Jenseits der Wälder - Stefanie D. Seiler - E-Book

Jenseits der Wälder E-Book

Stefanie D. Seiler

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Beschreibung

Ein rätselhaftes Testament und eine Reise zum Ursprung. Das Leben der 38-jährigen Ethnologin Anda gerät aus den Fugen. Ihre Arbeit stagniert, ihre Beziehung ist abgekühlt und ihr Sohn geht seiner eigenen Wege. Da erreicht sie die Nachricht eines unverhofften Erbes. Mit gemischten Gefühlen reist sie von Deutschland in die USA, zum Ursprung ihrer Familie. Zum ersten Mal kommt sie in Kontakt mit ihren Native-American-Wurzeln. Dort ist sie keine Unbekannte und bald ahnt sie, dass es um mehr geht, als um ein Stück unwegsames Land inmitten der Berge und Wälder Montanas. In einem Netz alter Machenschaften muss Anda ihre Position finden und Stärke beweisen. Doch sie ist nicht allein. Wird sie ihr Leben neu ausrichten und auch der Liebe noch eine Chance geben?

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Epilog

Dank

Autorin

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung »Impressumservice«, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

© 2022 Stefanie D. Seiler · writeandrun.de

Covergestaltung: Kristin Pang · kristinpang.com, unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com (VoodooDot, BelusUAB)

Satz u. Layout / E-Book: Gabi Schmid · Büchermacherei · buechermacherei.de

Foto: Autorin

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt

ISBN Softcover: 978-3-75688-605-0ISBN E-Book: 978-3-75686-234-4

Prolog

USA

Die Orgel setzte gleichzeitig mit den Trommeln ein und ihr Klang erfüllte die kleine Kirche. Sie war bis auf den letzten Platz belegt. Nicht nur die Alten waren gekommen, sondern auch viele Jüngere. Alle waren festlich gekleidet, um der Schamanin Greta Enola die letzte Ehre zu erweisen.

Nach dem Gesang der Gemeinde erklang ein Lied in der Sprache der ansässigen Natives. Einige Frauen, die sich vorne neben dem Sarg aufgestellt hatten, sangen mit geschlossenen Augen. Sie wurden begleitet vom Klang der Trommeln, die von zwei Männern am Altar geschlagen wurden.

In der ersten Reihe saß eine alte Dame von zierlicher Gestalt. Sie trug einen schicken Hut und ein elegantes, dunkelblaues Kostüm, das aus den 50er Jahren zu stammen schien. Lächelnd lauschte sie den Worten des Pfarrers. Ihr Blick traf den des weißhaarigen Manns neben ihr, in dessen Augen Tränen glitzerten.

Beide wussten, dass Greta diese Feier gefallen hätte. Für sie war alles eins gewesen. Sie hatte sich sowohl draußen in der Natur als auch in der Kirche Gott nahe gefühlt. ›Der große Geist ist in uns und allem, was uns umgibt‹, hatte sie oft gesagt.

Abends, die Dämmerung war vorüber und ein kalter Wind strich von den Bergen hinab, erklangen wieder Trommeln. Der Schein eines großen Feuers erhellte die Lichtung oberhalb des Tals. Gesang ertönte. Lauter, wilder und vielstimmiger als am Mittag in der Kirche.

In der Mitte saß eine alte Native, klein wie ein Kind. Ihr Gesicht schien aus Hunderten von Falten zu bestehen und erinnerte an eine verdorrte Pflaume. Mit erstaunlich kräftiger Stimme sang sie wieder und wieder: »Jolanda Onatha.«

Einige fielen in ihren tranceähnlichen Singsang mit ein. Andere bewegten sich singend im Rhythmus der Trommeln um das Feuer, erst langsam, dann immer schneller. Ihre Lieder klangen traurig, dennoch schwang Kraft und Mut in ihnen. Am Ende jeder Strophe folgte der Ruf nach ›Greta Enola und Jolanda Onatha‹. Zuweilen war nur ein beschwörendes Murmeln zu hören, dann schwoll der Ruf wieder an und drang bis tief in die Wälder und darüber hinaus.

Kapitel 1

Deutschland

Endlich! Anda rannte los, durch den Park zum Waldrand, durch die Bäume hindurch, den Hügel hinauf. Die kühle Morgenluft strich ihr über das Gesicht und sie roch den würzigen Duft der Erde. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen, ihre Beine kribbelten und sie beschleunigte ihren Lauf.

Der Winter war lang gewesen. Doch nun war der Frühling gekommen und überzog alles mit seinem zarten Grün.

Von einem Tag auf den andern entfalteten sich die Blätter. Als Kind hatte sie sich gewünscht, es einmal beobachten zu können, wie in einem Naturfilm, der das Wachstum von Pflanzen im Zeitraffer zeigte. Es war ihr nie gelungen. Sie lief weiter und nach ein paar Minuten hatte sie ihren Rhythmus gefunden, lauschte ihrem Atem und hörte ihre Schritte. Das war der Moment, den sie liebte: nur sein, atmen, laufen, nichts sonst.

»Jolanda Onatha, Jolanda Onatha.«

Sie wurde langsamer und wandte sich um, kein Mensch war zu sehen. Sie runzelte die Stirn und lief weiter. Wieder hörte sie im Takt ihrer Schritte: »Jolanda Onatha, Greta Enola«.

Jolanda hatte ihre Mutter sie genannt und die war schon lange tot. Lag es daran, dass sie vergangene Nacht von ihr geträumt hatte? Immer wieder ertönte der Singsang, aber sobald sie stehenblieb, hörte sie nur die zwitschernden Vögel. Sie hielt an, keuchte und schüttelte den Kopf. Mit zitternden Händen nahm sie die kleine Flasche aus ihrem Bauchgurt und trank einen Schluck.

»Was ist nur los mit mir?« Sie sagte es halblaut, um sich zu beruhigen. Nochmal lauschte sie angestrengt, da war nichts Ungewöhnliches. Sie legte ihre Hand auf die Brust und zwang sich, langsamer zu atmen. Es war nicht das erste Mal, dass sie Dinge sah und hörte, die nicht da waren. Einmal hatte sie Ian davon erzählt, doch der hatte sie nur irritiert angesehen und ihr einen Psychiater empfohlen. Das Einzige, das half, war weitermachen. Sie trabte wieder los. Das befreite Gefühl von vorhin war weg, dabei hatte der Tag so gut begonnen.

Als sie den steilen Verbindungspfad zum nächsten Weg hinauflief, spürte sie die Schwäche vom Schreck in den Beinen, aber ihr Atem normalisierte sich. Oben angekommen, stoppte sie erneut. Ihre Nachbarin Frau Kahlert stand vor ihr, auf ihre Walkingstöcke gestützt, als hätte sie Anda erwartet.

»Hallo Anda!« Die alte Frau mit dem hellgrauen Pagenkopf und dem Stirnband strahlte sie an, dann sagte sie energisch: »Sie müssen gehen! Gehen Sie!« Sie wandte sich ohne ein weiteres Wort um und ging. Anda lauschte dem klackenden Geräusch ihrer Stöcke auf dem Weg, dann trabte sie in die entgegengesetzte Richtung weiter. Seit wann läuft sie denn hier oben im Wald? Und was meinte sie mit »Gehen Sie!«? Was für ein merkwürdiger Morgen.

Ians Party, die am Abend stattfinden würde, fiel ihr ein und sie seufzte. Heute früh hatte sie es geschafft, nicht daran zu denken. Ian würde seinen Geburtstag in kleinem Kreis mit ausgewählten Gästen nachfeiern. Schon seit über einer Woche war die Feier und die Vorbereitungen dazu das einzige Gesprächsthema. Hatte Frau Kahlert das gemeint? Sie konnte sich nicht daran erinnern, mit ihr darüber gesprochen zu haben.

Eine Viertelstunde später durchquerte sie schwungvoll den kleinen Park und bog in ihre Straße ein. Sie fasste sich an den Magen, während sie durch das Gartentor auf die Villa zuging. Ja, die Party. Sie hatte sie gut verdrängt. Bis jetzt. Isabel und Phil würden kommen. Sie mochte Ians Freund nicht, der mit Ians Ex liiert war. Bei den anderen drei Paaren handelte es sich um Geschäftspartner und ihre Frauen. Ein einzelner Gast würde kommen, den Namen hatte sie vergessen, nur, dass er Rechtsanwalt war und vor kurzem erst in die Stadt gezogen war, wusste sie.

Ian suchte sich seine Bekannten danach aus, ob sie ihm einmal nutzen konnten. War das schon immer so gewesen? Wo war der begeisterungsfähige Mann geblieben, in den sie sich verliebt hatte? Wieder seufzte sie.

Seine Schuhe standen feinsäuberlich nebeneinander unter der schlichten Designergarderobe aus dunklem Holz. Sie warf einen kurzen Blick in den Spiegel, aus dem die rechte Wand bestand. Ein paar Strähnen ihrer schwarzen Haare hatten sich aus dem Pferdeschwanz gelöst, ihre Wangen waren gerötet. Ihr indianisches Erbe war in ihren Zügen deutlich erkennbar. Manchmal erschrak sie und sie kam sich fremd vor, wenn sie in den Spiegel sah. Etwas Unbekanntes rührte sich dann in ihr. Heute aber gefiel ihr, was sie sah, und sie lächelte sich zu. Sie zog sich ihre Schuhe aus und hielt inne. Ian stand mit dem Rücken zu ihr in der Küche, stützte sich auf die Arbeitsplatte und starrte aus dem Fenster.

