Jesus als Begründer eines platonischen Christentums - Enno Edzard Popkes - E-Book

Jesus als Begründer eines platonischen Christentums E-Book

Enno Edzard Popkes

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Beschreibung

Das Thomasevangelium vermittelt zentrale Vorstellungen des Platonismus als Botschaft Jesu, vor allem die Vorstellungen von der Unsterblichkeit der Seele, von der Gleichwerdung der Seele mit Gott, von der Abbildhaftigkeit der vorfindlichen Existenz und von der Erkenntnis des "wahren Lichts". Es deutet die Gestalt Jesu als eine Menschwerdung des "wahren Lichts", das Platon zufolge nur außerhalb der vorfindlichen Welt erfahrbar ist. Es ist das Licht, aus dem Menschen stammen und in welches sie zurückkehren. Der Jesus des Thomasevangeliums versteht alle Menschen als Träger dieses göttlichen Lichts, welches die Welt erleuchtet, wenn sie mit ihm wesenseins werden. Für das Thomasevangelium ist Jesus der Gründer eines "Platonischen Christentums".

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Seitenzahl: 142

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Über den Autor

Prof. Dr. Enno Edzard Popkes forscht und unterrichtet zum Themenschwerpunkt ,Geschichte und Archäologie des frühen Christentums und seiner Umwelt‘ an der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er ist Mitbegründer und Vorsitzender der „Kieler Akademie für Thanatologie e.V."

Über das Anliegen der Reihe ,Platonisches Christentum‘

Christliche Theologie wurde seit ihren Anfängen durch Auseinandersetzungen mit dem Platonismus geprägt, die verschiedene Formen eines ,platonischen Christentums‘ inspirierten. Die Beiträge der Reihe ,Platonisches Christentum‘ nehmen diese Entwicklungen auf und stellen einen neuen Ansatz zur Diskussion: Jene Erfahrungsmuster, die heute mit dem (unpräzisen) Begriff ,Nahtoderfahrungen‘ bezeichnet werden, haben bereits die Entstehung des Platonismus und des frühen Christentums geprägt. Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Phänomen ,Tod‘ im Generellen und mit sogenannten ,Nahtoderfahrungen‘ im Speziellen eröffnen Zugänge zu neuen Formen platonisch-christlicher Religiosität.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Anliegen und Aufbau

Einleitende Informationen

2.1 Thomas, der Zweifler?

2.2 Thomas und die Thomaschristen

2.3 Die Verdrängung und die Wiederentdeckung des Thomasevangeliums

2.4 Die formale Gestaltung des Thomasevangeliums

2.5 Differenzen der Jesus-Bilder der biblischen Evangelien und des Thomasevangeliums

2.6 Das Thomasevangelium und das Johannesevangelium als Kontrastparallelen

2.7 ,Jesus trifft Platon auf dem Weg zur Gnosis‘: zur religionshistorischen Verortung des Thomasevangeliums

