Jenseits der Seidenstraße - Ann-Kathrin Karschnick - E-Book

Jenseits der Seidenstraße E-Book

Ann-Kathrin Karschnick

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Beschreibung

Die sogenannten Mondpfade durch die Feenwelten werden in Lorakis gern für Fernreisen genutzt – doch was geschieht, wenn man den sicheren Pfad verlässt und sich in die sich ständig verändernden Feenlande abseits des Weges begibt? Eine ungleiche Abenteurergruppe erfährt genau dies, als sie sich tollkühn von der gnomischen Pfadfinderin Mara in die Feenwelt hineinführen lässt. Jedes Gruppenmitglied hat das Ziel, sich eine wertvolle Ressource – das längst ausgestorben geglaubte Drachlingsholz – zu sichern. Doch wer wird es am Ende in den Händen halten? Ein Wettlauf gegeneinander, gegen einen bizarren Feenfürsten und gegen unsichtbare Feinde beginnt …

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Seitenzahl: 388

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Autorin: Ann-Kathrin Karschnick

Lektorat: Jörg Löhnerz

Korrektorat: Giulia Pellegrino

Covergestaltung: Oliver Graute

Coverillustration: Florian Stitz

© Feder & Schwert 2019

E-Book-Ausgabe 2019

ISBN 978-3-86762-369-8

ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-86762-368-1

Jenseits der Seidenstraße ist ein Produkt der Feder & Schwert GmbH unter Lizenz des Uhrwerk Verlages. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck außer zu Rezensionszwecken nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Inhaltsverzeichnis
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Kapitel XIX
Kapitel XX
Kapitel XXI
Kapitel XXII
Kapitel XXIII
Kapitel XXIV
Kapitel XXV
Kapitel XXVI
Dramatis Personae
Lorakis: Die Welt von Splittermond
Die Anderswelten und die Mondpfade
Die Regionen der Welt
Glossar

Kapitel I

 

Der Lärm aus dem Wirtshaus unter ihm überdeckte die Hagelkörner, die mit voller Wucht gegen die Fenster seines Zimmers prasselten. Vor dem Fenster entdeckte er nur die Schwärze der Nacht. Es war eine dieser Nächte, in denen man nichts anderes tun konnte, als schlafen. In der Nähe von Sarnburg war es unmöglich vorherzusehen, wie das Wetter wurde. Konnte man eine laue, fast schon heiße Sommernacht erwarten? Oder überraschten einen die Hagelstürme mit Körnern so groß wie die eigene Faust? Drohann fokussierte seinen Blick auf die Spiegelung in der Fensterscheibe. Sobald er auf Burg Ulmengrab ankam, brauchte er neue Klamotten. Bei seiner Mission war alles schief gegangen, was nur hatte schief gehen können. Aber er hatte überlebt und das Monster, das unbemerkt aus den Verheerten Landen entkommen war, nicht.

Ein selbstgefälliges Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus und er klopfte auf das Schwert, das noch immer an seiner Hüfte hing. Ein Anderthalbhänder, mit dem er fast jedes Untier besiegt hatte, das ihm vor die Klinge gekommen war. Und wenn das nicht half, war da immer noch seine Armbrust, mit der er noch nie sein Ziel verfehlt hatte. Nicht mehr lange und der Orden des Wächterbundes würde ihn zum Ritter ernennen. Seit nunmehr neun Jahren diente er bereits den Wächtern auf Burg Ulmengrab und er hatte nicht vor, daran etwas zu ändern.

Drohann wandte sich von seinem Spiegelbild ab, strich sich die schulterlangen Haare aus dem Gesicht und fuhr sich gleich darauf über den Vollbart. Er würde ihn wieder stutzen müssen, sobald er in seiner Kammer angekommen war.

Ein kalter Lufthauch zog unter dem Spalt der Tür hindurch und kühlte den Raum merklich ab. Draußen musste es eisig sein. Drohann ging zu der Feuerschale, die in seinem Zimmer direkt neben dem Wassereimer stand. Es war eine einfache Unterkunft, die ihm auf seinem Rückweg zur Burg nur als Nachtlager dienen sollte. Nur noch eine Tagesreise und er wäre wieder bei seinem Orden, unter seinen Brüdern und Schwestern. Er sehnte sich nach den Mauern, die sowohl Schutz als auch Gefahr bedeuteten. Schutz für den Rest von Lorakis, Gefahr für jeden, der es wagte, aus den Untiefen der Verheerten Lande aufzusteigen. Der Wächterbund war eine eingeschworene Familie, die sich verpflichtet hatte, gegen die Monster und Feenwesen zu kämpfen, die es wagten, den Frieden von Lorakis zu stören. Sie waren die letzte Bastion, die es für die Monster zu überwinden galt.

Drohann griff an seinen Gürtel und löste die Halterung. Das Schwert glitt einige Zentimeter tiefer, ehe er es beiseitelegte. Sein Schwert hatte eben solch ein Monster vor wenigen Tagen im Westen von Selenia zur Strecke gebracht. Denn auch das war ihre Berufung. Schaffte es eines dieser Wesen, ihre Verteidigung zu durchbrechen, dann jagten sie es solange, bis es aufgab und durch die Hand eines Wächterschwertes starb. Genau diese Aufgabe hatte er sich ausgesucht. Ein Monster hatte die westliche Burgenfront umgangen. Vermutlich durch irgendwelche kleineren Übergänge oder Tunnel, die ihnen bisher nicht bekannt waren.

Die Kälte in dem Zimmer breitete sich aus und er hob die Hand. Ein wenig Feuer schadete niemandem, dachte er und richtete seine Magie auf die Feuerschale, um ein Feuer zu entzünden.

Doch stattdessen entzündete sich die Decke am Ende seines Betts.

„So ein Mist!“, rief er gleich darauf und griff nach der Wasserschale bei seinem Bett. Das Wasser war sowieso eiskalt gewesen, hätte in den frühen Morgenstunden sicher für eine Erfrischung gesorgt, aber nun musste er es zum Löschen des Feuers auf seinem Bett nutzen.

Allzu häufig benutzte er die Magie nicht, da sie in den Verheerten Landen oft ihren ganz eigenen Gesetzen folgte. Wer nicht absolut sicher war, dass er die Grundordnung der Magie um sich herum sicherstellen konnte, der riskierte selten etwas. Er knurrte in Richtung der Feuerschale. Und scheinbar galt das auch für die Grenzgebiete.

Er hätte es besser wissen müssen. Dieser Hagelsturm war nicht normal. Die Körner zu groß und der Wind zu kalt.

Drohann fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht, wischte die Müdigkeit beiseite. Wasser tropfte von der Decke auf den Holzfußboden, als er zu dem einfachen Leinensack ging, den er für seine Reise gepackt hatte. Jetzt, kurz vor seinem Ziel, war er beinahe leer, da er hauptsächlich Nahrung darin transportiert hatte.

Er griff hinein, zog die schmale Dose aus Metall hervor und öffnete sie.

Aber auch ein paar nützliche Dinge, die man immer gebrauchen konnte, hatte er eingepackt. So wie Feuerstein und Zunder. Normalerweise etwas, das er nur selten brauchte, aber in den Verheerten Landen war nicht immer alles normal, und es war wichtig, auch in den langen Nächten die Leuchtfeuer entzünden zu können, wenn die Magie mal wieder verrücktspielte.