»Hey«, sagte sie und nahm sich ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Leitungswasser und trank in großen Schlucken.

Ian drehte sich um und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Platte. Er lächelte ihr zu und ihr fiel auf, wie müde und erschöpft er aussah. Dunkle Ringe hatten sich unter seinen Augen eingegraben, seine Gesichtsfarbe war grau. Eine Welle von Zuneigung überrollte sie und sie streckte die Hand aus, um ihm über die Wange zu streichen. »Ian, geht’s dir gut?«

»Ja, ja!«, er winkte ab, »nur viel zu tun!« Er hob den Blick und sah sie mit einem Gesichtsausdruck an, der zwischen Missfallen und Verwunderung lag. »Du hast Dreck in den Haaren.« Er kniff die Augen zusammen. »Deine Ruhe möchte ich mal haben … im Wald rumrennen, bei dem Pensum, das noch vor uns liegt für heute Abend. Sind die Wege nicht völlig matschig?«

Anda schüttelte ihre Haare und strich sich ein welkes Blatt vom Kopf. Sie runzelte die Stirn. »Ach, das ist doch nur ein Blatt. Du weißt doch, dass das Laufen für mich so notwendig ist wie das Atmen. Solltest du auch mal probieren!«

»Wir haben heute Abend doch Gäste! Wichtige Gäste. Musst du nicht noch was vorbereiten?« Er kräuselte seine Lippen.

Es sind vor allem deine Gäste, dachte sie. Laut sagte sie: »Wie könnte ich das vergessen? Außerdem ist doch alles fertig.« Das hatte schnippisch geklungen. Sie zuckte mit den Schultern.

In diesem Augenblick schob sich die Küchentür weit auf und Paola steckte den Kopf herein: »Guten Morgen! Ich fange oben an«, rief sie gutgelaunt mit ihrer rauen und melodischen Stimme. Ihre lockigen, graumelierten Haare wurden von einem bunten Tuch gebändigt. Sie trat mit schnellen Schritten ein und öffnete die kleine Kammertür, schnappte sich den Staubsauger und verschwand wieder.

»Ich mag sie nicht«, knurrte Ian.

Paolas Schritte waren auf der Treppe nach oben zu hören. Anda ignorierte seinen Kommentar und schloss die Augen. Paola war eine Seele von Mensch und hielt nicht nur das große Haus in Schuss, sondern rettete ihr mit ihrer guten Laune oft den Tag. Alles, was sie machte, tat sie mit Hingabe.

»Denkst du daran, den Caterer nochmals zu erinnern, dass er eine Stunde früher kommt? Und kümmerst du dich um den Blumenschmuck? Für auf dem Tisch? Das hätten die zwar auch gemacht, aber du machst sowas gerne. Oder musst du an deine Uni?«, hörte sie ihn anstandshalber fragen.

Sie schnalzte ungehalten mit der Zunge. »Muss ich tatsächlich, doch erst nachher.«

»Wie sollst du sonst alles fertigbekommen hier?«, presste er hervor.

Ihre Hände kribbelten, am liebsten hätte sie ihn geboxt, stattdessen öffnete sie konzentriert ihre Fäuste.

Mit angespanntem Oberkörper verharrte er und sah sie an.

Sie zuckte mit den Schultern und verzichtete darauf, ihm zu erklären, dass sie zwar keine so bedeutende Stellung hatte wie er, die noch dazu miserabel bezahlt wurde, aber dass ein paar Studenten froh um ihren Rat waren, denn heute war ihre Sprechstunde. »Warum sagst du mir das erst jetzt? Du fährst an diesem Blumenladen vorbei, bring du doch was mit, bei mir liegt das nicht auf dem Weg. Ich bin außerdem mit dem Rad unterwegs.«

»Als ob ich einen Kopf für solchen Kram hätte.«

Fast glaubte sie, er würde gleich ausspucken. Dann hob er entwaffnend seine Hände, versuchte zu lächeln und schob in sanfterem Ton hinterher. »Du hast einen sehr viel besseren Sinn für sowas, sei so gut!«

Auch wenn das Lächeln seine Augen nicht erreichte, wurde Anda weich und sie willigte um des lieben Friedens willen ein, obwohl es Stress für sie bedeuten würde.

Er nahm einen letzten Schluck Kaffee und stellte die Tasse in die Spüle. »Was ziehst du denn an?«

Leise fragte sie: »Was ziehst du denn an?«

Er bemerkte es nicht und redete sofort weiter. »Was Nettes, vielleicht sowas wie das rote Kleid, das du bei der Party von Wesslermann anhattest?«

»Da war Hochsommer und es hatte über fünfunddreißig Grad«.

»Du weißt schon, was Schickes. Ich weiß, dass die Frau von Bernd eine Boutique hat und viel Wert auf hochwertige Kleidung legt.«

»Ja und?«

»Kauf einfach was, bezahl mit meiner Karte.« Er war im Bad verschwunden. Durch den Türspalt sah sie, dass er sich die Zähne putzte. Kurz darauf stach Anda der markante Geruch seines neuen Aftershaves in die Nase. Hinter ihrer Stirn meldete sich ein ziehender Schmerz. Für einen Augenblick lief ein Film vor ihrem inneren Auge ab, in dem sie mit schlammverkrusteten Springerstiefeln, einem roten Cocktailkleid und zerrissenen Netzstrümpfen zwischen all den aufgetakelten Ladys herumstapfte.

»Was Nettes, Rotes, die Frau von Bernd legt viel Wert auf …«, wiederholte sie leise. Obwohl sie nicht wütend sein wollte, sie war es. Im oberen Stock brummte der Staubsauger.

Ian rauschte an Anda vorbei. »Wenn es die Zeit erlaubt, komme ich heute etwas früher. Du und Deine Samba-Paola kriegt das schon hin. Und wie ist das mit Benjamin? Falls er da sein sollte, kannst du bitte dafür sorgen, dass er was Ordentliches anzieht und sich vielleicht mal die Haare kämmt?«

»Ich kann dich beruhigen, er ist mit Marc unterwegs und kommt erst spät, wenn überhaupt.« Immerhin wohnte ihr Sohn auch hier und es ärgerte sie, wie Ian über ihn sprach. Doch sie wollte jetzt nicht streiten. Aufatmend beobachtete sie eine Minute später, wie er das Auto schwungvoll aus der Einfahrt setzte und davonpreschte.

Paola erschien mit dem Staubsauger auf der Treppe. »Wegen Blumen kann ich meine Schwester fragen.« Sie kam herunter zum ausgezogenen langen Tisch und betrachtete ihn nachdenklich.

Ein gutes Gehör hat sie ja, dachte Anda. Aber sie nahm es Paola nicht übel. Sie stellte sich neben die ältere Frau, deren Wuschelkopf einen leichten Duft nach Zimt und Kardamom verströmte. »Oh, das wäre echt toll, ich hab gar keine Zeit und dachte bis eben, dass das auch der Caterer macht.«

»Caterer«, sagte Paola mit unverhohlenem Abscheu.

Anda lächelte über die Entrüstung in Paolas Stimme. Kombiniert mit dem spanischen Akzent hörte es sich lustig an. Als sie ein paar Minuten später das Haus verließ, drang laute Merengue-Musik aus der Anlage. Mit Musik geht alles leichter, hatte Paola ihr einmal ernst anvertraut und Anda wusste, dass die rundliche Frau aus Puerto Rico nicht nur beim Putzen Musik hörte, sondern oft mitsang und die Hüften schwang, wenn sie alleine war.

Die hat sie doch nicht alle, das hab ich gleich gesagt, war Ians Kommentar gewesen, als Anda ihm ihre Entdeckung mitgeteilt hatte. »Wer tanzt denn schon beim Putzen?«

Du jedenfalls nicht, hatte sie gesagt und war lächelnd ein paar Schritte auf ihn zu getanzt. Dann hatte sie seine verständnislose Miene bemerkt und war wie versteinert stehengeblieben.

Nach ihrer Sprechstunde besuchte sie Iris. Sie erinnerte sich an ein schönes schwarzes Kleid von ihr. Ihre Freundin wusste sofort, welches sie meinte, suchte es aus ihrem Schrank heraus und überreichte es ihr lächelnd.

»Du wirst hinreißend darin aussehen!«

»Du hast aber auch tolle Kleider.« Anda war glücklich, nicht noch durch die Stadt eilen zu müssen, um ein passendes Outfit zu finden.

