Jenseits der Gene - Gottfried Schatz - E-Book

Jenseits der Gene E-Book

Gottfried Schatz

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Beschreibung

Wer bin ich? Woher kommen wir Menschen? Wie nehmen wir die Welt wahr? Was bestimmt unser Fühlen und Denken? Verblüffende Tatsachen und unterhaltsame Anekdoten aus der Welt der modernen Naturwissenschaften.Die Grundfragen des Lebens beschäftigen den Menschen seit langem. Doch allzu oft lassen die Naturwissenschaften – die grossen Antwortgeber unserer Zeit – den Laien mit seinen drängenden Fragen allein: zu spezifisch, zu kompliziert sind ihre Ergebnisse. Dass dies nicht zwingend so sein muss, zeigt der Biochemiker Gottfried Schatz, indem er uns die Geschichte des Lebens und unseres Körpers erzählt, die spannend ist wie keine zweite. Mit der Begeisterung des Wissenschaftlers, der seine Neugier zum Beruf gemacht hat, zeigt Schatz unter anderem, dass der Schlüssel zum Verständnis lebender Wesen in ihrem chemischen Aufbau verborgen liegt. Das Buch ist in englischer Übersetzung beim Verlag Karger erschienen. In Deutschland und Österreich erscheint die 4. Auflage bei Wiley-VCH

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GOTTFRIED SCHATZ

JENSEITS DER GENE

Essays über unser Wesen,unsere Weltund unsere Träume

VERLAG NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich

Der Text des E-Books folgt der gedruckten 4. Auflage 2012 (ISBN 978-3-03823-780-8).

Gestaltung Umschlag: GYSIN [Konzept + Gestaltung] Chur,

unter Verwendung der Abbildungen «Jelly fish», © Chee-Onn Leong, Fotolia.deund «Sunrise behind the earth» © Huebi, Fotolia.de

Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN E-Book 978-3-03823-982-6

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung

Für Heino

BEDROHLICHE GÄSTE

Das Wunderbare an uns Menschen ist, dass wir zwei Vererbungssysteme besitzen – ein chemisches und ein kulturelles. Das chemische System gründet sich auf DNS-Fadenmoleküle und andere Teile unserer Zellen und bestimmt, was wir sein können. Das kulturelle System besteht aus der Zwiesprache zwischen den Generationen und bestimmt, was wir dann werden. Unser chemisches System erhebt uns kaum über andere Tiere, doch unser kulturelles System ist in der Natur ohne Beispiel. Seine formende Kraft schenkt uns Sprache, Kunst, Wissenschaft und sittliche Verantwortung. Beide Vererbungssysteme tragen Wissen mit hoher Verlässlichkeit von einer Generation zur andern, machen jedoch gelegentlich Fehler. Übermittlungsfehler – sogenannte Mutationen – im chemischen System verändern unseren Körper und solche im kulturellen System unser Verhalten. Langfristig schützen uns diese Fehler vor biologischer und kultureller Erstarrung, doch kurzfristig können sie in Katastrophen münden. Im frühen Mittelalter bewirkte die Tay-Sachs-Mutation im chemischen System eines osteuropäischen Aschkenasen, dass dessen Gehirn verkümmerte und vielen seiner heutigen Nachkommen das gleiche Schicksal droht. Und das 20.Jahrhundert hat uns wieder einmal daran erinnert, welche Grauen kulturelle Mutationen bewirken können.

Welches dieser beiden Vererbungssysteme ist dafür verantwortlich, dass Menschen verschiedener Kulturen so unterschiedlich denken und handeln? Vielleicht ist es manchmal keines der beiden, sondern ein Parasit, der sich unseres Gehirns bemächtigt.

