Phoenix: Flammenmeer - Ann-Kathrin Karschnick - E-Book

Phoenix: Flammenmeer E-Book

Ann-Kathrin Karschnick

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Beschreibung

Der Himmel verfärbte sich. Das helle, strahlende Rot eines dahinschwindenden Tages stach aus der tristen, aschfahlen Schwärze der Nacht hervor. Doch Tavi beachtete die letzten weißen Wolkenflecken am Himmel nicht – für sie gab es nur das Rot. Rot wie Feuer. Ein Jahr nach den Ereignissen in Hamburg ist Tavi immer noch auf der Flucht. Sie reist nach Paris, um sich ihrer Vergangenheit zu stellen, doch dort treibt erneut ein Mörder sein Unwesen. Diesmal werden jedoch keine Menschen umgebracht, sondern Seelenlose. Niemand scheint mehr sicher zu sein. Tavi versteckt sich im Untergrund, wo sich eine Gruppe von Seelenlosen zu einer Rebellion gegen die Regierung zusammengeschlossen hat. Begeistert schließt sie sich an, doch etwas stimmt nicht mit den Rebellen. Befindet sich der Mörder etwa in den eigenen Reihen? Der zweite Teil von Ann-Kathrin Karschnicks fulminanter Phoenix-Trilogie, enthüllt weitere Geheimnisse der von Nikola Tesla so veränderten Zukunftswelt.

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Phoenix

Flammenmeer

 

Band 2

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ann-Kathrin Karschnick

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Text: ©2020 Copyright by Ann-Kathrin Karschnick

Schün-Rieden 1, 21483 Dalldorf

Cover: Anna Hein

Alle Rechte vorbehalten.

Tag der Veröffentlichung: 17.03.2020

 

Weitere Romane der Autorin:

 

Stollenbruch

Phoenix – Aschegeboren (Teslapunk-Dystopie-Krimi, Band 1)

Phoenix – Himmelsbrand (Teslapunk-Dystopie-Krimi, Band 3)

Feuerritter – Lauernde Mächte (High Fantasy)

Feuerritter – Kampf um Teinemaa (High Fantasy)

Ein alter Hut (phantastisches Jugendbuch)

Weltenamulett – Das Erbe der Trägerin (Urban/Portal Fantasy)

Weltenamulett – Geister der Vergangenheit (Urban/Portal Fantasy)

Weltenamulett – Gezeitenwinter (Urban/Portal Fantasy)

Splittermond – Jenseits der Seidenstraße (Rollenspielroman)

Novellenserie Rack (6 Episoden Steampunk-Thriller)

Assassin’s Wood – Bürokratie kann tödlich sein (FUNtasy)

Im Namen des Ordens – Staffel 1-5 (Paranormal Crime, Hörbuch)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Aufbruch

Aussicht auf Paris

Schlacht

Verlust

Musikalische Heilung

Eleazar

Unverhoffte Begegnung

Es beginnt von vorn

Die Schule

Was ist passiert?

Verwirrung in den Katakomben

Was tut der Rat?

Versöhnung

Ermittlungen in Paris

Spion im Untergrund

Experimentelle Erkenntnis

Zwischen den Fronten

Er ist weg

Verwahrstelle

Entscheidung zu Treffen

Mutter-Sohn-Beziehung

Eleazars Geheimnis

Familiäre Zusammenarbeit

Der Weg zum Seelenmagneten

Leons Aufgabe

Epilog

 

 

Prolog

Katharina

 

»Sie werden da sein! Gewesen sein, sind da!«

»Ich weiß, beruhige dich.« Katharina strich der jungen Frau die hellroten Haare aus dem verschwitzen Gesicht.

»Wenn sie da waren, werden wir auch da sein. Wieso? Und warum gibt es heute nichts zu essen?«, sagte ihre Begleiterin.

»Weil es unsere Aufgabe ist. Wir brauchen sie, um zu überleben. Und sie brauchen uns, um zu überleben.« Die Worte verließen Katharinas Mund zum vierten Mal an diesem Abend. Den Rest der Fragen hatte sie ignoriert. Es waren Überbleibsel einer verlorenen Seele, die mit jedem Tag stärker wurden. Eine Art Hilflosigkeit überschwemmte sie so unvermittelt, dass sie daran zu ertrinken drohte. Ausgerechnet sie, die alles sah und fühlte, im Hier und in der Zukunft, wusste nicht was sie dagegen tun sollte. Was nützten ihr ihre Fähigkeiten, wenn sie in den entscheidenden Momenten versagten?

»Das Überleben ist nicht wichtig«, sagte die zitternde Stimme des Mädchens, »solange sie mich finden. Ich bin das Böse. Ich bin die, die alle tötet! Vater, halt mich fest. Mein Bauch schmerzt.«

Katharina schluckte und tätschelte die Schulter des Mädchens. Sofort tauchte in einer Vision wieder dieser verschwommene, schwarze Fleck auf, der wie ein Tintenfass wirkte, das jemand auf einem weißen Blatt Papier ausgekippt hatte. Nichts war zu erkennen, nichts zu fühlen. Ausgerechnet bei ihrer Gefährtin funktionierten ihre Fähigkeiten nicht. Sie wusste nicht, was passieren würde und das hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Es war allein ihre Schuld gewesen. Niemand zuvor hatte so etwas versucht. Und inzwischen wusste Katharina auch warum.

»Du wirst niemanden umbringen. Solange ich auf dich aufpasse, wird es nicht geschehen. Hörst du?«

In den blauen Augen der Frau lag all das, was Katharina seit ihrem Wiederauferstehen befürchtet hatte: Die Emotionen erschienen in diesem Moment nicht mehr wie ein offenes Buch vor ihr, aus dem sie sowohl Vergangenheit als auch Zukunft herauslesen konnte. Zu allem Überfluss verloren die Augen der Frau den glasigen Ausdruck und warfen sie in eine beängstigende Wirklichkeit zurück, die sich wie ein eisiger Griff um ihre Kehle legte. Zeitlose Worte des Bedauerns in ihren Gesichtszügen schlugen Katharina entgegen: »Deine Rolle in diesem ganzen Theater, Hexe, ist geschrieben. Und es steht nicht in deiner Macht, mich aufzuhalten.«

 

Aufbruch

Tavi & Leon

 

Der Himmel verfärbte sich. Das helle, strahlende Rot eines dahinschwindenden Tages stach aus der tristen, aschfahlen Schwärze der Nacht hervor. Doch Tavi beachtete die letzten weißen Wolkenflecken am Himmel nicht – für sie gab es nur das Rot.

Rot wie Feuer.

Rot wie die glühenden Wände, die beinahe ein Jahr zuvor Nathan in einem von ihr verursachten Brand verzehrt hatten.

An der Felswand vor Tavi, ging es steil bergab. Der Boden lag sowohl auf der Erde als auch in den Abgründen ihrer Seele in düstere Schatten gehüllt, so dass sie ihn nicht sah und sie nicht sagen konnte, welcher tiefer lag. Sie ahnte mit brennender Deutlichkeit, dass sie nicht nähertreten wollte – sie wollte nicht, dass sich der Nebel hinter dem Abgrund lichtete.

Einer dieser Nebelfäden lag nur einen weiteren Sonnenaufgang entfernt. Beim nächsten herbstlichen Morgenrot würde seit Nathans Tod ein Jahr vergangen sein.

Ein Jahr Trauer, ein Jahr Flucht, ein Jahr, in dem Tavi nicht gewusst hatte, welchen Sinn das unsterbliche Leben machte.

»Du willst doch wohl nicht, dass ich da runterspringe.« Leons Stimme ging am Ende nach oben, so dass es sich vielmehr wie eine Frage anhörte.

Tavi stand nur da. Sie war in Gedanken nicht bei ihm. Sie folgte nur dem Nebel, in dem Nathans Gesicht immer wieder auftauchte und der ihr die Sicht zum Boden verwehrte.

Leon war das ganze Jahr bei ihr gewesen, hatte sie gestützt. Tag um Tag. Auch am härtesten Tag ihres Lebens. Trotz der Tatsache, dass auch sein Leben sich vor genau einem Jahr verändert hatte. Er lebte jetzt als Cupido unter den sogenannten Seelenlosen – unter den Wesen, die er einst als Mitglied der Kontinentalarmee gejagt und vernichtet hatte. Inzwischen hatte er gelernt, dass sie sich selbst nicht gerne Seelenlose nannten. Androgyne war die Bezeichnung, die schon seit Jahrhunderten unter den Andersartigen gängig war, die jedoch nach und nach in Vergessenheit geraten war. Seelenlos wurden sie nur von einem totalitären System genannt, das die Armen unterdrückte und das den Wohlhabenden ihre Macht nahm. Trotzdem gaben sich die Seelenlosen dieses Zeitalters mit dem Namen zufrieden, den ihnen das Volk gegeben hatte. Sie waren die Seelenlosen, die Ausgestoßenen, die die angeblich ohne Gefühl, Herz und Ehre das Leben der Menschen zur Hölle der europäischen Diktatur machten.

»Tavi?«

»Ja?«, fragte sie und bemerkte, dass er schon eine ganze Weile versucht hatte, mit ihr Kontakt aufzunehmen.

»Soll ich allen Ernstes dort runterspringen?« Leon kleine Flügel zitterten leicht. Er schien immer noch Angst davor zu haben, das Fliegen überhaupt zu lernen.

