Jenny aus dem Nirgendwo: Die Gebieter des Feuers - Viktor Nochkin - E-Book

Jenny aus dem Nirgendwo: Die Gebieter des Feuers E-Book

Viktor Nochkin

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Beschreibung

"Die Pfütze war so kalt wie der Blick eines Geldverleihers. Jenny, die in dem schmutzigen Wasser lag, spürte die Kälte kaum. Berge von Bühnenkostümen qualmten, glimmende Bretter vergingen in Rauch, und der Widerschein des Feuers entriss der Dunkelheit bald ein Bild der Zerstörung, bald erlaubte er der tiefschwarzen Nacht, Jennys verbrennendes Glück zu verbergen." Jenny, der Präfekt Eduard Kwestin und der Kobold Morko Gutschich teilen ein tragisches Schicksal. Sie alle haben ihre Familie verloren. Und für jedes Unglück scheint dieselbe Person verantwortlich zu sein. Gemeinsam machen sich die drei auf, um die Wahrheit zu finden – und Rache für ihre Familien zu nehmen. Doch nicht nur der Wunsch nach Vergeltung treibt Jenny an. Denn ein weiteres Familienmitglied hat den Angriff überlebt.

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Seitenzahl: 427

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-047-3

ISBN e-book: 978-3-99146-048-0

Lektorat: Hannah Lackner

Übersetzung: Dorothea Kollenbach

Umschlagfoto: Viktor Nochkin

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Prolog

Die Pfütze war so kalt wie der Blick eines Geldverleihers. Jenny bemerkte benommen einige Eisstückchen, die in der Dunkelheit rot glänzten. In der glitschigen Oberfläche spiegelten sich die Flammen. Jenny, die in dem schmutzigen Wasser lag, spürte die Kälte kaum. Knisternd verbrannten die Trümmer des Planwagens, die Dutzende Schritte weit verstreut lagen. Berge von Bühnenkostümen qualmten, zitternde Flämmchen umrissen verkohltes Stroh, glimmende Bretter vergingen in Rauch, und der Widerschein des Feuers entriss der Dunkelheit bald ein Bild der Zerstörung, bald erlaubte er der tiefschwarzen Nacht, Jennys verbrennendes Glück zu verbergen.

In der rot beleuchteten Dunkelheit zeichneten sich Gestalten ab, die sich bewegten. Einige Menschen wanderten wie verloren umher und bedeckten ihre Gesichter mit den Ärmeln und Schößen ihrer Mäntel, auf denen poliertes Metall glänzte. Die Silhouetten zitterten und verschwammen in Rauchwolken. Hin und wieder sprachen die Leute und ihre Stimmen verrieten weder Erstaunen noch Schrecken angesichts dessen, was geschehen war. Die Stadtwache, verstand Jenny, das ist die Wache. Für die war das Geschehen auf dem Platz einfach nur Arbeit.

Jenny lag im eisigen Wasser und wollte nicht aufstehen. Würde sie aufstehen, die Soldaten herbeirufen und die Aufmerksamkeit auf sich lenken, so bedeutete das, sie müsste an diesem gleichgültigen Umhergehen zwischen den qualmenden Trümmern des Planwagens und den verbrannten Körpern teilnehmen. Auf irgendwelche Fragen antworten, die mit ruhiger Stimme gestellt wurden. Nein, das ist nichts für mich, besser in der Pfütze bleiben. Da blieb eine der dunklen Gestalten nicht weit entfernt von Jenny stehen. Der Wachsoldat bedeckte sein Gesicht mit seinem Mantel, während er mit der anderen Hand den Rauch von sich wedelte.

„Ich verstehe es nicht“, sagte er heiser.

Wie klug er ist, dachte Jenny. Er hat sofort das Wesentliche erfasst. Der Wachsoldat ließ den Arm sinken und nieste. In dem purpurfarbigen Licht betrachtete Jenny sein Gesicht. Es war ganz jung, mit einem schmalen schwarzen Schnäuzer unter einer geröteten Nase. Seine Augen tränten vom Rauch und er rieb sie mit seinen Fäusten.

„Ich verstehe es nicht“, wiederholte der Wachsoldat.

„Was kann so heftig brennen? Selbst jetzt kann man hier nicht atmen!“

„Wer weiß, was fahrende Künstler in ihren Wagen mit sich führen“, antwortete ein anderer Soldat mit gepresster Stimme. Er stocherte mit dem Schaft der Hellebarde in dem Kohlehaufen, der Haufen fiel auseinander und ließ eine Funkenwolke aufstieben. Dem Wachsoldaten wehte glühende Hitze entgegen und er trat eilig zur Seite.

Neben Jenny schmolz der letzte Eisbrocken und drehte sich als sauberer runder Fleck inmitten des Wassers, auf dem feine schwarze Asche schwamm. Hufgeklapper erklang, im zitternden, rauchigen Dunst erschien eine wuchtige Silhouette, quietschend öffnete sich die Tür der Kutsche. Die Gestalten im Rauch bewegten sich schneller und sammelten sich an der Kutsche. Unter dem Huf des Pferdes zerbrach etwas mit lautem Knall, augenblicklich loderte eine Flamme auf, glimmende Trümmer flogen zur Seite. Im aufflammenden Licht kam die Seite der Kutsche zum Vorschein. Trübe glänzte dunkler Stahl, der von Nietenreihen durchschnitten wurde. Eines der herumfliegenden Trümmer klatschte auf die Pfütze neben Jenny. Sie sprang unwillkürlich hoch und tauchte sogleich in die erstickende Hitze ein. Solange sie in dem eisigen Wasser gelegen hatte, hatte sie nicht gespürt, wie heiß es war. Die mit Ruß gefüllte, glühend heiße Luft klebte förmlich auf den Wangen, die Augen tränten. Jenny bedeckte das Gesicht mit den Innenflächen ihrer Hände, die nach dem Eisbad noch kühl waren.

Die Wachsoldaten hatten sich alle an der Kutsche versammelt. Am rechteckigen Türeingang, der von innen erleuchtet war, erschien ein Neuankömmling, ein mittelgroßer, stämmiger Mann. Er musste ein ranghoher Vorgesetzter sein, denn die Wachsoldaten wandten die Augen nicht von ihm ab.Offenbar bemerkte Jenny niemand, mit Ausnahme des jungen Wachsoldaten mit dem schwarzen Schnäuzer. Er schaute unsicher auf die Kutsche, dann aber entschloss er sich um und ging auf Jenny zu.

„Fräulein, sind Sie wohlauf? Sind Sie aus diesem Planwagen?“

„Ja“, konnte das Mädchen nur heiser hervorbringen. Jetzt rieb auch sie sich die Augen mit den Fäusten, von denen schmutziges Wasser tropfte. Der Wachsoldat zog eilig seinen Mantel aus und warf ihn Jenny über die Schultern. Inzwischen hatte der bedeutende Herr sie nämlich bemerkt und gab den Soldaten den Befehl, zu einem entfernten Bereich der Brandstätte zu laufen, wo Hilfe notwendig wäre. Er selbst verließ den mit Stahlplatten gepanzert Wagen und eilte, mit dem Stock auf die Kohlen klopfend, zu Jenny. Unter seinen schweren Stiefeln stoben Funken und Asche drehte sich in winzigen trüben Wirbeln. Als er näherkam, schaute er sich verstohlen um, als wolle er sich davon überzeugen, dass seine Untergebenen, die von ihm fortgeschickt worden waren, Jenny auch nicht bemerkt hatten. Sie waren sehr schnell ausgerückt, woraus Jenny schloss, dass der kleingewachsene Herr über große Autorität verfügte. Wie alle sich beeilen, seinem Befehl nachzukommen, dachte sie.

