Jesu Weg zu den Heiden - Daniel Haase - E-Book

Jesu Weg zu den Heiden E-Book

Daniel Haase

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Beschreibung

Mit dem Aufkommen der historisch-kritischen Methode in den biblischen Wissenschaften wurden auch die geographischen Angaben im Markusevangelium einer Prüfung unterzogen, die letztlich zu der Annahme führte, der Autor sei nicht vertraut mit den Orten, die in seinem Evangelium genannt werden. Wird Markus nicht als Geograph, sondern als Erzähler und Theologe gewürdigt, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Geographiekenntnissen und den geschilderten Ereignissen unter dem Aspekt der Plausibilität oder gar der Historizität nicht auf diese Weise. Vielmehr tritt die mit der Erzählabfolge angestrebte Intention des Verfassers in den Fokus. Nunmehr wird die von Markus entworfene Karte literaturwissenschaftlich entschlüsselt und die durch diese Aufteilung unterstützte Intention in den Entstehungskontext des ältesten Evangeliums aufgedeckt. [Jesus on His Way to the Gentiles. The Geographical Concept of the Gospel of Mark] The historic-critical method in biblical studies caused the geographical data within the Gospel of Mark to be criticized since the author does not seem to be familiar with the places that are named in his gospel. This book appreciates Markus as a story teller and theologist, however his geographical knowledge and the mentioned happenings are not explained by plausibility or the historicity, rather than the order of happenings and pure intention of the writer is being focused on instead. This map is a creation being the oldest gospel by Mark and will be analyzed further based on literary points of view and explained in its historical context.

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ARBEITEN ZUR BIBEL UND IHRER GESCHICHTE

Herausgegeben von Beate Ego, Christof Landmesser, Udo Schnelle und Andreas Schüle

Band 63

Daniel Haase

Jesu Weg zu den Heiden

Das geographische Konzept des Markusevangeliums

Daniel Haase, Jg. 1988, studierte Lehramt für Gymnasien (Evangelische Theologie und Mathematik) in Marburg und Kassel. Er ist Lehrer und Mitglied der Rudolf-Bultmann-Gesellschaft für hermeneutische Theologie. 2015 erhielt er den Posterpreis der Universitätsgesellschaft Kassel.

Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich Geistes- und Kulturwissenschaften der Universität Kassel als Dissertation angenommen.

Datum der Disputation: 20.05.2017

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Zacharias Bähring, Leipzig

Satz: 3W+P, Rimpar

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

ISBN 978-3-374-05834-1

www.eva-leipzig.de

Vorwort

Es erscheint seltsam, eine Arbeit über die dem Schauplatz einer Erzählung zu Grunde liegende Geographie vorzulegen, dessen real-weltliche Bezüge dem Verfasser selbst nicht durch eigene Reisen vertraut sind. Noch seltsamer mag es aber sein, wenn der Autor als Schauplatz der eigentlichen Erzählung ein ihm unbekanntes Land wählt. Dies war zumindest immer der Eindruck, der sich mir mit dem Finger auf der Landkarte beim lesenden Nachvollziehen der im Markusevangelium geschilderten Route ergab.

Die vorliegende Arbeit wurde im April 2017 vom Fachbereich Geistes- und Kulturwissenschaften der Universität Kassel als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie leicht überarbeitet und nachfolgende Literatur eingefügt. Zudem wurden das Kartenmaterial und die übrigen Abbildungen den Druckerfordernissen angepasst.

Der vorliegende Text ist eine Station eines langen Schreib- und Denkprozesses, der bereits im Studium durch das Verfassen eines Online-Bibelkommentars auf der Homepage der Deutschen Bibelgesellschaft zur Heilung eines Taubstummen (Mk 7,31–37) und einer ersten vorsichtigen Näherung an ein geographisches Konzept in meiner Examensarbeit begann. Auf diesem Weg begleiteten mich viele Menschen, denen ich zum Dank verpflichtet bin.

Die Begeisterung für das Markusevangelium wurde stets durch meinen akademischen Lehrer Prof. Dr. Paul-Gerhard Klumbies, dessen Assistent ich für über drei Jahre sein durfte, gefördert. Ihm verdanke ich das Gelingen dieser Arbeit. Er stand mir stets mit seiner exegetischen Erfahrung, seinem Fachwissen und motivierenden Worten zur Seite und in Gesprächen war er mir immer freundlich zugewandt und am Erfolg seines Schülers interessiert, weshalb ich ihn zurecht meinen Doktorvater nennen kann.

Ebenso gilt mein Dank Prof. Dr. Nils Neumann, der mir als Zweitgutachter noch viele wertvolle Hinweise und hilfreiche Kritik geben konnte. Für die Aufnahme in die Reihe Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte danke ich den Herausgebern Prof. Dr. Christof Landmesser und Prof. Dr. Udo Schnelle. Dr. Annette Weidhas danke ich namentlich und stellvertretend für alle an der Drucklegung Beteiligten bei der Evangelischen Verlagsanstalt.

Meiner Kollegin Tanja Hühne und Kristina Bierich als studentischer Mitarbeiterin an der Universität Kassel spreche ich ebenso meinen Dank aus, für die Bereitschaft über das Thema zu sprechen, die Höhen und Tiefen des wissenschaftlichen Arbeitens gemeinsam zu tragen und dem universitären Alltag zu begegnen.

Danken möchte ich der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen-Waldeck, die die Veröffentlichung durch einen Zuschuss zu den Druckkosten gefördert hat.

Ohne einen starken Rückhalt in der Familie hätte diese Arbeit sicherlich nicht geschrieben werden können. Daher danke ich Rudolf Haase, der trotz seines hohen Alters noch immer am Werdegang seines Enkels interessiert war, Birgit und Dieter Haase für die Geduld und Unterstützung in allen Lebenslagen, aber auch Annika Plitzner, die stets Verständnis für meine Zeit am Schreibtisch hatte.

Edertal, im April 2019

Daniel Haase

Inhalt

Cover

Titel

Über den Autor

Impressum

Vorwort

1.Einleitung

2.Probleme bei der Untersuchung des geographischen Konzepts des Markusevangeliums

2.1Städte, Dörfer, Felder, Berge

2.2Die Geographiekenntnisse des Autors

2.3Abfolge der Orte

2.4Wissen und Absicht

2.5Lücken im Text

3.Erste Schritte einer Vorklärung und Lösungsansatz

3.1Toponymisches Lexikon

3.2Der Blick auf eine moderne Karte

3.3Exkurs: Antike Methoden der Welterfassung – Geographisches Allgemeinwissen

3.4Lokaltraditionen als Ursprung einer Perikope?

3.5Von einem Ort zum anderen

3.6Galiläa, Judäa, Idumäa und weitere Gebiete

3.7Die Darstellung von Juden und Heiden im Markusevangelium und die Verwendung der Begriffe in dieser Arbeit

3.8Zum Verhältnis von Juden und Heiden zur Zeit Jesu

3.9Die geographische Zweiteilung der Erzählung

4.Theoretische Grundlagen

4.1Die Linearität der Raum-Zeit-Transformation

4.2Referenzen auf Raum

4.3Der Modell-Leser

4.4Übertragung auf das Markusevangelium

4.5Die Literaturkarte

5.Modellanwendung auf Mk 7,1–8,13

5.1Vorbemerkungen

5.1.1Der inhaltliche und geographische Rahmen

5.1.2Der Rahmen der Perikopen – Zwei Streitgespräche

5.2Historische Bemerkungen

5.2.1Gennesaret

5.2.2Gebiet von Tyrus und Sidon

5.2.3Dekapolis

5.2.4Dalmanutha

5.3Die Modell-Leser-Sicht

5.3.1Gennesaret

5.3.2Tyrus und Sidon

5.3.3Die Dekapolis

5.3.4Ein unbenannter Ort

5.3.5Dalmanutha

5.4Einordnung in jüdisch-heidnisch

5.5Verbindung von Inhalt und Geographie

5.5.1Streit über rein und unrein – Gennesaret

5.5.2Die Brotkrümel für die Hunde – Tyrus und Sidon

5.5.3Die demonstrierte Öffnung – Die Dekapolis

5.5.4Tischgemeinschaft – Die Dekapolis

5.5.5Noch ein Zeichen? – Dalmanutha

5.6Die theologische Aussage der zweiten Reise in heidnische Gebiete

5.7Exkurs: Das Motiv des Brotes im Markusevangelium

5.8Von Tyrus über Sidon an den See, mitten in die Dekapolis

6.Ausdehnung auf das gesamte Evangelium

6.1Kapernaum

6.2Gerasa

6.3Unbenanntes Ufer (Tochter des Jaïrus) und Nazareth

6.4Bethsaida und Cäsarea Philippi

6.5Die geographische Gesamtkomposition – Die markinische Literaturkarte

6.5.1Die Einleitung der Erzählung

6.5.2Die Erzählungen auf jüdischen Gebieten

6.5.3Die Erzählungen auf heidnischen Gebieten

6.6Die Bewegungen

7.Geschwistergeschichten

7.1Brotvermehrung

7.2Erstes Wirken im jeweiligen Gebiet (1,21–28; 5,1–20)

7.3Seeüberquerungen

7.4Zusammenführung der Ergebnisse

8.Gesamtkompositorische Aussagen

8.1Die Figur des Jesus von Nazareth

8.2Ein Heidenevangelium im Evangelium?