»Noch nicht«, antwortete Tavi und nahm ihm den zusammengefalteten Bogen und den Köcher ab, die er seit ein paar Wochen bei sich trug. »Wir warten, bis die Nacht den Nebel verscheucht hat.«

 

 

***

 

Leon stand dicht am Abgrund und packte Tavi ein letztes Mal an der Hand. Der Nebel hatte sich gelichtet. »Wenn ich springe, kommst du mit?« Er wollte ihre Zusicherung mit Handschlag besiegeln. Nicht dass sie sich kurz vorher umentschied.

»Ja«, sagte sie, »aber nur, solange du deine Flügel benutzt. Solltest du dir alle Knochen brechen, werde ich dich bestimmt nicht tragen.«

Den ermahnenden Ton in ihrer Stimme überhörte er und ließ ihre Hand los. Wenn er es schaffte, seine Angst zu überwinden, dann konnte er endlich diese verdammte Höhle verlassen. Schon seit Monaten lebten sie in dieser zugigen Unterkunft und hofften, dass keine zufällige Luftstreife sie entdeckte. Wie gerne wäre er doch stattdessen im Schwarzwald geblieben.

»Um mich tragen zu können, müsstest du erst einmal fliegen«, konterte Leon, während er sich gleichzeitig darauf vorbereitete, abzuspringen.

Er schob seine Fußspitzen über den Rand des Abgrunds und trat ein halbes Dutzend Kieselsteine hinunter. Leon sah zu, wie bedrohlich lange es dauerte, bis die kleinen Steine auf dem Boden aufschlugen und davonkullerten.

»Fliegen! Nicht fallen lassen und unten heilen.«

Leon drehte den Kopf, verzog das Gesicht zu einer Grimasse und behielt den Blick auf die Tiefe gerichtet. »Keine Sorge. Das passiert mir nicht noch einmal.«

In Wirklichkeit war es ihm schon zweimal passiert, aber das vor Tavi zuzugeben, ließ sein Stolz nicht zu. In einer Nacht, ziemlich am Anfang der Flucht hatte er versucht, sich von einem ähnlich hohen Felsen hinunterzustürzen, um ebenfalls durch die Luft zu gleiten. Der Absturz war gleichermaßen peinlich und ebenso schmerzhaft ausgegangen. Er hatte keinerlei Kontrolle über seine Flügel gehabt, so dass sie nicht auf Befehl aus seinem Rücken brachen. Seither hatte er es nur einmal unter Tavis Aufsicht probiert und war ebenso grandios daran gescheitert. Diesmal jedoch hatte er ein gutes Gefühl. Er würde es mit Sicherheit schaffen. Noch eine weitere Woche in dieser Höhle hielt er auf keinen Fall aus.

Er musste mit Tavi fort von hier, sonst würde er sie an ihre eigene Traurigkeit verlieren. Sie selbst würde es den Verlustschmerz wegen Nathan nennen. Leon hingegen wachte manchmal nachts auf, weil er ihre Schmerzen fühlte. Er ahnte, dass sie den Wind in den Federn brauchte, um dieser Trauer zu entgehen. Das Leben in einer miefigen Höhle, die ihm in menschlicher Gestalt mit Sicherheit eine Lungenentzündung beschert hätte, half dabei nicht.

»Was muss ich bedenken, damit ich nicht aufschlage?«, fragte er.

»Das kann ich dir nicht sagen. Wärst du als Phoenix wiedergeboren worden, könnte ich dir helfen. Aber als Cupido bist du auf dich alleine gestellt.«

»Das ist keine große Hilfe.«

Tavi seufzte, blieb dabei aber geduldig, wie eine Lehrerin, die ihrem Schüler zum dritten Mal versuchte, die Grundrechenarten zu erklären. »Du musst die Empfindung erfühlen, die deine Kräfte auslöst. Bei mir ist es die Leidenschaft für eine Sache«, erklärte sie und strich ihm über den Unterarm. Eine Gänsehaut zog sich von seinem Haaransatz in den Nacken. Nicht die Berührung löste sie aus, sondern die Liebe, die sich in Tavi ausbreitete. Leon hatte Schwierigkeiten, ihre Gefühle von seinen zu unterscheiden. Manchmal glaubte er, endlich die Kontrolle darüber zu haben, nur um in der Nacht wieder schweißgebadet zu erwachen und Tavis Alpträume zu spüren.

»Damit weckst du eine ganz andere Emotion in mir«, murmelte er mit rauer Stimme und lächelte sie an.

»Konzentrier dich!« Sie schlug ihm auf den Arm und stellte sich mehrere Schritte entfernt an die Seite.

Auf ihren Wangen lag ein orangeroter Schimmer, so wie damals, als er ihr das erste Mal begegnet war. Bei der Befragung am Tatort. Damals hatten ihre Augen von innen heraus geleuchtet. Bei dem Gedanken an diesen Tag flatterte sein Herz, so wie es auch seine Flügel taten.

Die weiße Farbe schillerte nicht so hell wie auf Tavis Federn, dennoch liebte er seine Flügel. Statt den ausgedehnten, weiten Schwingen eines Phoenix' besaß er als Cupido ein kleines, beinahe mickriges Flügelpaar. Auch das war ein Grund, warum er ihnen weniger traute. Sie wiesen nicht einmal die Hälfte der Größe von Tavis Flügeln auf. Und die einzigen Male, in denen sich seine Flügel gezeigt hatten, waren Augenblicke, die ihn allein beim Gedanken daran das Blut in den Schritt trieben. Beim Sex mit Tavi konnte er sich meist zurückhalten, aber wenn sie ihm etwas Neues zeigte, dann brachen seine Flügel durch, was Tavi nur noch mehr anmachte. »An was hast du gedacht?«, fragte sie ihn.

»Nichts«, schmunzelte er in sich hinein und schrieb sich geistig eine Notiz, dass er als Cupido natürlich die Liebe als Auslöser brauchte. Darauf hätte er auch gleich kommen können.

»Was es auch war - scheinbar wirkt es, also merk es dir. Spring. Oder soll ich dich runterstoßen?«

»Ich springe. Ich bin 25 Jahre ohne Flügel auf der Erde herumgelaufen. Gib mir einen Moment. Das ist alles neu für mich.«

»Ein weiterer Grund, sie endlich auszuprobieren und herauszufinden, wozu sie gut sind.« Sie stieß ihm einen Finger in die Seite.

»Schon gut. Ich springe ja gleich. Aber wenn ich abstürze, pflegst du mich, bis ich geheilt bin.«

Tavi lachte. »Solltest du abstürzen, werde ich deine Wunden mit meinem Mund küssen, bis sie nicht mehr da sind.«

Leon grinste und stürzte sich mit einem unerwarteten Sprung in den Abgrund. »Ich nehme dich beim Wort«, schrie er über die Schulter, ehe er sich voll und ganz auf seinen Flug konzentrierte.

Er dachte an die Liebe, die mit jedem Herzschlag durch seinen Körper floss, wie Tavi die Federn einzeln berührte und wie sie ihn liebkoste. Ein Schnurren glitt durch seinen Körper und zauberte einen Flügelschlag hervor.

Der Fallwind trieb ihm die Tränen in die Augen und verschleierte seine Sicht, so dass er die Lider schließen musste. Innerhalb weniger Augenblicke veränderte sich seine Wahrnehmung. Jeder Luftzug in seinen Federn gab ihm Zuversicht. Er schaffte es, dass die Flügel mit einem kräftigen Schlag den Fall abbremsten. Statt weiter zu stürzen, hielt er beinahe in der Luft an und flatterte auf der Stelle.

»Ich fliege«, rief er. Er lachte und eine Welle der Glückseligkeit durchfloss ihn. Mehrere Meter unter ihm erkannte er den Waldboden, sah den mit Kieselsteinen bedeckten Weg und … erstarrte.

Leon wollte die Flügel wieder schlagen lassen. Doch erfolglos.

Die Kraft versagte in derselben Geschwindigkeit wie sie durch seine Federn geschossen war.

»Ich schaffe das«, murmelte er halblaut vor sich hin. »Ich bin ein Mann, der in der Kontinentalarmee gedient hat. Höchste Konzentration. Ich habe die beste Ausbildung genossen, die man in Europa haben kann!«

Leon knirschte vor Anstrengung mit den Zähnen, während der steinige Boden des Abgrunds unaufhaltsam näher kam. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und das Pochen in seinen Ohren übertönte alle Geräusche. Er hörte einen Herzschlag. Aber es war nicht seiner. Es war Tavis. Leon schmunzelte. Dieses Pochen – ihr Pochen - trieb sein eigenes Herz an, verteilte ihre Liebe in seinem Körper.

Im nächsten Moment schlugen seine Flügel wieder. Von neuem blieb er einen Moment in der Luft stehen, flog auf einer Stelle. Diesmal gab er sich nicht der Freude hin, sondern konzentrierte sich darauf, das Gefühl zu halten, das jede Ader seines Körpers durchströmte und elektrisierte.

Und wahrhaftig! Er hielt seine Höhe. Schweiß rann ihm über den nackten Oberkörper, aber er schaffte es, seine Liebe zu festigen und damit seinen Körper in der Luft zu halten.

Behutsam ließ er sich auf den Erdboden gleiten, um nicht zu stürzen. Als seine Fußspitzen den mit Kies bedeckten Boden berührten, rannte er einfach weiter. Und mitten im Lauf sprang er wieder ab, riss seine Fäuste in die Luft und jubelte.

»Ich habe es geschafft!«, brüllte er die Felswände an, die ihn von drei Seiten umgaben. Und die Wände jubilierten das Echo zu ihm zurück. »Tavi, ich habe es geschafft!«, schrie er ihr zu.

