheiten in der Bibel beschrieben werden, an denen Menschen an einem Geburtstag ermordet wurden. Daraus schließt die Wachtturm-Gesellschaft (WTG), dass Gott keinen Gefallen an Geburtstagsfesten findet. Seltsamerweise werden auch Hunde in der Bibel an mindestens zwei Stellen negativ dargestellt, und trotzdem halten sich Zeugen Jehovas Hunde als Haustiere.

Es gibt einen ehemaligen schottischen Minister, Alexander Hislop, dessen bemerkenswerteste Arbeit ein Buch mit dem Titel »The Two Babylons« (1858) war. Die beiden Babylons. Hislop war seinerzeit einer der größten Kritiker der katholischen Kirche, und in seinem Buch findet man etliche Dinge, die man heute von den Zeugen Jehovas kennt: die Ablehnung des Kreuzes und die Abneigung gegen religiöse Festtage wie Weihnachten und Ostern. Das zentrale Thema des Buches ist die Behauptung, dass die katholische Kirche eine verschleierte Fortsetzung der heidnischen Religion Babylons sei, das Produkt einer Jahrtausende alten geheimen Verschwörung, gegründet vom biblischen König Nimrod.

2006 verteilte ich eifrig mit Millionen anderen Glaubensanhängern ein Faltblatt mit dem Titel »Das Ende der falschen Religion ist nahe!« – auch Königreichs-Nachricht Nr. 37 genannt. In diesem Faltblatt wurden alle »falschen« Religionen als Babylon die Große – die Hure – beschrieben, die in Kürze gestürzt würde. EINE Religion werde übrig bleiben, hieß es, die »wahre« Religion: die Zeugen Jehovas.

Die Ähnlichkeiten zu den Aussagen Hislops und den Lehren der Zeugen, insbesondere der Zusammenhang zwischen Babylon und der »falschen Religion« sind verblüffend. Man möchte meinen, es gäbe eine Verbindung.

Die WTG erwarb Tausende Kopien des Buches, das sie selbst bis 1987 publiziert hat1. In 22 verschiedenen Ausgaben der WTG, von 1950 bis 1978 und mehrmals in den 1980er-Jahren, wurde zudem aus diesem Buch zitiert2. Mittlerweile weisen Kritiker darauf hin, dass Hislops Werk zahlreiche Missverständnisse, Erfindungen, logische Irrtümer, unbegründete Verschwörungstheorien und schwerwiegende sachliche Fehler enthält3. Zeugen Jehovas erwähnen seit Ende der 1980er-Jahre das Buch mit keiner Silbe mehr. Viele der Inhalte, die Hislop damals vertrat, blieben den Zeugen allerdings erhalten.

An dem Weihnachtsfest an sich hat sich nichts verändert. Auch vor 1927 war den Zeugen Jehovas schon klar, dass Jesus vermutlich nicht im Dezember geboren worden ist und das Fest seinen Ursprung in heidnischen Bräuchen hat. Man störte sich nicht daran und feierte trotzdem Weihnachten. Wahrscheinlich wollte man sich später so weit wie möglich von den Traditionen der katholischen Kirche und adventistischer Strömungen distanzieren.

Bis zu meinem sechsten Lebensjahr habe ich Weihnachten zusammen mit meinen Eltern gefeiert. Es sind die Momente, an die ich gerne zurückdenke. Ich sollte in meinem Zimmer warten, bis meine Eltern alle Vorbereitungen getroffen hatten. Als ich ins Wohnzimmer kam, war der Weihnachtsbaum bereits geschmückt, und ich erinnere mich gerne zurück an die wundervolle Atmosphäre – alles war so festlich.

Mein Vater hat den Weihnachtsmann leider nie kennengelernt. Kurz vor der Bescherung hat er sich immer verdrückt, um ihn zu suchen. Der Weihnachtsmann hat unsere Wohnung aber auch ohne Hilfe gefunden, immer in genau dem Moment, in dem mein Vater unterwegs war! Er kam immer erst nach Hause, wenn der Mann mit dem roten Umhang und dem weißen Bart bereits wieder verschwunden war – das war wirklich sehr seltsam.

