Jesus der Christ - C. F. W. Held - E-Book

Jesus der Christ E-Book

C. F. W. Held

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Beschreibung

Verehrte Versammlung!
Zum vierten Male habe ich es gewagt, zu Vorträgen einzuladen, welche Dinge angehen, an denen jeder beteiligt ist, der ein menschenwürdiges Dasein leben will. Die Besprechungen in den drei vergangenen Wintern: des ersten über das Leben Jesu, des zweiten über die Entstehungsgeschichte des Neuen Testamentes, des dritten über die Geschichte des Reiches Gottes im Alten Testament sind Einleitung und Vorbereitung der diesjährigen Vorträge gewesen. Die Grundlehren des Christentums, nach ihrer geschichtlichen Entwicklung und in ihrer bleibenden Bedeutung, mit Rücksicht aus den Rationalismus und Skeptizismus der Gegenwart das ist das große Thema dieses Winters.

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Jesus der Christ

von

C. F. W. Held

Dr. phil., Licent. theol.

Ord. Professor der Theologie an der Universität zu Breslau

1865

© 2023 Librorium Editions

ISBN : 9782385740290

Vorwort

In vier aufeinander folgenden Wintern habe ich in Zürich vor einer größern Versammlung von Männern und Frauen apologetische Vorträge gehalten. Aufforderungen von außen und inneres Bedürfnis trafen zusammen, um mich zu diesen Versuchen zu ermutigen. Überall und sonderlich in den größern Städten macht es sich ja mit jedem Jahre fühlbarer, dass die Kirche nicht nur sonntags mit dem Worte der Predigt, sondern auch zu anderer Zeit und in anderen Zungen zu reden hat, um den Menschen dieser Zeit das Heil in Christo nahezubringen. Alles Suchen und Fragen, Kämpfen und Streiten der Gegenwart bewegt sich immer eifriger und drängender um den einen Namen: Jesus Christus. Muss die Kirche sich einer bald zweitausend Jahre; lang getriebenen Menschenvergötterung schuldig bekennen, oder steht sie mit ihrem Zeugnisse von Christo in unlöslichem Zusammenhange mit dem Zeugnisse der Apostel und Jesu Selbstzeugnisse? Immer deutlicher bringt die Geschichtsforschung die Tatsächlichkeit und Wirklichkeit Jesu ans Licht. Dass Er selbst der Messias der alttestamentlichen Hoffnung und damit der Christus des neutestamentlichen Glaubens hat sein wollen, ist eine Tatsache, die sich nicht mehr verleugnen und verkennen lässt.

Weder haben die Propheten zu viel erwartet, noch die Apostel in Ihm zu viel gefunden, – Er selbst hat den Anspruch gemacht, aller Gottessehnsucht Befriedigung zu sein. Dass unsere Gegenwart, so gut wie jede andere Zeit, des ganzen, vollen, biblischen Christus bedarf, und sich selbst schädigt und schändet, wenn sie Ihn sich verkürzen und verdunkeln lässt, dass der Menschheit Innerstes und Bestes Ihn, den Christus der Propheten und Apostel, und keinen andern sucht, – das wollen diese Vorträge deutlich und gewiss machen. Der Rationalismus, in allen seinen Mischformen, entehrt und verkehrt beides: Das Heiligste der Geschichte, die Erscheinung Jesu und das Heiligtum des menschlichen Gemütes mit seinen Erfahrungen eines lebendigen Gottes.

Auf der Harmonie beider aber, darauf, dass der erwachte Mensch, welcher sein Gewissen Zeugnis ablegen lässt, Christum sucht und ohne ihn kein Leben findet, beruht die Sieghaftigkeit des Christentums. Die Geister, welche in dieser Zeit miteinander ringen, kommen in Zürich näher zusammen und treffen sich auf engerem Raume und in dichterem Gedränge, als anderswo. Die Halbheit und Zweideutigkeit, welche bisher es allen recht zu machen suchte, scheint zu weichen, und eine noch nicht gekannte Offenheit und Rücksichtslosigkeit auch das Volk zu nötigen, sich zu entscheiden, ob das Christentum der Schrift und Jesu selbst gelten soll, oder was die Willkür und Erfahrungslosigkeit an seine Stelle setzt. Teilnahmslosigkeit und Unentschiedenheit sind in der Nähe eines solchen Kampfes nicht möglich. Für alle ist es förderlich, wenn einmal mit Entschiedenheit der Versuch gemacht wird, die Kirche nach der »modernen Weltanschauung«, welche den biblischen Christus als Realität nicht mehr begreifen und zulassen kann, umzugestalten. Dann wird sich zeigen, welcher Art die Humanität ist, die den Menschen rein auf sich selbst und die natürliche Ordnung der Dinge stellt. Dann wird sich zeigen, dass die Menschheit mit dem biblischen Christus alles verliert, was ihr das Leben erträglich und lobenswert macht. Ist Er dahin und als Wahn, der vor Zeiten heilsam gewesen, nunmehr aber verderblich geworden sei, beseitigt, dann schwindet auf Erden alle Demut und Tröstung, alle Buße und Heiligung, alle Barmherzigkeit und Opferwilligkeit. Dann werden die Geister der Tiefe entfesselt, und die Menschheit wird sich entsetzen über die Geburten ihres eigenen Schoßes. An dem Einen, dass Jesus der Christ ist, im Vollsinne der Propheten und Apostel, und lebt in der Herrlichkeit Gottes, ein Priester und König, hängt alles.