Dass Parasiten das Verhalten von Tieren verändern können, ist eindeutig erwiesen. Wenn gewisse Fadenwürmer landbewohnende Heuschrecken oder Grillen infizieren, scheiden sie Eiweisse und andere nervenaktive Stoffe aus, die den Schweresinn und wahrscheinlich auch andere Gehirnfunktionen des Insekts verändern. Sobald der Fadenwurm im Insekt seine volle Grösse und seine Geschlechtsreife erreicht hat, verliert das Insekt seine Scheu vor Wasser, stürzt sich selbstmörderisch in den nächsten Wassertümpel und entlässt in seinem Todeskampf den fast dreimal längeren Fadenwurm. Dieser schwimmt sofort davon, um sich einen Paarungspartner zu suchen. Und wenn Larven eines Saugwurms den im Pazifik lebenden Killifisch infizieren, wirft dieser seine angeborene Vorsicht über Bord und macht durch wilde Kapriolen und Körperverdrehungen an der Meeresoberfläche Raubvögel auf sich aufmerksam. Diese fressen deshalb im Durchschnitt etwa dreissigmal mehr infizierte als gesunde Fische. Der biologische Sinn dieser Gehirnwäsche gründet im Lebenszyklus des Saugwurms, der drei verschiedene Wirte benötigt. Der Wurm bildet seine Eier im Darm von Vögeln, welche die Eier in Salzsümpfe an der kalifornischen Pazifikküste ausscheiden. Dort frisst sie eine Schnecke, in der sie sich zu Larven entwickeln. Die Larven infizieren einen Killifisch und kehren schliesslich mit diesem in einen Vogeldarm zurück.

Noch eindrücklichere Beispiele liefern intelligente Säugetiere wie Mäuse und Ratten. Wenn der einzellige Parasit Toxoplasma gondii diese infiziert, nistet er sich bevorzugt in die Gehirnregionen ein, welche Emotionen und Furcht steuern. Als Folge davon verkehrt sich die angeborene Furcht der Nager vor Katzenduft in ihr Gegenteil: Sie wird zur tödlichen Vorliebe. Dies erhöht natürlich die Chance, dass die infizierten Tiere einer Katze zum Opfer fallen – und der Parasit in eine Katze zurückkehren kann. Toxoplasma gondii kann nämlich nur im Darm von Katzenarten eierähnliche Oozysten bilden, die dann in einen warmblütigen Zwischenwirt – zum Beispiel eine Ratte – gelangen müssen. Der Parasit verändert das Verhalten von Mäusen und Ratten sehr gezielt, denn er lässt deren angeborene Furcht vor offenen Flächen oder unbekannter Nahrung unverändert.

Auch wir können für Toxoplasma gondii Zwischenwirt sein – und Milliarden von uns sind es auch, weil wir mit Oozysten verseuchtes ungewaschenes Gemüse oder rohes Fleisch verzehren oder nicht bedenken, dass auch die putzige Hauskatze uns die Oozysten schenken kann. In Grossbritannien fanden sich vor einigen Jahren in fast vierzig Prozent aller angebotenen Fleischprodukte Toxoplasma-gondii-Gene, und dieser Prozentsatz dürfte in vielen ärmeren Ländern noch höher sein. So verwundert es nicht, dass etwa ein Drittel aller Nordamerikaner und fast die Hälfte aller Schweizer in ihrem Blut Antikörper gegen den Parasiten tragen – ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie einmal infiziert waren oder es noch immer sind. Viele Infektionen werden nämlich nicht erkannt und bleiben für den Rest des Lebens bestehen, ohne auffallende Schäden anzurichten. Bei Schwangeren, die gegen den Parasiten noch nicht immun sind, kann eine Infektion allerdings die Missbildung oder den Tod des Embryos verursachen – und bei einigen Menschen vielleicht sogar Schizophrenie auslösen. Tatsächlich sind einige gegen Schizophrenie eingesetzte Medikamente auch gegen Toxoplasma gondii wirksam. Eine Infektion von uns Menschen bietet dem Parasiten heute allerdings keine erkenntlichen Vorteile, da wir nur noch selten Raubkatzen zum Opfer fallen. Dennoch sprechen vorläufige Befunde dafür, dass Toxoplasma auch unsere Psyche subtil verändern kann: Es scheint Frauen oft intelligenter und unabhängiger, Männer dagegen eifersüchtiger, konservativer und gruppenhöriger zu machen. Bei beiden Geschlechtern erhöht es die Neigung zu Schuldbewusstsein, was manche Psychologen als negative emotionale Grundhaltung deuten.