»Ob ich jemals die Gelegenheit bekomme, eines davon wieder anzuziehen?« Iris seufzte. »Oh, manchmal hab ich so richtig Lust, mich schick zu machen und mit dir unterwegs zu sein! Doch bis es so weit ist, bin ich wahrscheinlich alt und grau.«

Anda umarmte Iris. »Komm schon, wir gehen einfach demnächst zusammen aus, nur wir beide. Gerry passt auf die Kinder auf. Zwei Stunden schafft Ida doch, ohne dass du sie stillen musst.«

Iris nickte mit traurigem Gesicht. »Aber Gerry … ach egal. Ich wünsche dir, dass die Party heute Abend toll wird.«

»Danke dir. Oh, ich muss los. Wir machen das. Selbst wenn es nur zwei Stunden sind, es wird dir guttun. Tut mir leid, Iris, dass ich so schnell aufbrechen muss. Aber Ian ist ein echter Perfektionist, wenn es um Partys geht.« Es tat ihr weh, ihre beste Freundin so unglücklich zu sehen. Eilig verabschiedeten sie sich.

Zu Hause angekommen, schlug ihr ein betörender Duft nach Blüten entgegen. Sie ließ ihre Tasche vor Staunen fallen. Alles, nicht nur der Tisch, war herrlich mit Frühlingsblumen dekoriert.

Ian fegte gerade ins Esszimmer hinein und kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Flüchtig umarmte er sie. »Das sieht ganz entzückend aus hier! Wann hast du das denn bloß gemacht? Wusste ich doch, dass du ein Händchen dafür hast.«

»Das ist nicht mein Werk. Paola …«

»Der Caterer müsste jeden Moment kommen«, schnitt Ian ihr das Wort ab. Er hatte sich wieder abgewandt und sah aus dem Fenster. Sie nahm ihre Tasche und ging nach oben in ihr Arbeitszimmer. Mechanisch ordnete sie ihren Schreibtisch und räumte die Unterlagen aus der Tasche. Das Kleid von Iris hängte sie auf einen Bügel. In knapp zwei Stunden würden die Gäste eintrudeln und sie beschloss, sich in Ruhe zu duschen und sich positiv auf den Abend einzustimmen.

Fünfundvierzig Minuten später sah sie sich zufrieden in ihrem Spiegel im Arbeitszimmer an. Das schwarze Kleid mit den halben Ärmeln war tailliert geschnitten und betonte ihre schmale Figur. Der elastische Stoff schmiegte sich wie eine zweite Haut um ihre Körpermitte, ohne sie einzuengen. Ihre schwarzen, glatten Haare umrahmten ihr schmales Gesicht und fielen locker über die Schultern. Dezent hatte sie ihre hohen Wangenknochen mit etwas Rouge und ihre grünen Augen mit Kajal betont. Als Farbtupfer legte sie die lange Kette aus grünen Türkisen und verzierten Silberelementen an. Diese harmonierte perfekt mit ihren grünen Augen. Den Schmuck hatte ihre Mutter ihr kurz vor dem Tod feierlich übergeben. Da hatte sie die Kette zum ersten Mal gesehen. »Sie stammt von meiner Familie und ist schon alt. Ich hoffe, du wirst sie ehren und mit Würde tragen«, hatte sie zu ihr gesagt. In diesem Moment hatte Anda gewusst, dass ihre Mutter mit dieser Kette viel mehr als nur ein Schmuckstück überreicht hatte. Sie schluckte bei der Erinnerung. Sie atmete tief durch und straffte ihren Rücken.

Kapitel 2

Mit übergeschlagenen Beinen und verschränkten Armen saß Anda auf der Lehne der Couch und wippte mit dem Fuß. Ihr war kalt. Sie zog sich ein kurzes, dunkelgrünes Strickjäckchen über und versuchte, sich zu entspannen. Das Essen hatte sich endlos gezogen. Immer wieder waren ihre Gedanken abgeschweift, weil sie die Gespräche so gelangweilt hatten.

Paola räumte die Teller in die Küche. Ein paar der Gäste machten es sich in der Sofaecke bequem. Einige standen vor dem Tisch und unterhielten sich. Aus der Stereoanlage ertönte seichte Popmusik und zerrte an Andas Nerven. Sie wünschte sich nichts mehr, als dass der Abend schnell enden würde. Eben fing Ian an, mit erhobener Stimme zu reden. Nur mit Mühe unterdrückte sie ein Augenrollen. In salbungsvollem Ton, seine Worte mit fahriger Gestik untermalend, referierte er über den Aktienmarkt und sonnte sich in der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. Ständig war er in Bewegung. Wenn man ihn nicht gut kannte, mochte er temperamentvoll wirken. Doch sie wusste, dass er zu viel getrunken hatte.

Früher hatte es sie mit Freude und Stolz erfüllt, wenn er im Mittelpunkt stand. Dieser redegewandte, gutaussehende Mann mit graumelierten Haaren, immer gepflegt und geschmackvoll gekleidet. Er hatte sich für sie entschieden, eine halbe Indianerin aus der Kunst- und Ethnoszene. Für sie hatte er seiner damaligen Frau den Rücken gekehrt. Diese stand jetzt, stark geschminkt, mit begeistertem Gesichtsausdruck neben ihm und hing an seinen Lippen. Phil, Ians Freund aus Studientagen, hatte besitzergreifend den Arm um die blonde, kurvige Frau gelegt. Das rosafarbene enge Etuikleid ließ sie wie eine pralle Teewurst aussehen, wie Anda mit Genugtuung feststellte.

Paola führte zwei verspätete Gäste ins Wohnzimmer und riss sie aus ihren Betrachtungen. Wegen der lauten Musik hatte sie das Klingeln überhört. Anda sah, wie Ians Gesichtszüge für einen Augenblick ziellos wurden. Wusste er nicht mehr, wen er eingeladen hatte? Er überspielte es, indem er zwei hastige Schritte auf die beiden zumachte und leise mit dem Mann sprach.

Mit lauter Stimme sagte er in die Runde: »Darf ich vorstellen: Leander Korell mit Begleitung, herzlich willkommen.« Er nickte Anda auffordernd zu und ging wieder zu den anderen.

»Ich bin Anda, Ians Partnerin«, begrüßte sie die beiden und schüttelte dem Mann die Hand, die sich angenehm trocken, warm und fest anfühlte. Sie blickte in aufmerksame graue Augen in einem markanten Gesicht. Seine Begleitung war eine dünne, dunkelhaarige und gutaussehende Frau mit abwesendem Gesichtsausdruck. Ihre hochwertige Aufmachung passte nicht zu ihrem unsteten Blick. Eine Aura der Traurigkeit umgab sie.

»Das ist meine Schwester Miriam. Sie entschuldigen bitte«, fügte er zu ihr gebeugt hinzu, »ihr geht es momentan nicht gut.« Er hatte Andas Blick bemerkt und sah seine Schwester sorgenvoll an. »Es tut mir leid, dass ich sie unangekündigt mitgebracht habe. Ist es …« Er rang mit den Worten.

»Es ist schön, dass sie mitgekommen ist. Wenn sie hungrig sind, dann können sie gerne etwas essen. In der Küche gibt es noch reichlich.«

»Machen sie sich keine Umstände, wir sind schließlich zu spät.«

»Aber vielleicht haben Sie Hunger?«, wandte Anda sich an die Frau.

»Du«, sagte Miriam. »Bitte sag du.« Für einen Moment erwiderte sie klar Andas Blick. Sie hatte dieselben grauen Augen wie ihr Bruder.

Anda konnte nicht sagen, woran es lag, doch sie fühlte sich diesen beiden sofort verbunden. Sie machte einen Schritt auf Miriam zu, hakte sich bei ihr unter und führte sie in die Küche, dem einzigen Ort der Wärme an diesem Abend.

Als Paola aus dem Keller mit zwei Flaschen Wein kam, sah sie erstaunt in die kleine Runde. Dann machte sich ein herzliches Lächeln auf ihrem Gesicht breit. Sie nahm zwei Teller aus dem Stapel und häufte ungefragt, aber mit allerlei Erläuterungen, die unterschiedlichen Speisen darauf.

Anda lächelte. Paola war einfach toll! Sie überließ die beiden ihrer Fürsorge und mischte sich lustlos unter die anderen Gäste. Immer war es selbstverständlich für sie gewesen, sich mit Ian zu zeigen und sich um die Gäste zu kümmern, doch heute tat sie es mit Widerwillen. Oft kehrte sie in die Küche zurück. Ansonsten hielt sie sich am Rand auf und beobachtete. Leander gesellte sich zu den übrigen Gästen und beteiligte sich an dem einen oder anderen Gespräch. Sie wollte gerade zu Miriam gehen, als sie eine unangenehm durchdringende Stimme vernahm.

»Anda, darf ich Sie fragen, woher sie ursprünglich stammen? Sie haben ein so interessantes, exotisches Aussehen, das mich … an Indianer erinnert, ja, das ist es! Diese Kette sieht aus wie Indianerschmuck, habe ich recht?« Die Frau im teuer aussehenden, blauen Paillettenkleid stellte sich vor sie. Ihr sehniger, ausgezehrt wirkender Körper ließ auf eisernes Training und strenge Diäten schließen. Immer wieder zwinkerte sie mit schräg gelegtem Kopf, was Anda irritierte.

Als sie zu einer Antwort ansetzte, bemerkte sie, dass die Frau zu einem anderen Gast blickte und ihm bedeutete, dass sie gleich bei ihm sein würde.

Anda kniff die Augen zusammen, zuckte mit den Achseln und ließ die Frau ohne ein weiteres Wort stehen.