Er entzündete das Feuer und augenblicklich breitete sich eine wohlige Wärme in dem Zimmer aus. Drohann seufzte erschöpft. Die Mission hatte ihn angestrengt. Eigentlich hatte er vorgehabt, sein Zimmer nicht mehr zu verlassen und endlich mal wieder eine Nacht durchzuschlafen. Doch sein Magen knurrte und er fragte sich, ob er im Wirtshaus noch etwas zu essen bekommen würde.

Entschlossen band er seine Haare zu einem Dutt auf seinem Kopf zusammen und legte die Kutte mit dem Zeichen seiner Burg ab. Darunter trug er ein einfaches Hemd und eine dünne Stoffhose. Niemand würde ihn als das erkennen, was er war. Er würde seine Ruhe haben, genau wie er es sich wünschte. Der Wächterbund genoss großes Ansehen in Selenia, auch wenn die Nachschublieferungen des Kaisers zu wünschen übrigließen. Drohann verzog den Mund, als er daran dachte, wie mickrig die letzte Lieferung ausgefallen war. Sie reichte gerade so, um zusammen mit dem eigenen Angebauten zu überleben, wenn sie sie rationierten.

Er ging zum Bett, griff sich das Schwert und schnallte es um seine Hüfte. Zwar wollte er nicht als einer des Wächterbunds erkannt werden, damit ihn niemand mit Fragen zu den Geschichten der Burgen löchern konnte, aber dumm war er auch nicht. So nah an den Verheerten Landen ging man nirgendwohin ohne Waffe. Ein Angriff konnte jederzeit erfolgen und darauf wollte er vorbereitet sein.

Kaum öffnete er die Tür, roch er die frischen Speckkartoffeln. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen, als er die deftige Mahlzeit schon förmlich zwischen seinen Zähnen spüren konnte. Drohann ging die Treppe hinunter und schaute in die gut gefüllte Wirtschaft. An einer Ecke war noch ein freier Sitzplatz. Direkt neben einer Gnomin, die offensichtlich zu tief ins Glas geschaut hatte, denn sie lag mit dem Gesicht flach auf dem Tisch, die Hand noch am Bierkrug. Drohann setzte sich neben sie, erwartete nicht, dass sie in nächster Zeit aufwachen würde. Der Wirt bemerkte seine Anwesenheit und schickte seine zweite Magd los.

„Was darf es sein, Herr?“, fragte sie freundlich. Ihre schmalen Hüften und die breiten Schultern verrieten ihm, dass sie sicher nicht nur als Magd arbeitete. Die meisten Frauen, die so gebaut waren, arbeiteten hart auf den Feldern oder übten sich im Schwertkampf. Er legte den Kopf schief und fragte sich, ob sie wohl eine Abenteurerin war, wenn sie nicht gerade als Magd ausschenkte.

„Ein Bier und etwas zu essen.“ Er lehnte sich auf den Tisch auf und deutete in Richtung Küche. „Es roch oben nach Speckkartoffeln. Habt ihr welche da?“

„Aber sicher, Herr. Eine kleine oder große Portion?“

Drohann spürte das Wasser in seinem Mund zusammenlaufen. „Große Portion, bitte.“ Mit einem vollen Magen würde es ihm leichter fallen, einzuschlafen. Und das konnte er gut gebrauchen. Zwar erlaubte der Wächterbund Missionen wie seine, doch sie erwarteten auch, dass man erholt zurückkam, damit man direkt wieder für den Dienst eingeteilt werden konnte. Ruhepausen gab es nur in seltenen Fällen. Der Kampf gegen die Finsternis war rund um die Uhr notwendig.

„Sonst noch etwas?“, fragte die Magd, doch Drohann schüttelte den Kopf. Er hatte keine Lust auf eine Unterhaltung und war froh, wenn er das Essen bald bekam. Im Wirtshaus selbst roch es längst nicht mehr so lecker. Durch die bunte Mischung der Besucher zog sich eine ebenso bunte Mischung an Gerüchen. Neben Schweiß roch es nach nasser Ziege, vermutlich von dem Ziegenhüter, der am anderen Ende der Bar zusammen mit einem jungen Alben seine Ersparnisse auf den Kopf haute. Er tönte etwas von einem Schatz, den er bald heben würde.

Drohann schüttelte den Kopf. Diese Glücksritter waren eine wahre Plage für Lorakis. Ständig suchten sie nach etwas. Doch das einzige, was sie stets fanden, war der Tod. Der war der ultimative Schatz, den jeder heben konnte.

Sein Blick wurde von einer jungen Frau angezogen, die an einem Spieltisch mit drei anderen saß. Im Gegensatz zu ihren Mitspielern schien sie entspannt zu sein. Entweder hatte sie ein Bombenblatt oder sie konnte ziemlich gut bluffen.

Die Gnomin neben ihm zuckte zusammen, murmelte etwas auf Basargnomisch und hob kurz den Kopf. Die trüben Augen zeugten davon, dass sie zwar körperlich anwesend, aber geistig weit entfernt war. Gleich darauf knallte sie wieder auf die Tischplatte, sodass diese erbebte.

„Soll ich sie entfernen lassen, Herr?“, fragte die Magd, die ihm in diesem Moment das Bier brachte.

„Nein, schon gut. Soll sie ruhig ihren Rausch hier ausschlafen. Mich stört sie jedenfalls nicht.“ Vor allem, wenn sie so ruhig bleibt, schob er in Gedanken hinterher. Sollte die Magd sie wegbringen, wäre die Gefahr groß, dass jemand anderes sich zu ihm setzte. Dieser Hagelsturm trieb sämtliche Reisende dazu, eine Unterkunft zu suchen.

Irritiert hob Drohann eine Augenbraue, als er einen Frynjord entdeckte. Diese Gletscherzwerge verirrten sich nur selten nach Selenia und noch seltener so weit ins Innere des Landes. Er hatte von vereinzelten Überfällen auf die südlich gelegenen Länder Arkuri oder Wintholt gehört. Aber Selenia?

„Besser noch als Baumwandler!“, nuschelte die Gnomin im Rausch neben ihm und kicherte diabolisch. „Niemals damit rechnen, dass es dort welches gibt.“

Drohann nahm einen Schluck aus dem Krug und spürte, wie der Alkohol direkt seine kalten Glieder wärmte. Stärker als die Gesamtheit der Wirtshausbesucher. Er seufzte, während die Entspannung in seine Muskeln kroch. Schon seit Beginn seiner Mission hatte er sich nicht mehr so wohl gefühlt. Wenn jetzt noch sein Magen gefüllt wurde, konnte er den Tag vollends mit einem Lächeln beenden.

„So läuft das halt bei Mara“, murmelte die Gnomin nach einer Weile und drehte den Kopf so, dass sie nicht mehr mit der Stirn, sondern der Wange auf dem Holztisch lag. Eine überlegene Zufriedenheit legte sich auf ihre Züge. Drohann war überrascht, dass sie so vollständige Sätze von sich gab. Vermutlich ging sie irgendeine Unterhaltung durch, die sie am Tag geführt hatte. Was ihn allerdings verwunderte, war der Kontrollverlust dieses kleinen Wesens. Normalerweise kannte er Gnome als ordnungsliebende und gut durchorganisierte Wesen. Er runzelte die Stirn. War das der Einfluss, den Alkohol auf Gnome hatte? Oder war diese nur eine schlechte Vertreterin ihrer Art?