„Sergeant, ist das das ein Mädchen aus der verunglückten Theatertruppe?“

„Jawohl, Herr Präfekt!“

„Bring sie in meinen Wagen. Und denk daran, du hast sie nicht gesehen! Niemand darf wissen, dass ein Augenzeuge bei uns ist …“

Der Sergeant mit dem Schnurrbart legte vorsichtig seinen Arm um Jenny und geleitete sie zum Wagen. Sein Arm war fest, Jenny spürte die Berührung durch den nassen Stoff des Mantels gut. Unter anderen Umständen wäre es ihr wahrscheinlich angenehm gewesen, wenn ein so hübscher junger Mann, mit einem so schön glänzenden Brustschutz und schwarzem Schnäuzer sie zartfühlend gestützt hätte … aber noch wahrscheinlicher wäre es gewesen, dass Jenny sich geniert und versucht hätte, sich freizumachen. Doch jetzt war ihr alles egal. Also, fast egal. Sie ging folgsam mit dem Sergeanten mit und das schmutzige Wasser, das von der Kleidung unter dem fremden Mantel auf die Kohlen strömte, zischte, warf Blasen und verwandelte sich sofort in Dampfwölkchen. Wenn diese kalten Ströme nicht gewesen wären, hätte sie nicht durch die rauchenden Kohlen zu dem Wagen gehen können.

Die vor den gepanzerten Wagen gespannten Pferde schnaubten und schüttelten die Köpfe in den Rauchschwaden. Eines von ihnen stampfte nervös mit den Hufen und der Wagen bewegte sich ein wenig fort. Der Sergeant mit dem schwarzen Schnäuzer griff Jenny unter den Arm und half ihr, einzusteigen. Aus dem Qualm tauchte der stämmige Präfekt auf und drängte Jenny zur Eile.

„Schneller, schneller, mein Fräulein! Niemand darf dich sehen! Sergeant, du auch! Schnell mir nach! Und mach die Tür zu! Tempo!“

Das Innere war beinahe leer, bis auf eine Öllampe an der Decke und lange Bänke, vom Alter nachgedunkeltes Holz unter einer groben Polsterung. Die Wände, derselbe Stahl, der unter dem Licht der Lampe trübe widerstrahlte, und gleichmäßige Reihen von Schrauben. Der Sergeant schloss krachend die Tür und sogleich wurde es kühler. Er setzte Jenny auf die Bank und nahm, auf ein Zeichen des Präfekten hin neben ihr Platz. Der Vorgesetzte ließ sich auf die Bank gegenüber plumpsen, klopfte mit dem schweren Stock auf den Boden, beugte sich vor und betrachtete Jenny.

Erst jetzt blickte sie den Vorgesetzten der Wachsoldaten richtig an. Den Mann, der hier die Anweisungen erteilte. Der Präfekt war schon älter, man konnte sogar sagen, alt. Für Jenny waren alle Männer über vierzig alt und dieser ganz bestimmt. Grauhaarig, faltig, sehr breitschultrig, aber nicht groß. Außerdem hatte er eine merkliche Glatze, die im trüben Licht glänzte. Unter dem stechenden Blick des Präfekten wurde Jenny etwas unangenehm zumute, sie rutschte so weit zurück, wie es die Breite der Bank erlaubte und hüllte sich fester in den fremden Mantel, an dem schon feuchte Flecken erschienen.

„Ich bin der Präfekt des Nord-West-Bezirks, mein Name ist Eduard Kwestin“, stellte sich der Mann vor.

„Die gesamte hiesige Wache untersteht mir und ich werde die Verbrecher suchen, die dich heute Nacht überfallen haben. Verstanden? Du musst mir die Wahrheit sagen und nichts verbergen. Denn ich vertrete das Gesetz und ich bin dein einziger Schutz. Hilf mir und ich werde dir helfen. Wie heißt du, mein Kind? Wer bist du und woher kommst du?“

„Jennifer“, stammelte Jenny, „aus dem Nirgendwo.“

Jennifer aus … woher kam sie? Jennifer aus dem Nirgendwo. Das hätte sie möglicherweise nicht laut sagen sollen. Für alle Fälle schielte sie auf den Sergeanten mit dem schwarzen Schnurrbart. Jedenfalls war er ein sympathischer junger Mann. Männer wie er kamen einem ins Unglück geratenen Mädchen immer zur Hilfe … und er hatte ihr ja schon den Mantel angeboten. Aber der junge Mann schwieg und blickte auf das vergitterte Fenster des Wagens. Doch den Präfekten stellte auch diese kurze Antwort zufrieden. Er nickte. Dann schwieg er und der stechende Blick seiner farblosen Augen durchbohrte die Zeugin unablässig.

„Also, Kind, erzähl, was dir gestern passiert ist“, sagte der Präfekt und verlangte nach einer Pause.

„Ich will alles von Anfang bis Ende hören, vom Morgen an. Erzähl unverzüglich, solange die Ereignisse noch frisch in deinem Kopf sind.“

Und Jennifer besann sich. Gestern war ein sehr langer Tag gewesen.

Teil 1: Im Schatten des Vulkans

Kapitel 1: Ein sehr langer Tag

Wohlerzogene Mädchen zeigen sich vor den Leuten nicht ohne Rock. Wohlerzogene Mädchen reisen nicht auf dem Dach eines Planwagens. Sie sitzen zu Hause und seufzen schwer, während sie aus dem Fenster starren. Jennifer kannte kein anderes Zuhause als den Planwagen von Papa Burmal. Sie liebte es, auf dem Dach des behäbigen Fuhrwerks zu liegen und die vorbeifliegenden Wolken anzuschauen, was natürlich einem so langweiligen Geschöpf wie einem wohlerzogenen Mädchen nicht in den Kopf käme. Und was Röcke anging, so hätte dasselbe wohlerzogene Mädchen schön ausgesehen, wenn es im Rock auf dem Seil getanzt hätte. Und die gesamte brüllende, lärmende Menge von unten hinaufgeglotzt hätte. Und gerade damit beschäftigte sich Jenny, mit Seiltanz über dem Platz, auf dem Papa Burmal mit seinen Zöglingen auftrat.

Jetzt war er unterwegs zum großen und berühmten Eweron, der Hauptstadt des Reiches. Jenny wird den Vulkan sehen, wird die Paläste der Gebieter des Feuers sehen, den Hafen, wo die Schiffe aus aller Welt anlegen. Ihr könnt mich mal, ihr wohlerzogenen Mädchen, dachte sie. Niemals im Leben werdet ihr die Wunder von Eweron durch eure dreckigen Fenster sehen. Zum Betrachten der Wunder ist das Dach eines Planwagens wesentlich besser geeignet. Auch Papa Burmals Fuhrwerk konnte einem wie ein Wunder erscheinen. Das sperrige, zwei Etagen hohe Konstrukt knarrte und schwankte im Fahren, aber rollte störungsfrei, gezogen von vier Pferden, eine Meile nach der anderen hinter sich zurücklassend. Dieser Wagen war Jennys Haus, solange sie sich erinnern konnte, und das galt auch für alle Übrigen. Der Wanderschauspieler Papa Burmal nahm unterwegs verlassene Kinder auf und die Familie wurde immer größer. Jenny war die Letzte und Jüngste.

Sie waren eine Familie, sie waren die Truppe des Wandertheaters Burmal und ganz gleich, wen man fragte, jeder würde sagen, dass es kein schöneres Leben geben konnte. Die Vorstellungen gefielen dem Publikum, aber es kam niemals viel Geld dabei heraus. Nur gerade so viel, um sich mit allem Nötigen für den nächsten Platzwechsel zu versorgen. Aber jetzt versprach Papa, dass ihnen schließlich ein derartiger Erfolg lachen werde, dass sie Pausbacken bekommen würden. Er habe ein neues Theaterstück verfasst, das unbedingt Erfolg haben müsse. Dafür wäre es aber notwendig, in die Hauptstadt, nach Eweron, zu fahren. Denn dort würde leicht verdientes Geld in die Taschen fließen.

Auf dem Wagendach liegend und mit einem Bein wippend, das über den Rand herunterhing, betrachtete Jenny die Wolken und träumte von den Wundern der Hauptstadt, die schon bald vor ihr auftauchen würden. Unter ihr schwammen die Kronen der kurzgewachsenen Bäume vorbei, die Spitzen der Wegpfosten mit nachgedunkelten Brettern, auf denen man den Namen der Stadt schon nicht mehr lesen konnte. Ja, aber wozu lesen? Hier führten alle Wege nach Eweron. Jennys frei baumelnde Ferse wurde gekitzelt. In so einer Höhe konnte bestenfalls ein Troll ihren Fuß erreichen, aber Jenny schaute nicht einmal nach. Sie wusste auch so, wer dazu groß genug war.