8.3Die Apologie der Heidenmission, das Verhältnis zu Paulus und Petrus und die Funktion der Jünger

8.4Das Verhältnis von Hinwendung und Abwendung anhand der Figuren

9.Schluss

10.Literaturverzeichnis

I.Hilfsmittel und Wörterbücher

II.Antike Quellen

III.Bibelausgaben und Übersetzungen

IV.Kommentare

V.Forschungsliteratur

11.Abbildungsverzeichnis

12.Stellenregister

Endnoten

1.Einleitung

»Wenn hier mit der neueren Markusforschung davon ausgegangen wird und im Folgenden auch gezeigt werden soll, daß der Evangelist Markus sich als ein exzellenter Erzähler und Theologe erweist, dann sind die heute verfügbaren archäologischen, zeitgeschichtlichen und lokalgeschichtlichen Forschungsergebnisse keineswegs überflüssig geworden. Im Gegenteil: Im Spiegel dieser wissenschaftlichen Forschungsergebnisse kann sich zeigen, ob Markus selbst bzw. die Tradenten seiner Überlieferungen über gute oder hinreichende Ortskenntnisse verfügten, ob der Evangelist solche bei seinen Adressaten voraussetzte und ob er diese gegebenenfalls bewußt aufgriff, um seine inhaltliche Botschaft zu profilieren.«1

Die Orte des Wirkens Jesu faszinieren und interessieren die Christen seit jeher. Mit seinem Herrschaftsantritt ab 324 n. Chr. etablierte Konstantin der Große einen Erinnerungskult des Lebens Jesu in Jerusalem.2 Nach der muslimischen Machtbeanspruchung über die Gebiete des damaligen Palästinas im 7. Jhdt. kam es ab dem 11. Jhdt. zu den ersten Eroberungszügen, um »die heiligsten Stätten der Welt, de[n] Inbegriff aller Reliquien, die Orte, an denen Christus noch gleichsam lebendig anwesend war, […] den Händen der Ungläubigen […zu] entreißen.«3 Die Kreuzfahrer versprachen sich dadurch die Erlassung aller Sünden, angeheizt durch Päpste und Kaiser, die vor allem politische Interessen verfolgten. Trotz des erneuten Verlustes Jerusalems und des gesamten Nahen Ostens an die sog. Ungläubigen blieben große Pilgerströmungen an die heiligen Stätten nicht aus. Bis heute ist die Anziehung Israels für Christen ungebrochen.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geographie des Markusevangeliums und die Verortung einzelner Perikopen scheint so alt zu sein wie die historisch-kritische Exegese selbst.4 Insbesondere in Bezug auf die geographischen Angaben im Markusevangelium lassen sich mit Hilfe der Literarkritik Bearbeitungsstufen nachweisen, die Zeugen eines mangelnden Geographiewissens beim Verfasser selbst, aber auch bei den Redaktoren sein können. Diese Unsicherheit nährt Zweifel an der Authentizität des geschilderten Handlungsablaufs, in dessen Folge der Evangelist zum bloßen Sammler mündlicher Überlieferungen ohne eigene theologische Ausrichtung in seiner Erzählabfolge ausgerufen wird.5 Dennoch ist die Geographie aufgrund der quantitativen Verteilung der Belegstellen das derzeit am häufigsten gewählte Gliederungsprinzip, das dem Markusevangelium zu Grunde gelegt wird.6 Darin spiegelt sich die Anerkennung einer theologischen Leistung des Evangelisten wider, dessen Text nunmehr als Gesamterzählung wertgeschätzt wird.

Auch wenn Scholtissek den oben angestellten Überlegungen nicht weiter nachgeht, hat er auf wichtige Fragestellungen aufmerksam gemacht. Wer eine Untersuchung über die geographischen Angaben des Markusevangeliums schreiben möchte, sieht sich mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert, die teils der Tatsache geschuldet sind, nur marginale Informationen über den Verfasser der Schrift, eine Reihe von möglichen Abfassungsorten sowie divergierende Ansichten über die Adressaten zu besitzen, teils aber auch aus der veränderten Sicht auf die Welt und ihre Erfassung heute erwachsen. Wer glaubt in einem (antiken) Erzähltext eine objektive Abbildung der Welt wiederzufinden, muss enttäuscht werden, da Objektivität niemals die Absicht eines Autors, vor allem nicht die eines Autors eines theologischen Erzähltextes sein kann. Dennoch ist die Frage nach den Ortskenntnissen des Verfassers und seiner Rezipienten berechtigt, darf aber nicht zur Plausibilitätsprüfung einer historischen Leben-Jesu-Geschichte herangezogen werden.

In dieser Arbeit werden die Ortskenntnisse des Autors einer kritischen Prüfung unterzogen. Die in der Forschung diskutierten Problemstellen werden vorgestellt und die daraus resultierenden Erwägungen benannt. Dabei werden die Schwierigkeiten bei Kartierungsversuchen einer Route Jesu aufgedeckt. Sowohl textkritische Überlegungen als auch historisch-archäologische Erkenntnisse dienen der Positionierung der in den Perikopen genannten Orte. Mit Hilfe der Kategorisierung der Orte nach politischer Zugehörigkeit geschieht eine erste Annäherung an den Lösungsvorschlag, der weniger eine historische Herangehensweise zu Grunde legt, als vielmehr einer textbasierten Konstruktion einer markinischen Karte entspringt. Diese Karte zu erarbeiten und zu verifizieren ist Ziel dieser Arbeit.

Die für diese Aufgabe vorzustellenden theoretischen Grundlagen können nur unter der Voraussetzung gelten, den Text des Markusevangeliums als einen Erzähltext, als von einem Autor geschaffene Literatur anzusehen, die demnach auch mit Mitteln der Literaturwissenschaft zu behandeln ist.7 Hieran zeigt sich bereits, dass diese Arbeit nicht nach einem historischen Kern im Markusevangelium sucht, sondern nach der vom Autor intendierten Botschaft, die er mit der Geographie vermittelt.8

An einem Anwendungsbeispiel, das die Perikopen 7,1–8,13 umfasst, werden sowohl die theoretischen Grundlagen getestet, als auch die entwickelte These untermauert. Eine Auseinandersetzung mit den historischen Gegebenheiten wird vor die Untersuchung der Texte gestellt, die vor allem die Leserlenkung durch den Autor im Blick hat. Die Darlegung des Zusammenhangs zwischen Geographie und theologischer Aussage wird in fünf Einzelexegesen durchgeführt und das sie verbindende Motiv herausgearbeitet. Daran anschließend wird die These auf das gesamte Evangelium ausgeweitet und zuletzt werden in zwei Kapiteln kompositorische Auffälligkeiten im Horizont der vorgestellten Systematisierung besprochen.