Meine Eltern erzählten mir Geschichten über den Weihnachtsmann, dass er Geschenke bringe, wenn man brav sei. Ich denke, ich war brav, denn ohne Geschenke stand er nie vor der Tür. Ich sagte mein Gedicht auf, und danach durfte ich mein Spielzeug entgegennehmen.

Als ich fünf Jahre alt war, kamen mir erste Zweifel. Wieder war mein Vater verschwunden, und ich begrüßte den Weihnachtsmann mit einem Handschlag. Ich sagte ihm, er hätte die gleichen Hände wie mein Vater, auch die Ohren kamen mir bekannt vor. Der Weihnachtsmann stritt alles ab.

Einige Zeit später entdeckte ich die Maske samt Bart in einer Abstellkammer meiner Eltern. Meine Zweifel hatten sich bestätigt – den Weihnachtsmann gab es nicht. Meinen Eltern war ich nicht böse. Es war eine Art Spiel, ein Märchen, in das ich mit dem Wissen eingetaucht war, dass ich am Ende mein ersehntes Spielzeug erhalten würde.

Dieses Weihnachtsfest, an dem ich den Weihnachtsmann entlarvte, war das letzte, das ich mit meinen Eltern gemeinsam erlebte. Es ist – abgesehen von meiner Einschulung – das Letzte, woran ich mich erinnere, bevor meine Zeit bei den Zeugen Jehovas begann.

»Das Leben ist wie ein Film. Nur das Genre kannst du dir nicht aussuchen.«

Scream (1996)

DAS PORTAL

Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich fünf war. Erinnerungen an diese Zeit habe ich keine. Ich weiß nicht, ob sie mit mir darüber sprachen, dass sie nun getrennte Wege gehen würden.

Meine Mutter und ich wohnten fortan in einer anderen Wohnung, einem anderen Bezirk – im Süden Berlins. Meinen Vater sah ich, wenn alles gut lief, alle zwei Wochen am Wochenende. Als Kind musste ich mit der Entscheidung meiner Eltern leben. Ich konnte mir nicht aussuchen, bei wem ich wohnen wollte, und ich hätte ehrlich gesagt diese Entscheidung auch gar nicht treffen wollen.

Die neue Wohnung war viel kleiner. Im vierten Stock eines Hochhauses im Thaliaweg, gegenüber dem namensgleichen Kino, bewohnten meine Mutter und ich eine Zweizimmerwohnung im Ortsteil Lankwitz. Der Einrichtungsstil war viel moderner als in der alten Wohnung: ein türkisblauer Teppich, eine schwarze Ledercouch, dazu stylische Schwarz-Weiß-Bilder von rauchenden Frauen mit riesigen Hüten – die 1990er eben. Meine Mutter fand eine Stelle als Sachbearbeiterin beim Arbeitsamt.

Irgendwann tauchten in unserer Wohnung regelmäßig zwei Damen auf – es handelte sich um Zeugen Jehovas. Meine Mutter führte mit ihnen ein sogenanntes Heimbibelstudium durch. Wobei es sich nicht wirklich um die Bibel handelte, sondern um ein rotes Buch mit dem Titel: »Du kannst für immer im Paradies auf Erden leben«.

Dieses Buch habe ich selbst noch kennengelernt. Darin gab es so Kapitel wie »Woran man die wahre Religion erkennt« oder »Das Ende der Welt steht bevor«. In dem Buch wurde eine Rechnung aufgestellt, die für Zeugen Jehovas recht plausibel darlegte, dass es bis zu Harmagedon nicht mehr lange dauern würde. Das Buch selbst war 1982 herausgekommen. Mein Vater erzählte mir irgendwann, dass er meine Mutter gefragt habe, ob sie aussteigen würde, wenn Harmagedon bis zum Jahr 2000 nicht eintraf. Sie soll »Ja« gesagt haben. Aber sie ist immer noch dabei.

Wer ein Heimbibelstudium durchführen darf, für den freuen sich alle anderen aus der Gemeinde, die wir Versammlung nannten. So ein Studium ist für die Zeugen Jehovas eine sehr angenehme Angelegenheit. Denn die Zeit, die man in der Wohnung des Studierenden bei Kaffee, Tee und Gebäck verbringt, darf genauso berichtet werden wie die Kaltakquise an fremden Türen.