„Na was!“, sagte sie träge und zog das Bein hoch. An den frei gewordenen Rand der Bodenplatte klammerte sich erst eine Hand, dann noch eine und schließlich erschien das grinsende Gesicht Eriks. Er war nur etwas älter als Jenny, Papa hatte ihn einige Monate vor Jenny in die Familie aufgenommen. Erik und Jenny, die Jüngsten der Truppe, hielten immer zusammen. Der Bruder hatte sich hochgezogen und durch das enge Fensterchen der zweiten Etage des Wagens hindurchgezwängt. Genau so, wie Jenny es getan hatte. Er legte sich neben sie und schaute ebenso in den Himmel.

„Was denkst du?“, fragte er.

„Gibt’s bald Krieg?“

„Jungen haben nur den Krieg im Sinn“, erklärte Jenny.

„Was ist, träumst du davon, in die Armee einzutreten?“

„Ich würde schon gerne“, sagte Erik seufzend.

„Aber wie kann ich euch verlassen? Ohne mich seid ihr doch verloren! Außerdem schaffe ich es nicht, rechtzeitig auf dem Schlachtfeld zu sein. Unsere Truppen werden schnell mit den Südbarbaren fertig werden. Und ich lande in einer gottverlassenen Garnison und werde da hängen bleiben und vergammeln. Nein, das kommt für mich nicht in Frage. Warte …“, sagte er und hielt dann einen Moment inne, bevor er weitersprach: „Was ist das für ein Lärm?“

„Da schreien die Ausrufer, wo ist hier der große Held Erik, der Unbesiegbare? In der Armee wartet man auf ihn, ohne diesen mächtigen Krieger entschließen sich die Lords nicht, gegen die Antreiber des Windes vorzugehen“, sagte Jenny spöttisch.

Erik setzte sich auf und starrte auf den Weg. Jenny richtete sich ebenfalls auf den Ellbogen hoch. Der Weg führte über ein Flüsschen, darüber war eine Brücke. Und unter der Brücke brüllten Trolle. Genauer gesagt, brüllte einer, laut und durchdringend. Er lärmte wie ein Steinfall im Gebirge, während ein anderer Troll unverständlich und hohl wie rollende Kiesel plapperte. Da erschienen die Streithähne unter der Brücke. Jenny verstand, dass der Lautere der Herr der Brücke zu sein schien und den anderen verjagen wollte.

„Hau ab!“, knurrte der Riese.

„Das ist eine sehr kleine Brücke und ich komme hier sehr gut allein zurecht! Ich brauche keine Helfer! Das ist meine Brücke, die zuerst die meines Vaters war und davor die meines Großvaters. Ich halte sie selbst in Ordnung, kapiert?“

Papa Burmal zog die Zügel an und die Pferde blieben am Rand der Brücke stehen. Der Troll hatte nicht gelogen, er hielt seine Brücke in bester Ordnung, das Bauwerk sah stabil und sauber aus. Der ortsfremde Riese ließ den Kopf hängen und wich zurück, als der Herr der Brücke über die Böschung zum Wagen kletterte, um das Geld für die Überfahrt zu kassieren. Papa stieg vom Kutschbock, zog einen Brotfladen heraus, der in ein Handtuch gewickelt war. Er brach ihn in zwei Hälften, wog sie ab und reichte dem Brückenaufseher das größere Stück. Der Troll grunzte zustimmend, biss einen ordentlichen Happen ab, strich liebevoll mit dem Ärmel über das Geländer, wischte den Staub ab und stampfte auf, während er das Brot kaute. Burmal überlegte und brach das ihm verbliebene Brotstück in zwei gleiche Teile. Er reichte das eine Stück dem wandernden Troll und riet ihm: „Geh in die Hauptstadt, nach Eweron! Dort werden Männer für das Heer angeworben, man braucht Arbeiter als Ersatz für die Eingezogenen. Wenn es stimmt, was die Leute sagen, dann bricht der Krieg jeden Augenblick aus, das bedeutet, für starke Arme gibt es mehr Arbeit.“

„Danke“, sagte der Troll verlegen, der ein so unerwartetes Geschenk bekommen hatte.

„In Trochomors Namen“, brummte Burmal.

Trochomor hieß der Gott der Wege, der Landstreicher und der Bettler. Im Wagen verehrte man ihn und Papa vergaß nicht, in seinem Namen mildtätig zu sein. Der Wagen fuhr krachend über die Brücke. Der Troll ging neben ihm her und führte ein höfliches Gespräch mit Papa. Zuerst sprachen sie über den baldigen Krieg, doch dann gingen sie zu langweiligen Themen über, wie dem Zustand der Straßen, der Regelung der Erhaltung der Brücken, die Aussichten auf die Ernte. Jenny hörte nicht mehr zu. Dann flammte über dem Horizont ein blutroter Feuerschein auf. Eweron kam näher. Jenny stieß Erik mit dem Ellbogen an und beide starrten auf den Vulkan, der sich über dem Punkt des Horizonts erhob, wo sich das graue Band des Weges zwischen den Feldern und Gehölzen verlor.

***

Die Vororte von Eweron enttäuschten Jenny. Sie sahen gewöhnliche Häuser und gewöhnliche Leute, in nichts besser als in den vielen anderen Städten, durch die Burmals Kinder gefahren waren. Dafür ging die Straße über einen Hang aufwärts. Zuerst war sie noch sanft, aber je weiter sie kamen, desto steiler wurde sie. Und voraus, dort, wo sie sich schlängelnd zwischen gelben und roten Ziegeldächern verbarg, erhoben sich die Abhänge des Vulkans.

Der Berg sah genau so aus, wie Jenny ihn sich vorgestellt hatte. Die grauen Felswände hielten den rubinrot glänzenden Villen der Gebieter des Feuers ihre Schultern hin. In malerischer Willkür über die Abhänge verstreut, zauberten von innen rot beleuchtetes Glas und Kristall ein wunderbares Bild. Düster, aber faszinierend. Ein wahres Wunder! Es lohnte sich, einen Weg von tausend Meilen zurückzulegen, um diese Schönheit zu bestaunen. Aber Papa Burmal brachte sein Theater ganz und gar nicht nach Eweron, um sich an den hiesigen Schönheiten zu ergötzen. Entgegen seiner Gewohnheit zeigte er sich fahrig und gereizt. Er wies die Jüngeren an, vom Dach zu klettern und sich brav ins Innere des Wagens zu setzen, der gemächlich über die gewundenen Straßen am Stadtrand fuhr. Papa bog einige Male ab. Das war alles, was Jenny sehen konnte, als sie aus dem Fenster blickte. Vom Wagendach aus hätte sie viel mehr sehen können, aber jetzt war nicht der passende Augenblick, um dem Ziehvater zu widersprechen.

Schließlich machten sie Halt und die Passagiere stürzten nach draußen. Der Planwagen stand mitten auf einem großen Platz, der mit hohen Pfosten gespickt war. Von einigen hingen Seile herab, an anderen standen Nägel heraus, um das Hochklettern zu erleichtern. Jenny kannte die Bedeutung derartiger Pfähle genau. Sie standen dort, wo oft Jahrmärkte und alle möglichen Feierlichkeiten stattfanden, und zwischen ihnen wurden Seile gespannt. Nur dass hier sehr viele Pfähle standen.

„Der Platz der tausend Pfähle“, erinnerte sie sich an den Namen.

„Ja, genau der ist es.“

Das bedeutete, dass sie hier ihre Vorstellung geben würden. Jenny und Erik gingen los, um die Pfosten näher anzusehen, denn an ihnen würden sie öfters hochklettern müssen. Burmals ältere Kinder, Pierre, Sejscha und Anna, kümmerten sich um die Pferde, während Papa unterwegs war, um mit dem örtlichen Aufseher handelseinig zu werden. Um auf dem Platz der tausend Pfähle auftreten zu dürfen, musste man zahlen.

„Hast du gesehen, wie wütend Papa ist?“, fragte Erik.