Ian kam zu ihr und umfasste besitzergreifend ihre Schulter. Sie roch seinen Weinatem. »Hast du das gehört?« Er lachte aufgekratzt.

Sie sparte es sich nachzufragen, da sie wusste, dass sie nicht darüber lachen konnte, egal, was es war. Sie entwand sich ihm mit einem steifen Lächeln, ging zur Terrassentür und schob sie auf. Sie brauchte ein paar Minuten frische Luft und Ruhe. Als sie durch den Türspalt schlüpfte, spürte sie, dass jemand hinter ihr war.

Leander lächelte und hob ein Päckchen Zigarillos. »Darf ich, oder stört es dich?«

»Klar. Und nein, es stört mich nicht.« Leander und seine Schwester waren die mit Abstand sympathischsten Gäste. Sie lehnte sich mit der Hüfte ans Geländer und hielt die Arme verschränkt. Die kalte Luft war wohltuend nach der stickigen Wärme im Haus.

Er stand neben ihr und kramte in seiner Jackentasche nach einem Feuerzeug. Ein Hauch seines Aftershaves stieg ihr in die Nase. Für einen kurzen Moment fühlte sie sich zu ihm hingezogen; physisch und von einer Intensität, die sie überraschte. Sie überkreuzte ihre Füße.

Er zündete sich einen Zigarillo an und stützte sich auf das Geländer. »Entschuldige, dass ich dich darauf direkt anspreche … es ist nicht ganz einfach für dich, oder? Hat dein Mann denn schon länger mit …«, er zögerte, »Drogen zu tun?«

Sie schwieg verblüfft. Klar, Ian hatte zu viel getrunken und benahm sich an diesem Abend seltsam. Das hatte sie auf den Alkohol geschoben. Was meinte er? Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und stützte ebenfalls die Unterarme auf dem Geländer ab. Die Rastlosigkeit Ians in den letzten Tagen fiel ihr ein, sein aufgesetztes Lachen, seine ständige Unruhe.

»Es geht mich nichts an, aber …«, setzte Leander nach, straffte dann den Rücken und sah sie an.

»Wir sind nicht verheiratet, das weißt du, oder?«, sagte sie kühl über die Schulter. Als ob dieser Umstand irgendetwas erklären würde. Dann drehte sie sich um, ging zur Tür und murmelte entschuldigend: »Ich muss wieder rein.« Drinnen wandte sie sich noch einmal um. Leander hatte sich wieder vom Haus abgewandt und sah rauchend in den Garten hinaus. Sie war zu dem einzigen sympathischen Menschen unfreundlich gewesen. Jetzt plagten sie Gewissensbisse. Sie fand es krass, dass ein fremder Mensch so unverblümt unterstellte, dass Ian mit Drogen zu tun hatte. Andererseits überwog die Sympathie, die sie gegenüber Leander empfand. Hatte dieser Mann etwas gesehen, das sie nicht wahrhaben wollte?

In der Küche verteilte sie Gebäck in kleine Schüsseln. Die Tür klappte auf und Ian sah sie mit fahrigem Blick an.

»Anda, kommst du mal? Die anderen denken schon, du gehörst zum Personal.«

Für einen Moment schloss sie die Augen und schüttelte den Kopf. Als sie sie wieder öffnete, war Ian, ohne ihre Antwort abzuwarten, verschwunden. Sie atmete aus und mit der Luft, die ausströmte, wich jede Energie aus ihr.

Paola hielt inne und sah zu ihr. Kurz hatte sie das Gefühl zu fallen, bis sie die warme, nasse Hand Paolas auf ihrem Arm spürte. Dann war der Augenblick vorbei und sie holte tief Luft.

Paola tätschelte ihre Schulter. Zusammen trockneten sie schweigend die Gläser ab. Sie war nicht mehr in der Lage, die Kekse hinauszubringen oder weiter die Grande Dame zu spielen.

»Wenn es recht ist, würde ich jetzt gehen. Der letzte Bus fährt gleich, sonst muss ich ein Taxi nehmen«, sagte Paola eine Viertelstunde später.

Anda nickte. »Ist gut, danke dir.«

»Bin morgen früh wieder zum Aufräumen da, du musst nichts machen.« Sie trocknete ihre Hände ab und verließ die Küche.

Anda verließ ebenfalls die Küche und flüchtete an die frische Luft. Einen Augenblick später gesellte sich Leander wieder zu ihr. Gemeinsam standen sie auf der Terrasse und sahen in den dunklen Garten. Sie war froh, dass er ihr nicht übelnahm, dass sie ihn vorhin hatte stehenlassen. Es war kalt geworden und wortlos reichte er ihr sein Jackett. Fragend hielt er ihr einen seiner Zigarillos hin. Sie rauchten schweigend.

»Was machst du denn so? Du bist Anwalt, aber worauf hast du dich spezialisiert?«, durchbrach sie die Stille.

»Familien- und Jugendrecht. Und du?«

»Ich hab eine Stelle im Institut für Ethnologie, bereite meine Habilitation vor und gebe zwei Seminare.«

»Das klingt interessant. Vielleicht hast du Lust, mir mehr darüber zu erzählen?«

»Ich beschäftige mich mit Traditionen vermeintlich untergegangener Kulturen, ganz grob gesagt.«

»Vermeintlich untergegangen?«, fragte Leander.

»Oder ausgelöscht, wie viele Traditionen der indigenen Kulturen in Nord- und Südamerika, aber auch im asiatischen Raum. Es sind kraftvolle Strömungen zu erkennen von Menschen, die sich an ihre Wurzeln erinnern wollen und die Traditionen aufleben lassen, modifiziert an die moderne Welt und mit der Erfahrung der vergangenen Jahrhunderte.«

Andas Blick fiel auf Miriam, die im hellerleuchteten Wohnzimmer alleine auf dem Sofa am Bücherregal saß. Vertieft blätterte sie in einem Ausstellungskatalog. Verloren, einsam und nirgendwo dazugehörig. Für einen Moment schien Anda in die Zukunft zu sehen und sah anstelle Miriams sich selbst dort sitzen. Sie griff sich an den Hals, der eng geworden war und atmete durch.

»Sie fühlt sich wohl, wenn sie Bilder ansehen kann, das ist ihre Welt, gerade in ihren Krisen«, sagte Leander und riss sie aus ihren Gedanken. »Das sind deine Bücher?«

Anda nickte.

»Schon den ganzen Abend ist sie darin versunken.«

»Das freut mich ehrlich.« Sie schnippte die Asche in den Garten und drückte den Zigarillorest sorgfältig im Aschenbecher aus.

Leander und Miriam verabschiedeten sich bald nachdem sie wieder hineingegangen waren. Während sie die beiden in ein Taxi steigen sah, überlegte sie, was wohl mit Miriam los war. Beim Abschied hatte ihr Blick wieder ernst und klar auf Anda geruht.

Nachdem die roten Rücklichter des Taxis verschwunden waren, starrte sie noch eine Weile an der geöffneten Tür in die Dunkelheit. An der Garderobe hing das bunte Tuch von Miriam, das die Lebensfreude auszustrahlen schien, die der Frau abhandengekommen war. Sie zuckte mit den Schultern und lächelte, dankbar für den Grund eines Wiedersehens.

Aus dem Wohnzimmer schallte immer noch seichte Popmusik. Sie schauderte. The show must go on! Blieb zu hoffen, dass das Ende der Party nahte. Zwei Paare verabschiedeten sich wortreich und nicht mehr nüchtern. Schon vor einiger Zeit hatte Anda ihre hochhackigen Schuhe gegen bequeme Ballerinas getauscht, jetzt hätte sie am liebsten auch diese abgestreift. In der Couchecke unterhielten sich die übriggebliebenen Gäste lautstark. Anda musste ein Lachen unterdrücken. Da saßen sie, etabliert, wohlhabend und betrunken und überbrüllten die laute Musik, wie Teenies auf ihrer ersten Party. Ian war von der Bildfläche verschwunden. Da sie den ganzen Abend über nichts getrunken und kaum etwas gegessen hatte, beschloss sie, sich ein Bier von unten zu holen. Sie lief die Treppenstufen runter und stutzte. Die Tür zum Gästezimmer stand einen Spalt weit offen. Ein Geräusch ließ sie innehalten, als sie die Tür schließen wollte. Da war jemand. Sie spähte ins Halbdunkel und hätte um ein Haar aufgeschrien. Ian und Isabel. Einen Moment stand sie wie versteinert da. Dann zog sie leise die Tür zu.

Wie ferngesteuert ging sie zum Kühlschrank, nahm sich ein Bier und stieg die Treppe hinauf. Ihre Beine waren weich, sie umfasste bei jeder Stufe fest das Geländer mit ihrer freien Hand. Hatte sie den Abend lang das Gefühl gehabt, einen Film anzusehen, traf sie jetzt mit Wucht die Erkenntnis, dass es Wirklichkeit war. Ihre Wirklichkeit, ihr Leben. Ian, der sie betrog.

Mit einer Hand umklammerte sie das Bier, mit der anderen tastete sie sich die Wand entlang. Die stampfende Musik klang seltsam verzerrt. Ein Geräusch zwischen Seufzen und Schluchzen drang aus ihrem Mund.