Haben Parasiten den Charakter menschlicher Kulturen mitgeprägt? Wenn Toxoplasma gondii Männer tatsächlich traditionsbewusster und gruppentreuer macht, könnte es vielleicht dafür mitverantwortlich sein, dass manche Kulturen mehr als andere die herkömmlichen Geschlechterrollen hartnäckig verteidigen oder Ehrgeiz und materiellen Erfolg über Gemütstiefe und menschliche Beziehungen stellen. Und könnte es sein, dass verringerte Offenheit gegenüber Neuem die Innovationskraft ganzer Kulturen geschwächt hat? Ausführliche Befragungen in neununddreissig Staaten sprechen in der Tat dafür, dass die negative emotionale Grundhaltung einer Bevölkerung umso ausgeprägter ist, je stärker diese mit Toxoplasma gondii infiziert ist. Natürlich lässt es sich nicht ausschliessen, dass kulturelle Eigenheiten nicht Folge, sondern Ursache der Infektion sind. Vieles spricht jedoch gegen diese Möglichkeit, sodass Untersuchungen zur Rolle von Parasiten bei der Entwicklung menschlicher Kulturen noch einige Überraschungen liefern könnten.

Die Vorstellung, dass Parasiten mein Denken und Handeln mitbestimmen könnten, verletzt mein Selbstverständnis und mein Menschenbild. Darf ich das Lied Die Gedanken sind frei immer noch mit der gleichen Überzeugung singen, wie ich es als Kind tat? Oder sollte ich versuchen, meine wissenschaftliche Sicht zu überwinden und die Natur als Ganzes zu fühlen, wie Künstler und Mystiker dies vermögen? Aus dieser Sicht wären gedankenverändernde Parasiten nur ein besonders grossartiges Beispiel für die Einheit des Lebensnetzes auf unserem blauen Planeten. Unser Verstand schenkt uns ja auch die Waffen, um solche Parasiten zu erkennen und zu vernichten. Doch wer schützt uns vor den substanzlosen Parasiten, die sich unserer Gedanken und Emotionen bemächtigen? Es gibt ihrer zuhauf – Rassenwahn, religiöser Fanatismus, Nationalhysterie, Spiritismus und Aberglaube. Sie sind hochinfektiös und entmenschlichen uns mehr, als es Toxoplasma gondii je vermöchte. Solange wir nicht gelernt haben, diese unheimlichen Gäste rechtzeitig zu erkennen und wirksam zu bekämpfen, sind sie unsere grösste Bedrohung.

KLANG DER STILLE

Mir ist die Stille abhandengekommen. Sie verschwand unbemerkt vor einigen Jahren und hinterliess in meinen Ohren ein sanftes Zirpen, das in lautlosen Nachtstunden Erinnerungen an schläfrige Sommerwiesen meiner Kindheit weckt – und mich an das Wunder meines Hörsinns erinnert.

Meine Ohren messen Luftdruckschwankungen und melden diese als elektrische Signale meinem Gehirn. Keiner meiner Sinne ist schneller. Augen können höchstens zwanzig Bilder pro Sekunde unterscheiden – Ohren reagieren bis zu tausendmal rascher. So erschliessen sie uns das Zauberreich der Klänge von den schimmernden Obertönen einer Violine, die etwa zwanzigtausendmal pro Sekunde schwingen, bis hinunter zum profunden Orgelbass mit fünfzehn Schwingungen pro Sekunde. Keiner meiner Sinne ist präziser. Ich kann Töne unterscheiden, deren Schwingungsfrequenzen um weniger als 0,05Prozent auseinanderliegen. Und keiner meiner Sinne ist empfindlicher, denn mein Gehör reagiert auf schallbedingte Vibrationen, die kleiner als der Durchmesser eines Atoms sind. Da meine zwei Ohren nicht nur die Stärke eines Schalls, sondern auch sein zeitliches Eintreffen mit fast unheimlicher Präzision untereinander vergleichen, sagen sie mir, woher ein Schall kommt, und schenken mir selbst im Dunkeln ein räumliches Bild der Umgebung. Und dabei sind meine Ohren Stümper gegen die einer Eule, die eine raschelnde Maus in völliger Dunkelheit und aus grosser Entfernung mit tödlicher Präzision orten kann.