Dass Jesus selbst dieser Christus hat sein wollen, ist eine in der Wissenschaft bereits festgestellte Tatsache. Der Kampf des Lebens aber hat zu offenbaren, was die Menschen durch Ihn und was sie ohne Ihm werden. In diesem Kampfe, der überall die Geister in Bewegung bringt, hat Zürich die eigentümliche Wendung erlebt, dass seine Kirche, welche einst gegen Strauß sich empörte, nunmehr die Stätte geworden ist, da die Zukunft angebahnt wird, welche Strauß begehrt. Möchten doch die, welche zur Rechten kämpfen, die unbezwinglichen Geistesmächte, die für sie sind, immer gründlicher kennen und immer besser brauchen lernen.

Die Vorträge erscheinen genau so, wie sie gehalten sind. An ihrem Inhalte oder auch nur an ihrer Form zu bessern, haben die Umstände nicht gestattet. So mögen sie denn ihren Dienst tun, zunächst als ein Zeichen der Erinnerung an einen für Zürich so ereignisreichen und unvergessbaren Winter. Sie sind entstanden, nicht in der Ruhe und Behaglichkeit eines rein wissenschaftlichen Schaffens, sondern in der ernsten und erschütternden Überzeugung, dass in dem Kampfe, an welchem sie sich beteiligen, alles auf dem Spiele steht, wofür sich einzusetzen überhaupt der Mühe wert ist. Dabei aber werden diese Vorträge es nicht vermissen lassen, dass sie keinen der Gegner aufgeben, sondern überall in Liebe auch die entschiedensten und entschlossensten suchen und finden wollen. So seien denn diese Zeugnisse der Gnade Gottes befohlen, welcher auch mit ihnen seinen Willen ausrichten kann: in dieser Zeit die Erkenntnis zu erhalten und zu festigen, dass wir Menschen, wie wir sind, nur Leben haben in Jesu dem Christ, dem lebendigen und herrlichen Gottessohne.

I n h a l t.

I. Die Grundtatsache des Christentums

II. Entwicklung der Kirche

III. Jesus, der Messias der Propheten und der Christus der Apostel

IV. Geschichte der Lehre von der Person Christi

V. Geschichte der Lehre von dem Werke Christi

VI. Versöhnung

VII. Glaube

VIII. Rechtfertigung

IX. Heiligung

X. Unterschied des christlichen Lebens vom Rationalismus

XI. Heilige Schrift

XII. Fortsetzung

XIII. Gliederung des Neuen Testamentes

XIV. Kirche

XV. Sakramente

XVI. Christliche Hoffnung

 

I. Die Grundtatsache des Christentums

Verehrte Versammlung!

Zum vierten Male habe ich es gewagt, zu Vorträgen einzuladen, welche Dinge angehen, an denen jeder beteiligt ist, der ein menschenwürdiges Dasein leben will. Die Besprechungen in den drei vergangenen Wintern: des ersten über das Leben Jesu, des zweiten über die Entstehungsgeschichte des Neuen Testamentes, des dritten über die Geschichte des Reiches Gottes im Alten Testament sind Einleitung und Vorbereitung der diesjährigen Vorträge gewesen. Die Grundlehren des Christentums, nach ihrer geschichtlichen Entwicklung und in ihrer bleibenden Bedeutung, mit Rücksicht aus den Rationalismus und Skeptizismus der Gegenwart das ist das große Thema dieses Winters.

Welches sind diese Grundlehren? Lassen sie sich in eine bestimmte Zahl und in eine feste Form bringen? Das ist ja sofort gewiss: wenn das Christentum die schlechthin vollendete Religion sein will, welche allen andern die Vergänglichkeit und sich selbst die Unsterblichkeit weissagt, so muss es auch dem menschlichen Erkenntnisbedürfnisse volles Genüge zu bieten haben. Es muss sich als die Wahrheit ausweisen.

Einen leichten, sehr bequemen und oft betretenen Weg gibt es, die Allgemeingültigkeit des Christentums nachzuweisen und jeden Zweifel und Widerspruch, der sich erheben kann, zu beseitigen: es ist die Unterscheidung eines Vergänglichen und eines Bleibenden am Christentume, einer historischen Schale und eines ewigen Kernes, die Behauptung dass das Christentum nichts Absonderliches und Apartes, sondern das Menschliche und Natürliche selbst ist.

Der englische Deismus hat diesen Weg zuerst gebahnt. Nirgend hatte die Reformation so heftige Schwankungen und Kämpfe in ihrem Gefolge gehabt, als in England. Die Willkür Heinrichs VIII. hatte dem Volke ein Kirchensystem aufgenötigt, gegen welches es sich aus innerstem, religiösem Triebe empörte. In diesem Kampfe aber zersetzte sich das Volk selbst in eine Menge miteinander hadernder Parteien, deren jede die Eine volle Wahrheit zu haben glaubte und alle andern verdammte. Als die Kampfeshitze verglüht war, wurde das Bedürfnis lebhaft gefühlt, die getrennten und auseinandergerissenen Glieder wieder zur Einheit eines Volksganzen, eines Leibes zu verbinden. Sich unter das Bekenntnis einer Partei zu sammeln, ließ sich da den andern nicht zumuten. Es musste eine Grundlage gefunden werden, breit genug, alle Parteien zu tragen; es mussten Sätze aufgestellt werden, zu welchen alle stimmen konnten; das Besondere und Eigentümliche musste die Kraft der Scheidung und Trennung verlieren und wenn es doch fortdauern wollte, sich begnügen, Stimmung und Liebhaberei eines engern Kreises zu werden. So entstand der Grundsatz der Toleranz, gestützt auf die Behauptung, dass das Christentum so alt als die Welt und nichts anderes sei als die natürliche Religion, welche der Wahrheitsgehalt und ewige Kern aller geschichtlichen und wirklichen Religionen sei. In fünf kurzen Sätzen fasste der Lord Herbert von Cherbury die Aussagen dieser natürlichen Religion zusammen: die Anerkennung eines persönlichen Gottes, die Pflicht, ihn durch ein tugendhaftes Leben zu verehren, die Genugsamkeit der Reue und Besserung zur Sündenvergebung und Versöhnung mit Gott, der Glaube an Unsterblichkeit und an ein Vergeltungsgericht – das war nach ihm das Christliche im Christentum und der Gehalt aller Religionen.