Ihr Kopf war bis auf das Bild von Ian und Isabel leergefegt. Ihr Blick fiel auf eine angebrochene Packung Lucky Strike, die jemand hatte liegen lassen. Sie nahm sich eine, steckte kurzerhand das ganze Päckchen in ihre Strickjacke und kramte nach einem Feuerzeug. Es lag bei Prospekten, die hinuntergerutscht waren. Sie bückte sich danach und ihr Blick blieb an einem Brief hängen, der aus einem losen Stapel Reklameheftchen herausragte. Sie nahm ihn, riss die Eingangstür auf, setzte sich auf die Stufen und öffnete die kleine Flasche. Sie konnte sich kaum daran erinnern, wie diese dorthin gelangt war. Mit zitternden Händen zündete sie sich die Zigarette an. Aus dem Wohnzimmer waren Gelächter und Gemurmel zu hören. Dann setzte wieder der stampfende Bass ein. Sie zuckte mit den Achseln. Das ging sie nichts mehr an. Sie nahm ein paar tiefe Züge, trank einen kräftigen Schluck und hieß den Schwindel willkommen, der sich einstellte. Für einen Augenblick fühlte sie sich leicht. Es gab keinen Grund mehr, hier zu sein und gute Miene zu machen.

Der Brief war an Jolanda Onatha Fisher gerichtet. »Jolanda Onatha«. Wie ein Blitzlicht erinnerte sie sich an den Vorfall im Park. Es war ihr, als hörte sie es noch einmal. Neugierig riss sie den Umschlag auf und ihre Augen weiteten sich. Er kam aus den USA. Anda las das kurze, offizielle Schreiben mehrmals, bis sie begriff, was darinstand: Sie hatte geerbt. Greta Enola Fisher hatte ihr Land und ein Haus in Montana vermacht. Es wurde von einer Matilda Swan verwaltet, an die sich Anda persönlich innerhalb von drei Monaten wenden musste, wenn sie Interesse hatte, das Erbe anzutreten. So hatte es die Großtante bestimmt. Ein großes Fragezeichen entstand in Andas Kopf. Sie erinnerte sich an den Namen Greta. Sie war die Tante ihrer verstorbenen Mutter. Das Bild einer stolzen Native mit schwarzem, hochgestecktem Haar erschien vor ihrem inneren Auge und während sie dieses Bild betrachtete, wurden die Haare weiß und das Gesicht alt und faltig. Der Traum, der sich in den letzten Monaten immer wiederholt hatte, kam ihr in den Sinn. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Sie saß auf den Stufen, hielt die Zigarette zwischen den Fingern und starrte ins Leere. Dann kramte sie ihr Handy aus ihrer Tasche und tippte Iris’ Nummer.

»Hallo?« Ihre Freundin meldete sich mit verschlafener Stimme.

»Hier ist Anda. Kann ich zu dir kommen?«

Sie hörte nur das Rascheln von Bettzeug.

»Weißt du, wie spät es ist?«

Anda hörte die Verwunderung und einen leisen Hauch von Ärger in Iris’ Stimme.

»Komm vorbei, klar kannst du!«, klang es dann beherzt aus dem Hörer.

»Es tut mir leid«, setzte Anda an, »ich weiß, es ist spät.«

»Du wirst schon einen Grund haben, ist egal jetzt, komm einfach.« Der letzte Satz war hastig geflüstert, dann legte Iris auf.

Anda nahm die Treppen zu ihrem Zimmer, packte ein paar Sachen in ihre Tasche, steckte ihr Handy ein und ging los. Als sie wieder vor die Tür trat, sog sie die kühle Nachtluft ein. Sie schloss die Tür und je mehr Schritte sie zwischen sich und das Haus brachte, desto klarer realisierte sie, wie stark der Druck auf ihr gelastet hatte. Sie blickte sich nicht einmal um.

Eine halbe Stunde später war sie am Wohnblock angekommen, in dem ihre Freundin mit ihrer Familie wohnte. Iris winkte sie in die Wohnung. Im Hintergrund war das leise Weinen ihres Babys zu hören.

»Tut mir leid, du hörst ja selbst, ich muss stillen.« Bevor Iris zu ihrer kleinen Tochter ging, nahm sie Anda fest in die Arme. Anda strich ihr über die kurzgeschnittenen, blonden Haare. Sie mussten beide lachen, als Anda die Feuchte bemerkte, die durch den Bademantelstoff aus Iris Brüsten trat.

»Wir reden morgen, ja?« Sie strich Anda über den Arm. »Nimm dir einfach alles, was du brauchst, das Bett im Gästezimmer ist bezogen.«

Sie verschwand durch den Flur. Die Tür schloss sich hinter ihr und das leise Weinen, das übergegangen war in ein energisches Brüllen, verstummte nach einigen Augenblicken. Anda lächelte. Für das kleine Baby war die Welt wieder vollkommen in Ordnung.

So leise wie möglich schlich sie ins Gästezimmer, schaltete das Licht an und hockte sich auf den Boden vorm Bett. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um Ian und Isabel, um diesen Tag, um die vergangenen Tage. Wie lange geht das schon zwischen den beiden? War das wichtig zu wissen? Die Müdigkeit schwappte wie eine Welle über sie. Sie schaffte es noch, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen, legte sich aufs Bett und zog die Decke über sich.

Kapitel 3

Kinderstimmen und das Geklapper von Frühstückstellern weckten sie. Noch waren die Bilder, Sorgen und Gefühle des vergangenen Tages weit entfernt. Wieder hatte sie von einem Feuer geträumt, hatte den Klang von Trommeln gehört und erinnerte sich an ein altes, von Falten durchzogenes Gesicht. »Jolanda - Onatha«, flüsterte es leise in ihren Ohren.

Es war schon hell draußen. Die Sonne schien durch die jungen Blätter der alten Platane vor dem Fenster. Sie blieb noch einen Moment still liegen, wohl wissend, dass alles gleich auf sie einstürzen würde. Jetzt wollte sie noch dieses geborgene Gefühl, das sie im Traum empfunden hatte, spüren. Sie rollte sich eng zusammen wie ein Ball.

Ein lautes, empörtes Geheule ließ sie endgültig wachwerden. Der Duft von Kaffee stieg ihr in die Nase. Die brummende, begütigende Stimme von Gerry war zu hören. Sie sah den großen Mann vor sich in der Küche sitzen und seinen vierjährigen Sohn trösten.

Eine halbe Stunde später war Ruhe in der Wohnung eingekehrt. Gerry war gegangen und hatte Piet mitgenommen, um ihn auf dem Weg zur Arbeit im Kindergarten abzuliefern. Das Baby schlief. Iris brühte sich gerade einen Tee auf und setzte sich müde an den Tisch. Anda saß frischgeduscht, mit nassen Haaren, in der Küche. Der Brief lag zwischen ihnen.

»Was glaubst du dort zu erfahren? Du kennst doch dort niemanden, warst noch nie da.« Iris sah sie fragend über ihre Teetasse an.

Anda nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, ihr fiel auf diese Frage nichts ein.

»Meinst du, das wäre klug? Ich meine, nachdem es in der letzten Zeit so schlecht läuft zwischen euch und die ganze Situation so verfahren ist?« Iris hatte einen selbstgerechten Ausdruck im Gesicht.

Anda umklammerte ihre Kaffeetasse. Es machte sie wütend, dieses Gesicht. »Du bist die Pragmatikerin. Schon immer gewesen!«, sagte sie ätzend.

»Das war jetzt bitter, oder? Aber ich denke schon länger, dass du dein Leben besser in den Griff kriegen solltest. Die Streitereien wegen Benjamin zum Beispiel.« Sie zupfte sich am Ohr. Eine Angewohnheit, die Iris schon zu Studienzeiten hatte, wenn sie glaubte, etwas besser zu wissen.

Ja, Benjamin. Zwar schon erwachsen, aber doch noch ein halbes Kind. Als sie zu Ian gezogen waren, hatten sich die beiden gut verstanden und viel gemeinsam unternommen. Doch mit dem Beginn der Pubertät war es schwierig geworden zwischen Ian und ihrem Sohn. Im letzten halben Jahr war Benjamin kaum noch zu Hause anzutreffen gewesen.

»Was zu viel ist für mich, das entscheide immer noch ich und den Rest auch, aber …«, »vielleicht hast du recht«, fügte sie leise hinzu. Sie wollte keinen Streit. Das Einzige, was sie wollte, war, dass Iris ihr zuhörte, sie in den Arm nahm und sie tröstete. Schon oft hatte ihre Freundin sie mit ihrer lösungsorientierten Art geerdet. »Du hast ja recht«, wiederholte Anda, schob die Buntstifte von Piet mechanisch zusammen und betrachtete das Bild, das der kleine Junge gemalt hatte. Im Vordergrund war ein Feuer zu sehen und links davon ein Zelt, das in bunten Farben und Mustern ausgemalt war. Auf der anderen Seite sah man ein Männchen, das lange, schwarze Haare hatte, in denen eine Feder steckte. »Piet?«, fragte sie.