Glück durchströmte ihn bei dem Gedanken endlich diese Höhle verlassen zu können. Ein dunkler, flügelbreiter Schatten legte sich über ihn und für einen freudigen Moment glaubte er, dass Tavi auch wieder flog. Doch er sah hinauf und entdeckte einen Adler, der über das Tal hinweg glitt, in dem sie bis jetzt gelebt hatten.

Sie applaudierte von dem Felsvorsprung gut hundert Meter über ihm und trug ein Lächeln auf den Lippen, aber das genügte ihm.

»Kommst du runter, dann können wir packen und weiterziehen?«, fragte er. Trotz der kühlen Temperatur des aufkommenden Herbstes spürte er die Hitze in sich und strich sich den Schweiß von der Stirn.

»Jetzt?« Ihre Stimme hallte vielfach von den Steinwänden zurück.

»Natürlich. Was hält uns noch?«

»Der Beginn der Nacht?«, fragte sie, obwohl es eigentlich keine Frage war, und deutete auf die untergehende Sonne am Horizont. Im Elsass gab es viele Erhebungen, so dass die Helligkeit eher verschwand, je tiefer man sich aufhielt.

»Die beste Reisezeit, wenn ich deinen Aussagen trauen darf. Die Drohnen im Grenzgebiet zum alten Frankreich sind nicht besonders aktiv. Was gibt es hier auch zu tun? Die meisten Nachtsicht-Drohnen sind an der Küste im Einsatz.« Leon konnte ihr Grübeln bis zu sich hinunter spüren, um eine passende Antwort zu geben. Doch es kam nichts.

»Lass mich wenigstens ein paar Sachen einpacken. Das Fleisch soll nicht verkommen.«

»Beeil dich. Ich warte.«

Allein bei der Vorstellung von etwas Essbarem knurrte sein Magen. Schon seit Wochen hatte er kein Huhn mehr gegessen. Zu seiner Menschenzeit hatte dank seiner Arbeit in der Kontinentalarmee regelmäßig Fleisch auf dem Tisch gestanden. Alles fremdzubereitet, denn für das Selbstzubereiten war meistens keine Zeit geblieben. Aber seitdem er mit Tavi auf der Flucht war und sie nur in Höhlen abseits der Städte lebten, ernährte er sich gesünder als je zuvor und hatte sogar das Kochen gelernt. Ein paar Kräuter an das saftige Huhn, das über dem Feuer an einem Tannenzweig …

In diesem Moment tauchte Tavi neben ihm auf und er verdrängte das saftige Huhn. »Bist du runtergeflogen?«, fragte er neugierig und erhob sich. Seine Flügel ruhten wieder in seinem Rücken.

»Nein, ich habe den Fußweg genommen«, sagte Tavi und hielt ihm sein Hemd hin. »Ein Mann, der halbnackt durch die Gegend fliegt, sollte genug Aufmerksamkeit erregt haben.«

Er verschnürte das Hemd vor der Brust und machte sich auf den Weg, um endlich zu verschwinden.

»Wohin möchtest du?«, fragte er sie. Er rechnete zwar mit keiner klaren Aussage, aber er wollte sie zumindest gefragt haben.

»Paris!«

Die Antwort kam wie aus der T2 geschossen und Leon runzelte die Stirn. »Wieso ausgerechnet dort hin?« Er versuchte sich daran zu erinnern, ob sie die Stadt zuvor schon einmal erwähnt hatte.

»In Paris kann man sich gut verstecken«, antwortete Tavi. »Das Untergrundsystem ist gut ausgebaut und die Kontinentalarmee nutzt die Tunnel kaum - demnach gibt es auch kaum Durchsuchungen. Angeblich soll es dort Seelenlose geben, die Fallen für die KAler aufbauen und sie in den Tunneln erwarten. Eine Art Widerstand, wenn auch wenig erfolgreich, sofern ich den Gerüchten des letzten Jahres trauen darf. Abgesehen davon sind die Bezirke deutlich größer, so dass man ohne Passierschein weiter kommt als es in Hamburg der Fall war.« Ein breites Grinsen erstrahlte auf ihren eher ruhigen Wangen, als sie den ersten Schritt wagte. So viele Emotionen hatte Leon bei ihr schon lange nicht mehr gesehen. Und doch war da ein Gedanke, ein Bild, das Leon von ihr empfing, das ihn an ihrer Aussage zweifeln ließ. Für Tavi bedeutete Paris vermutlich sehr viel mehr als ihre Geschichte von einem Untergrund vermuten ließ.

»Du meinst die Aas- und Erddämonen?«, fragte er nach und schloss zu ihr auf. Bis nach Paris lag ein verdammt weiter Weg vor ihnen.

Ein Schatten fiel über ihr Lächeln – wenn auch nur kurz. Er wusste nicht warum, doch jedes Mal, wenn sie ihm versucht hatte, etwas über Seelenlose beizubringen, schien sie sich von ihm zu distanzieren. Wie ein Schiff im Hafen, dessen Taue nicht am Kai festgezurrt waren. Das Boot hing noch an der Mauer, aber es driftete immer ein Stück ab.

»Vermutlich. Es sind nur Gerüchte. In Frankreich war ich das letzte Mal 1888 und davor zu Napoleons Zeiten.« Sie zögerte, nickte aber schließlich, als fiele ihr etwas ein, das aber nicht wichtig genug war, um es zu erwähnen.

»Wer?« Meistens hörte er gerne ihren Geschichten aus früheren Zeiten zu, allerdings ließ sie wie selbstverständlich Namen und Daten fallen, die er nicht kannte. Jedes Mal fühlte er sich wie ein dummes Kind, das man vorführte.

»Ein Eroberer, der Frankreich jahrelang anführte. Ist gefühlt eine Ewigkeit her und deswegen weiß ich nicht, wie es zurzeit in Paris aussieht. Was erzählt sich denn die Kontinentalarmee?«

Leon versuchte, sich zu erinnern und fuhr sich mit der Hand über den Nacken. »Na ja, die restlichen europäischen Verwahrstellen haben uns nur gelegentlich aufgeklärt. Aber es gab Gerüchte über diese Dämonen, die in einigen Städten Europas Widerstand leisteten.«

Tavi stieß ihn an, als er nicht weiterredete. »Nun sag schon.«

Sie hakte sich mit dem Arm bei ihm ein und er zog ihren Arm an sich heran. Ihre Nähe löste diese Gefühle in ihm aus, die sich wie tausend Irrlichter in seinem Körper ausbreiteten.

»Ach, ich weiß nicht, was überhaupt davon stimmt«, antwortete Leon und kickte beinahe zufällig einen Kieselstein weg, der an einem Baum abprallte und die Blätter eines Busches zum Rascheln brachte. »Vermutlich nur die Hälfte. Angeblich soll es in dem einen oder anderen Ort Kämpfe gegen die Kontinentalarmee gegeben haben. Alles Gerüchte.«

Auf einmal blieb sie stehen und starrte ihn an. »Warum hast du das vorher nie erwähnt?«

»Es tut mir leid. Aber ich glaube nicht, dass die Dämonen und Hexen mit ihren Kräften eine große Chance haben. Warum sollten die Saiwalo das dulden?«

Leon legte eine Hand zwischen ihre Brüste und fühlte ihren Herzschlag. Es hörte sich gesünder an, stolperte nicht mehr wie noch vor einigen Wochen. Immer wieder hatte er seine Finger in der Nacht auf ihre Brust gelegt, um dem Klang ihres Herzens in sich aufzunehmen. Ihn auswendig zu lernen. Er liebte den Takt. Allerdings spürte er auch, dass etwas gleich einem schweren Felsen den Rhythmus anhielt und es nicht so frei tanzte, wie es wollte. Und Leon wusste genau, dass auf dem Stein Nathans Name stand.

»Weil sie eben nicht alles sehen.« Tavi schob seine Hand beiseite. Vielleicht hatte sie seine Geste als Annäherungsversuch gewertet oder einfach als merkwürdige Eigenheit seines neuen Ichs. »Leon, du musst nachdenken, was du als wesentlich erachtest und was nicht. Hast du überhaupt einmal bedacht, dass es wahr sein könnte?«

Leon schürzte die Lippen. Immer dieser Vorwurf, nicht nachzudenken. Er strengte sich doch bereits an. Er schnaubte und schluckte die aufkeimenden Wünsche nach einem Streit hinunter. Ihm war in diesem Moment nicht danach, mit Tavi zu diskutieren. »Schuldig im Sinne der Anklage. Wie sieht Ihr Urteil aus?«

Tavi strich eine Strähne nach hinten und band sich einen Zopf aus dem Gummi, das sie seit Monaten um ihr Handgelenk trug. »Eine Strafe. Mhm. Lass mich überlegen. Ich denke, Sie, lieber Leon Mallon, verurteile ich hiermit zu einer lebenslangen Diät.« Tavi pikste ihm mit dem Zeigefinger in den Bauch und schmunzelte.