Menschlicher Unverstand und Schwärmerei, Herrschsucht der Könige und Priester habe nun um diese fünf Säulen der Wahrheit ein Labyrinth von Satzungen, Dogmen, Mysterien und heiligen Gebräuchen gebaut, das seinem verdienten Verfalle überlassen werden müsse.

Denselben Weg verfolgten eine Reihe von Geistern, die den Namen Deisten tragen, weil sie in der Anerkennung eines persönlichen, selbstbewussten Gottes noch ziemlich einstimmig sind.

Unter ihnen gibt es ernsthafte Gelehrte, wie J. Toland, Collins, Woolston, Tindal, Morgan, die in weitläuftigen Werken sich aussprachen und geistreiche Weltmänner, wie Graf Shaftesbury und Lord Bolingbroke, die in kurzen Aufsätzen, witzigen Briefen und pikanten Bemerkungen mehr noch zur Verbreitung jener Missachtung der Geschichte wirkten, als die Gelehrten. Klarheit ist das Maß der Wahrheit, wurde der feststehende Satz. Der common sense, der sogenannte gesunde Menschenverstand ist, ohne besondere Erziehung und Erfahrung durchgemacht zu haben, der höchste Richter in allen Fragen.

Noch weniger als in England war in Frankreich die Reformation zum Ziele und zum Austrage gekommen. Die römische Kirche verlor ihre Autorität, die evangelische aber kam unter den furchtbaren Verfolgungen nur zu einem gedrückten Dasein. Als die Geister sich erschöpft hatten in den ernsten Kämpfen mit dem Schwerte und mit der Feder, nahm von der Trümmerstätte eine Frivolität Besitz, die an den alten Heiligtümern der Menschheit ihren Witz übte. Dieser Geist, der die Mode und den Geschmack einer sittlich ruinierten Gesellschaft zum Richtmaß nahm und die Dinge verstanden und beurteilt zu haben meint, wenn er sie lächerlich machen konnte, gewann Fleisch und Blut und eine beredte Zunge in Voltaire. Er will nicht Atheist sein. Er redet oft mit besonderer Selbstgefälligkeit von seiner Anerkennung Gottes. Aber dieser Gott ist nicht mehr eine Macht, vor welcher er sich in Ehrfurcht beugt, sondern eine plausible Hypothese, zu welcher sich sein Verstand herbeilässt.

Ein ganz anderer und edlerer Geist ist Rousseau. Er hat das tiefste Gefühl der Unnatürlichkeit und Verkehrtheit, in welche die gebildete Gesellschaft seiner Zeit geraten ist. Er hat ein Heimweh nach Natürlichkeit und Einfachheit, nach einem Paradiese, das nirgend gewesen ist und für die Menschheit auch verloren bleibt. Atheismus und Materialismus, Revolution mit dem vorüberrauschenden Taumel eines theophilantropischen Reiches, in welchem alle Unterschiede ausgelöscht wären in reiner Gottes- und Menschenliebe und endlich das Cäsarentum Napoleon I. bilden eine Kette, welche die göttliche Nemesis geschmiedet hat.

Auch in Deutschland blieb die Reformation nicht, was sie zu Anfang gewesen war: ein reicher Strom, der das ganze Lebensgebiet nach allen Richtungen bewässerte und befruchtete. Die Glaubensfreudigkeit, welche in Luther gewohnt hatte, mit der vollen Gewissheit, alles Menschliche durchdringen und verklären zu können, wurde im Kampf mit dem Katholizismus und den mannigfachen Sekten mehr und mehr zu dem sorglichen Streben, die reine Lehre nach allen Seiten hin auszubauen und festzustellen.