„Wir sind ganz knapp, mit dem Geld. Er regt sich auf, ob er in seinem Beutel genügend Geld für die Platzmiete zusammenkratzen kann. Außerdem werden noch viele andere Ausgaben dazukommen!“

Der Troll wich nicht vom Wagen. Anscheinend war er ganz verwirrt inmitten einer solchen Menschenmenge, die um ihn herumwimmelte. Jetzt ging er zwischen den Pfosten hin und her, die natürlich weniger als tausend waren, aber trotzdem doch sehr viele. Dabei konnte er sich nicht entschließen, sich vom Wagen weiter als dreißig Schritte zu entfernen. Hin und wieder schielte er zu Papa herüber, dann schlug er schüchtern vor, ihm beim Aufbau zu helfen. Der Troll hatte Angst, allein unter Unbekannten zu bleiben. Wenn ihn die tausend Pfähle auf freiem Feld verwirrten, so versetzte ihn die Aussicht, zwischen tausend und abertausend kleinen Menschen zu sein, in Verlegenheit. Auf dem Weg hatte er mutig getan, aber hier stellte sich plötzlich heraus, dass er für das Leben in einer Großstadt noch nicht bereit war. Einfach noch nicht bereit. Er brauchte Zeit, um sich einzugewöhnen.

Burmal stand breitbeinig vor dem Troll und sah von unten in das einfältige Gesicht des Riesen. Der Chef der Truppe war ein ziemlich stämmiger Mann, er konnte Eindruck machen und wie eine bedeutende Persönlichkeit aussehen. Aber vor dem Troll, der doppelt so groß war, sah Burmal eher komisch aus. Dick, mit einem buschigen schwarzen Bart, in einem schlecht geschneiderten grellbunten Kostüm.

„Schon gut“, entschied Papa.

„Du kannst bleiben. Also ein bis zwei Abende werde ich dir zu Essen geben, obwohl du über die Maße groß bist. Ich werde versuchen, dir zu helfen, einen Verdienst zu finden, bevor meine Vorräte erschöpft sind. Ich würde dich wie die anderen adoptieren, nur passt du leider nicht in meinen Wagen.“

Der Troll dankte ihm ungeschickt und versicherte, dass er sehr wenig essen würde. Burmal hob seine dicke Hand, die im Vergleich zur Pranke des Trolls fast zierlich aussah.

„Schon gut, schon gut. Ich sehe doch, dass du zu den Pferden rüber guckst, wenn ihnen Hafer hingeschüttet wird. Ich selbst esse gerne und sehe darin nichts Schlechtes. Man braucht sich nicht dessen zu schämen, was natürlich und richtig ist. Hilf den Jungs, die Seile zu spannen und die Fahnen aufzuhängen, deine Größe ist dafür bestens geeignet. Ich gehe, um etwas Geschäftliches zu regeln. Bis ich zurückkomme, höre auf Pierre und pass auf, dass du keines meiner Kinder zertrampelst. He, ihr Kleinen, mir nach!“

Er hatte Jenny und Erik gerufen. Die Älteren blieben auf dem Platz, um die Dekorationen für das Schauspiel aufzubauen, aber für die Kleinen, so dachte Papa, wäre es sinnvoll, die Hauptstadt anzusehen.

Zuallererst bogen sie an einem Häuschen am Ende des Platzes der tausend Pfähle ab. Unterwegs erzählte Papa, dass in der Hauptstadt alles etwas kosten würde, sogar ein leerer Platz. So gab es hier auch einen Aufseher, der Bezahlung für die Erlaubnis, Vorstellungen zu geben, entgegennahm. Zuerst musste man mit ihm sprechen. Mit einem zu einer Rolle zusammengewickelten Aushang wedelnd, begab sich Papa zu dem Häuschen.

Der Aufseher, ein dürrer, mürrischer Typ, hatte natürlich gesehen, dass Gäste auf dem Platz angekommen waren. Er stand schon vor seiner Wächterbude und wartete auf den Vertreter der Truppe. Burmal setzte eine äußerst souveräne Miene auf und rief: „Na, Verehrtester, du hast unwahrscheinliches Glück gehabt!“

„Du glaubst, dass mich deine Tricks vom Hocker reißen?“, erkundigte sich der Aufseher missmutig.

„Weißt du, ich bin nicht blöd, ich habe auf diesem Platz so viele Schauspieler gesehen …“

„Klar“, Papa unterbrach seine Nörgelei mit einer majestätischen Handbewegung. Das Lächeln verschwand auf seinem Gesicht, das augenblicklich nachdenklich und sogar traurig wurde.

„Du sitzt hier schon seit Jahr und Tag, hast viele unserer Zunft gesehen, Wanderschauspieler. Und du verstehst von unserem Handwerk mehr als alle Theaterkritiker. Ich meinte etwas anderes. Du hast Glück, dass ich kein Geld habe. Für mich die Sorgen, für dich der komplette Vorteil.“

Der Aufseher war sprachlos, als er das erstaunliche Paradoxon hörte und starrte Papa Burmal an.

„Es ist nämlich so, dass“, fuhr dieser in ernstem Ton fort, „ich auftreiben werde. Wenn nicht heute, so morgen. Aber ich bin genötigt, dich für deine Geduld zu bezahlen. Und das bleibt unter uns. Nimm für den Anfang das hier.“

Erstaunt von einem derartigen Vorgehen, nahm der Aufseher ohne Murren einige kleine Münzen in Empfang. Dann reichte ihm Papa mit einer hoheitsvollen Geste ein Plakat.

„Sei so freundlich und hänge es an einem Ort auf, wo es am besten sichtbar ist. Je mehr Volk zur heutigen Vorstellung erscheint, desto schneller können wir beide voll abrechnen.“

Der Aufseher sagte keinen Ton, was wohl Zustimmung bedeutete. Er entrollte den Aushang und betrachtete das Bild. Anna hatte es gemalt und Jenny fand großen Gefallen daran. Dort war die gesamte Truppe abgebildet, sogar sie, Jenny. Ganz klein und weit entfernt, auf dem Seil über allen. Aber es machte nichts, dass sie klein war, denn trotzdem war sie doch auf dem Bild.

„Ich dachte, du würdest vor ihm einen Spaßvogel spielen“, sagte Erik, als das Häuschen des Aufsehers hinter ihnen lag und sie über die Straße gingen.

„Also lachen, Witze machen, Schulterklopfen und so etwas.“

„Das fehlte gerade noch“, erwiderte Papa seufzend.

„Neun von zehn spielen vor ihm den Spaßvogel. Rechne dir selbst aus, wie sie diesem Burschen auf die Nerven gehen, mit all ihren blöden Grimassen, Späßen und freundschaftlichem Schulterklopfen. Nein, nein, in unserem Beruf überleben nur diejenigen, die dem Publikum etwas Neues vorstellen. Also, das Geld für den Stand auf dem Platz der tausend Pfähle zahlen wir später, der Aufseher wird warten … Aber wir müssen in der Tat unbedingt Geld auftreiben. Heute werden nur wenige zur Vorstellung kommen. Wir müssen durchhalten, bis sich die Kunde von unserem fantastischen Schauspiel in Eweron herumgesprochen. Na, aber jetzt bleibt mir nur dicht auf den Fersen. Wer in dieser Stadt verloren geht, wird lebendig gefressen!“

Sie bogen in eine andere Straße ein und Jenny verstand den Sinn des letzten Satzes. Hier waren viele Menschen und ein besonderes Gedränge. Dutzende Leute huschten auf dem Straßenpflaster in beide Richtungen, sprangen vor den vorbeifahrenden Fuhrwerken im letzten Augenblick zur Seite, drehten sich um, beschimpften die Kutscher, die ihrerseits die Fußgänger anschrien, … eine wahre Hauptstadt!

Die Häuser hier waren ganz anders als die, die Jenny aus dem Wagenfenster am Stadtrand gesehen hatte. Sie waren höher, prachtvoller und dennoch nicht besonders, solche konnte man überall sehen, sie waren des sie überragenden Vulkans nicht würdig. Jenny richtete hin und wieder ihren Blick auf den grauen Bergkoloss, der mit den rubinroten Villen übersät war. Der Vulkan, der sich über den Dächern erhob, faszinierte sie. Interessant, wie die Lords, die Gebieter des Feuers, lebten, wovon sie träumten, womit sie sich im Laufe des Tages beschäftigten, welche Gerichte die Hofköche für sie zubereiteten und welche Kleider man für ihre Damen nähte.