Beim Bericht handelt es sich um den kleinen Ausdruck einer Tabelle, in dem ein Zeuge seine monatliche Tätigkeit im Predigtdienst festhält, den er am Ende des Monats dann einem Ältesten aushändigt. Die WTG erstellt anhand dieser Berichte jährliche Statistiken über die, wie ich sie nenne, Außendienstler. Die Berichte sind selbstverständlich mit Namen versehen, und sobald man die Arbeit im Predigtdienst zum ersten Mal aufgenommen hat, wird eine persönliche Karteikarte angelegt, die sämtliche Stunden sowie die durchgeführten Heimbibelstudien und die Anzahl der Publikationen erfasst, die von den Menschen an den Türen oft aus Höflichkeit entgegengenommen werden.

Heimbibelstudien haben den Sinn, neue Mitglieder zu werben. Oder, wie die Zeugen Jehovas es ausdrücken würden, der Sinn besteht im Jünger machen. Das war auch das Ziel der Dame, die uns wöchentlich besuchte. Die Dame, ich nenne sie Claudia, war nicht der erste Kontakt meiner Mutter mit den Zeugen Jehovas. Als meine Eltern noch zusammenwohnten, bat mein Vater hin und wieder jemanden auf ein Gespräch in die Wohnung hinein. Mein Vater war sehr offen gegenüber neuen Ansichten. Später faszinierte ihn vor allem Erich von Däniken, der unter anderem die These aufstellte, dass Außerirdische uns vor langer Zeit besucht und die Menschenaffen veredelt hätten. Rückblickend waren meine Eltern von pseudowissenschaftlichen Ansichten fasziniert – jeder auf die eigene Weise. Mein Vater hat seine Erkenntnisse aber nie als absolute Wahrheit dargestellt, sondern stets betont, dass so etwas lediglich »sein könnte«. Erst später wurde mir klar, dass sowohl mein Vater als auch meine Mutter ihre Ansichten von zwei Männern übernommen hatten, die allzu sehr von der Cheops-Pyramide fasziniert waren und deshalb sonderliche Thesen aufstellten.

Däniken war der Ansicht, dass die Ägypter beim Bau der Pyramiden Hilfe von Außerirdischen erhalten hätten. Charles T. Russell – der Gründer der Zeugen Jehovas – berechnete anhand von Längenmaßen im Inneren der Cheops-Pyramide das »Ende der Welt«. Spätere Vermessungen ergaben dann, dass die Maße, die Russell verwendete, nicht korrekt waren. Na ja, die Religion war bereits gegründet, und die Bibel hatte glücklicherweise noch ein paar Zahlen mehr im Repertoire, mit denen sich seinen Anhängern die Zukunft erklären ließ.

Zwischen den Büchern von Däniken fand ich später immer mal die neueste Ausgabe des Wachtturms, den mein Vater wohl zur Erweiterung seines Horizonts las. Meine Mutter soll er dazu angeregt haben, auch mal einen Blick in die Zeitschriften der Zeugen zu werfen. Aber sie hatte zunächst kein Interesse daran. Wer hätte gedacht, dass sich das Bild derart umkehren würde.

Das Heimbibelstudium meiner Mutter zog sich über mehrere Monate hin. Wenn es gut lief, dann brachte Claudia andere Kinder mit – damit ich nicht aus Langeweile begann, das Studium zu stören. Bis kurz vor meinem Ausstieg durfte ich mir wieder und wieder die Geschichte anhören, wie ich als kleiner Junge – ich muss etwa sieben Jahre alt gewesen sein – ins Wohnzimmer stürmte, die Bibel und Bücher vom Tisch fegte und dazu den Kommentar abließ: »Runter mit der scheiß Bibel, ich will jetzt fernsehen!«

So lernte ich also meine ersten Freunde unter den Zeugen Jehovas kennen: Die Tochter von Claudia wurde später eine sehr enge Freundin meiner Frau. Der Junge, den sie zum Studium mitbrachte, wurde mein erster Freund unter den Zeugen. Seine Mutter war ebenfalls alleinerziehend, das hatten wir gemeinsam.