»Wieso das?« Gespielt finster schaute er an sich hinunter. »Bin ich dir etwa zu … dick?«

Mit dem Daumen und Zeigefinger kniff sie ihm in die Seite. »Ein bisschen Babyspeck hast du schon angesetzt.«

»Ich darf ja wohl bitten, liebe Frau Ich-verändere-mein-Aussehen-nach-jeder-Wiedergeburt. Nicht alle besitzen das Glück, sich den Körper zurechtformen zu können.«

Amüsiert kniff Tavi noch einmal hinein. »Anscheinend habe ich da einen Nerv getroffen.«

»Ich verteidige mich nicht, ich erkläre nur, wie es wirklich ist. So, sag mir jetzt meine Strafe. Ich bin bereit.«

Die letzten Sonnenstrahlen verirrten sich in ihren Wimpern und strahlten ihn an, als sie sich vor ihm aufbaute und zu ihm aufsah. »Du wirst deine Kräfte nicht mehr an mir nutzen. Einverstanden?«, sagte sie und hielt ihm symbolisch die Hand hin.

Er runzelte die Stirn und fragte sich, wo diese Forderung auf einmal herkam. Woher wusste sie, dass er jedes Stolpern, jedes Schluchzen in ihrem Herzen las?

»Seit wann weißt du es?«

Tavi entwand sich seinem Griff. »Anfangs fiel es mir nicht auf. Vor ein paar Wochen spürte ich eine Gegenwart in meiner Brust. Es dauerte einige Tage, bis ich verstand, dass du es bist. Warum tust du das, Leon? Du könntest mich einfach fragen.«

Leon biss sich auf die Lippen. »Hättest du dann wahrheitsgemäß geantwortet? Ich weiß, wie es in dir aussieht, was du durchmachst und was dich beschäftigt.«

»Bist du dir da sicher?«, unterbrach sie ihn. »Aber vielleicht möchte ich diejenige sein, die es dir erzählt, wenn ich soweit bin.«

Sie ging einfach an ihm vorbei, er folgte ihr. Und sie schwiegen. Wenig später trafen sie auf einen Weg, der als einfacher Händlerweg die zwei Ortschaften miteinander verband - bereits ausgebaut für Magnetschweberwagen, aber selten genutzt. Viel eher nutzten es die Bauern, um mit ihren Kutschen und Karren in die Stadt zu ziehen.

Am Rand der Straße wuchsen Büsche, die ihren Weg wie breite Wärter bewachten. Stumm begleiteten sie die beiden über die Straße, winkten ihnen mit ihren mickrigen Ästen hinterher, wann immer ein vereinzelter Windhauch durch die Blätter fuhr.

Der Wind riss an der Spannung zwischen ihnen. Leon spürte, wie jeden Augenblick Tavis Geduldsfaden reißen konnte. Wieso musste er all das empfinden? In solchen Momenten wünschte er sich seine Blindheit zurück, die ihn sein Menschenleben lang begleitet hatte – eine Spur Kälte, Selbstgenügsamkeit und nur dem eigenen Willen unterworfen. Dann hätte er jetzt keine Probleme mit Tavi. Die Emotionen überschwemmten ihn jedes Mal. Zwar hatte Leon inzwischen gelernt, wie er aus Tavis Herzen lesen konnte, aber Kontrolle über die Fähigkeit besaß er deshalb nicht. Und das ärgerte ihn. Besonders jetzt, da Tavi Recht hatte.

»Es tut mir leid. Natürlich sollst du mir erzählen, was dich beschäftigt.« Er versuchte zu ihr aufzuschließen. »Ich gebe mir Mühe, keine meiner Kräfte mehr an dir anzuwenden.«

»Danke, Leon.« Tavi lächelte und es wirkte sogar ehrlich gemeint. »Das bedeutet mir sehr viel.« Sie ertastete seine Hand und drückte sie. Augenblicklich durchzuckte ihn eine Empfindung, die nicht seine war. Doch er unterdrückte den Impuls, dieser nachzufühlen. Stattdessen zwang er sich zu einem Lächeln.

»In Ordnung«, sagte Leon. Und jetzt komm her. Zu fett also, mhm?«

Sie folgten dem Weg, neckten einander, bis sie zu einer nächtlichen Händlerkarawane aufschlossen. Drei vollbeladene Karren, die auf simplen Magnetschwebern über die Straße surrten. Sie waren lauter als die Magnetschweber, die Leon aus den Wagen der KA kannte. Allerdings wirkten die riesigen Aluminiumrohre unter den Karren wie Fässer auf denen die einfache Holzkonstruktion geschoben wurde. Neun Personen liefen neben den drei Karren. Zunächst verstand Leon wegen des Lärms nicht, was sie sagten, bis sie näherkamen. Es ging in der Diskussion um die Themen Essen und die Figur von Frauen. Leon belauschte ein Gespräch in dem sie sich darüber unterhielten, dass die Ehefrau einer der Händler seine Ernährung umgestellt hatte.

»Ich darf in dieser Woche nur noch grünes Gemüse essen«, jammerte er und fuhr sich dabei über die speckige Stirn.

Leon grinste und zog Tavi an sich heran. Wie ihr leibeigener Beschützer legte er den Arm um ihre Schultern.

»Grüßet die Saiwalo«, rief ihnen einer der Fuhrleute zu.

»Grüßet ebenfalls«, sagte Leon, als Tavi nicht darauf reagierte. Hier auf dem Land nahmen sie die Sitten ernster, was die Begrüßung anging. In Hamburg hatte kaum jemand den traditionellen Saiwalogruß genutzt, wenn man sich traf. Oder die Händler wollten nur vorsichtig im Umgang mit Fremden sein, was Leon gut nachvollziehen konnte. Immerhin standen zwei Seelenlose vor ihnen und die Fuhrmänner wussten es nicht einmal.

»Was macht ihr auf dieser Straße?« Die Speckstirn drehte die Geschwindigkeit am Ruder des improvisierten Antriebs, um mitzuhalten. Leon wollte geradewegs an der Gruppe vorbeischleichen, aber anscheinend war der Kerl in Plapperlaune.

»Wir reisen nach Paris, um dort ein neues Leben anzufangen«, leierte Leon ihre übliche Geschichte herunter. Nur das Ziel änderte sich jedes Mal.

»Ihr habt Reisepapiere bekommen?«, fragte der Mann überrascht und hob seine Plasmalaterne höher, um Leon besser sehen zu können.

»Ja, ich arbeite in der Kontinentalarmee und wurde dorthin versetzt.« Wie so oft, sogen die Menschen in Hörweite zischend die Luft ein, sobald sie von der KA hörten. Leon fühlte sich dabei wie ein Staatsoberhaupt aus den alten Geschichten von Tavi und hätte sich kaum gewundert, wenn sich die Menschen verbeugt hätten. Dabei hatte er nie Kontakt zur Regierung gehabt.

»Tja, in Paris wird wohl jeder Mann gebraucht!«, murmelte ein anderer Händler.

Leon hob den Kopf und verlangsamte sein Tempo. »Wieso das?«

Die Speckstirn musterte ihn von oben bis unten. »Haben sie dir etwa nicht erzählt, wohin du versetzt wirst?«

Ohne zu überlegen, suchte er die Empfindungen der Fuhrleute ab. Er durfte dabei nur nicht auffallen. Einen Hinweis darauf, was ihn in Paris erwartete, konnte er gut gebrauchen. Doch er fand nur Angst, Argwohn und Müdigkeit in den Männern.

»Natürlich weiß ich das. Ich frage mich nur, was ihr Neues wisst. Wir sind seit einigen Wochen zu Fuß unterwegs und wissen nicht, was in dieser Zeit passiert ist.«

Leon hoffte, dass sie so eine Auskunft erhielten und sich dennoch nicht verrieten.

»Ein Saiwalotreuer auf der Straße? Fehlt es der Armee an Gyrokoptern?«, mischte sich ein langer, schlaksiger Mann mit einer breiten Narbe über der Nase ein. Sofort ertönte dumpfes Gelächter aus allen Richtungen.

»Nein, meine Versetzung beginnt erst im Mai und meine Frau wollte schon immer mehr als nur Hamburg sehen, also bat ich um Urlaub. Was soll ich sagen … sie gewährten ihn mir. Ehre den Saiwalo«, beendete er den Satz wie es sich gehörte, wenn von einer guten Tat ihrer Regierung die Rede war. Das Gelächter der Männer verstummte, einer verschluckte sich sogar daran und hustete irgendwo hinter einem der hinteren Karren.

»Ehre den Saiwalo«, ertönte es halbherzig aus fünf oder sechs Männerkehlen.

»Was ist in den letzten Wochen passiert?«, bohrte Leon nach.

Einen Moment herrschte Schweigen, bis auf das durchgängige Surren der Magnetkarren.

Die Speckstirn verzog den Mund, antwortete aber: »Die Seelenlosen verschwinden immer zahlreicher oder werden umgebracht. Bestimmt ein halbes Dutzend sind schon tot und man vermutet die Waffensammlerin der Armee dahinter.«

»Wer ist …?«

Tavi kniff Leon in den Arm, um ihn am Weitersprechen zu hindern. Ihre Hand blieb dabei auf seinem Unterarm liegen.

Natürlich. Da es eine KAlerin ist, verrate ich mich, schoss es ihm durch den Kopf. »… auch so verrückt und legt sich mit ihr an?«, beendete er den Satz. Gleichzeitig wunderte er sich, wer die Waffensammlerin wohl sein mochte. Aus Hamburg kannte er den Titel nicht. Das bedeutete, dass sie nur in Paris bekannt war.

»Scheinbar einige von diesen dämlichen Seelenlosen. Die legen sich mit ihr an. Gleichzeitig gab es noch nie so viele Morde in Paris.« Die Speckstirn schüttelte den Kopf.