Jenny sah mehr auf den Vulkan als unter ihre Füße. Wer daran gewöhnt ist, auf einem Seil zu gehen, kann das Gleichgewicht halten, auch wenn er nicht nach unten starrt. Und diese Gewohnheit spielte ihr einen bösen Streich. Jenny träumte, als sie auf die glänzenden Fenster der Paläste über der Stadt sah, und schrie auf, als ihr etwas Lebendiges und Weiches unter die Füße geriet. Ein grau-orangefarbener, schmutziger Klumpen kam unter ihren Schuhen hervor, piepste, zirpte, fletschte seine winzigen Zähnchen und funkelte mit seinen runden schwarzen Äugelchen. Jenny sprang hinter Papas Rücken und betrachtete das seltsame Wesen. Gebückt, bedeckt mit einem grauen Fell, rieb es ärgerlich die gequetschte Pfote und bewegte die Schnurrhaare auf seiner vorgestreckten Schnauze. Die zottige Missgestalt maß, wenn sie keinen Buckel machte, mehr als drei Fuß. Erst jetzt bemerkte Jenny, dass auf der Straße nicht weniger als ein Dutzend der rattenähnlichen Kreaturen herumlief. Alle hatten orangefarbene Westen und sahen sehr geschäftig aus. Sie duckten sich tief, stöberten mit ihren dünnen Pfoten auf dem Pflaster herum, scharrten, sammelten auf, schleppten es zum Mund und kauten sofort, wobei die Schnurrhaare sich auf und ab bewegten.

„Jenny, nicht zurückbleiben!“, rief Papa.

„Sonst gehst du verloren. Was ist denn das? Ah, Rattler. Nichts Besonderes, lass uns gehen.“

„Ich wäre auch beinahe draufgetreten“, redete Erik Jenny nach dem Mund, um seine Schwester zu trösten.

„Sie kriechen einem hier unter die Füße.“

Hinter den Männern hertrippelnd, bemerkte Jenny, dass ab und zu jemand gegen die Rattler anrannte. Doch das störte niemanden. Sie gingen weiter und schenkten dem Piepsen der Nichtmenschen keine Beachtung. Dann erinnerte sie sich. Der Stamm der Rattler lebte seit langen Zeiten am Fuße des Vulkans, aber als Eweron unter der Herrschaft der Gebieter des Feuers gewachsen und eine große Stadt geworden war, waren die Wesen unter die Erde gezogen, in die städtische Kanalisation. Als Jenny zurückblickte, sah sie, dass der Rattler, dem sie ungewollt wehgetan hatte, schon zu seiner Arbeit zurückgekehrt war und ihr nicht hinterher sah. Das beruhigte sie etwas.

„Die Rattler dienen der Stadt, sie sammeln die Abfälle“, erklärte Papa.

„Die Eweroner haben es sich angewöhnt, sie nicht zu beachten, Sie scherzen sogar, dass es heißt, dass du nicht von hier bist, wenn du auf der Straße einen Rattler gesehen hast. Die Armen tragen leuchtende Westen, aber das hilft ihnen nicht. Also, mach dir keine Gedanken und geh schneller. Ich wittere schon den Geruch des Geldes.“

Während er diese Worte sprach, drehte er eifrig den Kopf hin und her und seine Nasenlöcher weiteten sich, als versuchten sie, unter allen möglichen Düften der Stadt den genannten Geruch aufzunehmen. Papa suchte ein Leihhaus. Jenny wusste das, ohne zu fragen, weil es öfters der Fall gewesen war. Im Wagen gab es einen einzigen Gegenstand von wirklichem Wert, eine goldene Platte an einer Kette mit einem schönen gravierten Stern aus Silber. Es war etwas ungewöhnlich, Gold mit weniger wertvollem Silber zu verzieren, aber dieses Juwelierstück war so gefertigt worden. Der Stern aus acht feinen, dünnen Strahlen, leuchtete förmlich auf dem Hintergrund des edlen Goldes und das Schmuckstück rief insgesamt einen starken Eindruck hervor. Etwas daran war faszinierend und hypnotisierend.

Papa hatte niemals erzählt, woher er ein derartiges Wunderding hatte. Erik behauptete, dass er dieses Medaillon bei einem der kleinen Kinder gefunden hätte, die er am Wegesrand auf seiner unendlichen Wanderung aufgesammelt hatte. Aber welchem Kind gehörte dieser Gegenstand eigentlich? Sie hatten niemals darüber gesprochen, weil alles ohnehin Eigentum der ganzen Familie war. Eben dieses sagenhaft teure Medaillon gab Papa stets als Pfand und wenn der Wagen an einen neuen Ort gelangte, bekam er dafür ein Darlehen. Wenn sie bei den Auftritten Geld verdienten, lösten sie den Silberstern aus, um ihn dann am nächsten Ort von neuem als Pfand zu versetzen. Papa nannte diesen Vorgang „Gewinnung von Kupfermünzen aus Gold“. Und gerade das hatte er vor. Sie mussten jetzt nur noch ein anständiges Leihhaus finden, das Geld gegen Pfand gab. Deswegen strebten sie dem Zentrum zu, drängten sich durch die hin- und hereilenden Städter und wichen den herumwuselnden Rattlern aus. Burmal wollte Geld in einem ordentlichen, respektablen Leihhaus aufnehmen, zumal er solides Pfand hatte. Einmal hatte Pierre gefragt, warum es unbedingt ein reiches Pfandhaus sein müsse. In einem reichen wäre das Risiko kleiner, hatte Papa damals geantwortet. Die Eigentümer kleinerer Pfandleihen am Stadtrand könnten immerhin Komplizen der örtlichen Diebe sein. Außerdem ließe sich bei ihnen kein Geld für ein so teures Pfand finden.

Je weiter sie sich vom Stadtrand entfernten, desto steiler wurde der Aufgang, sauberer das Straßenpflaster und reicher die Fassaden der Häuser. Papa wandte den Kopf immer schneller von einer Seite zur anderen. Da sah er ein Schild, auf dem „Drejkenser und Compagnons. Geldleihe gegen Pfand“ stand. Das Schild war in einen polierten grünen Stein eingelassen, eingemauert in die Fassade eines äußerst soliden Gebäudes. Die Buchstaben waren vergoldet. Um die Wahrheit zu sagen, ähnelte das Gebäude eher einer Festung als einem Stadthaus. Das gefiel Papa offensichtlich, er bog scharf ab und begab sich zum Eingang. Erik und Jenny beeilten sich und holten ihn gerade noch direkt an der Tür ein. Burmal stieß die Tür energisch auf und betrat einen halbdunklen Saal. Jennys Meinung nach war die Ausstattung hier reichlich pompös und sie schämte sich ein wenig über ihre bescheidene Kleidung. Der Fußboden, der aus Steinplatten bestand, war so sorgfältig poliert, als wären die Platten mit Wachs eingerieben worden. Dagegen waren die Wände aus grob behauenen Paneelen gefertigt. Sie sollten wohl an eine Höhle denken lassen. An einer entfernten Wand saß ein bärtiger Zwerg an einem massiven Tisch. Vor dem Angestellten waren die Instrumente seines Berufs ausgebreitet. Eine Waage, ein Satz Gewichte, eine Messschnur mit Knoten, dicke Bücher, Tintenfässer … und um diese Vielfalt voll zu machen, fand sich dort auch eine mächtige Kriegsaxt mit sehr scharfer Schneide, die trübe das Lampenlicht spiegelte.

„Womit kann ich Ihnen dienen?“, erkundigte sich der Zwerg unfreundlich.

„Womit kann ein Leihhausangestellter einer solchen Einrichtung dienen?“ Burmal zuckte mit den Schultern und beugte sich über den Tisch. Erik stellte sich neben ihn und Jenny blieb hinter ihnen stehen. Denn der finstere Bärtige schaute sie schon unfreundlich an.

„Ich brauche ein Darlehen.“

„Wieviel?“

Burmal nannte die Summe. Jenny schien es, als wäre Papa verlegen, er blickte zur Seite und murmelte leise. Er sah dem selbstsicheren, lauten Burmal überhaupt nicht ähnlich.

„Pfand?“, fragte der Zwerg ebenso sauer.