„Geheim? Das ist bei mir so sicher wie bei unserem Archivarverwahrer.“

Drohann musste schmunzeln. Vielleicht aber auch nicht ganz so sicher. Die Magd kam kurze Zeit später mit einer breiten, gusseisernen Pfanne aus der Küche und stellte sie vor ihm ab. „Bitte sehr, der Herr. Wohl bekomm’s.“ Sie nickte ihm zu und verschwand wieder, während er nach dem Besteck griff.

Die Gnomin neben ihm sog die Luft tief ein, hob dann ganz langsam den Kopf und starrte auf die Pfanne. „Wann habe ich das denn bestellt?“, sagte sie auf einmal ganz klar. Als hätte sie nicht einen Tropfen Alkohol angerührt. Dafür hob sie den Humpen an, der in ihrer Hand lag und schüttete den Rest in ihre Kehle. Sie rülpste lautstark, schlug dann den Krug auf den Tisch auf und winkte der Magd. „Noch eins!“

Die Anwesenheit von Drohann schien ihr dabei vollkommen abzugehen. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt, als sie die Hand bereits nach der Pfanne ausstreckte. Drohann räusperte sich, wollte der Betrunkenen mitteilen, dass das sein Essen war.

Doch das störte sie gar nicht. Sie griff nach der ersten Kartoffel und schob sie sich quer in den Mund. Da das Essen noch dampfte, pustete sie und wedelte mit ihren langen Fingern hektisch vor ihrem Mund. „Heisch!“, rief sie und griff nach Drohanns Bier.

Da nahm dieser das Messer und rammte es zwischen sich und der Gnomin in den Tisch. Das ließ sie innehalten. Ein kurzer Moment der Stille ertönte zwischen ihnen. Sie starrte ihn an, die Druckstellen auf ihrer Stirn ließen die Haut dort heller erscheinen.

„Ischt jetscht aber unhöflich“, murmelte sie an der Kartoffel in ihrem Mund vorbei. „Das ischt heisch.“

„Und meins!“, erwiderte Drohann mit tiefer Stimme. Bei Normalsterblichen wirkte diese Stimme normalerweise. Aber diese Gnomin schien nicht sonderlich beeindruckt, sondern schob ihre Hand langsam weiter in Richtung Bier.

„Tschuldige, dachte es wäre meins.“ Ihre Augen funkelten und er konnte erkennen, dass sie immer noch nicht nüchtern war.

„Vielleicht solltest du dir irgendwo ein ruhiges Nachtlager suchen und deinen Rausch ausschlafen“, schlug er daher vor. Er hatte eigentlich nicht auf eine Unterhaltung beim Essen gehofft. Aber wenn sie so weitermachte, würde sie sich nicht vermeiden lassen. Diesem Zustand wollte er vorauseilen und intervenieren.

„Geht nicht. Muss trinken, um zu vergessen. Habe es versprochen, sonst vergessen andere“, lallte sie. Von der klaren Aussprache war nicht mehr viel übrig. Wohl nur ein kurzes Aufbäumen ihres Verstandes. Der letzte Versuch eines Ertrinkenden noch einmal Luft zu holen, ehe er vollkommen unter Wasser verschwand.

Drohann antwortete nicht, sondern presste nur die Lippen zusammen. Auf keinen Fall wollte er in das Seelenleben einer Gnomin Einblick erhalten. Ihm reichte schon der Einblick in so manche Geschichte, die ihm seine Brüder und Schwestern erzählten.

Die Gnomin versuchte immer noch an sein Bier zu gelangen, als würde sie nach einem Rettungsanker greifen. „Gibst du mir das Bier?“, fragte sie mit schwerer Zunge. „Ich verrat dir dann auch ein Geheimnis.“

Drohann lachte. „Ich gehe keine Pakte ein. Mit niemandem.“ Was nicht ganz stimmte. Er hatte sich dem Wächterbund verschrieben, was genau genommen auch ein Versprechen war. Aber das musste er einer Gnomin, noch dazu einer betrunkenen und schon leicht verwahrlosten, nicht auf die Nase binden.

„Dann sieh es als Bezahlung. Ich bezahle dich mit einem Geheimnis. Oder willst du nicht wissen, wo es noch ein Exemplar von der Drachlingswurzel gibt?“

Drohann runzelte die Stirn. „Drachlingswurzel?“

Die Gnomin nickte eifrig und schlug dabei gegen den Tisch, weil sie sich nicht ganz unter Kontrolle hatte. „Die Drachlingswurzel. Manch einer behauptet, dass diese der Ursprung der Baumwandler sind“, sagte sie, knallte mit dem Kopf erneut auf die Tischplatte und schnarchte.

Drohann zuckte mit den Schultern und begann zu essen. Es war ein ruhiges Mahl, das er einnehmen konnte, da die Gnomin schlief. Währenddessen zuckten ihre Finger zwar immer näher an seinen Krug heran, aber das störte ihn nicht. Er zog den Krug jedes Mal ein Stück weiter weg, sodass er außer Reichweite blieb. Zumindest sorgte diese verwirrte Gnomin, deren Name vermutlich Mara war, wenn er so darüber nachdachte, dafür, dass sich niemand anderes an seinen Tisch setzte.

Er hatte gerade die Hälfte der Pfanne geleert, als sie ihren Kopf hob, sich gegen die Stirn schlug und im Anschluss nickte. „Aber sie sind viel mehr als das. Es ist das Holz, mit dem die Drachlinge damals gebaut haben.“

„Nie davon gehört“, erklärte er und nahm demonstrativ einen großen Schluck aus seinem Krug.

„Ist ja auch geheim“, murmelte sie, deutete auf einen dickbäuchigen Mann, der das Wirtshaus betrat. „Bis auf den da. Der weiß auch davon. Ist mächtiges Holz. Ein Ableger dieser Wurzel kann stärkeres Holz als Stein sein. Manche sagen sogar als Obsidian. Aber das sind Idioten.“

Kurz flammte eine Idee in seinem Verstand auf. Wie ein Leuchtfeuer, das er in einer schwarzen Nacht in seiner Burg entzündete, um die Ebenen auszuleuchten. Doch gleich darauf erstickte die Gnomin es wieder mit einem lauten Schrei.

„Bier!“, kreischte Mara und deutete auf ihren Krug.

Die Magd hinter dem Tresen diskutierte gerade mit dem Wirt, aber der zeigte schließlich auf Mara. Im nächsten Moment sah Drohann, wie die Magd Bier aus einem angestochenen Fass in einen Becher laufen ließ, diesen mit kreisenden Handbewegungen bedachte und im nächsten Moment tauchte der Becher vor Mara auf.

Die Gnomin griff danach, als wäre sie gerade aus den Verheerten Landen selbst gekommen, nach Tagen ohne Trinken. Drohann schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf sein Essen. Seine Laune nahm mit jedem Wort, das die Gnomin von sich gab, ab und er wollte zurück auf sein Zimmer.