Das Organ, das diese Wunderleistungen vollbringt, ist kaum grösser als eine Murmel und lagert sicher in meinem Schläfenbein. Sein Herzstück ist ein mit Flüssigkeit gefüllter spiraliger Kanal, dem zwei elastische Bänder als Boden und Decke dienen. Am Bodenband sind wie auf einer Wendeltreppe etwa zehntausend schallempfindliche Zellen stufenartig aufgereiht. Wie Rasierpinsel tragen sie an ihrer Oberseite feine Haare, deren Spitzen das elastische Deckenband berühren. Diese Wendeltreppe ist vom Mittelohr durch eine feine Membran getrennt, die Luftschwingungen auf die Flüssigkeit und die beiden elastischen Bänder überträgt und dabei die Haarspitzen der schallempfindlichen Zellen verbiegt. Selbst die winzigste Verformung dieser Spitzen ändert die elektrischen Eigenschaften der betreffenden Zelle und erzeugt ein elektrisches Signal, das über angekoppelte Nervenbahnen fast augenblicklich die Gehörzentren des Gehirns erreicht. Jede Haarzelle unterscheidet sich wahrscheinlich von allen andern in der Länge ihrer Haare und der Steifheit ihres Zellkörpers. Da eine Struktur umso langsamer schwingt, je grösser und flexibler sie ist, sprechen die verschiedenen Haarzellen auf verschiedene Tonhöhen an. Die Ansprechbereiche der einzelnen Zellen überlappen jedoch; mein Ohr berücksichtigt diese Überlappungen und schenkt mir so ein differenziert-farbiges Klangbild.

Warum reagiert eine Haarzelle meiner Ohren so viel schneller als die Netzhaut meiner Augen? Wenn Licht die Netzhaut erregt, setzt es eine Kette relativ langsamer chemischer Reaktionen in Gang, die schliesslich in ein elektrisches Signal münden. Wenn dagegen ein Ton die Haarzellen verformt, öffnet er in den Membranen der Haarzellen Schleusen für elektrisch geladene Kalium- und Kalziumatome und erzeugt damit augenblicklich ein elektrisches Signal. Während unsere Augen also erst das Feuer unter einer Dampfmaschine entfachen müssen, die dann über einen Dynamo Strom erzeugt, schliessen unsere Ohren den Stromkreis einer bereits voll aufgeladenen Batterie.

Die Haarzellen unseres Gehörs sind hochverletzlich. Werden sie zu stark oder zu lange beschallt, sterben sie und wachsen nie mehr nach. Für die Entwicklung unserer menschlichen Spezies waren empfindliche Ohren offenbar wichtiger als robuste, denn mit Ausnahme von Donner, Wirbelstürmen und Wasserfällen sind extrem laute Geräusche eine «Errungenschaft» unserer technischen Zivilisation. Rockkonzerte, Düsenmotoren, Discos und Presslufthämmer bescheren uns immer mehr hörgeschädigte Menschen, die überlaute Musik bevorzugen und damit auch ihre Mitmenschen gefährden. Selbst ohne hohe Schallbelastung verliert unser Ohr mit dem Alter unweigerlich Haarzellen, vor allem solche für hohe Töne. Wie die meisten älteren Menschen kann ich deshalb Töne, die schneller als achttausendmal pro Sekunde schwingen, nicht mehr hören. Ich kann damit leben, doch für Konzertgeiger, die schnell schwingende Obertöne hören müssen, um in hohen Lagen rein zu spielen, kann es das Ende der Karriere bedeuten. Schwerhörigkeit und Taubheit sind für unsere Gesellschaft ein viel gewichtigeres und kostspieligeres Problem als Blindheit.

Die Qualität einer Sinnesempfindung hängt, wie die jedes Signals, vom Rauschabstand ab – dem Verhältnis von Signalstärke zu zufälligem Hintergrundrauschen. Ein gesundes Ohr kann Geräusche wahrnehmen, die über eine Million Mal schwächer sind als die lautesten, die wir gerade noch ertragen können. Dieser eindrückliche Rauschabstand schenkt uns nicht nur eine reiche Klangpalette, sondern lässt uns auch komplexe akustische Signale virtuos entschlüsseln. Hoher Rauschabstand ermöglicht Stille zur rechten Zeit – und lässt auch Stille zum Signal werden. Was wären die vier Anfangsschläge von Beethovens Fünfter Sinfonie ohne die darauffolgende Pause? Ist es nicht vor allem das dramatische Anhalten vor wichtigen Aussagen, das eine meisterhafte Rede kennzeichnet? Und Wittgensteins berühmte Mahnung «Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen» weckt in mir den Verdacht, dass vielleicht sogar Logik die Interpunktion präzise gesetzter Stille fordert.