»Tja, geschieht ihnen Recht!«, sagte der Händler mit der Narbe. »Immerhin haben sie unser aller Situation zu verantworten!« Mehrere Händler nickten und einer rief sogar »Jawoll!«

Leon brauchte Tavis Herz nicht zu lesen, um zu wissen, dass diese Fuhrleute sie aggressiv machten. Der stramme Griff an seinem Arm verdeutlichte es dabei nur.

»Tja, so oder so - es ergeht ihnen in Paris wohl nicht besonders gut. Umso besser, dass ich versetzt wurde. Dann werde ich bestimmt bald meine Ruhe vor den Seelenlosen haben.« Leon beschleunigte seine Schritte. Am liebsten wollte er sofort umkehren und nicht mehr nach Paris hinein. Wenn jemand dort die Seelenlosen ermordete, gab es in der Tat keinerlei Sicherheiten. Einige Zeit zuvor hätte es ihm eine innerliche Freude bereitet, Tavi darauf hinzuweisen, dass er früher am Tag Recht gehabt hatte. Doch an diesem Tag sorgte er sich nur, ob sie nicht in eine Falle liefen.

Einer der Fuhrleute versuchte ihn wieder in ein Gespräch zu verwickeln, aber Leon marschierte weiter, versuchte schneller zu sein.

»Wieso lauft ihr nachts?«, fragte Narbennase und trat näher, offensichtlich aus echtem Interesse.

Leon verzog unangenehm berührt das Gesicht. Warum mussten sie ausgerechnet auf eine Gruppe neugieriger Händler treffen? Hätten es nicht auch schweigsame getan? »Es ist angenehmer und die Straßen sind nicht so überlaufen«, gab Leon mit Nachdruck zurück. »Außerdem hält uns meistens niemand auf.«

Diesmal verstanden die Fuhrleute den Wink und ließen an Tempo nach. Speckstirn verringerte das Tempo seines mit Steckrüben beladenen Karrens durch den einfachen Dreh an einem Rad. Leon und Tavi beschleunigten ihre Schritte und entfernten sich nach und nach von den Fuhrleuten.

»Meinst du, die haben was bemerkte?«, fragte Tavi, als sie außer Hörweite waren.

»Nein, was sollten sie denn auch merken? Solange kein Geisterwächter unseren Weg kreuzt, sind wir in Sicherheit.« Leon murmelte die Worte nur, denn mit einem Mal war er selbst nicht mehr davon überzeugt. Der Weg nach Paris erschien ihm mit jeder Minute unsicherer. »Oder erkennen uns Menschen?« Er dachte an den Moment zurück, in dem er in Hamburg das erste Mal einen Handabdruck auf einer der Leichen gesehen hatte. Er stutzte. Er hatte diese Situation verdrängt, aber jetzt wusste er nicht, ob vielleicht auch andere Menschen sehen konnten.

Tavi lehnte sich mit dem Kopf an seinen Arm, während er weiterging. »Nur Leute, die das dritte Auge in sich tragen, bemerken deine Aura. Das habe ich dir bereits erklärt.«

»Bist du dir sicher?«, fragte Leon.

»Natürlich. So war es schon immer. All die Jahrtausende.«

»1913 hat nichts geändert? Du hast erzählt, dass die Auren nicht mehr felsenfest mit den Körpern verbunden sind. Also kann es doch sein, dass normale Menschen sie ausmachen können, oder?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Die Aura zu sehen, ist eine Gabe, die in den betreffenden Personen lebt. Wo genau dort, weiß ich nicht, aber vermutlich nicht im Kopf.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Leon.

»Das Experiment hat das Gehirn verändert. Auf welche Weise das funktioniert, kann ich dir auch nicht erklären. Wenn Katharina hier wäre, könnte sie dir vermutlich eine ausführlichere Erklärung liefern.«

Leon spürte, dass allein die Erwähnung des Namens Katharina eine innere Anspannung in ihr auslöste, die sich sofort in eine Verkrampfung von Schultern und Nacken verwandelte. Er stellte seine Fragen zu dem Erblicken von Auraflecken hinten an und wollte sich gerade um ihre Spannung kümmern.

Doch dann stieß sie ihn unverhofft an. »Woher kommt diese Wissbegier auf einmal?«

Er schluckte. Konnte eine Phoenix Gedanken lesen? Nein, das wusste er sowohl von seiner Mutter, die ihm das bereits als kleiner Junge erzählt hatte, als auch von Tavi. Er kannte all ihre Fähigkeiten aus ihren Erzählungen, bis auf eine. Die eine, die Tavi selbst nicht verstand und deshalb nicht darüber redete. Einen Fehler in der Natur nannte sie es nur und überging das Thema geflissentlich. Seitdem sie geflohen waren, hatte sie nicht ein einziges Mal versucht, diese neue Kraft zu kontrollieren oder sie einzusetzen. Leon hatte ein paar Mal versucht, sie dazu zu bringen, es zu probieren, aber jedes Mal blockte Tavi ab, als wäre sie eine eiserne Mauer.

»Ich frage nur, weil mir einfiel, dass ich die Flecken gesehen habe. Heißt das, dass ich als Mensch schon das dritte Auge in mir trug?«

»Vermutlich«, sagte sie und zuckte mit den Schultern. Der Mond tauchte hinter den Wolken auf und erhellte den Weg unnötigerweise vor ihnen, so dass Leon weiter sehen konnte, als seine armselige Nachtsicht ihm erlaubte. Er erkannte alles was mehrere Meter entfernt lag, während Tavi in der Dunkelheit anscheinend die halbe Umgebung genau erkennen konnte. Er bewunderte Tavi für diese Fähigkeit.

»Warum holten mich die Saiwalo also nicht als Kind, um mich zum Geisterwächter auszubilden? Ich meine, sie brauchen doch jeden.«

»Keine Ahnung. Vielleicht lag in deinem Können zu wenig Kraft? Oder jemand wollte nicht, dass du einer von denen wirst.« Tavi suchte den Himmel ab, wie sie es immer tat, wenn sie reisten. Es schien ihr in Fleisch und Blut übergegangen zu sein, denn Tavi merkte meist nicht einmal, dass sie es tat.

»Nicht wollen?« Dann hätte seine Mutter ja … Nein! Er bezweifelte, dass sie das verhindert hätte. Immerhin wäre es der größte Stolz, ihren Sohn nahe den Saiwalo zu wissen. »Apropos Frauen, die mir unsympathisch sind: Wer ist diese Waffensammlerin?«, fragte er, um von seiner Mutter abzulenken.

»Ich habe noch nie von ihr gehört. Muss wohl jemand Neues in der KA sein.« Tavi drehte sich um, ging mehrere Schritte rückwärts und suchte weiter nach Drohnen und Gyrokoptern.

»Aber klingt gefährlich! Es verschwinden und sterben Seelenlose in Paris.« Leon wusste, dass Tavi der Vorschlag nicht gefallen würde, dennoch machte er ihn. »Vielleicht sollten wir woanders hingehen.«

»Nein!«, rief Tavi und Leon konnte ihr Herz schlagen hören. Es musste sehr wichtig für sie sein, dass sie nach Paris reisten.

Zunächst sagte er nichts. Erst als Tavi ihre Entscheidung nicht begründete, hakte er nach. »Wieso nicht? Es ist gefährlich.«

»Eben darum. Wenn dort andere Seelenlose gefangen werden, müssen wir ihnen helfen.«

»Wieso sollten wir? Was können wir zwei schon ausrichten?« Eine Phoenix, die mental nicht stabil war und ein Cupido, der seine Fähigkeiten nicht ansatzweise beherrschte. Keine besonders gute Hilfe.

»Genau diese Denkweise sorgt dafür, dass es bis heute keinen vernünftigen Widerstand gegen die Saiwalo gibt. Jeder KAler denkt, er könnte allein nichts schaffen. Wenn sich aber alle, die so denken, zusammenschließen würden, dann wären sie stärker als jede Armee der Welt.«

Leon wollte etwas Passendes erwidern, doch ihm fiel nichts ein. Die Sorge um Tavi breitete sich in ihm aus und ertränkte seine Gedanken, bis kein Raum für andere Argumente blieb. Plötzlich stieß Tavi ihm ihren Ellenbogen in die Rippen. »Such Deckung. Da oben ist eine Patrouille.«

»Verdammt. Hier ist offenes Feld. Wie soll ich da ein Versteck finden?«, rief er, löste sich aber aus ihrer Umarmung und rannte geduckt herum.

»Keine Ahnung. Überleg dir was!«

Leon zuckte zusammen. Der nächste Baum schien zu weit entfernt zu sein. Er würde ihn vermutlich nicht erreichen können, bevor die Wache über ihnen schwebte. Da kam ihm eine Idee. »Schnell, gib mir deine Klamotten.« Er streckte die Hände aus und riss an ihrer Jacke.

»Gute Idee.« Leon half ihr, aus der Bluse zu schlüpfen. Nur um sie sich um das Gesicht und den Hals zu wickeln und im Anschluss seine Finger in seinen Hosentaschen verschwinden zu lassen. Langärmlige Oberteile gaben einem Seelenlosen Schutz – das wusste er seit seinem ersten Tag, seit er vor seinen früheren Arbeitgebern wegrannte.

»Sieht man meine Aura noch?«, fragte er und spuckte dabei ein Stück von Tavis Stoff aus dem Mund. Ihr rauchiger Duft stieg ihm in die Nase und betäubte seine Sinne durch die Intensität.