„Wir sind ein solides Geschäft, mit Mildtätigkeit geben wir uns nicht ab.“

Mit einem tiefen Seufzer legte Papa seinen Schatz auf den Tisch. Er wusste, dass das Medaillon viel mehr wert war als das Geld, um das er das unfreundliche kleine Männlein bat. Dieses scharrte nun einen Haufen Messgeräte auseinander und zog eine große Glasscheibe heraus, die beidseitig gewölbt war. In aller Ruhe legte er den Gegenstand auf das Medaillon und prüfte es sorgfältig. Dann drehte die Kreatur es um und betrachtete die Rückseite. Der Zwerg schien nach einem Eichstempel zu suchen.

„Nun, gut“, sagte er schließlich.

„Wenn man unsere Gewohnheit beachtet, nämlich dem Kunden immer entgegenzukommen, dann… Also, der Wert dieses Stückes entspricht mehr oder weniger der erbetenen Summe. Aber wie soll ich wissen, dass es nicht gestohlen ist?“

Papa brummte ärgerlich in seinen Bart, raffte das Medaillon vom Tisch, steckte es in die Tasche und wandte sich zur Tür. Und zwar so ungestüm, dass Jenny unwillkürlich zur Seite sprang, um ihm nicht im Weg zu stehen. Erik erschien sofort neben ihr und zwinkerte ihr aufmunternd, aber verstohlen zu, damit der Zwerg es nicht bemerkte.

„Bleib stehen“, flüsterte er Jenny ins Ohr.

„Wir gehen doch nicht von hier weg.“

Erik hatte Papa schon bei ähnlichen Aktionen begleitet, Jenny bisher nicht. Sie war sogar leicht verwirrt. Sie hatten doch so lange ein Leihhaus gesucht und Burmal machte sich schon daran, zu gehen? Hieß das, dass sie wieder über diese lärmenden Straßen wandern müssten? Aber Erik blinzelte ihr zuversichtlich zu. Tatsächlich, Papa schaffte es nicht, auch nur einen Schritt in Richtung Ausgang zu machen. Der Zwerg ließ seine unfreundliche Maske fallen, stürzte hinter dem Tisch hervor und fasste ihn am Ärmel.

„Bleib stehen, warte! So macht man keine Geschäfte!“

„Und wie macht man Geschäfte?“ Jetzt schauspielerte Papa schon. Er tat so, als wäre er wütend. „Ich frage doch auch nicht, ob du vorhast, mir Falschgeld anzudrehen! Nein, ich beabsichtigenicht, mir Beleidigungen anzuhören! Gerade hier habe ich ein solches Benehmen nicht erwartet. In dem renommierten ‚Drejkenser und Compagnons‘. Wie kann man jetzt dem Gerede glauben, dass das ein anständiges Unternehmen ist! Ob es nicht gestohlen sei! Das ist ein Erbstück meiner Familie, das schon seit zwölf Generationen bei uns liegt. Wenn mein Geschäft nicht stocken würde, würde ich es nicht einmal aus dem Haus tragen. Ich würde nicht einmal auf den Gedanken kommen, es aus der Truhe zu nehmen!“

Der Zwerg entschuldigte sich und brummte etwas über seine nervenaufreibende Arbeit, bei der er mit verschiedenen Leuten zu tun habe. Und dass nicht jedes Mal Kunden so ehrbar wären, wie Papa Burmal, der „Drejkenser und Compagnons“ mit seinem Besuch beglücken würde. Aber Papa beruhigte sich nicht, seine Empörung kannte keine Grenzen. Es erforderte nicht wenig Zeit, bis der gekränkte Kunde endlich nachgab und bereit war, von Neuem über das Darlehen zu sprechen. Am Ende des Gesprächs war die Summe des Darlehens erheblich gewachsen, während die Frist bis zur Rückzahlung alle denkbaren Grenzen überschritt. Jedenfalls erschien es Jenny so. Der Zwerg bat Burmal einige Male, nochmals das Medaillon zu zeigen, drehte es hin und her, betrachtete es durch das gewölbte Glas, wog es ab, wischte mit seinen dicken Fingern darüber. Doch schließlich bekräftigten die beiden das Geschäft mit Handschlag und der Zwerg öffnete ein dickes Buch, um den Handel schriftlich festzuhalten. Während der Auseinandersetzung waren noch einige Leute in das Leihhaus eingetreten, aber sie mussten warten. Offensichtlich war der Zwerg in Eifer geraten und jetzt war es für ihn Ehrensache, den Vertrag abzuschließen. Das eben war auch der Grund, weswegen sich Papa auf das Spiel eingelassen hatte.

Auf der Straße atmete Burmal geräuschvoll aus und entspannte sich.

„Ein unfreundliches, selbstzufriedenes Völkchen! Eine extrem widerliche Art!“, erklärte er. „Mit ihnen zu tun zu haben, ist reines Vergnügen. Die Zwerge sind durchschaubar.“

Jenny hoffte, dass sie jetzt zum Wagen zurückkehren würden, denn sie hatten doch nun genug Geld, um den Aufseher des Platzes der tausend Pfähle zu bezahlen. Aber das geschah nicht. Burmal strebte wieder dem Zentrum zu. Jenny, die von der Menschenmenge schon ganz verwirrt war, wusste nicht, wohin sie schauen sollte. Die Fassaden der Häuser waren hier fantastisch geschmückt, die Kleidung der Passanten wunderlich und es herrschte größere Betriebsamkeit. Sänften waren zu sehen und der vor ihnen schreitende Ausrufer schrie die Fußgänger an, aus dem Weg zu gehen. Da hob eine Dame den Saum ihres prächtigen Kleides beim Überschreiten einer Pfütze. Da rannten Rattler zwischen den Füßen hin und her. Drei von ihnen waren mit einem Meißel versehen und dabei, eine flache Platte zwischen den Pflastersteinen der Straße hochzuheben. Unter der Platte gähnte ein abgrundtiefes, schwarzes Loch. Nur der Vulkan erhob sich wie zuvor über allem, fern, unerschütterlich und erdrückend riesig. Jenny spürte, wie der Rhythmus der Menge auf sie überging, sie kam sich wie ein Salzkörnchen vor, das ins Wasser geworfen war. Genau so löste sie sich in der Stadt auf, in der Menschenmenge, im Geschrei und Gedränge. Anscheinend empfand Erik etwas Ähnliches, denn er murmelte: „Wenn es hier auf den Straßen schon so voll ist, was wird dann erst auf dem Markt los sein?“

Die Wanderung schien kein Ende zu nehmen. Aber da bog Papa zu einem Gebäude ab, vor dem sich eine besonders große Menschenmenge befand.

„Aha!“, sagte er über seine Schulter.

„Das da brauchen wir!“

***

Jenny eilte ihm nach und es gelang ihr kaum, einen Blick auf die Fassade des Gebäudes zu werfen, die Gelb angestrichen war und ein Schild aufwies: „Scharfäugiger Herold“. Ein seltsamer Name, dachte sie, als sie mit Burmal und Erik zur Tür ging. Sie schaffte es gerade noch ihren zu Bruder fragen: „Was ist das, ein Hotel oder eine Schenke?“

„Das ist eine Zeitung! Eine Zeitungsredaktion!“

Jenny hoffte, dass es im Inneren ruhiger war als auf der Straße, aber sie täuschte sich. Auf den Fluren liefen Leute hin und her, es waren sehr viele, alle hatten es eilig, schlugen mit den Türen und stießen einander an.

Da hielt Jenny es nicht mehr aus, klammerte sich an Eriks Ärmel und schrie ihm ins Ohr: „Halt mich bloß fest! Wenn du mich loslässt, bin ich verloren! Man wird mich zertreten!“

Es war sinnlos, sich an Papa zu wenden, denn er schob sich zielstrebig durch das Gedränge auf der Suche nach etwas, das nur er allein wusste. Er fand eine Tür, stieß sie mit einem Fußtritt auf und stürzte hinein. Jenny machte sich auf das Schlimmste gefasst. Wenn es auf der Straße schon zu laut zuging und es auf den Fluren dieses merkwürdigen Hauses noch schlimmer war, dann würde sich hinter der Tür bestimmt etwas Schreckliches verbergen. Aber … zu ihrem Erstaunen befand sich dort nur ein Mensch. Außerdem lief er nicht herum und brüllte, sondern saß ruhig an einem Tisch, der mit zerbrochenen Federn, Papieren und allen möglichen Kanzleiutensilien überhäuft war. Irgendwie erinnerte er entfernt an den Zwerg aus dem Leihhaus „Drejkenser und Compagnons“, was seltsam war, denn dieser Unbekannte war dünn, hochaufgeschossen und vor ihm lag keine Kriegsaxt. Bald begriff Jenny, welche Gemeinsamkeit hier mit dem Zwerg bestand. Burmal war hierhergekommen, um ein Geschäft abzuschließen.