Zuletzt müssen noch einige Vorbemerkungen gemacht werden. In der vorliegenden Arbeit wird mehrfach ein Gebiet, ein Ort, eine Perikope oder auch eine Person als heidnisch bzw. als Heide bezeichnet. Die Verwendung dieser Begriffe soll keinesfalls despektierlich gemeint sein, bezieht sich hier auf den historischen Kontext des 1. Jhdt. n. Chr. und soll eine Grundunterscheidung zwischen den Angehörigen der jüdischen Religion zur Zeit Jesu und allen anderen Glaubensrichtungen der damaligen Zeit wiedergeben. Damit setze ich voraus, dass der Begriff Heide nicht suggeriert, einen »Angehörigen einer weitgehend einheitlichen Form von Religiosität« zu definieren, da »im Gegenteil das ethnische, kulturelle und religiöse Spektrum, das sich hinter dem Begriff ›Heiden‹ verbirgt, sehr breit, vielfältig und dynamisch«9 war. Die Verwendung von »pagan«, wie Zangenberg es für seine Untersuchungen10 vornimmt, scheint keine echte Alternative zu sein, da es bei ihm einiger Erklärungen dazu bedarf.

Auch die Begriffe jüdisch bzw. Jude bedürfen daher einer kurzen Erläuterung. Zu keiner Zeit in der Geschichte gab es eine homogene Gruppe von Menschen, die als jüdisch bzw. Juden bezeichnet werden konnte. Die religiöse Vielfalt der sich auf den Exodus berufenden Gemeinschaft soll nicht unbeachtet erscheinen. Die Begriffspaare dienen nur der Unterscheidung einer durch Markus in seinem Evangelium geschaffenen und dargestellten Polarität, wenngleich er ebenfalls unterschiedliche jüdische Gruppierungen kennt und auch benennt. In Kapitel 3.7 wird die Verwendung der Begriffe Juden und Heiden im Markusevangelium explizit untersucht werden.

2.Probleme bei der Untersuchung des geographischen Konzepts des Markusevangeliums

2.1Städte, Dörfer, Felder, Berge

Setzt man den Fokus beim Lesen des Markusevangeliums auf seine Schauplätze, so fällt durchaus eine Fülle von Angaben auf. Es finden sich viele Perikopen, die durch eine kurze Bemerkung zur Umgebung eingeleitet werden. Dabei gilt jedoch zu beachten, dass die Angaben recht unterschiedlich in ihrer Kartierbarkeit sind und das volle Spektrum der Topographie abdecken: Gelände (Relief), die Gewässer, Bodennutzung bzw. Bewuchs und die Bauwerke. So lassen sich als Schauplätze Berge (3,13–19; 6,45–52; 9,2–10; Fuß des Berges 9,11–13), Gewässer (Jordan: 1,4–11; See: 1,16–20; 2,13–17; 7,31–37 uvm.), ein Feld (2,23–28), ein Feigenbaum (11,20–25) und Häuser, Synagogen, Zollstationen (u. a. 2,1–12; 3,1–6) finden. Die großen Orte am See Genezareth, die uns auch aus anderen Quellen bekannt sind, wie Scythopolis, Gabei, Sepphoris oder Tiberias, werden im Markusevangelium nicht genannt.1

Wer versuchen möchte, diese Schauplätze auf einer Karte einzuzeichnen, steht vor dem Problem, die Lage eines ganz bestimmten Feldes, eines bestimmten Berges oder die Position auf dem See Genezareth festlegen zu müssen. Da der Autor aber auch auf jegliche Nennung von Eigennamen für Berge oder Flurstücke, sofern diese existiert haben, verzichtet, sollen diese Bereiche zunächst ausgeklammert werden und die Ortsnamen Hauptbestandteil der Untersuchung werden. In einem späteren Schritt werden die übrigen Perikopen wieder Eingang in die Untersuchung finden.

Als spezifische Gebiete mit eigenem Namen werden Judäa (3,7; 10,1; 13,14), Galiläa (1,9.14.39; 3,7; 6,21; 9,30; 14,28; 15,41; 16,7), Idumäa (3,8) und die Dekapolis (5,20; 7,31) genannt. Etwas unspezifischer finden sich auch Gebiete im Text, die mit Hilfe einer Stadt lokalisiert werden können, wie die Gebiete von Tyrus und Sidon (3,8; 7,24.31) und die Gegend bei Cäsarea Philippi (8,27). Zudem finden sich noch Gebiete, die zu allgemein oder zu groß erscheinen, als dass sie leicht zu lokalisieren sind, wie »das ganze jüdische Land« (1,5) oder auch die Gebiete »jenseits des Jordans« (3,8; 10,1).

Markus kennt diverse Ortsnamen. Insgesamt nennt er dreizehn verschiedene Orte, welche von der Provinz Syrien bis nach Judäa reichen: Kapernaum (1,21; 2,1; 9,33), Gerasa (5,1), Nazareth (1,9.24; 10,47; 14,67; 16,6), Dalmanutha (8,10), Betsaida (6,45; 8,22), Cäsarea Philippi (8,27), Gennesaret (6,53), Jerusalem (1,5; 3,8.22; 7,1; 10,32.33; 11,1.11.15.27; 15,41), Betanien (11,1.12; 14,3), Betfage (11,1), Jericho (10,46), Tyrus und Sidon (3,8; 7,24.31).

Eigennamen für Flüsse, Berge und topographisch interessante Orte kennt Markus nur wenige. So nennt er den Jordan (1,5.9; 3,8; 10,1) und den See Genezareth (1,16; 7,312), auch den Ölberg (11,1; 13,3; 14,26), Golgatha (15,22) und den Garten Gethsemane (14,32). Aus Jerusalem weiß er von dem Palast des Hohenpriesters (14,54) und des Prätoriums (15,16) zu berichten.

2.2Die Geographiekenntnisse des Autors

In einem Überblick über die Forschungsgeschichte findet sich in der Regel eine Auflistung von unterschiedlichen Ergebnissen zu einer Fragestellung oder einem Themengebiet. In der Frage nach den Geographiekenntnissen des Autors des Markusevangeliums ähneln sich die Ergebnisse bzw. Urteile jedoch gänzlich. Derzeit wird in der Forschung weitestgehend von einer Unkenntnis des Autors über die Geographie rund um den See Genezareth ausgegangen. Dennoch soll hier der Versuch unternommen werden, eine Gewichtung der Ergebnisse abzubilden, da die aus dieser Annahme resultierenden Schlussfolgerungen unterschiedlich sind.

Furrer stellt fest, dass die Aufgabe der Evangelisten nicht die Wiedergabe topographischer Genauigkeiten gewesen sei, ist aber sehr erfreut bei Markus »getreue Localfarben« vorfinden zu können. Johannes allein sei es, der die Orte durcheinanderwerfe.3 Pesch,4 Schweizer,5 Lohmeyer6 und Kümmel7 urteilen kurz und bündig über die Unkenntnis des Verfassers, der demnach keine oder falsche Vorstellungen der Geographie gehabt habe. Wenngleich Bultmann noch der Meinung war, dass »Mk […] eben noch nicht in dem Maße Herr über den Stoff geworden [ist], daß er eine Gliederung hätte wagen [können]«,8 so urteilte sein Schüler Conzelmann gemeinsam mit Lindemann9 später wie Bormann,10 die die geographischen Angaben als das wichtigste Gliederungsprinzip ansehen.11 Hedrick behauptet sogar, dass die geographischen Angaben »the only immediately recognizable over-all narrative structure«12 sind. Doch auch Conzelmann/ Lindemann müssen eingestehen, dass »der Verfasser [nicht] mit den Einzelheiten der Geographie Palästinas […] vertraut [ist].«13 Koch kann aufzeigen, dass die beiden typischen Gliederungsaspekte, die Geographie und der Inhalt, durchaus miteinander zu kombinieren sind.14 Er selbst geht aber davon aus, dass die Geographiekenntnisse des Markus erst noch nachzuweisen seien.15

Die meisten Aussagen jedoch beziehen sich auf den Autor und dessen Herkunft. Aus der Herkunft des Autors werden die geographischen Unsicherheiten erklärt: Söding schließt aufgrund der »geographischen Unsicherheiten«16 eine Abfassung in Galiläa oder Judäa aus. Syrien als Abfassungsort schließen Pokorný und Heckel aus, da »ein aus Syrien stammender Verfasser […] wohl kaum so geographisch unspezifisch von einer ›Syrophönizierin‹ gesprochen [hätte].«17 Aufgrund der umständlichen Reiseroute in 7,31 schließt Klaiber Palästina als Abfassungsort aus, obwohl er anmerkt, dass wir nur wenig Kenntnis von den geographischen Vorstellungen zu einer Zeit haben, in der es noch keine Kartographie gab.18 Auch Vielhauer schließt Palästina als Abfassungsort aus und damit auch den möglichen Verfasser Johannes Markus.19 Niederwimmer schließt als Verfassungsort all diejenigen Orte aus, die im Text von Markus benannt werden, denn der Text weise »Vorstellungen von der Geographie Palästinas auf, wie sie sich nur bei Landfremden finden können.«20