»Warte.« Mit den Fingerspitzen strich sie über seinen Rücken, während sie einmal um ihn herumging. »Nein. Bleib stehen, bis sie vorbei sind.«

»Und was, wenn die Fuhrleute uns einholen?«

»Das werden sie nicht und jetzt schweig. Du weißt nicht, ob sie Lautmacher an Bord haben.«

Leon schluckte bei dem Gedanken an die steigende Technologie der Gyrokopter. Lautmacher fingen Geräusche auf und bereiteten ihrem Namen alle Ehre. Ein einziges Mal hatte er in seiner Ausbildung eine dieser Maschinen erlebt. Selbst das Schnauben eines entfernten Tieres hatte er hören können - es hatte geklungen, als ob es direkt neben ihm gestanden hätte. Als dann auf einmal ein Versuchshund in den Lautmacher gebellt hatte, waren Leon und viele seiner Kollegen vor Schreck aufgesprungen.

»Dann lass uns reden.«

»Und worüber bitte? Wir sind wohl kein normales Paar mit normalen Gesprächsthemen«, murmelte er zurück. Leon widerstand der Versuchung in ihre Bluse zu beißen, um den rauchigen Geruch auch auf der Zunge zu schmecken.

»Eventuell sollten wir das mal ausprobieren.« Sie schwiegen sich an. Leon überlegte, worüber sie sonst hätten reden können. Über Tavis und seine Vergangenheit - was damit geendet hätte, dass er sich wieder wie ein kleiner dummer Junge gefühlt hätte. »Fürs Erste: Was meinst du, warum die Fuhrleute mit einem solch alten Magnetschweberkarren unterwegs sind? Gibt es denn nicht ausschließlich die Felder der Kontinentalarmee?«, fragte sie mit misstrauischem Unterton.

»Ich bin mir nicht sicher. Möglicherweise fehlt es hier an Geld oder Marken, um alles zu kaufen. Und worüber denkst du eigentlich wieder nach?« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass du Vieles hinterfragst, aber einen alten Karren?«

»Beweg dich nicht, sonst löst sich die Bluse in deinem Nacken.«

Leon reckte ihr den Hals hin, damit sie den Stoff erneut festzurren konnte. »Und jetzt psst. Sie schweben fast über uns. Nur ein Gyrokopter. Lass uns weitergehen. Fass mich an der Hand, ich führe dich.«

»Machst du das nicht schon, seitdem ich dich das erste Mal getroffen habe?«, fragte er und grinste.

Von ihr kam keine Antwort. »Tavi?«

»Psst. Sei endlich still.« Die Anspannung kroch aus ihrer Stimme in sein Ohr und schlug auch auf ihn über. Warum fürchtete Tavi sich vor einem Gyrokopter? Entweder hatte er in seinem Leben zu viele davon gesehen oder Tavi besaß mehr Erfahrung mit ihnen, als er bisher ahnte.

Erst als sie ihn mit ihren Fingern unter die Bluse streichelte und seine Bartstoppeln kraulte, reagierte er. Sie hob den Stoff von seinem Kopf und zog sich an. Leon erhaschte einen Blick auf ihre seidig warme Haut, die im bläulichen Mondlicht beinahe so grell wie eine Aura strahlte. Wie er diesen Anblick liebte. Sein Herz flatterte, ebenso wie die Flügel in seinem Rücken leicht juckten, als ob sie herausbrechen wollten. Er vergrub seinen Fuß und seine Gedanken in den Kiesweg, um sich mit etwas anderem zu beschäftigen als seinen überbrandenden Gefühlen. Er konnte sie wohl kaum auf dem offenen Feld nehmen. Seine Wangen glühten. Oder doch?

»Sie fliegen weg. Wir können weiter.«

Leon biss sich auf die Zunge und verdrängte seine Erregung, indem er an das siebte Mordopfer aus Hamburg dachte und sich an das Blut auf dem toten Körper erinnerte. Diese Empfindung gehörte nicht hier her, sie waren schließlich auf der Flucht. Verdammt, seine Liebe ihr gegenüber würde ihn irgendwann noch mal in Schwierigkeiten bringen!

Er räusperte sich. »Das dachte ich mir.« Und er nahm sie bei der Hand. Leon ertastete Hitze, die von ihr ausging, stärker als je zuvor. Diese Wärme in der kühlen Nacht dehnte seine Haut aus und baute eine angenehme Gänsehaut auf. Seine Finger glitten über ihr Handgelenk bis zu ihrem Hals nach oben.

»Alles in Ordnung? Du glühst.«

»Mir geht es gut. Lass uns gehen. Und zwar nach Paris!«

Sie ließ ihn los und marschierte voraus, ohne sich zu ihm umzudrehen. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Und seine stand seit der ersten Nacht ihrer Flucht fest. Er würde Tavi beschützen und sie begleiten. Leon würde alles tun, damit sie in Sicherheit blieb. Und wenn es bedeutete, dass er ihr nach Paris folgen musste, um sie vor einer gefährlichen KA-Soldatin zu schützen, dann würde er es tun. Selbst seinen Tod würde er für sie in Kauf nehmen. Erneut.

Leon folgte ihr - allerdings mit der vagen Gewissheit, dass sie nicht dasselbe für ihn tun würde.

 

Aussicht auf Paris

Tavi

 

Schon von weitem hörte Tavi seltsame Geräusche. Sie waren bereits seit mehreren Wochen unterwegs. Auf der langen Strecke hatte sie das Zeitgefühl verloren. Zu tief war sie mit Leon in Gespräche über seine Gestalt als Cupido oder Vermutungen über den Untergrund versunken, der sie in Paris erwartete. Dennoch hatten sie viel geschwiegen. In der Zeit hatte Tavi an ihre Kinder gedacht. Ihre beiden Jungs.

Auch jetzt redeten sie nicht, obwohl sie beide als einzige über den Pfad abseits der Hauptstraßen wanderten. Den Gerüchen nach zu urteilen, näherten sie sich Paris. Eine Mischung aus Unrat und Flieder. Tavi hatte dieses Aroma schon 1918 bewundert, damals als sie mit letzter Hoffnung nach Paris gereist war. Ein Datum, das sie Leon bei seiner Frage vor einigen Wochen verschwiegen hatte. Wie konnte eine Stadt gleichzeitig nach einer Pflanze duften und dazu wie ein Müllberg aussehen?

Außerdem tauchten verrostete Straßenschilder auf, die die kommenden Ortschaften anzeigten. Auf wenigen konnte sie seit einigen Stunden mit Müh und Not das mit rotem Rost überzogene Paris lesen. Je näher sie kamen, desto mehr verkrampften sich Leons Finger. Sie drückte seine Hand und streichelte mit ihrem Daumen über seine Haut. Dennoch beruhigte er sich nicht.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie nach einer Weile.

»Ja, es ist nur …« Er zuckte mit den Schultern. »Hörst du auch dieses Geräusch?«, fragte er und entriss seine Hand ihrem Griff und steckte sie in die Tasche.

Tavi nickte. »Ein Fiepen und ein langes Schrillen. Ich weiß nur nicht, wo es herkommt. Ich habe so etwas noch nie gehört.«

»Genau«, sagte Leon. »Nur mit dem Unterschied, dass ich den Klang kenne, aber nicht von hier.«

Tavi zog ihn in den Schatten eines Baumes und musterte ihn verwirrt. »Woher?«

»Als ich früher auf der Nordsee 17 gearbeitet habe - du weißt schon, eine von diesen Stromförderplattformen, die gleichzeitig Wind- und Wasserstrom produzieren - da gab es eine Maschine, die solch ein Geräusch von sich gab. Tagsüber schalteten die Männer sie ab. Nur die Nachtschicht betätigte sie.« Er kaute gedankenverloren auf seiner Unterlippe herum.

»Und was war das für eine Maschine?«, fragte sie, als er nicht antwortete.

»Ähm, also ich weiß es nicht genau. Sie surrte und gab immer dieses fiese Ziehen ab, das sich mir bis in die Zahnwurzeln bohrte. Iiiihrrrrgggh. So in etwa.« Er zuckte mit der Schulter. »Ich musste sie nie betätigen und ich habe auch nie nachgefragt.«

»Eine nervige Angewohnheit!« Tavi warf die Arme in die Luft und stemmte sie gleich darauf in die Hüfte. »Ihr hinterfragt in diesem Jahrhundert auch gar nichts. Kein Wunder, dass diese erdverachtenden Saiwalo es so leicht mit euch Menschen haben.«

»Ich korrigiere dich nur ungern: ich bin kein Mensch.« Leon hielt inne. »Mhm, seltsam das zu sagen.«

Tavis Zorn auf die Bewohner aus diesem Jahrhundert verflog augenblicklich und sie trat näher an ihn heran. »Das stimmt. Noch vor einem Jahr hast du mich und meinesgleichen gejagt. Und schau dich jetzt an: Passe ich nicht auf, fliegst du mir davon. Okay, vielleicht können sich manche ändern, aber auch du musstest erst ein Cupido werden, um es zu begreifen.«

Sie reckte sich zu ihm hoch, umschlang seinen kräftigen Oberkörper mit beiden Armen und strich über den muskulösen Rücken. Seit der Verwandlung hatte sich sein Körper an einigen Stellen verändert. Keine ausschlaggebenden Sachen wie die Größe oder die Augenfarbe, aber er war kräftiger geworden, hatte jetzt Muskeln an Stellen, die vorher nicht ausgebildet waren. Und seine Lippen waren voller geworden, wie sie bei jedem seiner Küsse feststellte. Leon ging auf ihren Kuss ein und hielt sie einige Herzschläge lang unnachgiebig im Arm, ehe er sie von sich schob. »Aber was ist der Zweck dieser Maschine? Und wenn sie sonst auf Plattformen steht, warum baut man sie hier in Paris auf?«

»Gute Frage. Aber das finden wir nur heraus, wenn wir die Seelenlosen vor Ort befragen. Dieses Geräusch muss bei der Lautstärke schließlich durch halb Paris dröhnen. Ein weiteres Mysterium, das wir beide lösen werden, nicht wahr?« Bei den letzten Worten riss sie die Augen auf und machte ein überraschtes Gesicht, als ob sie etwas Aufregendes vor sich hatten, das sie aber nicht ganz so ernst nahm.