2.8 Quellen und Hintergründe der platonischen Deutung der Gestalt und der Botschaft Jesu im Thomasevangelium

2.9 Das Thomasevangelium, das Johannesevangelium und die Frage nach dem ,historischen Jesus‘: eine Problemanzeige

2.10 Verborgene Mosaike: zur Struktur und Übersetzung des Thomasevangeliums

„Wenn ihr euch erkennt ...“ – Offenbarung durch Selbsterkenntnis

„ ... werdet ihr werden wie ich.“ – die Gleichwerdung mit Jesus

„Ich bin das Licht ... “ – der Ursprung und die Vollendung der Schöpfung

„ ... und es erleuchtet die ganze Welt.“ – das göttliche Licht im Menschen

„Wir sind aus dem Licht gekommen ...“ – Seelenwanderung als Lehre Jesu

Zusammenfassungen und Ausblicke

8.1 Zusammenfassung der platonischen Deutung der Gestalt und Botschaft Jesu im Thomasevangelium

8.2 Schematische Veranschaulichung der platonischen Deutung der Gestalt und Botschaft Jesu im Thomasevangelium

8.3 Zusammenfassung der Leit-Thesen

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

10.1 Textausgaben und Übersetzungen des Thomasevangeliums

10.2 Sekundärliteratur

Vorwort

Mit der Edition der Bände ,Platonisches Christentum‘ verfolge ich zwei Anliegen. Einerseits möchte ich in allgemeinverständlicher Sprache die Erträge und die Konsequenzen skizzieren, die sich für mich aus meinen Studien zur Geschichte des frühen Christentums, zum Platonismus und zu sogenannten ,Nahtoderfahrungen‘ ergeben haben. Andererseits möchte ich eine Diskussion anregen, die nur interdisziplinär und transdisziplinär geführt werden kann1. Beide Anliegen verbindet ein Grundgedanke, der vorausgreifend folgendermaßen umschrieben werden kann: Christliche Theologie wurde seit ihren Anfängen durch Auseinandersetzungen mit dem Platonismus geprägt, die verschiedene Formen eines ,platonischen Christentums‘ inspirierten. Die Beiträge der Reihe ,Platonisches Christentum‘ nehmen diese Entwicklungen auf und stellen einen neuen Ansatz zur Diskussion: Jene Erfahrungsmuster, die heute mit dem (unpräzisen) Begriff ,Nahtoderfahrungen‘ bezeichnet werden, haben bereits die Entstehung des Platonismus und des frühen Christentums geprägt. Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Phänomen ,Tod‘ im Generellen und mit sogenannten ,Nahtoderfahrungen‘ im Speziellen eröffnen Zugänge zu neuen Formen platonisch-christlicher Religiosität.

Die Grundzüge dieses Ansatzes werden in den fünf ersten Teilbänden dargelegt. Zunächst werden die historischen Hintergründe, die Methodik und die Terminologien dargelegt, auf denen alle Folgebände basieren (Band 1: Platonisches Christentum: historische und methodische Grundlagen). Der zweite Band bringt zur Geltung, wie früh bereits erste Formen eines platonischen Christentums beobachtet werden können. Dies wird an der Deutung der Gestalt und der Botschaft Jesu erklärt, die das Thomasevangelium überliefert (Band 2: Jesus als Begründer eines platonischen Christentums: die Botschaft des Thomasevangeliums). Wesentliche Bezugsgrößen dieses Konzepts werden im dritten Teilband mit einer Skizze der Theologie Platons dargelegt (Band 3: Die Theologie Platons: Hintergründe eines platonischen Christentums). Vor diesem Hintergrund wird erläutert, inwiefern das Thomasevangelium und das Johannesevangelium Kontrastparallelen bilden, die wie in einem Brennglas Potenziale und Konfliktpotenziale eines platonischen Christentums zutage treten lassen (Band 4: Das Thomasevangelium und das Johannesevangelium: Wiederbelebungen eines frühchristlichen Diskurses). Der fünfte Band eröffnet jene neue Zugangsperspektive zu diesem Themenfeld, die in den Folgebänden ausgestaltet wird (Band 5: Nahtoderfahrungen: platonisch-christliche Deutungen).

Leit-These der Beiträge der Reihe ,Platonisches Christentum‘: Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Phänomen ,Tod‘ im Generellen und mit sogenannten ,Nahtoderfahrungen‘ im Speziellen eröffnen Zugänge zu neuen Formen platonisch-christlicher Religiosität.

An der Fertigstellung dieser Bände waren viele Personen beteiligt. Dies gilt nicht nur für meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die den Mühen des Korrekturlesens ausgesetzt waren. Es gilt auch für viele Freundinnen, Freunde und Familienmitglieder, die ich immer wieder mit der Frage konfrontiert habe, ob ich die mir vertraute wissenschaftliche Sprache in eine allgemeinverständliche Sprache ,übersetzen‘ konnte. Danken möchte ich im besonderen Maße Sarah Perez Kuwald, Swantje Rinker, Jasmin Reschka-Zielke, Femke Schiller, Gerhild Schiller, Ullrich Schiller, Dr. Stephanie Gripentrog-Schedel, Tim Schedel, Alexander Gripentrog, Andreas Gripentrog, und – last, but not least – meiner Mutter Maria Luise Popkes-Wilts.

Kiel-Kronshagen, im Frühjahr 2019

Enno Edzard Popkes

1 Um eine interdisziplinäre und transdisziplinäre Anschlussfähigkeit zu ermöglichen, werden fachspezifische Diskurse nur in einem eingeschränkten Maße dokumentiert. In Bezug auf detaillierte fachspezifische Diskurse verweise ich auf meine Vorarbeiten und Forschungsprojekte, die im Literaturverzeichnis bzw. den Fußnoten angegeben sind.