An diesen Streitigkeiten, welche sich· über Fragen verbreiteten, die nur den Gelehrten wichtig und verständlich waren, ernstlich Teil zu nehmen, verging dem Volke umso mehr die Luft, je mehr sich ihm durch eine Reihe folgenreicher Entdeckungen und Erfindungen die wirkliche Welt erschloss und zu neuen Arbeiten und Genüssen einlud. Auch der Spener’sche Pietismus, welcher auf eine Neubelebung des Volksganzen hinarbeitete, hatte die unbeabsichtigte Nachwirkung, gegen das kirchliche Lehrsystem zu verstimmen. Englische Bücher kamen zu den Gelehrten, französische zu den Gebildeten, und so ward die deutsche Aufklärung für alle Gebiete und der Rationalismus für die Theologie und Religion zur herrschenden Macht des vorigen Jahrhunderts. Nur das Gemeinverständliche und Gemeinnützliche wollte die Aufklärung bestehen lassen; der Rationalismus aber versuchte zuerst den Nachweis, dass die Kirchenlehre nicht einerlei mit der Schriftlehre, ging dann aber weiter zu der Behauptung, dass auch in der Schrift das meiste nur vorübergehende Bedeutung habe. Ein ungeheurer Missbrauch wurde mit der sogen. orientalischen Redeweise der Schrift, den jüdischen Vorstellungen und lokalen Ideen, von welchen sie voll sei, getrieben. Was übrig blieb, war das dürre Gerippe einer Vernunftreligion und hausbackenen Moral. Dass aber Deutschland nicht unterging, weder in dem Sande des englischen Deismus, noch in dem Sumpfe der französischen Frivolität, dazu wirkten drei verschiedene Mächte zusammen. Einmal leistete die deutsche Poesie und Kunst in einer Fülle herrlicher, die ganze Nation mit Freude und Stolz erfüllender Schöpfungen den mächtigen Tatbeweis, dass zum Menschenleben noch mehr gehört, als die Fähigkeit, logisch richtige Schlüsse bilden und aneinander reihen zu können. Phantasie und Gemüt, Freundschaft und Vaterland, das Geheimnis der Liebe und die Sehnsucht nach Idealen, welche ja doch nur nach dem unbekannten Gotte fragt, alles Höchste und Tiefste, was der Mensch besitzt und erlebt, wurde von den Dichtern wie aus langem Schlafe geweckt und mit goldenen Worten und Weisen begabt. Der Aufklärungsdespotismus, der mit seinem ledernen Regiment alles Geniale, Geheimnisvolle, Wunderbare in Acht und Bann getan und unbarmherzig verfolgt hatte, wurde von den jungen Dichtern und ihren Gesellen mit Scherz und Spott vom Throne gestoßen.

Die zweite Macht, welche zum Sturze der Aufklärung gewaltig mithalf, war die deutsche Philosophie.

Sie wies die ganze Richtigkeit einer Sittlichkeit nach, welche die Nützlichkeit und Glückseligkeit zum bestimmenden Prinzip gemacht und dem gemeinen Menschenverstand, der das Schiedsrichteramt in den schwierigsten Angelegenheiten der Menschheit sich angemaßt hatte, deckte sie alle seine Widersprüche, Willkürlichkeiten und Einseitigkeiten auf. Mehr aber als diese beiden idealen Mächte, tat die dritte sehr reale Macht: die Not des deutschen Volkes unter der Franzosenherrschaft. Die Verständigen, welche nach dem urteilten, was vor Augen war, mussten da alles verloren geben; der Glaube aber lernte hoffen, wo nichts mehr zu hoffen war.

Dieser Glaube, der die Freiheit errang, hatte kaum ein Bekenntnis, wusste kaum noch etwas von der alten Kirchenlehre, brauchte die Bibel mit ungeschickten Händen und ungeübten Augen nur etwa, um sich dort und da einen Trost- und Kraftspruch zu suchen.

Aber es war dennoch Glaube: ein sich Stellen und Stützen auf den Allmächtigen, der helfen und retten kann, wo alles, was Mensch und Welt ist, feindlich und widrig geworden ist. Dieser Glaube gewann aber auch eine Zunge, sich selbst auszusagen und ein Auge, sich selbst zu erkennen. Schleiermacher errang der Religion wieder die Anerkennung, dass sie eine dem Menschenleben unentbehrliche Macht, weder ein Wissen noch ein Handeln sei, sondern die Ergriffenheit und Bestimmtheit des innersten und eigensten Lebensgrundes durch Gott. Auch das Eigene und Einzige der christlichen Religion, wodurch sie das Ende aller andern sei, ging ihm immer mehr auf. Erlösung, Versöhnung mit Gott durch Teilnahme an der Gottesgemeinschaft Christi, war ihm das Christentum und alle christliche Lehre nichts andres, als Aussage dieser Erfahrung, dieser innern Lebensbestimmtheit des Christen. Noch mehr als Schleiermacher, in welchem die verschiedensten Elemente, die zu Anfang dieses Jahrhunderts durcheinander wogten, sich zu einer Einheit verbanden, welche keinem andern mehr vergönnt war, schien Hegel, der Philosoph, das lang verkannte und fast vergessene Christentum wieder zu Ehren zu bringen. Die absolute, die vollkommene Wahrheit, welche die Philosophie in absoluter und vollkommener Form besäße in der des Begriffes, sollte die Religion in Form der Vorstellung haben. Diesen Frieden, in welchen die meisten sich behaglich einlullten, zerstörte D. Strauß durch den Nachweis, dass die recht verstandene Hegel’sche Philosophie mit der recht verstandenen christlichen Religion nichts gemein habe. Der Glaube, und zwar nicht erst der spätere Kirchenglaube, sondern schon der erste Apostel- und Jüngerglaube habe aus Jesu gemacht, was ein einzelner Mensch niemals gewesen sei, noch jemals sein könne. Was allein der Gattung, der Menschheit zukomme, die volle Selbstoffenbarung und Darstellung Gottes zu sein, das ewige Erzeugnis des göttlichen Wesen, der wirkliche Sohn Gottes, – das verlege der Glaube in den einzelnen Jesus, der daher vor den Augen des Glaubens zu einem unwirklichen und unmöglichen Gebilde werde. Jesum, den Dagewesenen, der immerhin ein genialer, einzigartiger Mensch gewesen sein möge, müsse das philosophische Denken aufgeben gegen den rechten, gegenwärtigen, ewig lebendigen Christus, die Gottmenschheit, die Gattung, in welcher Gott allein sein Wesen habe und sich selbst verwirkliche.