Iris war ihrem Blick gefolgt, ihre Augen leuchteten vor Wärme. »Wer sonst? Seit dem Faschingsfest mit dem Motto Wilder Westen und seit du ihm erzählt hast, dass du eine halbe Indianerin bist, dreht sich alles um dieses Thema!«

Anda sah aus dem Fenster. »Ich muss um halb elf im Institut sein … und noch meine Sachen holen«, sagte sie unvermittelt mit Blick auf die große Küchenuhr. Leiser fügte sie hinzu: »Vielleicht sollte ich tatsächlich hier mein Leben in Ordnung bringen. Doch ich habe mich an etwas erinnert, das mir diese Ärztin einmal gesagt hat.«

Iris sah sie fragend an, schüttelte dann den Kopf.

»Bei der ich wegen dieser Kopfschmerzattacken war. Sie sagte damals, dass ich irgendwann an einen Punkt in meinem Leben kommen würde, an dem ich meine Wurzeln, meine Herkunft erforschen müsste, um weiterzugehen. Das war, als meine Mutter gestorben war.«

»Doch, ich erinnere mich.« Iris nickte. »Aber denkst du wirklich, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist? Mir scheint es eher, als ob es dich noch mehr belasten würde. Versuche, es telefonisch zu klären. In jedem Fall sollte sich das ein Anwalt ansehen, einer, der sich mit Erbrecht auskennt. Außerdem, warum bist du überhaupt so Hals über Kopf heute Nacht hier aufgetaucht? Das lag doch nicht an dem Brief, oder?«

»Ach.« Anda schluckte.

»Komm schon, was ist los?« Eine steile Falte bildete sich zwischen Iris› Brauen.

»Ach, es war einfach schrecklich gestern Abend. Ich weiß auch nicht, am liebsten hätte ich alles abgesagt, aber das ging natürlich nicht. Und Ian, er macht mich entweder wütend oder er ist verletzend. Dazwischen gibt es nichts mehr.«

»Das geht schon länger so, oder? Wir haben uns zwar nicht so oft gesehen in letzter Zeit, aber das hab ich mitgekriegt.«

»Wenn es nur das wäre.« Anda stand auf und ließ sich aus der Kaffeemaschine einen Espresso raus. »Fast in jeder Nacht laufe ich in meinen Träumen durch einen Wald, es ist aber nicht dieser, es muss irgendwo anders sein, es sieht fremd aus. Dann hört der Wald plötzlich auf und ich stehe auf einer Art Lichtung, an deren Ende geht es einen steilen Abgrund hinunter und wenn ich den Blick hebe, sehe ich eine schroffe Berglandschaft, die sich in eine Ebene öffnet. Es ist immer wieder dasselbe. Es schneit und gleichzeitig scheint die Sonne.« Nach einer kurzen Pause: »Außerdem glaube ich manchmal, Dinge zu hören oder zu sehen, die nicht da sind. Das ist mir gerade gestern wieder beim Laufen passiert …«

»Anda, wir haben doch schon mal drüber geredet«, setzte Iris an. »Es wäre sicher gut, wenn du einmal die Heimat deiner Mutter kennenlernen würdest, sehen würdest, wo sie aufgewachsen ist. Vielleicht musst du da auch etwas aufarbeiten. Aber jetzt? Was ist mit Benjamin und deiner Arbeit? Und du solltest auch einmal einen Arzt zu Rate ziehen. Es klingt für mich nach Erschöpfung und zu viel Stress.« Wieder zupfte sie an ihrem Ohrläppchen, diesmal am anderen. »Und was hat das bitte jetzt mit gestern Abend zu tun?«

»Ian betrügt mich!«, platzte es aus Anda heraus. Ein Vakuum schien sich um die beiden Frauen zu bilden. »Es tut weh, aber es überrascht mich nicht. Es ist anders als ich mir es vorgestellt habe.« Kälte breitete sich in ihr aus und sie umfasste ihre Oberarme.

Iris schnappte nach Luft. »Wie? Also ich meine, mit wem und seit wann weißt du es? Sicher?«

»Eindeutiger könnte ich es nicht wissen. Ich sah die beiden gestern bei uns im Gästezimmer. Ihn und seine Ex.«

»Das ist echt mies«, brachte Iris hervor. »Oh, was für eine Scheiße!« Sie sprang auf und lief hin und her. Ida, die friedlich geschlafen hatte, wachte auf und begann leise zu weinen.

Anda versuchte, die Tränen zurückzuhalten.

»Du musst ihn zur Rede stellen!« Iris blieb stehen und sah sie an.

»Muss ich?«, fragte Anda kraftlos.

»Nur so kannst du das, naja, wenn nicht aus der Welt schaffen, so doch klären. Er muss doch wissen, dass du ihn gesehen hast. Mach ihm die Hölle heiß, hörst du! Und dann ausgerechnet Isabel.« Sie zischte leise und schüttelte den Kopf.

Anda war klar, dass ihr Iris nicht helfen konnte. Das Weinen von Ida war lauter geworden, was sie dankbar als Vorwand nahm, um sich zügig zu verabschieden. Sie musste sich beeilen, um nicht zu spät zu ihrem Seminar zu kommen. »Iris, ich muss los. Danke, dass ich hier unterkommen konnte.«

Die beiden umarmten sich vorsichtig, da Iris ihr Baby auf dem Arm genommen hatte.

»Mach ihm die Hölle heiß. Lass dir das nicht gefallen!«

Anda griff nach ihrer Tasche und hob grüßend die Hand. Tränen, die in ihr aufstiegen, verhinderten, dass sie ein Wort rausbrachte. Als sie die Treppe hinunterlief, spürte sie die Blicke ihrer Freundin im Rücken. Gedanken schossen wild in ihrem Kopf umher.

Sie stieg nach einer Haltestelle wieder aus der Bahn, setzte ihren Rucksack auf und lief los. Von hier aus brauchte sie vierzig Minuten nach Hause. Mach ihm die Hölle heiß! Als ob das so einfach wäre. Sie musste ihre Gedanken ordnen. Das war ihr schon immer am besten gelungen, wenn sie zu Fuß unterwegs war. Während der nächsten Schritte lauschte sie auf die Geräusche der Umgebung. Die Erbschaft fiel ihr wieder ein und der Gedanke daran erfüllte sie mit einem Kribbeln. Möglicherweise würde sie ihren Vater dort treffen. Aber würde er sie überhaupt sehen wollen? Wusste er überhaupt, dass er eine Tochter hat? Und was würde es ändern in ihrem Leben? Wieder stieg in ihrem Inneren ein Schluchzen auf.

Vor dem Seminar nach Hause zu gehen, würde sich nicht mehr lohnen, stellte sie nach einem Blick auf ihre Uhr fest. Gerne hätte sie zumindest ihr Jackett angezogen, um etwas seriöser zu wirken. Heute musste es einfach legerer gehen.

Im Seminar angekommen, band sie ihre Haare vorm Spiegel zum Dutt, legte etwas Lippenstift auf und sammelte sich. Da zwei Studenten heute ihr Referat halten würden, würde sie nicht viel zu tun haben, außer am Schluss das kommende Thema einzuführen.

Zur Mittagszeit verließ sie mit ihrer Tasche über der Schulter eilig das Gebäude, froh, dass sie weder Professor Marijan noch Tilly begegnete.

Eine Viertelstunde später war sie vor dem Gartentor angekommen. Ians Auto stand noch in der Einfahrt. Sie hatte gehofft, dass er schon weg wäre. Spontan ging sie ums Haus herum. Tulpen und Narzissen blühten in dem kleinen Beet, das Anda im Herbst bepflanzt hatte. Vorsichtig nahm sie die Holzstufen zur Terrasse und sah durch die Glasfront. Paola verschwand gerade mit einem Tablett leerer Gläser in der Küche. Anda verharrte einen Augenblick und es kam ihr vor, als würde sie ein Gemälde betrachten. Die schwarze Ledercouch, der große Tisch mit den schlichten, mit Leder bezogenen Designerstühlen. Die Blumen, die den Raum schmückten und etwas Verspieltes in das nüchterne, moderne Ambiente brachten. Sie fühlte sich, als kehrte sie nach einer langen Reise zurück und fände kein Zuhause mehr vor. In diesem Moment wurde ihr klar, dass nichts mehr sein würde wie vorher. Nie wieder. Das, was ihr in den letzten Jahren vertraut gewesen war, gehörte der Vergangenheit an.

Der Kies knirschte. Ian fuhr mit dem Auto weg. Sie atmete erleichtert auf. Trotzdem ärgerte sie sich über ihre Feigheit. Iris wäre sofort ins Haus gestürmt und hätte ihn zur Rede gestellt. Deutlich konnte sie diese Szene vor sich sehen. Doch sie war nun einmal nicht Iris.

Mittlerweile war sie wieder ums Haus herumgegangen und stand vor der Haustür. Sie schluckte ihren Ärger viel zu oft hinunter. Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf. »Mist«, murmelte sie.

»Mama?«

Sie wandte sich um und sah ihren Sohn Benjamin vor sich stehen. Erfreut lächelte sie und für einen kurzen Moment staunte sie über den jungen, schlanken Mann mit den Dreadlocks.

»Wo warst du denn? Ich kam gestern Nacht und du warst nicht da. Nur ein paar angetrunkene Typen.«

»Ich, also, ich bin zu Iris, und du?«, setzte sie schnell nach.

Er hob erstaunt die Augenbrauen.