„Bist du denn gar nicht interessiert, Abenteurer?“, fragte Mara, nachdem sie den Krug zur Hälfte geleert hatte.

Drohann wollte den Kopf schütteln, aber das wäre gelogen. Dieser Gedanke, der kurz wie ein Leuchtfeuer in seinem Verstand gewütet hatte, hatte Spuren hinterlassen. Nichts Gravierendes, was er nicht mit einigen Stunden Dienst verschwinden lassen könnte. Aber für den Moment saßen die Aschehäufchen dieses Gedankens in ihm fest. Deswegen zögerte er und Mara erkannte ihre Chance.

„Ich biete es dir noch einmal an. Essen gegen Geheimnis. Als Bezahlung, nicht als Pakt“, sagte sie und leckte sich über die Lippen. „Und was Mara verspricht, hält sie auch.“

Erneut zögerte er, doch dann nickte er schließlich. Etwas in ihm sagte: Hör ihr zu. Es ist wichtig.

Seine innere Stimme war ein Richtungsgeber, dem er zu jeder Zeit blind folgte. Schon mehr als einmal hatte sie ihn vor einem Fehler oder einer falschen Entscheidung bewahrt. So auch vor wenigen Tagen, als er der von der Finsternis verheerten Finsterschwinge gefolgt war. Sie war in eine Höhle geflohen, aber Drohann hatte ihr nicht folgen wollen. Sein Instinkt hatte ihm davon abgeraten. Zu seinem Glück, denn die Finsterschwinge kam nach nicht allzu langer Zeit wieder heraus, von Bären verfolgt und bereits von ihnen angegriffen. Drohann hatte sie nur noch in eine von ihm vorbereitete Falle locken müssen, ehe sie dem Ende geweiht war.

Schließlich seufzte er und schob die Pfanne näher an Mara heran. „Bedien dich.“ Wenn er ehrlich war, war die Portion sowieso zu groß für ihn.

Sie stürzte sich auf das Essen und schlang die ersten Kartoffeln mit den bloßen Händen herunter, ehe ein Holzlöffel neben ihr in der Luft schwebend auftauchte. Die Magd nickte Drohann zu. Sie schien mehr Kontrolle über die Magie zu verfügen, als der Wirt, der für solche einfachen Botengänge immer noch laufen musste. Drohann selbst beherrschte nur die einfachsten Zauber. Früher hatte er mehr geschafft, hatte mehr als nur ein Feuer entzünden können, aber die Zeit im Wächterbund hatte ihn träge gemacht, was die Nutzung der Magie anging.

„Rede!“, verlangte er schließlich, als sie ein Viertel der Pfanne bereits geleert hatte. Vereinzelt nahm er auch noch eine Kartoffel heraus, aber sein Appetit war vorerst gesättigt. „Was hat es mit dem Drachlingsholz auf sich?

„Moment.“ Mara nahm einen großen Schluck aus dem Krug und stellte ihn dann wieder ab. Das Essen schien ihre Sinne zu beleben, als hätte sie Nahrung zum Ausnüchtern gebraucht. „Ist kein Drachlingsholz. Stammt nur schon aus der Zeit.“ Mara nahm die nächste Kartoffel mit dem Löffel auf und betrachtete sie wie einen Schatz vor ihrem Gesicht, ehe sie sie genüsslich in den Mund schob.

„Und warum weiß sonst keiner davon? Wenn es solch eine Drachlingswurzel geben würde, hätte man sicher schon davon gehört“, widersprach Drohann und legte die Hände um seinen Krug. Jetzt unterhielt er sich doch und noch dazu über ein vermutlich sinnloses Thema. Wie viel Wahrheit steckte in den Worten einer Betrunkenen?

„Liegt daran, wo die Wurzel versteckt ist.“ Mara warf sich in die Brust. „Ein Ort, an den nur ich hinfinde.“

Drohann hob eine Augenbraue und dachte innerlich: Na klar.

„Du glaubst mir nicht“, stellte Mara erstaunt fest. Drohann richtete sich gerade auf. Konnte diese Gnomin etwa Gedanken lesen? Oder hatte sein Verdacht einfach nur offen in seinem Gesicht gestanden? Er vermutete letzteres. „Ist aber wahr.“ Mara schob sich die nächste Kartoffel in den Mund. „So wahr wie ich hier sitze und Speckkartoffeln esse.“

„Und wo soll das sein?“, fragte er spöttisch.

Mara holte tief Luft und schluckte die Kartoffel herunter. Dann grinste sie ihn breit an. „In den Anderswelten.“

Kapitel II

Norlind

Norlind saß in der Bibliothek ihres Tempels und langweilte sich. Sie hatte gerade eine Abhandlung zu den Herrschern der Feenlande beendet, die laut ihres Vorstehers viele Geheimnisse enthalten sollte. Doch das einzige Geheimnis, das sie gefunden hatte, war, dass der Verfasser keinen Sinn für Sprachrhythmus gehabt hatte. Aber es war ein weiterer Fortschritt in ihrem Wissen. Einer, der sie näher an ihr Ziel brachte. Eines Tages einen Blick auf die Abschrift der Kristallchroniken werfen zu können, die in dem Tempel wie ein Heiligtum von den Ältesten gehütet wurde. Es waren nur wenige Orakelsprüche, die sie hier hüteten, aber sie hasste es, dass sie nicht einfach hingehen und die wenigen Zeilen lesen durfte.

Leise seufzte sie und erhielt dafür einen bitterbösen Blick von dem Priestergelehrten am Nachbartisch. Norlind hob entschuldigend die Hand. In der Bibliothek ihres Tempels herrschte Geräuschlosigkeit. Zumindest bis auf das Blättern der schweren Papierseiten und dem Atmen. Und selbst das wurde nur als notwendiges Übel akzeptiert.

Es waren harte Regeln als Priesterin des Morkai in dem Tempel von Nortenheim. Aber sie hielt sie ein, um eines Tages an die Abschrift der Kristallchroniken zu gelangen. Dem größten Geheimnis, das es in ihrem Tempel gab. Genau genommen war es nur ein winziger Teil der Kristall­chroniken, denn das Original war selbst um so vieles größer und in seinem Reichtum des Wissens unermesslich. Norlind hatte sich schon in ihrer Kindheit vorgestellt, eines Tages die Chroniken vollständig lesen zu können. Seit dem Tag, an dem sie von dem Wissen gehört hatte. Doch mittlerweile war sie erwachsen geworden und hatte verstanden, dass das nicht möglich war. All das Wissen, das in verlorengegangenen und toten Sprachen verfasst worden war, würde wohl niemals wieder das Tageslicht erblicken.

Mit der Zeit hatte sich ihr Anspruch gewandelt. Vom Lesen der gesamten Kristallchroniken hin zu dem Wunsch, eines Tages einen verschwindend geringen Bruchteil zu lesen. Die Neugierde trieb sie an und hatte dafür gesorgt, dass sie sich schon in jungen Jahren der Priesterschaft des Morkai, dem Vater der Neugier und des Wissens, angeschlossen hatte. Eine Entscheidung, die sie bis zum heutigen Tag nicht bereute.