Seit der Straußischen Bewegung ist in dem vergangenen Vierteljahrhundert die eine Frage: Wer war Jesus? der Mittelpunkt aller theologischen Forschung geworden. Das Neue Testament und die älteste christliche Literatur ist von allen Seiten durchforscht worden mit mikroskopischer Genauigkeit. Jedes Buch und jede Zeile ist 7 Mal 70 Mal durchs Feuer der Prüfung gegangen. Aus diesen Untersuchungen ist das sichere Ergebnis hervorgegangen: Was die Kirche von Jesu aussagt, ist nichts anderes, als was die Apostel und ersten Jünger von ihm behaupten.

Wollte die Kirche das Zeugnis der Apostel von Jesu annehmen und auslegen, so konnte sie nicht anders von ihm reden und zeugen, als sie getan hat. Der Apostel Zeugnis aber über Jesum ist einstimmig und gleichlautend mit dem Zeugnis Jesu von sich selbst. Seine Zeugen haben ihn nicht missverstanden, haben nicht unwillkürlich oder absichtlich aus ihm einen andern, Höheren, Herrlicheren gemacht, als Er war und sein wollte. Er selbst hat alle die Namen, welche sie ihm geben, die ganze Bedeutung und Einzigkeit, welche sie ihm zuschreiben, in Anspruch genommen. Nicht seinen Gläubigen verdankt Er eine Verherrlichung, von welcher Er selbst nichts wusste und wollte, sondern hat die Kirche ihre Zeugnisse über ihn zu berichtigen, so kann sie es nur durch die Erkenntnis und das Bekenntnis: Er ist noch mehr als die Väter von ihm gesagt, noch mehr als die Apostel von ihm zeugen; keiner hat ihn völlig durchdrungen und bemeistert. All ihr Wort ist nur ein Widerhall und Nachklang seines eigenen Wortes.

Wie sollen wir nun in unserer Zeit und an unserm Orte die Grundlehren des Christentums bestimmen, die Lehren, welche das Christentum zur schlechthin vollendeten Religion machen?

Sollen wir jenen Weg betreten, welchen die englischen Deisten und alten Rationalisten geöffnet und breitgetreten haben? Sind wir nicht in einer ähnlichen Lage als jene war, aus der die englischen Einigungsversuche entsprangen? Alle denkbaren Sekten – die einen in entschieden fremder und feindlicher Stellung gegen die Kirche, andere in zweideutigem Verhältnisse – umgeben uns. In der Kirche selbst treffen und mischen sich alle möglichen Farben und Schattierungen. Auch dem, der mit Nachdenken und Besinnung lebt und die Geister zu prüfen sucht, wird es schwer, was christlich, unchristlich und widerchristlich heißen soll, zu bestimmen.

Ist es da nicht Pflicht, mit dem weiten Herzen der Liebe und dem weitreichenden Auge des Verständnisses keinem die Christlichkeit abzusprechen, der sie sich selbst nicht abspricht? Wer mag eines andern Richter sein, der sich selbst zu richten gelernt hat? Können wir nicht eins werden und bleiben in der Liebe, auch wenn die Ansichten, Meinungen und Lehren weit auseinandergehen und sich nicht versöhnen lassen wollen? Lassen wir doch einem jeden die volle Freiheit, seine Gedanken zu bilden und zu ordnen, wie er kann, wenn er es nur tut mit bestem Wissen und Gewissen.

Der Rätsel und unbeantwortbaren Fragen sind ja so viele in der Welt, und die Weisen sind die, welche sich da kein Wissen einbilden, wo ein Wissen nicht möglich ist. Lehrt es nicht die Geschichte, dass alle Glaubensformeln, unter welche man die lebendigen Menschen hat bringen wollen, immer wieder gesprengt und zerrissen sind? Das scheint ja gerade ein Triumph des Christentums zu sein, dass die verschiedenartigsten Menschen ihm angehören wollen und es doch als Verletzung und Beleidigung empfinden, wenn ihnen der Christenname abgesprochen wird, während eine Lehre und ein Bekenntnis, das sich für das allein christliche gibt, immer nur die Macht hätte, einen engen Kreis gleichgearteter Menschen eine Weile zusammenzuhalten. Und endlich, wie soll sich der Mann, dessen Beruf und Arbeit es nicht ist, mit schweren Geistesproblemen zu ringen und ihre Lösung in Geduld und Mühe zu suchen, wie soll sich das Weib, die einen ganz andern Wirkungskreis hat, wie sollen sich alle die Ungelehrten und Unerfahrenen verhalten? Tun sie nicht am besten, die Fülle der schweren Fragen den Fachleuten, den Theologen zu überlassen, ohne sich in die Arbeit, die sich oft in Streit und Hader verwandelt, zu mischen?

Tun diese alle nicht am besten, allein nach den Früchten zu fragen, die guten und süßen zu genießen, die schlechten und verderblichen zu verwerfen, ohne die verborgenen Säfte und die in der Tiefe liegenden Wurzeln der Bäume zu untersuchen? Solche Gedanken mögen wohl manchem gekommen sein in dieser Zeit, in dieser Stadt.

Aber soll denn das Christentum wirklich ein unsagbares Etwas, ein ewig Unaussprechliches und immer Namenloses sein?