Einen interessanten Ansatz verfolgt Schenke, der bestätigt, Markus habe die Geographie Palästinas nicht genau gekannt. Schenke sieht aber in der Darstellung der Wanderung Fiktion, sodass Markus »eine Phantasielandschaft entworfen [hat], in der er das Wirken Jesu geographisch ansiedelte.«21 Dabei habe der Autor nicht einen Bericht abgeben wollen, wie es gewesen sein müsste, sondern wie es gewesen sein könnte. Schenke stellt Galiläa als Ort des Wirkens in göttlicher Vollmacht und Jerusalem als Ort der Feindschaft gegen Jesus heraus. Das reale Galiläa, von dem der Autor weiß, dass Jesus dort gewirkt haben soll, unterscheide sich vom Galiläa des Markusevangeliums darin, dass der Leser Jesus dort sehe und »ihm auf den Weg der Kreuzesnachfolge durch alle symbolischen Orte hin zu ihrem Jerusalem gerufen«22 werde. Die Symbolik der Orte wird nicht explizit erklärt, bedeutet aber keine den Orten anhaftende, jeweils unterschiedliche Symbolik, welche zur Interpretation bekannt sein muss, sondern bezieht sich auf die Symbolik, die der Ort in Verbindung mit der Erzählung erhält und die dem Leser präsentiert wird. Es kann von einem zugeschriebenen Lokalkolorit gesprochen werden.23

Fragt man nach der Geographie im Markusevangelium, so zeigt sich, wird stets der Versuch unternommen, erzählte Welt und reale Welt miteinander zu vergleichen. Im gleichen Atemzug wird dann die Frage nach der Herkunft des Verfassers bzw. dem Ort der Abfassung gestellt. Beide Fragen zusammen sind aber nur legitim, wenn man versuchen möchte, die Falschangaben zu erklären oder zu entschuldigen. Gleich welche Kenntnis der Verfasser von der Geographie seiner Erzählwelt hatte, bleiben es dennoch falsche Angaben, die dann erklärungsbedürftig sind. Zu den am heftigsten diskutierten Stellen zählten die Verortung der Heilung des Besessenen von Gerasa (5,1–20) und der Reisebericht in 7,31.

Mit einem Blick auf die Karte werden beide Fehler leicht sichtbar. Gerasa liegt rund 50 km südöstlich24 vom See Genezareth25 entfernt. Spätere Redaktoren haben diesen Fehler bemerkt und durch andere Ortsnamen ersetzt. Und der Weg von Tyrus über Sidon in das Gebiet der Dekapolis an den See Genezareth ist »etwa so sinnvoll, wie von Madrid über Paris und Wien nach Rom zu reisen.«26 Diesen Fehler korrigiert Matthäus schon in seiner Erzählung und strukturiert den gesamten Zyklus um. Lukas streicht kurzerhand die gesamte Perikope aus seinem Evangelium.

Recht zu geben ist daher Udo Schnelle, der dem Autor dann Kenntnisse der Geographie Palästinas und angrenzender Gebiete zusprechen möchte, »wenn Mk 7,31 sinnvoll in die markinische Kompositionstechnik integriert werden kann.«27 Zudem scheint die Verortung Gerasas ebenso von entscheidender Wichtigkeit zu sein, sodass auch hier nach einer Klärung gesucht werden muss.

2.3Abfolge der Orte

Ein wesentliches Problem nicht nur der Markusexegese, möchte man die Route Jesu nachvollziehen,28 liegt in der Lokalisierung von im Text genannten Ortschaften. Wenngleich die genaue Lokalisierung Gerasas, Dalmanuthas und Gennesarets noch immer ein Problem darstellt, so kann dennoch für jeden Ort ungefähr eine Stelle auf der Landkarte angenommen werden. Genau genommen liegt für Gerasa kein Problem in der Verortung auf einer Landkarte vor, als vielmehr ein innertextliches Problem, aber dazu später mehr. Dalmanutha ist nur an einer einzigen Stelle im Markusevangelium erwähnt und die Perikope ist recht kurz mit wenig Handlung (8,10–13). Die markinischen Abschreiber hatten Probleme mit der Verortung Dalmanuthas und änderten den Ortsnamen in das bekanntere Magdala bzw. die Varianten Mageda, Magada oder Melegada um. Quantitativ und qualitativ überwiegt jedoch Dalmanutha, sodass dieses als ursprünglich betrachtet werden muss, weil es aufgrund der Unkenntnis des Ortes zusätzlich die Regel der lectio difficilior erfüllt. Doch auch Matthäus ändert die Vorlage und verortet die Perikope in Magada, welches uns jedoch auch nicht bekannt ist. Wo Dalmanutha nun aber zu finden ist, wissen wir noch immer nicht. »Jedenfalls handelt es sich um jüdisch bewohntes Gebiet am westlichen Ufer«.29 Diesen Schluss zieht Eckey vermutlich aus der Erwähnung der Pharisäer. Wie im Allgemeinen belässt Gnilka die Ortsangabe in der Tradition, äußert sich aber nicht zu deren Verortung.30 Zwei mögliche Stellen am See Genezareth kommen für Dalmanutha in Frage: Zum einen das im Süden des Sees gelegene Beth Yerah,31 zum anderen eine Siedlung nur 150 m von Magdala entfernt, welche derzeit noch erforscht wird.32

Die Bezeichnung Gennesaret jedenfalls ist uns auch außerbiblisch bekannt, jedoch nicht als eigenständige Ortschaft. So berichtet Josephus, dass sich entlang des Sees eine gleichnamige Landschaft erstreckte.33 Vermutlich ist damit das Ufer am Nordende des Sees gemeint, welches dicht bevölkert war.34 Hierzu passt die Bemerkung, Jesu ginge in Dörfer, Städte und Höfe (6,56). Jedoch scheint Markus mit der Bezeichnung Gennesaret tatsächlich an eine einzelne Siedlung zu denken, da mit »in den Hafen einlaufen«35 übersetzt werden kann. Dies lässt ein Anlanden an unbesiedeltem Ufer ausschließen. Auch in diesem Vers können wir ein Eingreifen durch einen Redaktor erkennen, welcher den Ortsnamen in Gennsar ändert. Somit haben wir nur eine Vermutung, welche Stelle am See der Verfasser des Markusevangeliums gemeint haben könnte.

Alle übrigen Orte sind uns heute noch bekannt. Sicher feststellbar sind auf jeden Fall die Verortungen von Kapernaum, Bethsaida, Nazareth, Tyrus und Sidon, sowie Cäsarea Philippi. Somit kann der Versuch unternommen werden, eine Route Jesu im Markusevangelium zu rekonstruieren. Hierzu sei einschränkend gesagt, dass die Perikope 5,1–20 am Ostufer des Sees verortet werden kann, da der Text diesen Schluss zulässt und Dalmanutha in die Nähe von Magdala verortet wird, da die Redaktion in diese Richtung weist und Gennesaret als Ortschaft an eben jenes von Josephus erwähnte Ufer am Nordwestufer des Sees lokalisiert werden kann.

Selbstverständlich kann die Darstellung nur schemenhaft geschehen.36 Ob Markus den Weg von Tyrus über Sidon in die Dekapolis nördlich oder südlich von Cäsarea Philippi gedacht hat, kann nicht beantwortet werden. Dennoch sollte ersichtlich sein, dass bei dieser Vorgehensweise nur von einem ernüchternden Ergebnis gesprochen werden kann. Ein klares Muster ist nicht zu erkennen und die Reihenfolge der Perikopen scheint einer zufälligen Anordnung zu folgen.37 Aus der Möglichkeit der Neuordnung, welche Matthäus vornimmt und dem Verdacht, dass der Teil 1,1–6,29 keiner klaren geographischen oder chronologischen Abfolge folgt, könnte daraus geschlossen werden, dass der Autor des Markusevangeliums nicht wusste, wo ein bestimmtes Ereignis tatsächlich stattgefunden hat.38 Gegen das Konzept einer Reisebeschreibung zwischen 5,1 und 9,30 äußert sich auch Willi Marxsen, da diese Perikopen kein zusammenhängendes Itinerar darstellten.39

2.4Wissen und Absicht

Ungeachtet der Stimmen aus der Forschung können beim Markusevangelium, wie bei jedem anderen Text, der auf die reale Welt referiert, grundsätzlich vier Fälle unterschieden werden:

Abbildung 1: Rekonstruktion der Reiseroute Jesu im Markusevangelium

1.Der Autor ist mit der Geographie vertraut und möchte einen historischen Bericht abgeben.