Langsam erhob sie sich, um keine Geräusche zu machen. Selbst den Stuhl musste sie so geräuscharm wie möglich nach hinten schieben. Eine Angewohnheit, die scheinbar nur in ihrem Tempel verbreitet war. Ein reisender Priester des Morkai war vor Monaten für eine Rast nach langer Reise zu ihnen gekommen und er hatte sich nicht einmal darum geschert, leise zu sein. Sein donnerndes Lachen hallte in einigen Räumen immer noch nach.

Sie hob die Abhandlung, die sie gelesen hatte, an und verstaute sie in dem Regal zwei Reihen weiter. Lautlos, wie es sich gehörte. Sie wunderte sich immer wieder, wie schnell man sich daran gewöhnte, ständig von der Stille umgeben zu sein. Außerhalb der Bibliothek hielten sich einige immer noch an die Regel, doch der Großteil schwatzte und plauderte in den Gängen. Solange niemand in seinen Studien gestört wurde, durfte man sogar laute Gespräche direkt vor der Bibliothek führen.

Sie verließ die heiligen Buchhallen und ging zu dem kleinen Kabuff, das direkt danebenlag. Darin saß der Bibliothekar des Tempels. Ein alter, kahlköpfiger Mann, dessen Lidfalten so tief herunterhingen, dass Norlind sich fragte, wie er überhaupt noch etwas sehen konnte.

„Ah, Norlind, was kann ich für dich tun?“, fragte er und winkte sie hinein, während er ein Buch beiseiteschob, das er selbst las.

„Ich habe die Abhandlungen der Martraud Wallenfels beendet“, sagte sie und lehnte sich auf den Tresen, der vor seinem Stuhl aufragte. „Und ich möchte erneut darum bitten, die Abschrift einsehen zu dürfen. Ich habe alle Voraussetzungen erfüllt.“

„Nicht so schnell mit den jungen Pferden“, erklärte der Bibliothekar mit brüchiger Stimme. „Zuerst einmal musst du dieses Formular zu den Abhandlungen der Martraud Wallenfels ausfüllen. Du kennst das Spiel.“

Norlind nickte und ergriff den Stift und den Zettel aus den zitternden Händen des Bibliothekars. „Ist das Zittern noch immer nicht besser geworden?“, fragte sie, während sie die Daten in das Blatt eintrug.

Der Bibliothekar winkte ab. „Das ist dem Alter geschuldet. Ich habe keine Ahnung, wie ich ohne das Zittern noch etwas schütteln sollte.“

Norlind lachte. „Du könntest die jüngeren Novizen darum bitten. Hast du dich schon in der medizinischen Enklave gemeldet? Sicher findet unsere Schwester etwas, das dir helfen könnte.“

Sie unterhielt sich noch eine Weile mit ihm über körperliche Gebrechen. Die Heilung war so etwas wie ein Hobby von ihr. Sie tat das alle paar Tage, wenn sie ihn aufsuchte, um eine weitere Aufgabe ihres Vorstehers zu bestehen. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass er sie niemals an die Abschrift lassen würde. Ständig fiel ihm etwas Neues ein, was sie erledigen musste, ehe sie endlich an ihr Ziel kam.

Schließlich reichte sie das ausgefüllte Formular an den Bibliothekar zurück und verabschiedete sich von ihm. „Gesegnet sei dein Tag durch das Wissen von Morkai.“ Es war keine offi­zielle Floskel, aber sie hatte sich daran gewöhnt, es bei jeder Verabschiedung zu sagen. Es beruhigte sie und gab ihr ein Gefühl des Abschlusses.

Norlind kannte nur ein Ziel. Sie hatte die Aufgabe des Vorstehers beendet, also wollte sie von ihm eine Antwort zu ihrer sich stetig wiederholenden Frage.

Der Weg führte sie durch die schmalen Gänge des Tempels. An den Wänden waren Gemälde von lesenden Menschen oder von Menschen, die mithilfe des Wissens das Böse vertrieben oder gar besiegten. Norlind liebte die Geschichten der alten Männer und Frauen, die auszogen, um das Schicksal zu erfüllen, das Morkai ihnen auferlegt hatte. Sie wartete noch auf ihren Ruf, hoffte, eines Tages ein bedeutsames Geheimnis enthüllen zu können, um es schriftlich festzuhalten. Für die nachfolgenden Generationen, die sich den Rücken krumm­saßen, während sie ihre Schriften studierten.

Jedes Mal, wenn sie einem ihrer priesterlichen Kollegen begegnete, nickten sie einander zu, ehe sie strikt ihrem Weg folgte. Dazu musste sie in den hohen Turm des Tempels. Die Bezeichnung war ein Witz, wenn man bedachte, dass der hohe Turm nur ein Stockwerk höher lag als die Bibliothek. Dennoch folgte sie den Wendelstufen hinauf, bis sie auf dem Absatz vor der Tür stand. Norlind schloss kurz die Augen, atmete tief durch und klopfte dann an.

„Herein“, rief der Vorsteher. Sofort stürmte sie in das einladende Büro. Der Vorsteher des Tempels hatte es sich zwischen Bücherregalen und wichtigen Informationen auf Papieren gemütlich gemacht. Überall lagen Nachrichtenblätter aus der näheren Umgebung verstreut. Manche Berichte hatte er gesondert aufgehängt oder stapelte sie auf einem breiten Eichentisch. Es waren fragile Türme, die beim kleinsten Lufthauch auseinanderfielen. Ein einziges Mal war Norlind in die Bedrängnis geraten, einen dieser Stapel durcheinandergewirbelt zu haben, weil sie sich zu schnell bewegt hatte. Zur Strafe hatte sie eine Woche lang kein Buch anfassen dürfen. Zum Glück hatte einer ihrer Mitbrüder Mitleid mit ihr gehabt und ihr ein Buch vor die Nase gelegt, das er regelmäßig umblätterte, wenn sie ihn darum gebeten hatte.

„Guten Abend, Vorsteher Balmut“, begrüßte Norlind den rothaarigen Mann. Seine volle Lockenpracht passte in dieses chaotische Büro perfekt hinein. Sie konnte sich gar nicht mehr vorstellen, wie es ohne ihn war.

„Ah, Norlind“, sagte er mit wenig Begeisterung. „Lass mich raten. Du hast die Abhandlung beendet?“ Er legte eine Feder beiseite, mit der er gerade auf einem Pergament geschrieben hatte. Vermutlich ein Bittschreiben an die Herzogin, dem Tempel einige Güter zu spenden.

„Ja, Vorsteher Balmut. Ich habe meine Aufgabe beendet und wünsche nun die Abschrift der Kristallchroniken zu lesen“, bat sie mit beherrschter Stimme. Sie war keine aufbrausende Frau, aber die Aufgaben dieses Mannes raubten ihr den letzten Nerv.

„Deine jugendliche Neugierde ist bewundernswert, aber sie steht dir auch so manches Mal im Weg.“

„Entspricht sie nicht viel mehr dem Weg von Morkai?“, widersprach Norlind. „Er hilft seinen Priestern auf der Suche nach noch mehr Wissen. Ihr selbst habt es gesagt: Wer Morkai folgt, wird ewig gesegnet sein.“

Der Vorsteher lehnte sich in seinem Stuhl zurück, sodass er leise knarrte. Vor seiner Brust faltete er die Finger zu einem Dreieck. „Und was sind die größten Eigenschaften von Morkai?“, fragte der Vorsteher geduldig.