»Solange nicht wieder jemand stirbt, gerne.« Er schmunzelte und zwinkerte ihr zu.

Tavis Gesichtszüge entglitten und sie schluckte schwer. Sie wusste, wie er das meinte. Dennoch dachte sie dabei an Nathan.

»Entschuldige, das wollte ich nicht!« Leons Mimik erinnerte sie an einen Hund, den sie vor über zwei Jahrhunderten als Begleiter für ihre Kinder ausgesucht hatte.

»Wir werden sicherlich die Lösung finden«, schob er rasch hinterher. »Und wir werden uns in Paris gut zurechtfinden. Du kennst dich hier ja aus.«

Es brauchte einige Zeit, ehe Tavi antwortete. Allein der Gedanke daran, dass es erneut Tote geben könnte, weil sie sich in Dinge einmischte, die sie nichts angingen, ließ ihre Glieder zu Eis erstarren. Nathan könnte noch leben, wenn sie darauf bestanden hätte, gleich aus Hamburg zu verschwinden. Stattdessen hatte sie seinem Drängen nachgegeben und jetzt befand er sich im Jenseits, unerreichbar für sie. »Natürlich tun wir das. Aber dazu müssen wir uns dort hineinbegeben.« Sie deutete mit dem Kopf hinter sich und zog an seinen Händen, um ihn zum Gehen zu bewegen, und er folgte ihr.

Stunden später erreichten sie die Vororte von Paris. Seltsamerweise hörten sie das Geräusch später nicht mehr.

»Ich weiß nicht genau«, murmelte Tavi. »Vielleicht ist es ein Schutzschild oder so etwas. Wieso sonst sollte es hier aufhören?«

»Wahrscheinlich hast du Recht. Deswegen gab es wohl keine Vögel auf der Plattform. Vogeldreck mussten wir jedenfalls nie wegmachen.«

»Ja, aber ein Schutzschild gegen was?«, fragte Tavi und blickte zum Himmel.

»Gegen uns?«, schlug Leon vor.

»Warum? Glauben sie ernsthaft, dass wir über die Luft in die Stadt eindringen?«

»Jede Möglichkeit ausschließen«, murmelte Leon und sein Blick verschleierte sich einen Moment lang.

»Was?«

Leon schüttelte den Kopf und winkte ab. »Ach schon gut. Nur ein Spruch meiner Mutter.«

Tavi nickte. Die Stadt unterschied sich deutlich von Hamburg. Nichts schien einem Ordnungsprinzip zu folgen. In Hamburg gab es die Bezirkszäune und Beleuchtungen, die alles fein säuberlich voneinander trennten, hier herrschte Chaos. Zwar zogen sich Zäune durch den Ort, aber nicht so koordiniert wie in Hamburg. Einige Zäune waren eingerissen, seit Monaten hatten die Straßen vermutlich keinen Reinigungsmagneten gesehen, der zumindest den gröbsten Unrat auflas. Beinahe vermisste Tavi diese Ordnung, die zumindest viele Dinge berechenbarer machte.

Von einer kleinen Anhöhe in einem der Vororte konnte sie einen Teil der gigantischen Ortschaft erkennen. Die weißen, zum Teil zerstörten Häusermauern wirkten wie Geisterhände, die sich aus dem Boden erhoben. Die Bäume in den Straßen stützten die Hände, hielten sie aufrecht. Einige der Stromfabriken ragten wie Eiterbeulen aus den Geisterhänden hervor, drohten zu platzen und ihre ätzenden Innereien über die Stadt zu entladen - eine sterbende Stadt, die um ihr Überleben kämpfte.

In kaum einem Bereich brannte Licht, um den Rest der Dunkelheit der Nacht zu erhellen und wenn, dann strahlte allerorts dieselbe hellblaue Plasmafarbe zurück. Tavi schüttelte den Kopf. Bisher hatte sie angenommen, dass die Saiwalo die Städte überall nach dem Vorbild Hamburgs gestalteten. Dafür gab es in Paris etwas, was in ihrer vorherigen Heimat nicht alltäglich vorkam. Lichtblitze verschwanden in den Wolken, gefolgt von einem Knall, der durch die Gassen fegte. Tavi hielt sich die Ohren zu und ein grauhaariges Menschenpaar eilte Hand in Hand, mit einer Jacke über dem Kopf, an ihnen vorbei. Die heruntergezogenen Mundwinkel in ihren Gesichtern schienen von Angst und Trauer in ihre Gesichter gemeißelt worden zu sein. So schnell, wie sie auf der Straße aufgetaucht waren, verschwanden sie auch wieder, ohne sich auch nur einen Deut um Leon oder Tavi zu kümmern.

»Ist das Paris?«, fragte Leon.

»Ich bin mir nicht sicher«, gab sie ehrlich zurück. In der Dämmerung erkannte sie nicht jede Einzelheit, aber sie glaubte die zerstörte Spitze eines ehemaligen Prachtbaus zu erkennen.

»Doch, das hier ist Paris. Zumindest war es das mal. Vor fast 150 Jahren gab es hier Straßencafés, wunderschöne Märkte auf denen Künstler jeder Art ihr Leben genossen und Menschen, die für die Liebe beinahe alles taten. Siehst du dort hinten die Ruine, die zackig an drei Ecken in die Höhe ragt?« Mit der Hand leitete sie seinen Blick.

»Ist das der … warte … ich weiß, wie er heißt … Ein Turm, schon verdammt alt, aus der Zeit vor dem Experiment.« Leon legte zwei Finger an die Stirn und massierte sie. »Der Eiffelturm?« Nach Lob haschend wandte er den Kopf in ihre Richtung, statt den Turm anzusehen.

»Genau. Der Eiffelturm oder besser gesagt: das was von ihm übriggeblieben ist.«

»Was ist damit passiert?«, fragte er.

»Ist im ersten Krieg mit Amerika zerstört worden – soweit ich weiß. Eine Eddisonbombe ist genau im Eiffelturm eingeschlagen und hat das Metall für Monate unter Strom gesetzt. Das hielt die Konstruktion nicht aus. Teile davon sind einfach zusammengebrochen.«

»Wahnsinn!«, rief er.

Tavi spürte, wie Leons Aura interessierter aufleuchtete, beinahe so, als ob seine Aura selbst nach dem Eiffelturm greifen wollte, um ihn abzutasten.

»Das trifft es«, sagte sie, »dennoch erklärt es nicht, wieso die Stadt sich so verhält. Explosionen? Die Saiwalo haben eigentlich weniger offensichtliche Methoden. Sie sind subtil wollen keine Aufmerksamkeit und halten ihre tatsächlichen Absichten geheim. Es sollte keinen dröhnenden Lärm wie von einer Bombe oder Schusswaffe geben. Das entspricht wohl kaum ihren totalitären Maßstäben.« Tavi lauschte noch einmal von der Anhöhe in die Straßen hinein. Aus einem ihr unerfindlichen Grund hörte sie kaum etwas anderes außer lauten Knallgeräuschen und sah nur ab und an einen Lichtblitz aufflammen. Dabei erwachte die Stadt aus dem Nachtschlaf und bot die alltäglichsten Geräusche.

»Hier sieht es wie in einem Kriegsgebiet aus«, sagte Leon. »Willst du wirklich dort hinein?« Seine Finger strichen über sein Bein. Eine Menge Grasflecke zierten seine dunkle, hautenge Hose, aber Leon störte sich nicht daran. Er nahm einen kleinen Bindfaden zwischen die Finger, der an einer zerschlissenen Stelle abstand, und drehte ihn wie ein Spielzeug herum.

Tavi nickte. »Nun umso mehr. Wenn die Morde und die Entführungen zum Krieg führen, wieso weiß niemand in Hamburg etwas darüber? Nicht einmal die Hexen wussten davon oder trugen es jedenfalls nicht weiter. Hast du Gerüchte gehört? Wer kämpft hier gegen wen?«

»Da waren sich die Erzähler nicht so einig.« Er druckste einen Moment herum, fiel unter ihrem fordernden Blick jedoch in sich zusammen. »Ich habe ehrlich gesagt kaum zugehört, als mein damaliger Partner Deslo mit den anderen im Büro darüber geredet hat. Meistens habe ich sie aus meinem Büro geschmissen, weil ich in Ruhe arbeiten wollte. Vielleicht hätte ich wenigstens dabei zuhören sollen.«

»Hättest du. Diese Information hätte uns sicher weitergeholfen. Nicht, dass die Amerikaner bereits in Europa gelandet sind und die Regierung es uns nur vorenthält.«

»Wäre es denn nicht gut, wenn die Amerikaner hier landen? Ich meine, sie pflegen doch kein angespanntes Verhältnis zu den Seelenlosen, oder?«

»Du nennst das, was die Saiwalo uns gegenüber entwickelt haben, ein angespanntes Verhältnis?« Tavi gluckste. »Ehrlich, Leon, manchmal bist du bezaubernd.«

»Ach vergiss, was ich gesagt habe. Du weißt, was ich meine.«

»Natürlich«, flüsterte sie in sein Ohr. »Du solltest ernsthaft nachdenken, bevor du etwas sagst. Und das kommt von mir.« Tavi legte eine Hand über seine Schulter, um sein Ohr von der anderen Seite zu kraulen.