Dies ist der für uns schwierigste Fall bei der Frage nach den Geographiekenntnissen des Autors des Markusevangeliums, da nun versucht werden muss, die Falschangaben in einem historischen Rahmen erklärbar zu machen. Ein gutes Beispiel für dieses Vorgehen ist der Versuch von F.G. Lang, die Route in 7,31 zu erklären.40 Zur Zeit Jesu gehörte Damaskus ebenfalls zur Dekapolis und teilte sich mit Sidon eine Grenze. Wenn Jesus also von Tyrus aus über Sidon in das Gebiet der Dekapolis gehe, dann überschreite er eben jene Grenze zwischen Damaskus und Sidon. »Um von dort [Tyrus] ans Ostufer des Sees zu gelangen, sind zwei Wege denkbar: entweder wieder über galiläisches Gebiet und von dort nördlich des Sees Übergang über den Jordan, oder gleich im Norden direkt nach Caesarea Philippi und dann durch die Tetrarchie des Philippus, womöglich über die Golanhöhen, bis nach Hippos und wieder an den See. Für die zweite Route ließe sich anführen, daß es zwischen Tyrus und Caesarea Philippi eine Römerstraße gegeben hat, allerdings erst in nachhadrianischer Zeit, was aber auf eine ältere Verkehrsverbindung schließen läßt.«41

Für das zweite Problem, welches es zu lösen gilt – Gerasa und dessen Verortung im Markusevangelium am See –, scheint es jedoch keine vernünftige Lösung in einem historischen Kontext zu geben. Es müsste ohne eine Quelle behauptet werden, die gesamte Dekapolis könne als Gebiet der Gerasener benannt werden, da dies die sie bestimmende Stadt gewesen sei.42 Cilliers Breytenbach bezieht sich ebenfalls auf das Gebiet von Gerasa, argumentiert allerdings über seine semiotische Bedeutung: »Since can mean ›a piece of land, an estate, farm‹ in the sense of ager, it might be that Mark referred to a piece of land, farm or estate of the Gerasene, which then could have been on the eastern lakeside.«43 Aus den beiden Beispielen wird bereits deutlich, dass diese Vorgehensweise viel Raum für Spekulationen bietet und daher nicht wissenschaftlich valide wäre. Aus diesem Grund muss von einer solchen Vorgehensweise Abstand genommen werden.

2.Der Autor ist nicht mit der Geographie vertraut, möchte aber einen historischen Bericht abgeben.

In diesem Fall muss gefragt werden, woher der Autor die Informationen über die Erzählwelt bekommt. Markus nennt eine Reihe von Orten aus Galiläa und seiner Umgebung, die oft nicht mehr als eine Siedlung umfassten, die aus einer Ansammlung von ein paar wenigen Häusern bestanden und nur wenige Hundert Einwohner zählten. Von diesen Namen muss der Autor in irgendeiner Art und Weise Kenntnis genommen haben, sei es durch Reisende, sei es durch eigene Recherchearbeit oder durch die Überlieferung der Geschichten selbst. Die Reihenfolge der Geschichten lässt ausschließen, dass Markus selbst die Orte bereist hat, wenn man von einer Unachtsamkeit im späteren Zusammenstellen des Stoffs absehen möchte. Andernfalls müsste behauptet werden, Markus sei die Route in exakt der von ihm präsentierten Reihenfolge abgelaufen. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass er entweder die Ortsnamen aus der Tradition44 übernommen hat oder von Reisenden überliefert bekam.

Gegen die Überlieferung der Ortsnamen durch Reisende, seien es Händler oder Soldaten, ist einzuwenden, dass diese mehr aus der Topographie berichtet hätten. Entfernungen wären ihnen wichtig gewesen, Richtungen, Berge, Täler, Flüsse. All jene Informationen würden sie überliefern, die auf einer Wanderung auffallen und wichtig sind. Wenn der Autor einen historischen Bericht über die Geschehnisse im Leben Jesu hätte geben wollen, so wären solche Details durchaus von Wichtigkeit gewesen. So scheint der Autor schlichtweg die topographischen Angaben nicht mit Namen zu kennen.45

Im Bezug auf Gerasa fällt das Urteil über dessen Ursprünglichkeit in der Perikope unterschiedlich aus. Pesch geht davon aus, dass der Autor die Erzählung in der jetzigen Form vorgefunden und unverändert übernommen hat46 und sieht den Einschub in der vormarkinischen Redaktion.47 Ähnlich liest es auch Collins, die dem Redaktor bzw. dem Autor Unkenntnis vorwirft, wenn »it could be that the oral version of the story simply indicated that it took in (one of the cities of) the Decapolis. Either when it was included in the written collection of miracles that Mark used as a source or at the time that Mark incorporated it into his Gospel, the place may have been specified […]. The specification must have been made by someone who did not realize how far Gerasa was from the Sea of Galilee.«48 Lohmeyer hingegen meint, die Perikope habe zuvor über gar keine Ortsangabe verfügt und wurde vom Autor ergänzt.49 Bultmann unterscheidet nicht zwischen den geographischen Angaben der Perikopen, sondern urteilt über alle in gleicher Weise, da »der geographische Schauplatz für eine Geschichte gleichgültig« sei und »schwerlich ursprünglich an ihr gehaftet [hat]«.50 Eckey wiederum weist darauf hin, dass zwar Gergesa traditionell gewesen sein könnte, der Autor es aber in das bekanntere Gerasa geändert hat.51 Etwas vorsichtiger formuliert es Klaiber, wenn er das Problem aufzeigt, »dass der älteste Text des Markusevangeliums Gerasener las, die Geographie der Erzählung aber nach Gergesa weist.«52

Auch die Routenbeschreibung in 7,31 kann nicht von Reisenden stammen, möchte man die Vermutungen von Lang (vgl. oben) nicht ansetzen. Die von den Reisenden berichtete Route ähnelte dann mehr einer Odyssee, als einer zielführenden Richtungsangabe. Dem Autor schienen demnach einfach die Informationen zu fehlen, um ohne Kenntnis der Geographie einen historisch und geographisch korrekten Bericht über die Wanderroute Jesu zu geben. Abmildernd wirkt der Erklärungsversuch Theißens, der die Route als »typische Fehler« einer Zeit ohne Karten identifiziert und darin ähnliche Fehler entdeckt, wie sie Plinius d.Ä. in der Beschreibung der Welt in seinen naturalis historia macht.53

3.Der Autor ist mit der Geographie vertraut, möchte aber eine eigene Darstellung des Lebens Jesu geben.

In diesem Fall muss gefragt werden, welche Funktion die Ortsangaben übernehmen. Die Frage nach der Absicht des Autors drängt hier in den Vordergrund, da jede Ortsangabe als bewusst gesetzt gelten muss und nicht einfach aus der Tradition übernommen wurde. Dies schließt jedoch nicht aus, dass die kritischen Ortsangaben in 5,1 und 7,31 dennoch traditionell sein können. Durch die Verwendung der Ortsnamen müsste dann dem Autor durch die Anordnung der Perikopen interpretatorische Eingriffe zugestanden werden.