Sie fühlte sich in ihre ersten Stunden in dem Tempel zurückversetzt. Der Moment, als sie dem vorherigen Vorsteher vorgeführt worden war. Auch er hatte sie etwas Ähnliches gefragt, hatte von ihr wissen wollen, warum sie sich ausgerechnet Morkai anschließen wollte.

„Abgesehen davon, dass er ein Gott ist, verfügt er über einen unbändigen Wissensdrang und Neugier.“

„Und was noch?“

Norlind runzelte die Stirn und fragte sich, was noch eine der überragenden Eigenschaften ihrer Gottheit sein könnte. Doch es fiel ihr nicht ein. Daher senkte sie beschämt den Kopf. „Vorsteher, ich bin zutiefst betrübt, aber eine weitere Eigenschaft ist mir nicht bekannt.“

Balmut seufzte und lehnte sich erneut vor, deutete mit dem Zeigefinger auf sie. „Und das ist der Grund, warum du keinen Zugang zu der Abschrift erhältst. Du bist zu eingeschränkt in deinen Sichtweisen. Du siehst nicht, was es noch alles gibt. Für dich ist dieser Tempel alles, was du an Wissen brauchst. Und dein einziges Ziel im Leben ist das Lesen der Abschrift.“ Er schüttelte enttäuscht den Kopf. „Doch das Leben besteht nicht nur daraus. Denke weiter. Denke größer. Denke vielfältiger.“

Norlind nickte voller Scham, spürte die Hitze auf ihren Wangen. „Verzeiht, dass ich so eine Enttäuschung bin.“

„Ich hielt dich für klüger, Norlind“, erklärte Vorsteher Balmut mit einem Schmunzeln. „Du enttäuschst den Kult des Morkai nicht. Dein Wissensdrang ist unermesslich. Es fehlt dir nur die nötige Weitsicht. Ist es dein Wunsch, die Abschrift zu lesen? Dann finde heraus, was Morkai noch ausmacht, außer in verstaubten Bibliotheken zu sitzen und ein Buch nach dem nächsten zu lesen.“

Norlind hob ruckartig den Kopf. „Ein Abenteuer?“, fragte sie unsicher. „Meint Ihr das? Morkai ist ein Sucher, ein Geheimnisforscher.“ Die Worte stolperten aus ihrem Mund, als ob sie nicht schnell genug herauskommen konnten. „Das ist seine weitere Eigenschaft. Aber ich …“ Da wurde ihr klar, was Vorsteher Balmut ihr mitteilen wollte. „Ich sitze seit meiner Ausbildung in diesem Tempel.“ Diesmal sprach sie ganz langsam, als könnte sie nicht fassen, welche Erkenntnis sie gerade überfiel.

„Ich sehe, meine Hoffnungen in dich sind nicht gänzlich verloren.“

„Ihr sagt also, ich soll ein Geheimnis erforschen? Aber welches?“

„Das, meine liebe Norlind“, erklärte der Vorsteher, stand auf und ging um seinen Tisch auf sie zu, „bleibt ganz dir überlassen. Du musst auf dein Herz hören. Morkai wird dich dabei leiten und durch dich sprechen. Lass ihn nur hinein.“

Norlind nickte eifrig, spürte das Kribbeln in ihren Fingerspitzen. Auch wenn sie geglaubt hatte, dass Morkai sie längst lenkte, merkte sie eindeutig, dass er noch nie durch sie gesprochen hatte. Sie wollte ihm dienen, wollte seine ergebenste Dienerin sein, um all die Geheimnisse zu ergründen, die er ihr auftrug.

Voller Motivation verabschiedete sie sich von Vorsteher Balmut und rannte auf ihre Kammer im Herzen des Tempels. Dort legte sie sich auf ihr Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen.

Die Aufregung über diese neue Erkenntnis zu sich und ihrem Gott ließen sie kaum stillliegen. Sie spürte den Tatendrang, der sie anleitete. Doch für den Moment musste sie sich zurücknehmen. Sie musste in sich hineinlauschen. In ihr Herz und darüber hinaus. Denn sie hatte keine Ahnung, welches Geheimnis sie ergründen wollte.

Was wollte Morkai ihr mitteilen? Hatte er durch Vorsteher Balmut zu ihr gesprochen? Oder war das nur der Aufruf, der ihrem Herzen gefehlt hatte, um zu suchen?

In ihrem Verstand explodierte eine Kakophonie an Fragen und auf keine gab es eine Antwort. Es war, als ob sie in einen leeren Raum hineinrief. Ohne Sinn und Verstand. Aber aus voller Leidenschaft. Sie musste etwas tun. Norlind brauchte diese Antworten. Ihre Zukunft hing davon ab und genau die wollte sie selbst in die Hand nehmen.

Sie presste die Fäuste auf die Augen, um für einen Moment den Verstand auszuschalten. Mehr brauchte sie nicht. Nur einen Moment der Ruhe. Ein leises Zittern ihrer Augenlider war alles, was sie spürte, als sie die Fäuste von den Augen nahm. In ihrem Kopf wurde es leiser, sie spürte, wie die Melodie der Fragen, der sie normalerweise gerne folgte, einfach verstummte und einer entspannenden Stille Platz machte. Sie konnte nun ihre Gedanken ausschalten und warten, bis ihr Gott zu ihr sprach. Und wenn sie drei Tage liegen musste, sie würde eine Antwort erhalten. Dessen war sie sich sicher.

Selbst der Feenherrscher Faluka, über den sie in der letzten Abhandlung gelesen hatte, war im Diesseits mehrere Tage still stehen geblieben, weil er eine Frage nicht hatte beantworten wollen. Eine Frage über ein Gewächs, das er einst von den geschuppten Bewohnern des Diesseits erhalten hatte.

Norlind runzelte die Stirn. Warum musste sie ausgerechnet jetzt an diese Pflanze denken? Das war eines der unwichtigsten Details in der Abhandlung gewesen.

Oder doch nicht?

Sie suchte in ihrem Verstand nach der Bezeichnung des Holzes. Die Drachlingswurzel, so wurde sie genannt. Zumindest hatte die Abhandlung es behauptet. Voller Kraft und mit besonderen Fähigkeiten. Nur von den Drachlingen zu züchten gewesen. Keine andere sterbliche Rasse konnte sie gedeihen lassen.

Norlind riss die Augen auf und setzte sich auf. Das war es! Eine Pflanze, die es seit der Herrschaft der Drachlinge nicht mehr gegeben hatte. Und ein Exemplar befand sich in den Anderswelten, in den Feenlanden, wie Norlind sie gerne bezeichnete. Aufgeregt sprang sie auf und rannte in ihrer Kammer auf und ab. Die Feenlande waren ein Hort an Gefahren, aber auch an Geheimnissen. Wenn Sie dorthin gehen würde, würde sie mit Wissen zurückkehren, das vermutlich mehrere Bände füllen konnte. Wenn sie denn überlebte. Der Gedanke, dieses Abenteuer zu erleben, elektrisierte ihren ganzen Körper. Aus ihren Fingerspitzen schoss feine Heilungsmagie. Sie konnte spüren, wie ihr Körper Platz machte, um genügend Kraft für den Aufbruch zu sammeln.