1. Anliegen und Aufbau

Jesus hatte Schülerinnen und Schüler2. Dass ein Schüler Thomas hieß, ist unstrittig. Strittig ist jedoch, in welchem Verhältnis Jesus und Thomas zueinander standen. Das Evangelium des Thomas nimmt für sich in Anspruch, verborgene Worte Jesu zu überliefern, welche der Lehrer jenem Schüler anvertraute. Sie unterscheiden sich oft deutlich von jenen Worten Jesu, die im Neuen Testament überliefert werden. Dies wirft grundlegende Fragen auf: Was ist die Botschaft des Thomasevangeliums? Welche Bedeutung hat es für das Verständnis der Worte und Taten Jesu? Welche Bedeutung hat das Thomasevangelium für das Verständnis des frühen Christentums? Warum stellt jenes Evangelium, das mit dem Namen Johannes verbunden wurde, Thomas als einen Zweifler dar, der Jesus skeptisch gegenübersteht und der nicht an dessen körperliche Auferstehung glaubt?

Bereits diese ersten Fragen lassen erahnen, warum sich am Thomasevangelium massive Streitigkeiten entzünden, die weit über die Grenzen von Theologie und Kirche hinweg wahrgenommen werden. Vor allem liegt dies jedoch an einer Frage, die in unterschiedlichen Variationen formuliert werden kann. Einerseits kann sie hypothetisch in Bezug auf die Vergangenheit gestellt werden: Was wäre gewesen, wenn jene Deutungen der Botschaft Jesu, die das Thomasevangelium überliefert, die Entwicklungen des Christentums so geprägt hätten wie die biblischen Schriften? Andererseits kann sie als eine Frage formuliert werden, die konkrete Folgen für die Gegenwart und Zukunft nach sich zieht: Was bedeutet es, wenn diese Deutung der Botschaft Jesu neu überdacht wird?

Das vorliegende Buch stellt eine Antwort auf diese Frage zur Diskussion: Das Thomasevangelium bietet eine platonische Deutung der Gestalt und der Botschaft Jesu, die neue Formen einer platonisch-christlichen Religiosität inspirieren kann.

Leit-These 2.1: Das Thomasevangelium ist eines der ältesten Zeugnisse eines platonischen Christentums, dessen Botschaft heute neu bedacht werden sollte.

Die skizzierte Einschätzung wird mit folgenden Arbeitsschritten erläutert: Zunächst werden grundlegende Informationen vermittelt, welche für das Verständnis des Thomasevangeliums von Bedeutung sind (Kapitel 2). Daraufhin wird dargelegt, in welcher Weise die Gestalt und die Botschaft Jesu im Thomasevangelium platonisch interpretiert wird, und zwar an fünf Themenfeldern, die in den einzelnen Jesus-Worten regelmäßig vorkommen. Die Titel der einzelnen Kapitel spielen zunächst jeweils auf einen Teilaspekt eines Jesus-Wortes an (im Sinne der gewählten Reihenfolge handelt es sich dabei um EvThom 3,4; 108,1; 77,1; 24,3; 50,1). Jene Teilaspekte lassen bereits für sich genommen zentrale Aussagen des Thomasevangeliums erkennen:

„Wenn ihr euch erkennt ... “

„ ... werdet ihr werden wie ich.“

„Ich bin das Licht ...“

„ ... und es erleuchtet die ganze Welt.“

„Wir sind aus dem Licht gekommen ...“

Die Untertitel der Kapitel bringen die inhaltlich-sachlichen Aussageintentionen jener Leitgedanken zur Geltung. Hierbei handelt es sich um ,Offenbarung durch Selbsterkenntnis‘ (Kapitel 3), die ,Gleichwerdung mit Jesus‘ (Kapitel 4), den ,Ursprung und die Vollendung der Schöpfung ‘ (Kapitel 5), die ,Erleuchtung der Welt‘ (Kapitel 6) und die ,Seelenwanderung‘ (Kapitel 7). Abschließend werden die zentralen Merkmale der platonischen Deutung der Gestalt und der Botschaft Jesu nochmals zusammengefasst und schematisch veranschaulicht (Kapitel 8).