Die Tür öffnete sich und Paola stieß einen kleinen Schrei aus. »Santa Maria, wollt ihr mich zu Tode erschrecken? Was steht ihr hier draußen rum wie die Einbrecher?«

Im Eingang stellte Anda ihre Tasche ab.

Paola sah fragend zwischen der Tasche und Anda hin und her, sagte aber nichts und schloss Benjamin in ihre Arme. Sie erreichte kaum seine Brust. »Benjamin! Wie schön, dich auch einmal wieder zu sehen! Kaffee?«, fragte sie und verschwand, ohne die Antwort abzuwarten, in der Küche.

»War bei Marc. Das hatte ich doch gesagt. Wir waren gestern zusammen unterwegs und auf dem Rückweg bin ich hier vorbeigekommen, um mein Schlafzeug zu holen. Mann, das war ja ne schräge Sache hier. Ian war ja megadicht. Und echt seltsam drauf. Der soll mir noch einmal einen Vortrag halten über ›Kenn dein Limit, Junge!‹ Da ich dich nicht finden konnte, hab ich schnell die Kurve gekratzt.«

»Mir ging’s nicht gut und an Ruhe war hier nicht zu denken. Außerdem hatte mich der ganze Abend genervt.« Sie musste wieder mit Tränen kämpfen und war froh, dass Benjamin auf dem Weg zur Küche war und es nicht bemerkte.

»Auch Kaffee?« Paola kam mit einem Tablett, auf dem zwei Tassen standen.

»Ich danke dir Paola …«, hörte sich Anda mit brüchiger Stimme sagen. Sie räusperte sich.

Paola winkte ab. »Ist mein Job, oder? Und es gibt schlechtere Arbeit, das glaube mir mal!«

Anda lächelte traurig. Ihr umständliches, teilweise antiquiertes Deutsch klang, gekoppelt mit ihrem Akzent, so herzlich. Sie musste es aus Lehrbüchern des vorletzten Jahrhunderts gelernt haben.

»Alles okay, Mama?« Ben lehnte mit dem Rücken am Tresen und hielt seine dampfende Kaffeetasse in den Händen.

»Ach, ich …« Sie brachte den Satz nicht zu Ende, holte Luft und versuchte, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. »Ich habe einen Brief bekommen.«

Paola, die dabei war, übriggebliebenes Essen in Plastikdosen zu verpacken, wandte sich um.

Benjamin senkte seine Tasse und sah sie an. »Ja, und?« Dann blitzten seine Augen auf und er schlug sich an die Stirn. »Ach … etwa dieser offizielle Brief, den ich für dich entgegengenommen habe? Hattest du den noch nicht aufgemacht? Das ist ja schon mindestens zwei Wochen her. Oh nein, ich hab’s vergessen, dir nochmal zu sagen. Habe ihn nur hingelegt … sorry!«

»Ich hab ihn gestern unter dem Telefontisch im Flur entdeckt.«

»Und?« Zwei Augenpaare sahen sie gespannt an.

»Meine Großtante in den USA ist gestorben und ich habe geerbt.«

Erstauntes Schweigen hing im Raum.

»Und …«, setzte Anda an, dann wurde ihr übel, sie rannte ins Gästebad. Geräuschvoll verabschiedete sich der Kaffee. Als es vorüber war, blieb sie einen Moment mit gesenktem Kopf stehen und stützte sich auf dem kühlen Waschbeckenrand ab.

»Mama? Brauchst du etwas?«, hörte sie Benjamin beunruhigt fragen.

Sie richtete sich auf und sah in den Spiegel: Ihre geröteten Augen waren stark umschattet. Ihre Haut war fahl und bildete einen krassen Kontrast zu ihrem schwarzen, glatten Haar.

»Es geht schon, hab zu viel Kaffee getrunken, zu wenig geschlafen und nichts gegessen.« Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und in den Nacken, schnappte den Kamm und brachte ihre Haare in Ordnung. Sie dachte an ihre Mutter, sah sie im Spiegel neben sich stehen und begriff, wie einsam sie gewesen sein musste. Alleine mit der Verantwortung ihrem Kind gegenüber. Anda erkannte in diesem Moment, dass ihre Mutter oft auf ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse keine Rücksicht genommen hatte. Der Preis waren einsame Tränen gewesen. Genauso musste sie sich gefühlt haben. Einsam weinend. Sie hatte es vor ihrer Tochter zu verbergen versucht, doch nicht immer war es gelungen.

Als sie wieder in die Küche kam, hörte sie Paola am Telefon im Esszimmer sprechen, sie klang aufgeregt, beendete dann aber das Gespräch. Anda wunderte sich kurz, kramte dann unter den Blicken Benjamins den Brief aus ihrer Tasche hervor. Er beugte sich interessiert darüber und las mit hochgezogenen Augenbrauen. »Was heißt das: Trustée? Wer ist Matilda Swan?«, und nach einer kurzen Pause: »Warst du überhaupt jemals dort?«.

Sie sah in seine klaren, durchdringend grünen Augen. »Nicht, dass ich mich erinnern könnte. Vielleicht als Kleinkind, ich glaube, dass mir Mama einmal davon erzählt hat. Du weißt, sie hat sehr selten von dort gesprochen. Doch der Name Greta kommt mir bekannt vor. Sie war die Tante von Mutter, bei der sie aufwuchs, nachdem Großmutter früh gestorben war.«

»Und wer ist Matilda Swan?«, fragte Ben.

»Tja, der Name sagt mir nichts, aber so, wie ich das hier verstehe, verwaltet sie das Erbe, bis ich da bin oder bis ich es antrete.«

»Dann wirst du dort hinreisen! Wow!«

Sie lächelte bei der kindlichen Begeisterung, die in seiner Stimme lag.

»Du wirst die Heimat von Oma sehen. Findest du das nicht interessant? Also ich finde das total spannend. Und da lebt dann vielleicht auch noch mein Großvater?« Er zuckte zurück, als er den Ausdruck im Gesicht seiner Mutter sah.

»Ich weiß nichts von meinem Vater, weiß nicht einmal, ob er noch lebt.«

Benjamin fragte nicht weiter.

»Ich kann hier auch nicht einfach so weg. Ich habe einen Job. Und wenn ich das Schreiben richtig verstehe, sollte ich mich baldmöglichst melden, das geht bestimmt auch telefonisch.«

Paola gab ein unwilliges Schnauben von sich. Anda sah sie erstaunt an.

»Mama, du musst dahinfahren. Das steht doch auch hier: ›… ist persönlich zu erscheinen!‹ Das hat die Erblasserin so bestimmt.«

»Wir werden sehen, ich muss noch so viele Dinge klären.« Anda wedelte ungeduldig mit den Händen.

»Du musst da hin!«, wiederholte Benjamin mit Nachdruck.

Anda war sich da nicht sicher. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie war sich nicht einmal sicher, wie sie die nächsten Stunden überstehen sollte. Sobald Ian wieder da war, musste sie mit ihm reden.

»Eins nach dem anderen. Ich muss für morgen noch Dinge erledigen, dann werde ich weitersehen.« Sie hob mit einer energischen Bewegung beide Handflächen nach vorne, wie um etwas abzuwehren. Leider fühlte sie sich nicht halb so entschlossen.

Benjamin rollte mit den Augen.

»Benjamin! Ich mach das schon«, setzte sie schnell in versöhnlichem Ton hinterher.

Er zuckte mit den Schultern und verschwand in Richtung seines Zimmers. »Muss noch eine Runde schlafen.«

Sie tat, was ihr immer half: Sie konzentrierte sich aufs Nächstliegende. Ein ganzer Stapel Klausuren musste korrigiert werden. Morgen war die Besprechung im Plenum angesetzt. Der Nachmittag verflog mit Arbeit. Immer wieder ertappte sie sich dabei, dass sie aus dem Fenster starrte, Gedanken nachhing, die zu nichts führten, und das Gefühl einer tiefen, dumpfen Müdigkeit überkam sie. Paola kam einmal mit einem Tablett mit Sandwiches und Tee. Das letzte Mal hatte ihre Mutter sich so um sie gekümmert und ihre Augen wurden feucht. Als sie gegessen hatte, fühlte sie sich besser. In der Küche schnitt sie sich später etwas Obst auf, starrte kauend durch das Wohnzimmerfenster in den Garten hinaus und beschloss, das Frühlingswetter auszunutzen, um eine Runde zu laufen.

Ihr Entschluss kam ins Wanken, als sie eine neue Welle der Übelkeit und Traurigkeit überkam, doch sie riss sich zusammen, da sie wusste, dass die Runde durch den Park helfen würde. Und tatsächlich strömte nach ein paar Schritten an der frischen Luft das Gefühl von Lebendigkeit in sie. Die Übelkeit verschwand. Wie von selbst lief sie im Rhythmus, der in ihr begonnen hatte. Ihre Gedanken begannen umherzuschweifen. Bilder der vergangenen Tage zogen an ihrem inneren Auge vorüber. Sie lauschte dem Geräusch ihrer Füße, die gleichmäßig auf dem Untergrund aufkamen. Die Vibrationen ihres Laufs vermischten sich mit Trommelschlägen aus ihrer Erinnerung. Die Ausstellung über Kunst der Native Peoples Nordamerikas, die sie vor einiger Zeit in Berlin besucht hatte, fiel ihr ein. Mehrmals war sie durch die Ausstellungsräume gegangen. Einmal sah sie bei einer Performance mit Trommeln und Tanz zu. Da hatte etwas in ihr zu klingen begonnen, als drängte etwas Unbekanntes an die Oberfläche. Im ersten Moment war sie darüber erschrocken. Aufgewühlt hatte sie die Veranstaltung verlassen, war aber in den Tagen, die sie noch in Berlin verbracht hatte, immer wieder dorthin zurückgekehrt.