Soll denn das eine Bekenntnis, zu welchem alle stimmen können, nur darin bestehen, dass keiner sich zumutet, Wahrheit zu haben und irgendeinen des Irrtums überführen zu können? Soll denn die Kirche wirklich zum Walde werden, in welchem jeder singt, dem Gesang gegeben, und mit gleichem Rechte sich alle Meinungen hören lassen dürfen, sofern sie nur nicht gegen die öffentliche Sittlichkeit verstoßen? Wäre es so, wäre das das eine Christenbekenntnis, dass überall etwas Wahrheit sein möge, die eine, volle, ganze Wahrheit aber nirgend zu finden sei, so wäre das Christentum jedenfalls nicht, wofür es sich von Anfang ausgegeben hat: die Religion der Befriedigung, der Beseligung, es wäre dann der stete Zweifel, das heißt: die Verzweiflung.

Denn dazu ist der Mensch geboren und angelegt, dass er die Wahrheit haben und besitzen soll. Sein innerstes und eigenstes Wesen ist ein unendlicher Hunger nach der Fülle, dem Urquell der Dinge, nach Gott selbst. Des Menschen Adel und Elend ist, dass er Gottes bedürftig ist und mit sich selbst nicht zufrieden ist, ehe er Gott hat. Darum treibt es ihn in die Weite und Breite, in die Höhe und Tiefe mit unauslöschlicher Begier, mit stetem Drange, sich selbst zu füllen. Das ist seine Wonne, wenn ein Strahl der Wahrheit ihn trifft, wenn er eine Perle aus ihrem Schatze findet.

Aber die Unruhe und Pein bleibt, so lange er nicht das Beste, das Ganze, das Eine hat. Und müsste er nun auf der höchsten Stufe, die er ersteigen kann, nach der tiefsten Erfahrung, die er machen kann, müsste er als Christ mit dem Bekenntnisse enden: die Wahrheit bleibt verschlossen, Gott lässt sich nicht finden und haben, keiner kommt heraus aus dem Suchen und Sehnen, Trachten und Schmachten, so wäre das Christentum die Unseligkeit, die Hoffnungslosigkeit, die Verzweiflung selbst, nämlich die Erkenntnis, dass der Mensch den Widerspruch in sich trägt, für die Wahrheit geschaffen zu sein und sie doch nimmer gewinnen zu können.

Die Stimmung, welche sich in dem Sprüchlein darlegt: »Handle, wie du sollst und glaube, wie du willst«, ist keine christliche. Es ist auch nicht wahr, was die Oberflächlichkeit sich einreden lässt, dass Menschen der verschiedensten Meinungen und Ansichten gleich gut und gleich schlecht sein können. Zwischen Kopf und Herzen, Denken und Wollen, Lehre und Leben besteht nicht der weite Unterschied und Zwischenraum, den eine äußerliche Betrachtung machen will. Ein Wechselverkehr, eine Wechselwirkung, ein höchst folgenreicher Austausch besteht zwischen dem sittlichen und dem intellektuellen Gebiete. Wer Erfahrungen erlebt hat, wie Paulus, Augustin, Luther und ähnliche, der sieht die Welt mit anderen Augen an, fühlt, empfindet, denkt anders, als Menschen, die Ähnliches nie erlebt und geahnt haben. Die Gedanken der Menschen über Gott und Welt und sich selbst. sind nichts andres als die Blüten, in welchen ans Licht kommt, sich sehen und spüren lässt, was in dem Menschen ist, welches Leben er hinter sich hat, von welcher Art der Grund und Boden seines Wesens ist. Und umgekehrt: eine wirkliche Erkenntnis ist nicht ein Licht, das den Menschen obenhin berührt, sondern sie durchdringt, durchleuchtet, erfasst ihn ganz. Sie durchwärmt, bestimmt und erregt ihn zu neuen Gefühlen, zu andern Taten, sie macht einen andern Mann aus ihm. Es kann ein Mensch die besten Lehren annehmen ohne Widerspruch und dennoch ein innerlich verdorbenes Leben fortführen; dann aber waren jene Lehren nie wahrhaft sein eigen geworden, waren niemals lebendig und mächtig in ihm gewesen, hatten ihn niemals wirklich besessen. Ebenso kann ein anderer mit großen Irrtümern doch ein Leben führen, das vor Menschenaugen untadelig ist. Aber auch diesen hatten seine Überzeugungen niemals ganz in Besitz genommen, niemals völlig durchdrungen und durchseelt. Beide sind in einem Zwiespalt, der nicht andauern und bleiben kann; einmal muss jeder sein Leben bekennen und sein Bekenntnis erleben. Darum ist es eine falsche Liebe und das Gegenteil der echten, nämlich die faule Selbstsucht, welche Frieden haben will um jeden Preis und mit aller Welt in Freundschaft bleiben, wenn die Gedanken und Anschauungen der Menschen uns gleichgültig sind.

Will also das Christentum bleiben, was zu sein es von Anfang an behauptet hat, die Religion, die Religion der Befriedigung, der Beseligung, die vollkommene Religion, so muss es etwas haben, was es als Wahrheit, als die Wahrheit behauptet und dessen Leugnung es als Lüge, als die Lüge von sich weist.

Ist dieses Etwas nun, mit welchem das Christentum steht und fällt, ein Lehrsystem, eine unter sich verbundene und verwachsene Anzahl von Glaubenssätzen, oder ist es nur eine Kernlehre, aus welcher alle andern herauswachsen, ein Mittelpunkt, in welchem alle Strahlen zusammenlaufen? Es möchte nun einer sagen: Wer die Unsterblichkeit des Menschen, wer den lebendigen Gott, der sich selbst weiß und will, leugnet, der ist kein Christ mehr.