Norlind stemmte die Hände in die Hüften. Sie würde sich auf den Weg machen. Die Erhabenheit ihres Vorhabens bereitete ihr eine Gänsehaut. Aber das war es, was sie wollte. Sie merkte erst, wie eingepfercht sie sich in dem Tempel gefühlt hatte, als sie den Ruf ihres Gottes vernommen hatte. Norlind würde diese Pflanze zurückbringen aus den Feenlanden. Ganz sicher.

Aber nicht alleine. Sie brauchte einen Beschützer. Zwar war sie nicht ganz unbeholfen im Umgang mit der Waffe, aber es würde ihr im Reich der Feen nicht helfen. Niemals. Nicht, wenn sie nach Hinweisen suchen musste, die zu der Pflanze führten.

Dafür kannte sie genau den richtigen. Norlind ließ die Hände sinken und begann zu packen. Es würde ein weiter Weg werden, wenn sie ihn fragen wollte. Er war in ihrer Heimat Wintholt geblieben, während sie sich den Priestern des Morkai in jungen Jahren angeschlossen hatte. Seit Jahren hatte sie nicht einmal an ihn gedacht. Er gehörte zu ihrer Vergangenheit, aber mehr auch nicht. Ihre Mutter hatte im Haushalt seiner Eltern als Magd gedient. Und Norlind und Yorick hatten zusammengespielt, als sie noch klein gewesen waren. Er war der Erbe von Weißenwind, einem kleinen Landgut am südöstlichen Rand von Wintholt. Kein großes Haus, aber groß genug, um sich Jarl nennen zu können. Und das hatte er ihr als Kind immer wieder erzählt. Er würde mal Baron werden. Und sie würde seine Bedienstete. Aber Freunde würden sie immer bleiben. Das hatte er ihr geschworen. Besonders nach ihrem letzten Sommer.

Sie hielt in ihren Bewegungen inne. Es war erstaunlich, was der Verstand alles speicherte, obwohl es schon Jahre zurücklag. Noch immer konnte sie die frische Brise aus dem Wald neben dem Landgut auf ihrer Haut spüren. Der Duft nach Ahorn, wenn der Winter nahte und das Gefühl der Sonne auf ihrer Haut nach einem langen, kalten Winter. Ein sehnsüchtiges Lächeln überkam sie. Schon lange hatte sie nicht mehr an ihre Heimat gedacht. Ebenso wenig an ihre Eltern. Ob sie wohl noch lebten? Ihr Vater war schon alt gewesen, als sie zur Priesterschule nach Selenia aufbrach. Aber ihre Mutter könnte noch leben. Vielleicht hatte sie ein Altenteil im Bedienstetenbereich erhalten. Ansonsten hätten Yorick oder seine Eltern ihr sicher einen Brief geschrieben. Es waren gute Menschen. Noch ein Grund mehr, warum sie sicher war, dass Yorick sie begleiten würde. Sollte er sich jedoch weigern, würde sie ihn daran erinnern, was in ihrem letzten Sommer geschehen war. Und dann hätte er keine Wahl.

Sie nickte sich selbst zu, verstaute eine Decke auf ihrem Reisesack und packte ihn sich auf den Rücken. Sie war bereit.

Kapitel III

Drohann

„In den Anderswelten?“, fragte Drohann mit großen Augen. „Du bist betrunken. Niemand findet etwas in diesen Feen­landen wieder.“

„Oh doch. Habe mir den Weg genau gemerkt und weiß, in welcher Domäne die Drachlingswurzel ist.“

Drohann betrachtete die Gnomin eingehend. Sie hatte rot unterlaufene Augen, ihre Finger zitterten, wenn sie nicht um den Becher gelegt waren und ihre Nase schimmerte rot. Sie liebte Alkohol, daran bestand kein Zweifel. Vermutlich war es nur das Geschwätz einer Trinkerin, auf das er gerade hereingefallen war. „Eine schöne Geschichte, aber sicher nicht wahr. Iss das Essen auf, wenn du möchtest, aber ich gehe jetzt wieder schlafen.“

„Ist wahr. Frag Bertholm. Bertholm!“, rief sie laut und winkte dem dickbäuchigen Händler, der schon am anderen Ende der Wirtschaft Platz genommen hatte. Der Händler schaute voller Abscheu zu Mara, und Drohann konnte sogar verstehen, warum. Hätte er sich nicht an ihren Tisch gesetzt, wäre er auch nicht erfreut, von ihr angesprochen zu werden. Immerhin hatte er keine Lust gehabt zu reden. Der Händler hingegen war schwerfällig genug, um sich nicht freiwillig aus diesem Stuhl zu bewegen. Drohann hielt inne, war neugierig, was der Mann zu erzählen hatte. Vermutlich würde er Mara zurechtweisen. Das wollte sich Drohann nicht entgehen lassen.

Er stellte sich neben den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Was willst du, alte Gnomin?“, fragte der Händler, ohne sich von dem Stuhl zu erheben. „Deine Bezahlung hast du erhalten!“

Es waren harsche Worte, die er Mara entgegenwarf. Aber anscheinend wollte er nichts mit ihr zu tun haben. „Sag ihm, was ich dir zu der Wurzel erzählt habe!“, verlangte sie in fast schon kreischendem Ton.

Erstaunlich behände sprang der Händler auf und rannte zu ihnen an den Tisch. Er packte Mara am Kragen ihrer hellgrünen Bluse und hob sie hoch. „Wir haben uns darauf geeinigt, Stillschweigen zu bewahren, schon vergessen?“

„Natürlich nicht. Aber du sagtest nichts davon, dass ich die Informationen nicht mitteilen darf. Nur, dass ich nicht über unsere Vertragsbedingungen reden darf“, sagte Mara und hob den Zeigefinger hoch.

„Lass sie runter. Sie ist betrunken“, mischte sich Drohann ein. Er hatte Mitleid mit der Gnomin. Gegen diesen kräftigen Kerl hatte sie sicher keine Chance, selbst wenn sie im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten wäre.

„Misch dich nicht ein, Bursche. Das geht dich nichts an. Und vergiss gleich wieder, was sie dir gesagt hat“, zischte der Händler. Zwei weitere Männer standen auf einmal hinter dem Dickbäuchigen und beobachteten die Szene ganz genau.

Drohann konnte die Bedrohung spüren, die aufzog. Er legte eine Hand an den Knauf seines Schwertes und lehnte sich gegen die Sitzecke. Noch wollte er es nicht eskalieren lassen. Aber wenn der Händler weiterhin so an Mara zerrte, würde er einschreiten. „Ich bin kein Bursche und ich nehm keine Befehle von dir an.“ Die Stimmung in der Wirtschaft kippte von einem Moment auf den anderen. Waren die Menschen vorher fröhlich und ausgelassen gewesen, trotz des Hagelsturms, so spürte man nun die Kälte, die der Sturm mit sich brachte. Nach und nach verstummten die Trinkenden. Einige schlugen ihren Nachbarn gegen die Brust und deuteten auf Drohann und den Händler.