Obwohl das schon einige Zeit zurücklag, erinnerte sie sich jetzt glasklar daran. Es waren nicht die Bilder und Skulpturen, an die sie dachte, sondern an das umfassende Erlebnis mit all ihren Sinnen. Sie fühlte sich eins mit der Trommel, ihr Herz schlug in ihrem Rhythmus. Jo-lan-da On-a-tha, Jo-lan-da On-a-tha Jo-lan-da On-a-tha, Jo-lan-da On-a-th-a.

Ein Mountainbiker schoss mit hoher Geschwindigkeit an ihr vorüber. Erschrocken sprang sie im letzten Moment zur Seite. Vorne an der Kreuzung traf sie Frau Kahlert, die eilig mit ihren Walkingstöcken unterwegs war. Anda beschleunigte, aber kurz bevor sie sie eingeholt hatte, wurde sie unsicher. War sie das überhaupt? Da drehte sich die alte Frau um. Natürlich war sie es. Anda verstand nicht, warum sie daran gezweifelt hatte. Frau Kahlert schien nicht zu einem Schwätzchen aufgelegt, grüßte aber freundlich. »Sie sind ja immer noch da! Jetzt wird’s aber Zeit, Frau Anda. Gehen Sie, gehen Sie.«

Anda lächelte irritiert und lief weiter. Was meint sie nur? Nach einigen weiteren Schritten drehte sie sich nochmal um, aber die alte Frau war nicht mehr zu sehen. Eine Ahnung, was sie mit ihren Worten gemeint hatte, flog Anda an, aber ihr Verstand wehrte sich noch dagegen.

Es dämmerte, als sie wieder auf die kleine Straße einbog. Der Schweiß rann ihr den Rücken hinunter, ihre Hosenbeine waren schlammverspritzt. Vor der Tür zog sie ihre schmutzigen Schuhe aus. Worstcase für Ian. Sein Auto stand in der Auffahrt, aber er war weder zu hören noch zu sehen. Auf Socken ging sie schnell ins Bad, drehte den Wasserhahn auf und trank wie ein durstiges Tier. Ihr Herz hämmerte und so viel sie auch trank, ihr Mund fühlte sich trocken an. Sie war wirklich keine Konfrontationsheldin.

Eine Viertelstunde später saß sie mit nassen Haaren an ihrem Schreibtisch und sah nochmals die Klausuren durch, die sie morgen zurückgeben würde, stapelte sie und räumte sie von einer Seite auf die andere. Ihr war klar, dass sie Zeit schindete. Dennoch hatte sich etwas in ihr formiert. ›Geh jetzt runter!‹, befahl sie sich.

Da klopfte es und Ian stand in der Tür. »Anda …«

Wieder fiel ihr auf, wie blass er war.

»Ich komm gleich runter.«

Mit einem Achselzucken schloss er die Tür und diese kleine Geste reichte aus, um sie wieder wütend zu machen.

Sie schob den Stapel mit Klausuren ordentlich in die Mitte, legte ihre Unterlagen obendrauf, atmete durch und verließ ihr Zimmer.

Ian saß wie ein Häufchen Elend am Tisch und beugte sich über eine Teetasse. »Es tut mir leid. Ich habe viel zu viel getrunken, dementsprechend geht es mir auch. Da nützen auch Tennis und Sauna nichts.«

Sie schwieg, sortierte fieberhaft ihre Gedanken. Würde er ihr seine Affäre gestehen?

»Erst als Benjamin nach dir fragte, fiel mir auf, dass ich dich eine ganze Weile nicht gesehen hatte. Warst du zwischendurch weg?«

»Ja, so kann man sagen.« Sie hob die Augenbrauen und hörte den provokanten Ton in ihrer Stimme.

»Ich hatte nicht bemerkt, dass du weg warst. Du bist ja morgens meistens gleich laufen. Das hab ich auch heute angenommen. Wann bist du denn weg?« Seine Augen glitzerten fiebrig.

»Ich bin zu Iris, die Zeit kann ich dir beim besten Willen nicht sagen. Ich musste einfach weg, mir war das alles zu viel und ich brauchte jemanden zum Reden. Ich meine zum richtigen Reden, nicht, um Smalltalk zu machen und Bullshit zu quatschen.« Sie ballte ihre Hände zu Fäusten.

Ian lehnte sich zurück, in seinem Gesicht zeichnete sich Skepsis ab.

Erleichterung machte sich in ihrem Inneren breit, sie war froh, dass nichts über die Affäre kam. Sie hätte nicht gewusst, wie sie hätte reagieren sollen.

»Ja, ich hab zu viel getrunken, das seh ich ein, aber es ist auch echt schwierig mit dir gerade. Die meiste Zeit warst du sowieso bei Paola in der Küche, die einzigen, mit denen ich dich habe reden sehen, waren dieser Anwalt und seine geisteskranke Schwester, oder wer war die Frau? Ich hoffe für ihn, es war nicht seine Frau …«

Anda zuckte bei diesen Worten zusammen. »Schwester, das war seine Schwester.« In ihr breitete sich ein dumpfes, kraftloses Gefühl aus. Sie musste an einen Tintenfisch denken, der einen Schwall Tinte absonderte und alles verdunkelte. Sie seufzte.

Ian schien nichts zu bemerken. »Bernd fragte schon, ob du zum Personal gehörst«, fuhr Ian fort und lachte. »Nur, weil du in diesem Kleid so hinreißend aussahst, schloss er, dass du wohl doch nicht zum Service gehören kannst«, plapperte er weiter.

»Ha, ha«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Hey, das war ein Kompliment! Dem ich mich übrigens anschließen kann.«

»Soweit du dich noch erinnern kannst«, sagte sie scharf.

»Uhh.« Er rollte mit den Augen. »Empfindlich?« Er hob entschuldigend die Hände. »Das Blumengedöns wurde hochgelobt. Bernds Frau wollte unbedingt die Adresse des Floristen haben!«

Er merkte einfach nicht, was er für einen Mist redete!

»Naja, ihr Frauen und eure Blumen …«

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und überkreuzte die Beine. Ihre Finger umschlossen fest die Teetasse.

»Ich fand das Essen und den Abend durchaus gelungen. Manfred hat mich gleich für morgen früh zu einem Gespräch eingeladen, da geht es um eine große Sache. Wenn mir dieser Abschluss gelingt, dann habe ich es endgültig an die Spitze geschafft. Deshalb hab ich mich heute so früh aus dem Bett gequält. Er rief in aller Herrgottsfrühe an, um mich zum Tennis einzuladen. Klar, der hat nichts getrunken und ist sehr gesundheitsbewusst … ja, was tut man nicht alles für die lieben Geschäfte.«

»Ich will nicht über das Essen reden, ich will auch gar nicht mehr daran denken!« Sie richtete sich auf und legte die Unterarme auf den Tisch.

Endlich bemerkte er, dass sie von seinen Ausführungen nicht sonderlich begeistert war. »Anda, ich hab mir heute solche S…«, begann er mit leiser Stimme.

»Sorgen hast du dir bestimmt keine gemacht, Ian«, sagte sie scharf. »Du hast es erst mittags bemerkt und dann es nicht einmal für nötig befunden nachzufragen, wo ich war.« Sie beugte sich vor, bereit zum Aufstehen. Dann fiel sie in sich zusammen und seufzte. »Und weißt du was? Ich habe es nicht einmal erwartet, dass du mein Fehlen bemerkst.«

Das Schweigen, das folgte, war unangenehm.

»Wird das hier das jüngste Gericht?«, machte er den verzweifelten Versuch einer Gegenwehr.

Sie ging nicht darauf ein und zuckte mit den Schultern. »Ich werde bald für eine Weile verreisen«, informierte sie ihn.

Ians Miene war undurchdringlich. Seine langen Finger umschlossen die leere Tasse.

»Ich habe geerbt, in den USA.«

»Hat sich dein Vater etwa doch erinnert, dass er eine Tochter hat, kurz bevor er abgetreten ist?«

Jähe Wut flammte in ihr auf und ein ziehender Schmerz meldete sich hinter ihrer Stirn. »Wie geschmacklos, Ian«, sagte sie voller Abscheu. »Nein, nicht mein Vater hat mir etwas vererbt, wo er auch immer leben mag. Meine Großtante ist gestorben.«

»Deine Großtante? Hast du je von ihr gehört?«

»Bei ihr ist meine Mutter aufgewachsen, das ist eins der wenigen Dinge, die ich von ihr erzählt bekommen habe. Und ich bin anscheinend die Einzige, die für das Erbe in Frage kommt.« Sie hob den Brief hoch und legte ihn wieder vor sich auf den Tisch.