Warum verweigert mein Gehör mir jetzt diese Stille? Senden einige meiner Hörnerven nach dem Tod ihrer Haarzellen-Partner Geistersignale ans Gehirn? Oder sind in meinen alternden Haarzellen die Membranschleusen für elektrisch geladene Teilchen nicht mehr dicht?

Die Zellen meines Körpers arbeiten deshalb so gut zusammen, weil sie nur die Gene anschalten, die sie für ihre besonderen Aufgaben jeweils brauchen. Meine Zellen wissen viel, sagen aber nur das Nötige. In einer typischen Zelle meines Körpers sind die meisten Gene still. Doch nun, da mein alternder Körper sie nicht mehr so fest wie früher im Griff hat, werden sie unruhig. Meine Haut bildet spontan braune Pigmentflecke, und auf meinen Ohrläppchen spriessen einige regelwidrige Haare. Wenn nur nicht ein Gen, welches das Wachstum meiner Zellen fördert, sein Schweigen zur falschen Zeit und am falschen Ort bricht und mir die Diagnose «Krebs» beschert! Genen bedeutet präzises Schweigen ebenso viel wie präzises Sprechen. Auch sie kennen den Wert der Stille.

SCHICKSALSFARBEN

«Der Schatz is ja net schlecht», brummte der Grazer Schulinspektor über meinen Kopf hinweg zu meinem Lehrer, «aber der Blondschädl da vurn, der wär scho besser.» Offenbar war ich ihm wegen meines braunen Haares nicht «germanisch» genug, um an einer öffentlichen Geburtstagsfeier für unseren (dunkelhaarigen) «Führer» Adolf Hitler ein Gedicht vorzutragen. Seither sind mehr als sechs Jahrzehnte verflossen, und meine brennende Scham von damals ist längst einem Zorn gewichen, der mich nie vergessen lässt, welch tiefe Wunden die willkürliche Wertung von Körpermerkmalen schlagen kann.

Nichts prägt unseren ersten Eindruck von einem normal entwickelten Menschen so entscheidend wie die Farbe seiner Haut. Menschengruppen unterscheiden sich zwar auch in vielen andern Erbanlagen, wie der Fähigkeit, bestimmte Gerüche auszusenden, Milchzucker zu verwerten oder der Malaria zu trotzen. Die Farbe der Haut ist jedoch schon von Weitem erkenntlich und, im Gegensatz zur Grösse oder Form des Körpers, meist allen Bewohnern einer Region gemeinsam. Weil wir Menschen gleicher Hautfarbe unbewusst als einheitliche Gruppe einstufen, hat Hautfarbe den Gang der menschlichen Geschichte wahrscheinlich tiefgreifender beeinflusst als Seuchen, Kriege und Religionen. Hautfarbe ist eine uralte Quelle, welche die übel riechenden Wasser des Rassismus speist und die selbst Denker der Aufklärung verwirrt und zu vorschnellen Urteilen verleitet hat.

Die Farbe unserer Haut ist unsere Schicksalsfarbe. Sie stammt hauptsächlich von Melaninen – einer Gruppe eng verwandter Farbstoffe, die von besonderen Zellen unserer Haut gebildet und dann an die andern Hautzellen und die Haare abgegeben werden. Auch die Regenbogenhaut unserer Augen besitzt Melanin bildende Zellen, doch diese behalten das Melanin für sich. Melanine sind meist schwarz bis braun; es gibt aber auch helle Melanine, die rot oder gelb sind. Dunkle Haare enthalten reichlich braunes oder schwarzes Melanin, blonde geringe Mengen von braunem Melanin und rote fast nur helles Melanin. Meine «grauen» Haare sind eine Mischung aus Haaren, die entweder wenig schwarzes oder gar kein Melanin enthalten. Das Braun meiner Jugend wäre mir lieber, aber vielleicht wäre ich jetzt in den Augen unseres linientreuen Herrn Schulinspektors endlich ein rechter Germane.