Durch die Verwendung der real existierenden Ortsnamen für den Aufbau seiner Jesusdarstellung verleiht Markus der Geschichte Glaubhaftigkeit. Dabei spielt es keine Rolle, ob die beschriebene Handlung tatsächlich in dem vom Autor vorgeschlagenen Ort stattgefunden hat. Jedenfalls verknüpft er bestimmte Erzählungen mit den ihm bekannten Orten. Inwiefern er das Wissen um die Orte beim Leser voraussetzt, muss verhandelt werden. Offensichtlich gibt es in diesem Punkt gar keine Diskussion. Darum seien exemplarisch einige wenige Stimmen in Bezug auf das Leserwissen zu Gerasa benannt: Eckey setzt das Leserwissen jedenfalls voraus, wenn er sagt »›Das Gebiet der Gerasener‹ zeigt den Lesern an, daß Jesus sich erstmals in überwiegend nichtjüdisch bewohntes Land begeben hat.«54 Auch Manfred Limbeck meint, Gerasa sei in aller Welt bekannt gewesen.55 Und auch Bärbel Bosenius urteilt positiv: »Der Erzähler scheint davon auszugehen, dass seine zeitgenössischen Rezipienten diese Ortsangabe mit einem außertextuellen Referenzort in Verbindung bringen konnten. Somit verzichtet er darauf, die folgende Handlung in administrativ-geographischer Hinsicht genauer zu verorten und wendet sich mehr der topographischen Beschreibung des Schauplatzes zu.«56

Und dennoch erlangte das Markusevangelium in breiten Schichten der Bevölkerung, über alle Gebiete des römischen Reiches und später in der gesamten bekannten, westlichen Welt Verbreitung und Ansehen, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden muss, nicht alle Leser und Hörer hätten die gleiche Kenntnis über die Geographie des Schauplatzes wie der Autor selbst besessen. Schon durch die These, nach der die Adressaten in Rom zu suchen seien, liegt es ganz offensichtlich auf der Hand, dass das Markusevangelium auch von solchen Menschen gelesen wurde, die nicht wussten, wo Gerasa liegt und ob es eine Verbindung zwischen Sidon und der Dekapolis gab.

4.Der Autor ist nicht mit der Geographie vertraut, möchte aber eine eigene Darstellung des Lebens Jesu geben.

Hierbei ergeben sich ähnliche Situationen wie sie bereits oben besprochen wurden. Der Autor müsste also zunächst Kenntnis von den Ortsnamen bekommen. Wenn davon auszugehen ist, dass die Überlieferung der Ortsnamen in Verbindung mit den Perikopen vonstattenging, so ist der Aufbau weniger geographisch ausgerichtet als vielmehr thematisch. Der Inhalt bestimmt folglich den Aufbau und orientiert sich nicht an geographisch-logischen Abläufen. Somit erübrigt sich jede Frage nach der Bedeutung geographischer Angaben im Markusevangelium. Allerdings hat der Autor dann auch eine gewisse Freiheit, mit der er seine Botschaft erzählen kann. Durch Signale im Text kann er Orten Zuschreibungen beilegen und im Verlauf darauf zurückgreifen. Er konstruiert damit eine eigene Geographie, eine Geographie des Markusevangeliums. Wenn Ernst Lohmeyer über die Verortung der Perikope des Besessenen in 5,1–20 urteilt, die Erzählung sei eng mit den geographischen Verhältnissen verknüpft, nämlich fremder Strand, heidnisches Ufer, vor allem Nicht-Juden, zur Dekapolis gehörig,57 dann macht er dies zwar um die erzählte Welt und die reale Welt in Einklang zu bringen, bemerkt aber nicht die Kraft des Narrativen, die ohne Kenntnis Gerasas und der Dekapolis den Text ebenso verorten lässt.58

Diese vier Aspekte haben das Autorenwissen und seine Darstellungsabsicht im Blick. Unbeachtet sind dabei noch immer der Leser und sein Wissen von der Geographie des Handlungsortes geblieben.59 Darauf soll im Weiteren noch eingegangen werden. Diese vier Aspekte im Blick behaltend und ohne die Frage nach dem Leserwissen beantworten zu wollen, ist eine rechte Vorsicht geboten, dem Autor vorschnell die Geographiekenntnisse abzusprechen oder anzuerkennen. »Entgegen einem lange geübten ›historischem‹ Zugang, der an (spätere) geographische Karten vermisst, ist zunächst festzuhalten, dass die Rede von ›geographischen Irrtümern‹ im Fall von Mk 5,20 und 7,31 noch einmal neu zu verhandeln ist.«60

2.5Lücken im Text

Nachdem im obigen Abschnitt die Probleme mit der Zuschreibung der Geographiekenntnisse des Autors des Markusevangeliums aufgezeigt wurden, soll im weiteren Verlauf ein zusätzliches Problem beim Versuch ein geographisches Konzept zu erkennen, besprochen werden. Untersucht man die gegebenen geographischen Angaben im Text, so fällt auf, dass es zwar eine ganze Reihe von Orts- und Städtenamen gibt, diese aber nur sehr spärlich verteilt sind. Verschiedentlich wurde daher behauptet die synoptische Tradition lege bei Einzelüberlieferungen keinen Wert auf die Angabe eines Ortes.61 Die folgende Abbildung stellt das Markusevangelium am Stück von links nach rechts gelesen dar. Die blau markierten Bereiche sind Perikopen, welche verortet werden können, weil sie mit einer Ortsangabe beginnen. Die Breite des Balkens resultiert aus der Anzahl der Verse, die die Perikope aufweist.

Abbildung 2: Verteilung der Perikopen mit Ortsnennung

Anhand der Grafik wird sehr gut deutlich, dass es große unverortete Lücken im Markustext gibt. Am auffälligsten ist wohl der große Block am Ende des Evangeliums, der durchweg in oder um Jerusalem verortet ist. In diesem Abschnitt sind die Perikopen meist durch ihre geographische Verortung voneinander getrennt, sodass kein Leerraum entsteht.62 Des Weiteren fällt die große Lücke im ersten Viertel des Evangeliums auf. Zum einen ist diese dem Gleichniskapitel 4 geschuldet, das ohne jegliche Ortsangabe auskommt. Zum anderen hält sich der markinische Jesus außerhalb von Siedlungen auf bzw. lassen Sammelberichte keine genaue Verortung zu. Auffällig ist im mittleren Teil der regelmäßige Wechsel der Ortslagen.

Insgesamt werden 15 verschiedene Orte genannt, die 332 von 665 Verse abdecken, die das Markusevangelium aufweist. Demnach existiert zu etwa der Hälfte aller Verse kein Handlungsort. Dass dies durchaus mit Problemen einhergeht, zeigt z. B. die Heilung der Tochter des Jaïrus und der blutflüssigen Frau (5,21–43). Vor dieser Perikope befand sich Jesus mit seinen Jüngern in Gerasa. Berichtet wird nur, dass sie wieder hinüberfahren ans gegenüberliegende (Ufer) Es ist möglich, dass die Perikope ursprünglich keine »Ortsbindung besaß«.63

Klassischerweise wird diese Perikope wieder am Westufer des Sees verortet. Wenngleich kein konkreter Ortsname fällt, wird der Synagogenvorsteher als Indiz für das Anlanden in Galiläa genommen.64 Karl Ludwig Schmidt kann jedoch auch die These aufstellen, die Perikope an das Ostufer zu lokalisieren, evtl. sogar nach Bethsaida, womit vor allem die Wendung als Anzeichen für das von Galiläa gegenüberliegende Ufer und die Verbindung von 5,21.22 gestützt wird.65 Hier muss jedoch der Einwand gewährt werden, dass nicht klar ist, wie groß der Bevölkerungsanteil an jüdischen Familien in Bethsaida war und ob dort zur Zeit Jesu eine Synagoge bestand, der Jaïrus hätte vorstehen können.66

3.Erste Schritte einer Vorklärung und Lösungsansatz

Im Folgenden sollen die eigenen anfänglichen Versuche zur Erschließung der Geographie im Markusevangelium vorgelegt werden. Es bleibt aber nicht verschwiegen, dass diese nicht die erwünschte Lösung der Probleme brachten und letztlich zum Scheitern verurteilt waren. Dennoch zeigen sie sehr gut, wie schließlich eine Lösung zustande kam, da die Verwerfung der einzelnen Thesen in diesem Prozess die weiteren Thesen beeinflusste und befruchtete. Daher soll auch am Ende dieses Kapitels schon eine Lösung präsentiert werden, ohne die sie stützenden Gründe zu nennen. Erst in den darauffolgenden Kapiteln werden zunächst Einzelproben durchgeführt werden, um im Anschluss die Gesamtkomposition in den Blick zu bekommen.1 Damit steht diese Arbeit (vorerst) am Ende einer langen Reihe von Erklärungsversuchen der geographischen Probleme.2

3.1Toponymisches Lexikon

Am Anfang der vorliegenden Arbeit standen eine Bestandsaufnahme und das Erstellen von Arbeits- und Hilfsmitteln. Die einfachste Kategorie bei der geographischen Untersuchung war eine Auflistung aller im Markustext genannten Ortsnamen. Dazu wurde ein toponymisches Lexikon erstellt, dessen Artikel aus den im Evangelium vorkommenden Perikopen bestanden. Nur wenige Artikel enthielten mehr als eine Perikope. Die meisten von Jesus im Markusevangelium bereisten Orte wurden nur ein einziges Mal genannt und dienten somit nur einmal als Schauplatz der Erzählung. Das Lexikon bestand aus 15 Einträgen. Die Länge der Artikel streute zwischen vier Versen und etwa vier Kapiteln. Die Zuordnung der Gattung versprach zunächst einen besseren Überblick über die an den jeweiligen Orten behandelten Themen. Die Begriffe Wundergeschichte, Streitgespräch etc. brachten jedoch keine erhellenden Einblicke. Weder gab es Orte, an denen der markinische Jesus gern stritt, noch ein mirakulöses Dorf, welches als Heilszentrum hätte bezeichnet werden können.