Es begann ein leidenschaftlicher Handel, dessen Sinn Jenny nicht verstand. Natürlich hatte sie von Zeitungen gehört und wusste, womit sich Redaktionen beschäftigten. Aber bis jetzt hatte sie sich nicht damit befassen müssen. Burmal verlangte, dass der Zeitungsmann einen Artikel über das Schauspiel veröffentlichte, das den kommenden Sieg Ewerons besang und rühmte. Aber alles, was Burmal ihm erzählte, begeisterte den Mann am Tisch nicht wirklich. Er stellte einige Fragen über den Inhalt der Aufführung. Schließlich entschied er laut: „Ich werde einen Mitarbeiter zur Vorstellung schicken, er wird sich das Schauspiel ansehen und den erforderlichen Text schreiben.“

„Das wird teuer für mich, nicht wahr?“ Papa war sofort auf der Hut.

„Eigentlich muss das extra bezahlt werden“, stimmte der Zeitungsmann ihm zu. Es schien, als wäre ihm ein neuer Gedanke im Hinblick auf das Stück in den Sinn gekommen, und je weiter er darüber nachdenkt, desto mehr interessiert ihn diese Idee. „Aber für dich mache ich eine Ausnahme.“ Frischer Enthusiasmus flammte in ihm auf. „Ich werde selbst kommen, sieh mal an! Und werde persönlich dieser Vorstellung beiwohnen. Eweron braucht schon lange etwas dieser Art. Etwas Patriotisches und Herrliches! Kühnes und Aufrüttelndes! Ich sage schon lange, dass die Gebieter des Feuers in ihre Intrigen versunken sind und nicht an den Erhalt der Geistesstärke im Volk denken, das am Fuße des Vulkans umherwimmelt. Wir stehen an der Schwelle eines Krieges, doch das Volk hat seinen patriotischen Schwung eingebüßt.“

„Naja“, brummelte Burmal undeutlich.

„Das Volk ist so ein Ding, es büßt ständig etwas ein, während es am Fuße des Vulkans herumläuft …“

„Die Kunst weckt in den Massen Kraft und Bereitschaft zur Selbstaufopferung im Namen des Vaterlandes!“

Die Stimme des hageren Zeitungsmenschen wurde lauter. Er hörte nicht auf die Antworten und redete, als würde er vor einer großen Versammlung auftreten.

„Wenn mir das Schauspiel gefällt, werde ich ihm eine ganze Serie von Reportagen widmen. Das Volk von Eweron erwartet neue Ideen von euch!“

„Und natürlich werden mich die Bedürfnisse des Volkes klingende Münzen kosten“, stimmte Burmal zu.

„Interessant. Warum soll ich, der Ortsfremde, dafür zahlen?“

„Aus Patriotismus, ausschließlich aus Patriotismus!“, brachte der Zeitungsmann begeistert heraus. Er stand hinter dem Tisch auf und veränderte sich zusehends. Auf den blassen, eingefallenen Wangen blitzte flammende Röte auf, seine Augen funkelten.

„Aber hör zu, jetzt nehme ich den üblichen Tarif von dir. Das Titelblatt, Illustrationen, Ehre und Aufmerksamkeit! Wenn das Schauspiel mir gefällt, dann garantiere ich dir einen Preisnachlass. Der ‚Scharfäugige Herold‘ ist eine einflussreiche Zeitung, wir werden erreichen, dass man dir das Recht zuspricht, deine Kunst im Stadttheater zu zeigen. Das ist nicht wie dein Platz der tausend Pfähle, dort wird Eintrittsgeld erhoben! Aber eine Bedingung ist dabei.“

„Welche?“, fragte Burmal sauer. Ihn begeisterten diese glänzenden Aussichten aus irgendeinem Grund nicht.

„Wir schließen eine Abmachung. Im Falle eines Erfolges schreibe nur ich über deine Vorstellung. Außer dem ‚Scharfäugigen Herold‘ sagst du niemandem ein Wort.“

„Und ich bekomme einen normalen Tarif für einen Artikel?“, präzisierte Papa.

„Noch einen Nachlass von fünf Prozent, wenn die Aufführung mir gefällt. Ich suche schon lange …“, sagte der Zeitungsmann und schnippte mit seinen trockenen gelben Fingern, „etwas Neues und Bedeutendes. Die Stadt ist faul geworden. Aber du bist ein neuer Mensch mit neuen Ideen.“

„Ich bin ein neuer Mensch mit Geld“, brummte Papa in seinen Bart und zog den Beutel hervor, den der Zwerg im Leihhaus gefüllt hatte.

„Jedenfalls war ich ein solcher, bis ich hierher in die Redaktion kam.“

Jenny wurde von diesen Gesprächen ganz wirr im Kopf. Was waren denn frische patriotische Ideen? Welches Theater? Und, Trochomor, hilf mir, welche Intrigen der Gebieter des Feuers? Was hatten sie, die Wanderschauspieler, mit dieser ganzen Sache zu tun? Aber Papa sprach ganz ernsthaft. Jenny vermochte zu unterscheiden, wann er schauspielerte und wann er sich nicht verstellte. Jetzt sprach Burmal ganz offen.

Als der Handel geschlossen war und die Schauspieler die Redaktion verließen, stellte Jenny erstaunt fest, dass sie sich nicht mehr auf der Straße verirrte. Sie hatte sich schon so eingewöhnt, dass sie den Ärmel des Bruders losließ und den vor ihnen eilenden Burmal einholte. Nach der Hektik und dem Geschrei in der Redaktion konnte die Straße sie nicht mehr schrecken. Es sah so aus, als hätten die Eindrücke Jennys Wahrnehmungsschwelle überschritten, das Salzkörnchen hatte sich im Wasser aufgelöst, die Stadt hatte den Ankömmling aufgenommen.

„Papa?“, fragte Jenny.

„Was hast du eigentlich gemacht? Du hast all unsere Münzen abgegeben! Es hätte für die Platzmiete und für die ganze Woche der Vorstellungen gereicht!“

„Ich habe fast alles abgegeben“, stimmte Burmal zu.

„Aber wenn das Glück uns hold ist, dann habe ich mir einen Verbündeten gesichert. Hier haben die Zeitungen großen Einfluss und dieser Typ vom ‚Scharfäugigen Herold‘ hat vor, auf den Erfolg unseres Theaters zu setzen. Ich verstehe nicht, was er im Sinn hat, aber er hat sich für mich interessiert. Trochomor, unser höchster Schutzpatron, sei gelobt, jetzt wird nicht nur er, der Alte, auf uns achtgeben. Jetzt werden es zwei sein. Er und der ‚Scharfäugige Herold‘.“

Jenny hätte noch weiter gefragt, aber dennoch war die Straße, auch wenn sie ihr keinen Schrecken mehr einjagte, kein passender Ort für eine Unterhaltung. Burmal verharrte in freudiger Erregung, er hätte noch lange damit angeben können, welch geschickten Schachzug er gerade gemacht hatte. Er redete und redete, doch Jenny verstand trotzdem nicht, welchen Sinn die Sache mit der Zeitung hatte. Papa blieb plötzlich stehen und seine jungen Gefährten wären ihm fast in seinen stämmigen Rücken gelaufen.

„Kinder, ich denke, wir sind gut zurechtgekommen und haben uns eine kleine Erholung verdient!“, erklärte er und eilte auf eine grün angestrichene Tür zu. Über der Tür prangte ein Schild, ebenfalls in grüner Farbe, mit der Abbildung eines vierblättrigen Kleeblatts, unter dem sich eine schwarze Katze mit erhobenen Pfoten räkelte. Das Haus hatte den schlichten Namen „Glück“, so lautete die Überschrift über dem Kleeblatt und der Katze. Zweifellos war es ein Wirtshaus. Gerade das entsprach Papas Vorstellung von einer kleinen Erholung.