2 Der griechische Begriff mathetes wird seiner Wortbedeutung entsprechend mit ,Schülerin‘ bzw. ,Schüler‘ übersetzt.

2. Einleitende Informationen

Bevor eine Deutung des Thomasevangeliums zur Diskussion gestellt wird, müssen grundlegende Informationen über die historischen Hintergründe und die literarische Gestaltung dieses Werkes vermittelt werden. Zunächst gilt es, sich einen Sachverhalt zu vergegenwärtigen, der für wissenschaftliche Betrachtungen der Geschichte des frühen Christentums von zentraler Bedeutung ist. Die Bibel ist – wie es ihr griechischer Name ta biblia (,die Bücher‘) bereits andeutet – eigentlich eine Bibliothek. Sie überliefert Schriften, die von Menschen verfasst wurden, die in unterschiedlichen Zeiten, Gebieten und historischen Zusammenhängen gelebt haben. Dies gilt auch für den zweiten Teil der Bibel, für den sich der Name ,Neues Testament‘ durchgesetzt hat. Es handelt sich um eine Sammlung von Schriften, die wichtige Einsichten in die Geschichte des frühen Christentums geben. Aber die Geschichte des Christentums war noch wesentlich vielschichtiger, als es das Neue Testament erahnen lässt. Dies gilt in besonderer Weise für jenen Schüler Jesu, der im Folgenden genauer betrachtet wird, also für Thomas und für das mit seinem Namen verbundene Evangelium. Aus diesem Grund wird zunächst der Kontrast zwischen biblischen und außerbiblischen Überlieferungen über Thomas dargelegt. Einerseits wird skizziert, in welcher Weise Thomas im Johannesevangelium zum Sinnbild eines Zweiflers stilisiert wurde, welcher der Botschaft Jesu skeptisch gegenüberstand und der nicht an die körperliche Auferstehung Jesu glauben wollte (2.1). Andererseits wird erläutert, welche außerbiblischen Überlieferungen über Thomas und die sich auf ihn berufenden Thomaschristinnen und Thomaschristen existieren (2.2). Ebenso muss dargelegt werden, warum das Thomasevangelium in der Antike verdrängt wurde und wie es im 20. Jahrhundert zu seiner Wiederentdeckung kam (2.3). Daraufhin wird zur Geltung gebracht, warum nicht nur die einzelnen Jesus-Worte des Thomasevangeliums geheimnisvoll wirken, sondern warum das Werk für sich genommen geheimnisvoll bleibt (2.4). Vor diesem Hintergrund kann erläutert werden, worin die Differenzen der Jesus-Bilder des Thomasevangeliums und der biblischen Evangelien bestehen (2.5), und zwar insbesondere der Jesus-Bilder des Thomasevangeliums und des Johannesevangeliums (2.6). Ebenso müssen die Grundprobleme einer religionshistorischen Verortung des Thomasevangeliums erörtert werden, und zwar insbesondere in Bezug auf die Quellen und Hintergründe seiner platonischen Denkansätze (2.7 bzw. 2.8). Letzteres führt zu einer Frage, die in den bisherigen Diskursen meines Erachtens zu wenig bedacht wurde: Welche Bedeutung haben die Kontraste zwischen dem Thomasevangelium und dem Johannesevangelium für die Frage nach dem sogenannten ,historischen Jesus‘? (2.9). Zum Abschluss der einleitenden Informationen werden die Übersetzung und Strukturierung der überlieferten Textzeugen des Thomasevangeliums erläutert (2.10).

2.1 Thomas, der Zweifler?

Welche Bedeutung hatte Thomas für die Entwicklung des frühen Christentums? Diese Frage kann sehr unterschiedlich beantwortet werden. Betrachtet man lediglich jene Sammlung von Schriften, die als ,Neues Testament‘ bezeichnet wird, so kann man zu der Einschätzung gelangen, dass Thomas nahezu bedeutungslos war. Eine solche Einschätzung wandelt sich jedoch grundlegend, wenn auch jene Zeugnisse betrachtet werden, die nicht in das Neue Testament aufgenommen wurden. In außerbiblischen Überlieferungen wird Thomas als ein besonderer Schüler Jesu dargestellt, auf den sich verschiedene christliche Gemeinschaften berufen, die heute mit dem Sammelbegriff ,Thomaschristen‘ bezeichnet werden.