Allerdings wurde die besondere Rolle Jerusalems eindeutig sichtbar. Denn dort erzählt Markus an keiner Stelle von einem Wunder. Die letzte Wundertat, die Jesus vollbringt, ist die Verfluchung des Feigenbaums auf dem Weg nach Jerusalem. Innerhalb der Stadtmauern jedoch dominiert die Passionserzählung; aus diesem Grund wurde Jerusalem aus der Untersuchung zunächst vollständig ausgeklammert. Wenngleich die Beobachtung eines dreimaligen Wechsels der Handlungsorte innerhalb der Passionserzählung einer Betrachtung wert wäre, wurde der Fokus der Untersuchung auf das Problem der geographischen Angaben in der ersten Hälfte des Evangeliums gelegt. Denn wie oben bereits gesagt, scheint der Autor sich mit Jerusalem und seiner Umgebung gut auszukennen.

Obwohl die meisten Artikel in der lexikalischen Auflistung nur eine einzige Perikope enthielten, waren zwei Orte verzeichnet, die öfter genannt wurden: Kapernaum und Bethsaida. Kapernaum ist zu Beginn der Erzählung und vor dem Aufbruch nach Jerusalem Schauplatz der Erzählung, im Unterschied zu Bethsaida, das nur einmal von Jesus bereist wird. In Mk 6,45 treibt Jesus seine Jünger an, mit dem Boot nach Bethsaida zu fahren. Er folgt den Jüngern später und kommt hinter ihnen auf dem Wasser her. Daraufhin packt sie großes Entsetzen. In der darauffolgenden Erzählung landen Jesus und die Jünger aber nicht am Ufer von Bethsaida an, sondern in Gennesaret. Wie sich später noch zeigen wird, ist der Grund nicht ein Fehler eines Redaktors,3 sondern wirklich so beabsichtigt, und der scheinbare Bruch in der Geschichte lässt sich als eine missglückte Überfahrt erklären. Bethsaida soll später noch eine Rolle im Evangelium spielen. Eine Handlung an dieser frühen Stelle im Evangelium würde andernfalls den Aufbau dramatisch stören.

Kapernaum sticht durch seine besondere Stellung als erster Handlungsort4 und als letzter Durchgangsort vor Jericho und Jerusalem in die Passion hervor. Der Ort am See Genezareth bildet so den rahmenden Punkt in der Erzählung auf chronologischer und geographischer Ebene. Dies wird noch weiter durch die kompositorische Geschicklichkeit des Markus bekräftigt; vor dem ersten und nach dem letzen Auftreten in Kapernaum stehen die Jünger Jesu im Mittelpunkt. Hierbei scheint Markus eine etwaige Erstberufungstradition zunichtemachen zu wollen. Wenngleich Simon (Petrus) der Erstberufene in 1,16 ist,5 löst Markus die Rangfolge im chronologischen Sinne in 9,33–37 auf.

3.2Der Blick auf eine moderne Karte

Auf der Suche nach einem Muster wandert der Blick schnell auf eine moderne Karte. Hierbei treten jedoch einige Schwierigkeiten auf, die vor jeder weiteren Untersuchung eines Konzepts gelöst werden müssen. Das größte Problem ist die Positionierung der antiken Orte Gennesaret, Dalmanutha und Gerasa. Alle übrigen Orte existieren entweder heute noch bzw. erfuhren eine Umbenennung oder es existieren Ausgrabungsstätten, die einen Rückschluss auf den Ortsnamen zulassen, so z. B. für Bethsaida.6 Hier gilt es die erzählte Welt mit der realen Welt7 in Deckung zu bringen. Gennesaret und Dalmanutha können zunächst am westlichen Ufer des Sees vermutet werden, da an diesen Orten typisch jüdische Personengruppen auftreten und es daher wahrscheinlich ist, dass diese Orte in Galiläa lagen. Zur Verortung von Gerasa wurde die oft geführte Diskussion um seine Lage zur Kenntnis genommen.8 Der Ort konnte ohne genaue Lokalisierung am östlichen Ufer verortet werden. Ob der Ort nun in Wahrheit 5 km nördlicher oder südlicher einer etwaigen Stelle lag, spielte für die erste Betrachtung keine Rolle.9

Die Lektüre von archäologischen Berichten und das Studieren von Reiseberichten aus der Neuzeit über biblische Orte erhellen das Bild der im Markusevangelium erwähnten Schauplätze nur wenig. Vor allem weil nicht jeder Ort in den Untersuchungen Berücksichtigung findet. Meist finden sich Artikel zu Orten wie Kapernaum, Magdala, Nazareth oder Sepphoris.10 Die wenigsten der dort beschriebenen Orte hat Jesus laut Markusevangelium bereist. Anhand dieser Berichte feststellen zu können, Jesus habe in jenem Feld gestanden und Ähren ausgerauft oder auf jenem Berg gebetet, erweist sich natürlich als Torheit.

3.3Exkurs: Antike Methoden der Welterfassung – Geographisches Allgemeinwissen

Die heutige geographische Allgemeinbildung ist mit antiken Kenntnissen nicht zu vergleichen. Wir wachsen mit maßstabsgetreuen Karten auf, Schulatlanten gehören seit über 300 Jahren11 zu der Grundausstattung eines jeden Schülers und seit der Nutzung moderner Medien wie dem Internet stehen uns auch vielfältige Quellen mit Kartenmaterial zur Verfügung. Dank GPS ist jeder Punkt auf der Erde genau erfassbar. Aus dem Weltall kann die Erde mit Hilfe von Satelliten von oben betrachtet werden; vom Bildschirm aus kann das kleinste Eingeborenendorf auf einer pazifischen Insel betrachtet werden. Durch die technischen Möglichkeiten haben wir auch eine bessere Kenntnis von Lagebeziehungen gewonnen.

In der Antike war es weitaus schwieriger solche Informationen zu sammeln und sich damit ein fundiertes geographisches Allgemeinwissen anzueignen. Uns sind jedoch aus der Zeit Jesu und der Abfassung des Markusevangeliums literarische Atlanten überliefert. Die Darstellungsform von Atlanten in Textform erscheint uns heute fremdartig und wenig zugänglich, da die Beschreibung von Lagebeziehungen am besten über Grafiken zu visualisieren ist. Es ist jedoch zu bedenken, dass diese mit antiken Mitteln nur schwer zu vervielfältigen waren. Kopiert wurden Werke noch bis zum Ende des Mittelalters durch Abschreiben. Das Abzeichnen einer oder mehrerer Karten hätte noch mehr Zeit in Anspruch genommen, als Texte zu vervielfältigen. Wollte man also eine Darstellung der Welt für breitere Massen veröffentlichen, so musste man auf das geschriebene Wort zurückgreifen. Nicht zuletzt konnte der antike Schreiber zusätzlich Hintergrundinformationen zu den Bewohnern, Flora und Fauna und dem mythologischen Hintergrund der beschriebenen Länder geben. In der römischen Antike jedenfalls kannte man keine maßstabsgerechten Karten.12

Zuerst zu nennen ist die älteste uns vollständig erhaltene lateinische Schrift De Chorographia Libri Tres13 von Pomponius Mela. Der aus Tingentera, also auf spanischer Seite der Straße von Gibraltar, stammende römische Bürger schrieb sein Werk in den Jahren 43–44 n. Chr.14 Seine Abhandlung gehört zu den sog. Periplus welche die Welt zu beschreiben versuchen, indem sie Städte und Gegenden der Küste entlang aufzählen. Sie dienten vornehmlich zu Handelszwecken und sollten Händlern den Weg entlang der Küste weisen.15 Dass er dennoch ein allgemeinbildendes und unterhaltendes Motiv hatte, lässt sich nicht leugnen. Besonders erwähnenswert ist Mela, da seine Bücher wahrscheinlich in der Antike in »Schulen« eingesetzt wurden16 und somit ein gutes Bild davon geben, in wie weit die Welt einem gebildeten Römer bekannt war.