Erik und Jenny sahen einander an und machten einen tiefen Seufzer. Weil sie noch sehr jung waren, tranken sie keinen Alkohol und Papas Leidenschaft für Zecherei … sie verstanden es einfach nicht. Doch man musste es ertragen. Das Wirtshaus „Glück“ war der erste und sogar einzige Ort in ganz Eweron, der Jenny nicht in Erstaunen versetzte. Eigentlich schien es ein ganz normaler Betrieb zu sein. Wanderschauspieler sahen viele Gastwirtschaften und diese hier unterschied sich kein bisschen von den anderen, an denen der Planwagen von Papa Burmal auf seiner endlosen Wanderung vorbeifuhr. Ganz normale Tische, an denen ganz normale Typen saßen, wie Jenny sie schon oft gesehen hatte. Trinker mit roten Nasen und Wangen, ein beleibter Wirt am Ausschank, Handwerker mit abgezählten Kupfermünzen in den schwarzen Händen … und ein kleiner Dieb, auch eine den Wanderern gut bekannte Sorte Mensch. Das Leben auf der Fahrt hatte Jenny gelehrt, die Vertreter dieses Gewerbes sofort zu erkennen. Sieh dir den da an, dachte sie. Er hatte sich in die dunkle Ecke verzogen, schlürfte ganz langsam sein Bier und hielt nach einem Opfer Ausschau.

Eriks Augen funkelten. Er hatte beschlossen, sich zu amüsieren. Er zupfte Burmal am Ärmel, wies mit dem Blick auf den Typen in der Ecke und fragte: „Papa, darf ich?“

Sein Ziehvater blieb nur ungern stehen. Er strebte schon der Theke zu und wenn er, egal wodurch, aufgehalten wurde, so ärgerte ihn das.

„Gut“, brummte er.

„Ihr habt euch gut benommen, Kinder. Amüsiert euch. Nur nicht lange, für uns gibt es jetzt noch viel zu tun.“

„Er trinkt doch schon sein Bier aus“, antwortete Erik fröhlich.

„Jetzt geht es los!“

Er drehte sich zu Jenny um: „Machst du mit? Oder siehst du nur zu?“

Jenny nickte. Das hieß, dass sie ihm half. Sie gingen zur Seite, als Papa einen Krug Bier bestellte und nicht in ihre Richtung schaute. Währenddessen machte der Dieb seinen letzten Schluck und steuerte auf die Theke zu. Er hatte sein Opfer schon ins Auge gefasst. Einen behäbigen Mann mit verdreckter Schürze und kantigem Gesicht. Er arbeitete wohl in einem Laden in der Nähe und hatte beschlossen, sich eine Pause zu gönnen, ins „Glück“ zu springen und ein Bier zu trinken. Die Wahl des Diebes lag auf der Hand. Denn der rotgesichtige Mann war in Eile und deshalb nicht so aufmerksam.

Als der Bösewicht die dunkle Ecke verließ, betrachtete Jenny ihn genau. Solche Typen sollte man sich merken, denn man konnte nie wissen, ob man noch einmal auf sie stieß. Besser war es, sich sein Gesicht einzuprägen, was in seinem Fall nicht schwierig war. Ein kleines spitzes Frätzchen, eingefallene Wangen und dünne blasse Lippen. Dazu noch tiefliegende kleine Äugelchen. Diese kleinen Augen beobachteten den rotgesichtigen Kraftmeier mit der Schürze nun ohne Unterlass. Dieser trank das Bier gierig mit großen Schlucken. Es war sein zweiter Krug und er musste im nächsten Augenblick die Schenke verlassen. Erik und Jenny gingen in verschiedene Richtungen, als würden sie nicht zusammengehören. Jenny schaute verwirrt um sich, als verstünde sie nicht, wo sie sich befand und wie sie an diesen Ort geraten war. Erik erschien hinter dem Rücken des Diebes gerade in dem Moment, als dieser den Geldbeutel herauszog, den der Rotgesichtige sich hinten unter den Knoten des Schürzenbandes gesteckt hatte. Nachdem er seinen Trick ausgeführt hatte, schlich sich der Dieb rückwärtsgehend zur Tür. Jenny tat einen ungeschickten Schritt zur Seite, rempelte ihn an, schrie erschrocken auf und presste ihre Hände gegen die Wangen. Der Dieb zuckte zusammen. Er war schon dabei gewesen, sich klammheimlich zum Ausgang zu stehlen, um von niemandem gesehen zu werden, solange der rotgesichtige Ladenbesitzer sein Bier trank.

Erik zog den Geldbeutel des Rotgesichtigen prompt aus der Tasche des Diebes, füllte geschickt die Münzen in die eigene Tasche und warf dem Gauner den leeren Beutel vor die Füße.

„Oh, entschuldigen Sie, ich bin so ungeschickt!“

Jenny stellte sich verwirrt und fasste den Dieb am Ärmel.

„Wegen mir haben Sie den Beutel fallen lassen! Da ist er, auf dem Boden!“

„Ah … ähm …“ Der Dieb zerrte den Ärmel aus Jennys Fingern und sah dann, wie der rotgesichtige Ladenbesitzer seinen leeren Bierkrug krachend auf die Theke setzte und sich zu ihm umdrehte. Jenny stand direkt vor ihm und zeigte auf den Geldbeutel. Jetzt musste er doch seinen eigenen Beutel erkennen, dachte sie. Seine breite rote Hand fasste auf seinen Rücken, dorthin, wo der Beutel für gewöhnlich war. Als der Ladenbesitzer merkte, dass man ihn bestohlen hatte, brüllte er laut und warf sich auf den Dieb. Dieser versuchte zu entwischen, aber Jenny stand zwischen ihm und der Tür. Der Gauner warf sich zur Seite, hatte sich aus den Pratzen des Rotgesichtigen befreit und stolperte plötzlich, ohne zu sehen, woran sein Fuß hängengeblieben war. Der Ladenbesitzer packte den Gauner am Kragen und zog ihn mit einem Schwung hoch in die Luft, sodass seine Schuhe über den Boden schleiften. Einige Leute, die in der Nähe waren, schreckten zurück, andere traten näher heran oder standen an den Tischen auf, um besser sehen zu können, wie der Ladenbesitzer den gefangenen Bösewicht verprügeln würde. Der Bestohlene brüllte bereits so laut er konnte und schüttelte den erwischten Dieb: „Verdammtes Arschloch! Wo ist mein Geld, du Mistkerl?! Der Beutel ist leer! Wo hast du das Geld versteckt?“

Papa Burmal trank sein Bier aus, drängte die Neugierigen beiseite und steuerte dem Ausgang zu. Erik und Jenny holten ihn auf der Straße ein.

„Das Leben in der Hauptstadt gefällt mir“, erklärte Erik und klimperte mit den Münzen in seiner Tasche.

„Hat er dir nicht stark wehgetan, als du ihm ein Bein gestellt hast?“, fragte Jenny.

„Quatsch!“

Erik betrachtete die Schilder an beiden Straßenseiten, dann zwängte er sich geschickt zwischen den eilenden Städtern durch und strebte einem Laden zu. Als er zurückkam, reichte er Jenny eine ortstypische Leckerei. Ein rotes Lutschbonbon in Form einer Flammenzunge.

„Das nennt sich ‚Götterspeise der Gebieter des Feuers‘“, erklärte er und zeigte eine Tüte.

„Ich habe die Bonbons für uns alle gekauft.“

***

Auf dem Platz der tausend Pfähle hatte sich schon eine Menschenmenge versammelt. Die Nachricht, dass eine neue Schauspielertruppe in Eweron angekommen wäre, hatte sich bereits in den umliegenden Stadtvierteln verbreitet und nach und nach stellten sich Gaffer ein. Von irgendwoher tauchten zwei Dutzend Wärter auf, alle in den gleichen grauen Leibröcken. Sie kreisten den Planwagen ein und hinderten das neugierige Publikum daran, näher zu kommen. Das war sehr gut, da man die Bühne ungestörter aufbauen konnte, wenn einem niemand vor den Füßen herumlief.

Zu Jennys Erstaunen befehligte die grauen Leibröcke kein anderer als der unansehnliche, bucklige Aufseher, dem Papa Geld zugesteckt hatte. Dieser bescheiden aussehende Mensch erwies sich als große Nummer. Wie kompliziert ist das Leben in der Hauptstadt, dachte Jenny.