Die gegensätzlichen Bilder von Thomas können folgendermaßen nachgezeichnet werden: Alle Evangelien, die in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen wurden, heben hervor, dass es unter den Schülerinnen und Schülern Jesu eine Person mit dem Namen Thomas gab (vgl. Mk 3,16-19; Mt 10,2-4; Lk 6,13-16). Ebenso wird übereinstimmend erzählt, dass er einer besonderen Gruppe angehörte, nämlich dem Kreis von zwölf Schülern, die Jesus als Apostel bezeichnet haben soll. In den Evangelien, die mit den Namen Matthäus, Markus und Lukas verbunden worden sind, erfährt Thomas ansonsten keine weitere Aufmerksamkeit. Dies entspricht auch den Erzählungen der Apostelgeschichte (Act 1,13), welche als eine unmittelbare Fortsetzung des Lukasevangeliums gestaltet wurde.

Lediglich eine einzige Schrift im Neuen Testament erwähnt Thomas ein weiteres Mal – aber diese Erwähnung ist umso bedeutender. Im Johannesevangelium wird ein Bild von Thomas gezeichnet, durch welches er zum Sinnbild eines Zweiflers werden sollte. Er habe der Botschaft seines Lehrers skeptisch gegenübergestanden und sie nicht angemessen verstanden (Joh 11,16; 14,4-5; 20,24-29). Dies gelte vor allem für den Glauben an eine körperliche Auferstehung Jesu. Doch das literarische Bild des zweifelnden Thomas bildet zugleich den Hintergrund, vor dem der Verfasser des Johannesevangeliums den Höhepunkt seines Werkes inszeniert. Thomas soll gefordert haben, den auferstandenen Jesus mit eigenen Augen zu sehen und die Wundmale seiner Kreuzigung zu berühren. Ansonsten könne er nicht an seine körperliche Auferstehung glauben. Der johanneischen Erzählung zufolge soll diese Forderung erfüllt worden sein. Infolge dessen lässt der Verfasser des vierten Evangeliums Thomas das höchste Glaubensbekenntnis formulieren, das in den neutestamentlichen Schriften überliefert ist. Der ehemalige Zweifler Thomas spricht Jesus schließlich als ,seinen Herrn und seinen Gott‘ an (Joh 20,28)3.

Die Dramaturgie dieser Erzählung impliziert eine Frage, die sich die Leserinnen und Leser des Johannesevangeliums stellen könnten: Gab es einen speziellen Anlass, warum der Verfasser des Johannesevangeliums gerade die Gestalt des Thomas als Sinnbild eines Zweiflers darstellt? Diese Frage ergibt sich bereits bei der Betrachtung der weiteren Evangelien im Neuen Testament, in denen Thomas nicht in dieser Weise in den Vordergrund gestellt wird. Sie gewinnt jedoch erheblich an Gewicht, wenn jene Schriften und Überlieferungen in die Diskussion einbezogen werden, die sich unmittelbar auf diesen Schüler Jesu beziehen. Auf diese Weise ergibt sich der Eindruck, dass der Verfasser des Johannesevangeliums eine bedeutende Gestalt des frühen Christentums und ihre Deutung der Botschaft Jesu kritisieren und korrigieren wollte4. Selbst wenn die überlieferten Textzeugen des Thomasevangeliums verhältnismäßig jung sind und gegenüber den Versuchen von Rekonstruktionen früherer Textstadien Skepsis geboten ist5, so ist die literarische Stilisierung der Gestalt des Thomas im Johannesevangelium ein Indiz dafür, dass mit diesem Schüler Jesu eine spezifische Lehrtradition in Verbindung gebracht wurde.

Leit-These 2.2: Der Verfasser des Johannesevangeliums stilisiert Thomas zum Sinnbild eines Zweiflers, um eine konträre Deutung der Gestalt und Botschaft Jesu zu kritisieren.

2.2 Thomas und die Thomaschristen

Bis in die Gegenwart hinein existieren christliche Gemeinschaften, die oftmals als ,Thomaschristen‘ bezeichnet werden. Dieser Begriff ist freilich missverständlich, da er keine offizielle Selbstbezeichnung ist. Das sogenannte ,Thomaschristentum‘ ist keine einheitliche Konfession mit eigenständigen Bekenntnissen und Institutionen. Es handelt sich vielmehr um einen Sammelbegriff verschiedener Gruppen, die für sich in Anspruch nehmen, auf die missionarischen Aktivitäten dieses speziellen Schülers Jesu zurückzugehen6.