Mela beginnt im ersten Buch seiner Schrift mit einer Beschreibung der Welt als Scheibe, gänzlich von Wasser umringt, in fünf Zonen aufgeteilt, zwei kalte Pole, zwei gemäßigte Zonen und eine von Gluthitze geplagte Zone. Über die gemäßigte Zone im Süden der heißen Zone weiß er nichts zu sagen, deshalb beginnt er mit einer allgemeinen Beschreibung des Mittelmeeres. Die Dreiteilung in Europa, Afrika und Asien macht er an den beiden Flüssen Tanais (Don) und Nil, sowie am Mittelmeer fest. Volksstämme weiß er auf allen drei Kontinenten zu verorten und auch deren Lagebeziehungen zueinander gibt er an. Seinen Periplus beginnt er dort, wo er geboren wurde, an der Straße von Gibraltar. Von dort umrundet er, mit der Nordküste Afrikas beginnend, das Mittelmeer und endet zunächst wieder am Anfangspunkt. Von dort aus beginnt er seinen zweiten Periplus. Dieses Mal folgt er der Küste Spaniens in Richtung Norden, durch den Ärmelkanal um Skandinavien herum bis hin in das heutige Turkmenistan. Über die östlicher gelegenen Länder weiß er nichts zu berichten, doch er vermutet, dass der Ozean dort weiter das Land umschließt. Vom heutigen Turkmenistan springt er zurück zu den, der zuvor gefolgten Küste vorgelagerten Inseln. Weiter geht es dann von Indien über das Rote Meer, Äthiopien zur Westküste Afrikas und schließlich wieder an den Startpunkt an der Straße von Gibraltar.

Neben den Regionen und Städten gibt Mela zum Teil ausführliche Informationen über Bewohner und mythologischen Hintergrund. Seine Schilderungen klingen wie die eines Reisenden, der selbst dort gewesen sein muss. Brodersen jedoch bezweifelt, dass Mela selbst eine derart große Reise angetreten hat und alle Orte bereist hat, sondern vielmehr aus älteren Traditionen viele Teile übernommen hat.17 Hierbei nennt er lediglich drei namentlich: Homer (I 60; II 104; III,45), Cornelius Nepos (III 45.90) und Hanno (III 90.93). Es ist ihm bewusst, dass er sich teilweise auf Spekulationen und Hören-Sagen stützen muss.18 Er beschreibt phantastische Tiere und außergewöhnliche Menschen. Tiere mit tödlichem Blick (III 98), Greife (II 1) sowie den Phönix (III 83 f.) und viele mehr. Von überall behaarten Menschen (III 75.93), Kyklopen (II 2), Menschen ohne Kopf (I 48) und, wie wir sie heute nennen würden, Werwölfen (II 14). Dies bekräftigt die Annahme, dass Mela nicht selbst an allen Orten gewesen sein kann.

Nicht nur diese äußeren Eigenschaften der Menschen finden bei Mela Beachtung, denn ihn interessieren vor allem auch die gesellschaftlichen Konstellationen und kulturellen Bräuche. So kann er von Völkern berichten, bei denen die Frauen sich um alle öffentlichen und privaten Geschäfte kümmern, wohingegen die Männer für Haus- und Wollarbeiten zuständig sind (I 57). Manche Menschen tragen keine Namen (I 43) oder haben noch nicht einmal eine Sprache (I 44; III,91). Einige Gruppen feiern den Tod eines Menschen (II 9.18) und wollen gemeinsam mit ihren Ehepartnern sterben, sodass sie das Los werfen, um vor den anderen in den Freitod zu gehen (II 19; III 19).

Bei seinen Lesern setzt er fundiertes Wissen in Mythologie und Geschichte voraus. Immer wieder verbindet er mit Städten und topologischen Strukturen Ereignisse aus den Sagen Homers (z. B. I 94), dem Leben Alexanders d. Großen (z. B. II 34) oder Überlieferungen anderer antiker Autoren (z. B. I 64). »Mehr als Anspielungen sind Melas Angaben tatsächlich nicht; in den allermeisten Fällen kann er offenbar damit rechnen, daß sein Publikum mit Mythos und Geschichte so weit vertraut ist, daß ein Stichwort genügt.«19

Über Palästina ist folgendes zu lesen:

»[…] hier ist Palästina, wo Syrien Arabien berührt […]. Ferner liegt in Palästina das gewaltige und stark befestigte Gaza – so nennen die Perser ein Schatzhaus; seinen Namen hat es daher, daß Kambyses, als er Ägypten mit Waffen heimsuchen wollte, dorthin seine Kriegsmittel und seinen Schatz gebracht hatte. In Palästina liegt auch das nicht geringere Askalon, außerdem Iope [Tel Aviv-Jaffa], wie es heißt, vor der Sintflut gegründet; daß hier Kephus als König geherrscht hat, bekräftigen die Anwohner durch das Zeichen, daß einige alte Altäre eine Inschrift mit seinem und seines Bruders Phineus Namen in höchster Verehrung bewahren: Ja, als eine deutliche Spur für die in Dichtung und Sage gefeierte Geschichte, daß nämlich Andromeda durch Perseus gerettet wurde, weisen sie voller Stolz die riesigen Knochen des Seeungeheuers vor.« (I 63 f.)

Daraufhin folgt die Beschreibung von Phönike, welches sich nördlich anschließt:

»Phönike haben die Phönizier berühmt gemacht, ein geschickter, für die Werke des Friedens und Krieges gleich ausgezeichneter Volksstamm: Sie sind Erfinder der Buchstaben, der literarischen Beschäftigung und anderer Künste wie die Meere mit Schiffen zu befahren, mit einer Flotte zu kämpfen, über Völker zu gebieten sowie Königsherrschaft und Kampftechnik einzurichten. In Phönike liegt Tyros, früher eine Insel, jetzt mit dem Festland verbunden, weil einst von Alexander [d. Gr. 332 v. Chr.] bei seiner Belagerung Dämme aufgeschüttet wurden. Das Gebiet dahinter […hat] Sidon inne, das vor der Eroberung durch die Perser die größte aller Seestädte war.« (I 65 f.)

Über weitere Städte im Landesinneren hat Mela wahrscheinlich keine Kenntnis. Weder der See Genezareth, das Tote Meer, die Dekapolis oder Jerusalem finden Beachtung. Schilderungen über das Hinterland fallen bei einem Periplus ohnehin sehr gering aus.20 Die erwähnten Städte, obwohl in geographischer Nähe zu Iudäa, waren hauptsächlich hellenistisch geprägt. Daher berichtet Mela nichts von jüdischen Bräuchen, obgleich Pompeius 63 v. Chr. Judäa bereits für Rom erobert hatte.

Vor Mela gab es jedoch noch einen weiteren wichtigen Geographen – Strabon. Strabon wurde im Winter 64/63 v. Chr. in Amaseia, in der heutigen südlichen Türkei, geboren und bereiste große Teile der damals bekannten Welt.21 Sein erstes Werk war ein heute größtenteils verlorengegangenes römisches Geschichtswerk. Die 17-bändige Geographica ist wahrscheinlich im Zeitraum zwischen 20 und 7 v. Chr. entstanden.22 Besonders in den ersten beiden Büchern äußert sich Strabon zu seinen Quellen und kritisiert viele Vorgänger. Aber somit wird uns ein breites Spektrum von Literaturvorlagen gegeben, die Strabon gekannt haben muss. So nennt er u. a. Homer, den er sehr schätzt, Anaximander von Milet, Hekatäus, Demokrit, Eudoxus, Eratosthenes, Polybius und Hipparch.

Seine Beschreibung der Welt ist in gleicher Weise aufgebaut wie bei Mela. Daher folgt nur die Erklärung des Kapitels, in dem er Syrien23