„Hör zu, ich weiß, du hältst dich vermutlich für eine große Nummer“, sagte Drohann und stieß sich von der Sitzecke ab. „Aber Mara wollte mir nur etwas beweisen, was ich gar nicht wissen wollte. Lass sie einfach runter und wir gehen unserer Wege.“

Bertholm ignorierte Drohann und redete weiter auf Mara ein. Es ging um Formulierungen und was genau Mara alles sagen durfte und was nicht. Dabei spürte er, dass sie nicht vorsichtig genug war mit ihren Aussagen. Der Händler war kurz davor zu explodieren, aber Mara plauderte fröhlich weiter und zeigte ihm auf, was er alles abgenickt hatte.

„Und deswegen darf ich es dem Kerl erzählen“, schloss sie ab, während sie einen Schluck aus ihrem Krug nahm, der immer noch in ihren Händen hing. Sie hatte ihn einfach nicht loslassen wollen und es kam ihr scheinbar nicht einmal in den Sinn, ihn als Waffe gegen ihren Angreifer zu benutzen. Vermutlich hatte sie Angst um den Inhalt.

„Du hast geschworen, dass ich der einzige sein werde, der diese Mission in die Feenlande unternimmt!“, dröhnte der Händler mit hochrotem Kopf. „Du bist gefeuert und ich werde Beschwerde bei der Portalgilde einreichen!“

Drohann schnaubte. Was für eine Drohung. Mara schien sich nicht viel um die Gesetze der Gilde zu kümmern, wenn er daran dachte, wie sturzbetrunken sie gerade war. „Wollte eh nie von deinem fetten Bauch verfolgt werden. Bezahlung behalte ich aber. Ist schon in einen guten Körperbau investiert“, sagte sie und schlug sich gegen die kleine Plauze, die sie Bauch nannte.

Der Händler ließ mit einer Hand von ihrem Kragen ab und schickte sich an, ihr selbige mitten ins Gesicht zu schlagen.

Drohann reagierte bereits und sprang vor, wollte Mara vor dem Schlag bewahren. Doch bevor er sie erreichte, sprang jemand anderes dazwischen. Die Faust vom Händler bohrte sich in die stumpfe, längliche Seite einer Axt. Ein dumpfer Klang ertönte. Es war wie der Gong bei einem Boxkampf in den Kellern der Burgen.

Der Händler schrie auf, wedelte mit der Hand, ehe er sich an seinen neuen Gegner wandte. Es war der Frynjord, der mit seiner Axt dazwischen gegangen war. „Ich warne dich, Händler“, sagte er mit einer Stimme, die tiefer und wilder als jede Landschaft war, die Drohann je gesehen hatte. „Such dir lieber Gegner aus, die deine Größe haben. An ihr ist doch nicht mehr dran als an einem Kind.“

Drohann fing Mara auf, als der Händler sie losließ und sich auf den Zwerg konzentrierte. „Jungs!“, sagte er nur und die beiden Schränke, die sich hinter ihm aufgebaut hatten, traten an seine Seite. Sie wirkten wie eine unüberwindbare Mauer. Eine, die nur dazu diente, Angst und Schrecken zu verbreiten. Allerdings wollte Drohann nicht von dieser Mauer erschlagen werden.

Der Wirt kam hinter seinem Tresen hervor. „Beruhigt euch!“, rief er und deutete mit den Armen nach unten. „Wir können das sicher regeln. Ich gebe eine Runde für euch aus.“

Statt eine Antwort zu erhalten, schlug der Händler dem Wirt seinen Ellbogen ins Gesicht. Ohnmächtig ging er zu Boden.

Drohann senkte den Kopf, zog sein Schwert und sagte: „Das war ein Fehler.“ Im Augenwinkel erkannte er noch die Magd, die zuvor Maras Bier auf den Tisch gezaubert hatte. Sie hob die Hand und schnipste mit den Fingern. Im nächsten Moment standen alle still, die an dieser Auseinandersetzung teilnahmen. Niemand rührte sich. Drohann spürte dem Zauber nach. Ein Lähmungszauber, der sich nur auf die Gliedmaßen beschränkte.

„Erste Regel in diesem Wirtshaus, keine Waffen!“, rief sie laut. Von den freundlichen Worten zuvor war nicht mehr viel übrig. Sie war definitiv eine Frau, die auch austeilen konnte. Vielleicht sollte er sie später mal ansprechen. „Tragt euren Streit draußen aus. Ich habe keine Lust euer Blut aufzuwischen.“

Damit ging sie durch die Reihen, sammelte die Waffen ein und ging zu ihrem Herrn, um ihn aus der Gefahrenzone zu schleifen. Erst als sie in sicherer Entfernung war, löste sich die Lähmung wieder.

„Wir müssen uns nicht prügeln“, sagte Drohann und setzte Mara auf die Sitzecke, die hinter ihm war. „Geh einfach deines Weges und lass uns in Ruhe Essen“, versuchte er es ein letztes Mal. In seiner Ausbildung war er dazu angeleitet worden, die Monster der Verderbnis zu bekämpfen. Doch gegen die Monster unter den Bewohnern von Lorakis wollte er seine Kräfte nicht einsetzen.

„Dann hättest du dich nicht mit dieser Gnomin abfinden sollen“, sagte der Händler und ballte die Faust. „Niemand außer mir wird dieses Holz finden. Dafür werde ich schon sorgen.“ Er pfiff einmal leise, ehe er nach vorne sprang und sich auf den Zwerg stürzte. Die beiden Schränke hinter ihm hingegen gingen auf ihn los. Drohann hatte gerade noch Zeit, dem ersten Schwinger auszuweichen, indem er einen Schritt nach links machte. Er stieß mit seinem Hintern gegen den Tisch vom Nachbarn und stützte sich daran ab. Sein Krug Bier stand direkt vor ihm und er packte zu. Wenn er schon sein Schwert nicht zur Hand hatte, dann wählte er die nächstbeste Waffe, die er finden konnte. Er griff fest an den Henkel und drehte sich herum. Sein Ziel war der Schädel des kompakten Alben, der ihn angegriffen hatte. Statt jedoch den Krug auf seinem Schädel zu zerbersten, spürte er erneut für einen Moment diese Lähmung. Die Magd nahm ihm schnell den Tonkrug aus der Hand und ließ danach erneut den Zauber fallen. Mit der geschlossenen Faust traf er nur halbherzig den Kopf seines Gegners.

Drohanns Schlag erreichte jedoch nicht die gewünschte Wirkung. Verdammt! Die Magie der Magd galt wohl nicht nur für spezielle Waffen, dachte er und fragte sich, ob sie mehr als nur eine Magd war. Für einen kurzen Augenblick war er abgelenkt von den Gedanken zu dieser geheimnisvollen Frau, sodass er unaufmerksam war. Ein Fehler, wenn man in einem Faustkampf war.

Der Schlag erwischte ihn mitten am Kinn und beförderte ihn auf den Schoss einer Frau, die ihn sofort wieder von sich stieß, zurück in das Getümmel, das sich gebildet hatte. Der Zwerg hatte sich mit Händen und Füßen bisher gewehrt, aber da nun alle drei auf ihn zustürmten, konnte er sich der Schläge kaum noch erwehren.

„Ihr lausigen Bastarde“, brüllte er zwischen zwei Treffern. „Mögen eure Mütter zu Gletscherspalten werden, die den Dreck und den Unrat aller Frynjord aufnehmen!“