Leon seufzte. »Meinetwegen, aber ist es nicht trotzdem gut, dass dann die Amerikaner hier sind?«

Tavi seufzte und dachte nach. In Amerika selbst war sie nie gewesen. Als es entdeckt worden war, hatte sie kurz überlegt, hinüber zu fliegen, aber dann hatte sie Ernesto kennengelernt. Er war ihr vierter Mann gewesen und hatte sie so akzeptiert, wie sie war. Für ihn war sie in Europa geblieben. Als er starb, trauerte sie und kümmerte sich um das Dorf, in dem er Vorsteher gewesen war. Im 16. Jahrhundert hatte sie einen Versuch gewagt und war an einem heftigen Sturm gescheitert, der sie hatte abstürzen lassen. Der Atlantik hatte sie schließlich ermattet an die Küste Englands gespült. Danach hatte sich keine Gelegenheit ergeben, nach Amerika zu reisen. Besonders nicht nach 1918. Sie schluckte. Hamburg war die weiteste Entfernung gewesen, die sie sich von den Gräbern erlaubt hatte. Nach Amerika zog sie seither nichts, dennoch kannte sie es von Seelenlosen, die auf der Durchreise in ihrer Vergangenheit angehalten und davon berichteten hatten. »Ich muss ehrlich sagen, dass ich sie nicht einschätzen kann. In ihrer Geschichte gibt es vieles, das für sie spricht. Zum Beispiel das Gesetz, das es einem Menschen untersagt, einen Dämon ohne Grund zu töten. Glaub mir, früher war das gang und gäbe, besonders in Mittelamerika. Wir verloren gute Mitstreiter durch die Verehrung von Voodoo.«

»Sie erlassen Gesetze über die Seelenlosen?«, fragte Leon.

Tavi nickte. »Und sie erkennen sie als Lebewesen an. Dort drüben existieren viele von uns, die nur ihre Ruhe haben wollen. Sie hausen zwar in abgetrennten Bereichen, aber sie leben und alle lassen sie in Frieden.«

Leon grübelte über das Gehörte und Tavi nutzte die Zeit, um sich umzuschauen. Paris wirkte nicht so, wie sie es in Erinnerung hatte. Paris war eine blühende Stadt gewesen und überall hatte es fröhliche Menschen gegeben, mit denen man gern in ein Café ging, oder Maler, die neben den Cafés saßen und Porträts zeichneten. Aus jedem Fenster, aus jeder Tür strahlte ein spritziges Lebensgefühl. Doch jetzt lag Paris schwarz und ohnmächtig am Boden, als ob ihr jemand das Licht entzogen und versteckt hätte. Niemand tanzte in den Straßen, niemand spielte Musik und erst Recht zeichnete niemand Porträts. Diese Stadt lebte nicht mehr. Das, was Paris ausmachte, waren seine vielen verschiedenen Bauwerke und selbst die standen verlassen und zusammengekauert zwischen simplen Steinhäusern und Ruinen herum.

»Das heißt: Amerika sperrt unsere Arten weg, damit sie sie nicht sehen müssen, aber lassen sie sonst in Ruhe?«, antwortete Leon schließlich und lenkte ihre Aufmerksamkeit von dem kümmerlichen Anblick dieser einst so prachtvollen Stadt ab.

»Genau das meine ich«, antwortete Tavi. »Die Amerikaner sind aufgeschlossener, was uns angeht. Allerdings sind wir ihnen nicht geheuer, weswegen sie uns lieber erst einmal wegsperren, statt uns zu akzeptieren und integrieren.«

»Also ergreifen sie keine Partei gegen die Seelenlosen?«, vergewisserte sich Leon und wandte sich ihr zu. Ihre Nasenspitzen berührten sich beinahe und ein freches Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus, als sie seinen süßlichen Duft einatmete.

»Wie gesagt, es gibt einiges was für sie spricht und einiges dagegen. Deswegen muss ich wissen, ob die Amerikaner einmarschieren oder nicht. Sind sie es, sperren sie uns eventuell ein. Und das riskiere ich nicht.«

»Und wenn es nicht die Amerikaner sind? Was, wenn es die Seelenlosen sind, die sich gegen die Ermordungen wehren?«, fragte Leon und strich ihr mit dem Daumen über ihre Stirn.

»Dann kann uns da unten alles Mögliche erwarten.« Sie weitete ihre Lunge mit frischer Luft, um die Kraft aufzubringen, sich von ihm zu lösen. »Aber was auch immer uns erwartet, wir sollten herausfinden, um was es geht.«

»Aber Tavi, was wenn …?«

Tavi stoppte ihn, indem sie ihre Hand gegen seine Brust stemmte, und schüttelte den Kopf. »Nein, mein Lieber. Du bist dein Leben lang vor der Verantwortung geflohen. Du hast weder etwas hinterfragt, noch bist du für eine gerechte Sache eingetr…«

»Das stimmt so nicht«, unterbrach er sie, bevor Tavi ihren Satz beenden konnte. »Ich bin für dich gestorben.«

»Das einzige Mal, dass du dich zu etwas bekannt hast. Allerdings erst, nachdem ich dich darauf stoßen musste. Mit ziemlicher Gewalt, wenn ich ehrlich bin. Also, hör auf mich. Wir müssen herausfinden, was da unten los ist. Ist es eine Rebellion, können wir helfen. Überleg mal. Ein Cupido und ein Phoenix. Die werden sich vor Freude nicht mehr einkriegen, sobald sie uns sehen.«

Leon knirschte mit den Zähnen und griff nach dem Beutel, in dem sein Bogen lag. »Wenn du das sagst, klingt es wie der Anfang eines schlechten Witzes: Eine Phoenix und ein Cupido marschieren mitten in eine Rebellion. Ha, ha.« Er schnaubte und vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen. Es war eine Geste, die er seit seiner Verwandlung zum Cupido immer wieder machte – vermutlich eine Art Resignation vor der bestehenden Ordnung. Allerdings hatte er eine Zeitlang keine Hosentaschen besessen. Daraufhin hatte Tavi sie angenäht, nachdem Leons Finger ständig ins Leere gefahren waren.

»Lass es uns als Neuanfang sehen, ja?« Sie ging auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf die Nase zu geben. Und sie wusste, dass er das nicht mochte, aber es weckte seine Lebensgeister und er reagierte stets, deshalb tat sie es trotzdem.

»Ein Neuanfang. In Ordnung.«

Mit einem Lachen auf den Lippen rannte sie los. Über die Schulter schaute sie durch ihre langen Haare zu Leon hindurch. Er holte auf und riss sie mit einem kräftigen Ruck an sich heran. Tavi wehrte sich nicht. Sie bremste ab, lief noch ein paar Schritte mit ihm aus und stand schließlich still. In ihrem Magen flatterten ein Dutzend Flügel, als seine Lippen über ihre glitten und er sie innig küsste. Seine Hände wanderten an ihrem Rücken hinauf, bis zu der Stelle, an der sonst ihre Schwingen aus den Schulterblättern brachen. Er griff an ihrer Weste vorbei zu dem Punkt, an der sie Löcher in ihre Bluse geschnitten hatte. Seine Finger lagen auf ihrer nackten Haut und streichelten die Unebenheit auf dem linken Schulterblatt. Er strich um sie herum, als ob es ein kostbarer Schatz wäre, den nur er allein kannte. Damit nahm er ihr die Scheu, wie jedes Mal, sobald er ihre Narben sah oder berührte. Diese unangenehmen Stellen hatte sie anfangs bei ihrer Regeneration repariert, aber durch das hervorbrechen ihrer Flügel kamen die Narben immer wieder. Und je öfter sie sich regenerierte, desto mehr schmerzten sie. Ein paar Jahrhunderte zuvor war sie dazu übergegangen, die Verformungen dort zu lassen, wo sie saßen, und die Haut darüber nicht zu erneuern.

Als der Kuss endete, packte er ihre Hand und sie rannten den Hügel hinunter auf Paris zu.

Jetzt gab es nur einen Weg, um herauszufinden, ob ihr Instinkt noch funktionierte. Er riet ihr zum Cimetière des Innocents zu gehen. Ein Drängen, dass sie nicht mehr gespürt hatte, seitdem sie Nathan gefunden hatte. Sie wollte ihrer unendlichen Trauer nachgeben und um ihre nun drei toten Kinder weinen.

Sie rannten durch einen abgesperrten Bereich, in dem keine Wache stand. Tavi blieb vor jeder Ecke stehen und suchte nach einer Bedrohung. Leon hingegen stieß das Zauntor auf, das ihnen den Weg in die Stadt erschweren sollte, und marschierte ohne Bedenken hindurch.

»Nicht einmal unter Strom gesetzt«, sagte er und lief voran. Tavi gefiel das nicht. Niemand kam so leicht in eine Großstadt des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Es gab keinen Alarm, keine Gyrokopter, die in die Luft stiegen und sie aufhielten. Keine Plasmakanonen, die sich auf sie richteten. Hier konnte etwas nicht stimmen, etwas, das sie übersah.

»Was ist das überhaupt für ein Gestank?«, fragte Leon und rümpfte die Nase. Tavi sog die Luft in ihre Lunge und musste sofort husten.