Leit-These 2.3: Der Sammelbegriff ,Thomaschristen‘ bezeichnet unterschiedliche Gemeinschaften christlicher Religiosität, die sich auf den Apostel Thomas berufen und die nicht durch die Schriften des Neuen Testaments repräsentiert werden.

Viele Gemeinschaften, die mit dem Sammelbegriff ,Thomaschristen‘ bezeichnet werden, verbindet die Vorstellung, dass Thomas die Botschaft seines Lehrers bis nach Indien getragen habe. Er sei bereits Anfang der 50er Jahre des ersten Jahrhunderts im Süden Indiens angekommen und dort zu Beginn der 70er Jahre als Märtyrer gestorben. Noch heute gibt es in Südindien verschiedene Kultstätten, die an die Mission und den Tod des Thomas erinnern. Geschichtswissenschaftlich betrachtet ist es freilich kaum möglich, bei diesen vielfältigen Traditionen zwischen zuverlässigen historischen Informationen und legendarischen Erzählungen zu unterscheiden. Gleichwohl kann ein Sachverhalt kaum abgestritten werden: Es gab einen Schüler Jesu mit dem Namen Thomas, der die Botschaft seines Lehrers in Regionen verbreitete, die in Zeugnissen des Neuen Testaments nur geringe oder keinerlei Aufmerksamkeit erfahren haben.

Der Vielschichtigkeit unterschiedlicher Überlieferungen über Thomas entspricht es auch, dass verschiedene Schriften für sich in Anspruch nehmen, auf ihn zurückzugehen. Diese unterscheiden sich freilich deutlich voneinander, und zwar sowohl formal als auch inhaltlich. Sie lassen erahnen, welche unterschiedlichen Vorstellungen mit dem Namen Thomas in Verbindung gebracht wurden. So erzählt z.B. das sogenannte ,Kindheitsevangelium des Thomas‘, das nicht mit dem Thomasevangelium verwechselt werden darf, vermeintliche Begebenheiten aus dem Leben des jungen Jesus. Sie sollen die göttliche Macht und das außergewöhnliche Wissen veranschaulichen, die Jesus bereits als Kind gehabt haben soll. Viele dieser Legenden mögen heutigen Leserinnen und Lesern absonderlich erscheinen (so sei z.B. auf die bekannte Erzählung verwiesen, derzufolge der kleine Jesus an einem Bach spielte, aus Lehm Vögel formte und sie zum Leben erweckte). Sie entsprechen jedoch vielen antiken Legenden, welche nachträglich die Kindheit bedeutender Persönlichkeiten phantasievoll ausgeschmückt haben. Dass es sich mit Jesus nicht anders verhielt, dokumentieren bereits die biblischen Evangelien (dies gilt vor allem für die Legenden über die Geburt Jesu) und viele weitere Erzählungen, die in der Antike weit verbreitet waren. Allerdings wird im ,Kindheitsevangelium des Thomas‘ eine Frage nicht beantwortet, die für eine Deutung des Thomasevangeliums von Interesse ist: Warum soll speziell Thomas eine jener Personen gewesen sein, die diese Begebenheiten überliefern können? Die Gestalt des Thomas wird im ,Kindheitsevangelium des Thomas‘ nämlich nicht genauer betrachtet. Anders verhält es sich mit weiteren frühchristlichen Schriften, in denen Thomas selbst im Zentrum der Erzählungen steht. So wurden z.B. verschiedene Varianten der sogenannten ,Thomasakten‘ überliefert, die wohl erst im dritten Jahrhundert entstanden sind. Sie verbinden verschiedene Erzählungen über Thomas miteinander, welche seine Taten und Erfahrungen auf seinem Weg nach Indien schildern möchten. Ebenso kursierten in der Alten Kirche verschiedene Fassungen einer Thomasapokalypse, welche für sich in Anspruch nimmt, unmittelbar bevorstehende Ereignisse anzukündigen, die dem erwarteten Weltuntergang vorausgehen sollten.