Gewiss nicht! Aber beides kann einer bekennen und doch noch kein Christ sein. Der Jude, der Muhamedaner bekennt beides.

Ein evangelischer Christ möchte darum sagen: Wer die Bibel nicht annimmt als Wort Gottes und als heilige Offenbarung, der ist kein Christ mehr. Aber die Bibel ist doch nur das Gefäß; wer ihren Schatz, ihren Inhalt nicht kennt, oder verkennt, kann sich aus dem Gefäße nicht viel machen. Was ist nun Kern und Stern der Bibel und damit des ganzen Christentums?

In zwei Worten, welche keinen Lehrsatz, sondern eine Tatsache aussprechen, liegt das Geheimnis des Christentums, in den beiden Namen Jesus ist Christus. Dass das Christentum diese Persönlichkeit hat, welche als Jesus ganz unser, der Menschheit angehörig und als Christus ganz Gottes und der Gottheit angehörig ist, macht das Christentum allen andern Religionen überlegen und sichert ihm den Sieg über die Welt. Die heidnischen Religionen haben Verlangen nach Versöhnung und Gemeinschaft mit Gott, auch die verkommensten und versunkensten, denn die Gottesbedürftigkeit, den Hunger nach dem höchsten Gut kann die Menschheit nicht loswerden. Das Alte Testament hat dazu die feste Hoffnung und gewisse Aussicht auf Versöhnung.

Aber als Tatsache, als geschehen und gewonnen, besitzt allein das Christentum die volle Versöhnung. Hier ist Wahrheit und Wirklichkeit, Idealität und Realität, Sollen und Sein zusammengekommen und eins geworden. Jesus ist Gotteins geworden, gemacht zu einem Christus und Herrn. Das ist auch der Grundton der ersten apostolischen Verkündigung, durch welche eine Christgemeinde entsteht: Er, der als Jesus so gar nicht den Schein für sich hatte, Christus zu sein, so wenig, dass sein Volk ihn verwarf und seine Jünger an ihm irre wurden, Er ist doch Christus gewesen von Anfang und völlig geworden zum Schlusse seines Ganges. Das Bekenntnis Jesu als des Christus ist der Grund, auf welchem die Kirche steht, die Leugnung Jesu als des Christus ist nicht Zerstörung eines Ornaments, einer Zierde und eines Schmuckes, den die Kirche hat, auch nicht die Erschütterung des Grundpfeilers, sondern Zerstörung des Fundamentes, nach welcher alles von selbst stürzen und brechen muss, was christlich heißt. Das immer tiefere Verständnis, die immer vollere Entfaltung der einen Tatsache, welche Jesus Christus heißt, dafür allein hat die Kirche gelitten und gestritten, gearbeitet und gelebt. Sie selbst mit allem, was sie hat und ist, ist ein lebendiges, mächtiges, unwiderlegliches Zeugnis der Wahrheit ihres Bekenntnisses, während alles andere, auch wenn es den Schein des Christentums getragen hat, verwelkt und verdorrt ist.

Jesus der Christ! – Das ist das schlagende Herz des Christentums. Wer das verletzt, der tötet den ganzen Leib.

Was enthalten ist in den beiden Namen: Jesus ist Christus, nach seiner ganzen Fülle zu entfalten, nachzuerleben, wieder zu erleben, was die Kirche erlebt hat im Laufe, als sich ihr mehr und mehr die Herrlichkeit des Herrn und damit ihre eigene erschloss – das ist unsere große, herrliche Winteraufgabe. Wenn wir die Lösung versuchen mit Rücksicht auf den Rationalismus und Skeptizismus der Gegenwart, so muss die Tat selbst beweisen, in welchem Geiste wir es tun. O, dass sie doch hier wären, welche von dem Herrn, dem apostolischen, dem Christentum Jesu Christi nie berührt worden sind, oder doch mit allem Christentum fertig zu sein meinen, dass auch hier wären die redlichen Zweifler, die aufrichtigen Sucher und Streber, welche sagen können: Ich habe gewollt, aber nicht gekonnt; was mir als Christentum geboten worden, das war ein Ding, das mich abstoßen musste; dass auch die nicht fehlten, welche jedem sein Gutes lassen, für sich aber meinen, dem Christentum eine Ehre zu tun, wenn sie es vermischen und umsetzen in eine falsche Philosophie. Am liebsten wäre mir ein lebendiges Gespräch mit ihnen allen, dass die Geister aufeinander platzten nach Luthers Wort und alle sich selbst aussagen und bekennen könnten, was in ihnen ist.

Ich fühle die ganze Größe der Aufgabe und Verantwortung, die ich auf mich genommen habe, aber dennoch habe ich volle Freudigkeit sie durchzuführen. Ich sehe nicht hinein in Nacht und Nebel, wo alles unsicher wird, ich glaube nicht, dass die babylonische Sprachverwirrung und die chaotischen Zustände bleibend sind und wachsen müssen. Mir ist es frühlingsfrisch und hoffnungsstark zu Mute. Ich sehe eine Erkenntnis Jesu Christi aufgehen, so herrlich, so überwältigend, so alles verjüngend, wie sie die Kirche nur je erlebt hat. Dafür bürgt mir die deutsche Wissenschaft in den ehrwürdigen Trägern, die sie heute hat; dafür aber auch der Geisteshauch, der überall durch die Kirche geht, das tote Gebein lebendig macht, das Erstarrte erwärmt; dafür bürgt mir auch, dass was an Unglauben, Halbglauben, Zweifel vorhanden ist, der Wahrheit selbst ein unwillkürliches Zeugnis gibt. Wäre Jesus nicht der Christus, wie er gesagt hat, wie die Apostel von ihm zeugen, wie die Kirche von ihm glaubt – würden wir heute noch über ihn in Fehde und Streit sein? Wir wären längst mit ihm fertig und keiner würde mehr nach ihm fragen und um ihn streiten, wenn er etwas anderes wäre, wenn er das wäre, was der Unglaube ihm etwa zugesteht, der Halbglaube aus ihm machen will.

Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat und sie fort und fort überwindet, ein Glaube, der ein Bekenntnis und Verständnis seiner selbst hat, der Rechenschaft geben kann von sich selbst und die Torheit Gottes erweist als die rechte Weisheit.

So begrüße ich Sie das vierte Mal denn mit erneuter Freude.

Mögen diese Abende uns allen zum nachhaltigen und reichen Segen sein!

II. Entwicklung der Kirche

Verehrte Versammlung!

Nicht in einer Anzahl von Lehrsätzen, am wenigsten in so inhaltsleeren und unbestimmten, wie sie der Deismus und Nationalismus aufstellte, haben wir das Ureigenste des Christentums gefunden, sondern in einem Satze, der auch nicht sowohl eine Lehre ausspricht als vielmehr eine Tatsache enthält, in dem einen Satze: Jesus ist Christus. Wo diese eine Tatsache bekannt wird, da ist Christentum, wenn auch vielleicht noch in sehr unentwickelter oder sehr verkommener Gestalt, wo sie geleugnet wird, da ist entweder Judentum oder Heidentum. Denn nicht darum, weil es eine Reihe von Einsichten und Erkenntnissen voraushat, sagt das Christentum allen Religionen die Niederlage, sich selbst aber den Sieg voraus, – sondern allein, weil es diese Persönlichkeit hat, welche beides ist: Jesus und Christus. Die Kirche mit allem, was sie hat und ist, mit ihrer gesamten Lehr- und Lebensentfaltung ist das lebendige Erzeugnis und Zeugnis der einen Tatsache, dass Jesus der Christus ist.

Die Erscheinung Jesu hat die Menschheit in eine Erschütterung und Bewegung versetzt, die an einem scheinbar entlegenen und bedeutungslosen Orte beginnend, immer weiteren Umfang, immer größere und eingreifendere Kraft gewann, – bis sie der Pulsschlag der Weltgeschichte geworden ist.

Gefühle, Gedanken, Taten und Leiden sind mit dem Namen Jesu verknüpft, wie sie vordem der Menschheit unbekannt waren. Wenn die edelsten Völker der Erde an ihre besten Zeiten, an ihre größten Männer zurückdenken, wenn sie sich auf die Güter besinnen, die ihnen die wertesten und unentbehrlichsten sind, so müssen sie auch immer an den Namen Jesu denken. Der erste Widerhall dieses Namens ist das Neue Testament. Was ist die Einzigkeit dieses Buches? Was ist’s, das gerade den, der die meisten Bücher kennt, immer wieder zu ihm zieht und immer von Neuem fesselt? Die Verfasser dieses Buches sind keine Genies, sind weder Dichter noch Philosophen, haben kaum etwas von dem, was wir sonst an Schriften und Schriftstellern bewundern. Aber das ist ihnen allen gemeinsam und das Eigentümliche dieser neutestamentlichen Menschen, dass sie die völlige Zuversicht und Gewissheit haben, zu besitzen und zu genießen, was alle anderen Menschen bewusst oder unbewusst suchen. Keiner von ihnen gibt sich als fertig und vollendet, weder in der Erkenntnis, noch in der Heiligung. Aber ein Geist des Friedens und der Freude beseelt sie alle; ein Geist, – der ihnen das Gefühl gibt, im Innersten des Lebens und an der Wurzel gesund geworden zu sein, durchdringt sie alle, ein Geist, wie er bis dahin nicht in der Welt war, bestimmt all ihr Fühlen, Denken und Handeln. Dass die großen Gegensätze, an welchem die alte Welt sich abgemüht hat, gelöst sind, dass Himmel und Erde, Gottheit und Menschheit, der Heilige und die Sünder miteinander versöhnt sind, dass nun der Einzelne, die Familie, die Völker und die ganze Menschheit werden können, was sie sein sollen, – das ist die selige Gewissheit, welche die Menschen des Neuen Testaments erfüllt. Mit neuen Augen schauen sie in die Welt um sich und in sich, in neuer Weise behandeln sie alle Dinge, sie sind ein frisches Geschlecht, neugeboren und eigenartig in allem, was sie sind und haben; und sie selbst führen den Ursprung ihres Lebens nicht darauf zurück, dass ihnen eine neue Lehre aufgegangen ist, sondern darauf allein, dass Jesus der Christ ist. Eine Tatsache der Geschichte, ein Erlebnis, welches der ganzen Menschheit zugedacht ist, hat aus ihnen diese Menschen gemacht, welche sich von allen andern nicht durch ein anderes Wissen, sondern durch den andern Geist unterscheiden.

Zuerst sind diese neuen Menschen noch innerhalb des Judentums und haben diesem die Bedeutung ihres Erlebnisses darzulegen. Das Eigentümlichste des Judentums ist die Messias-, die Christuserwartung. So gilt es denn den Nachweis, dass Jesus der Christ ist. Diejenigen nun, welche in Jesu den Christ gefunden haben, scheinen von den andern Israeliten, welche noch auf Christus hoffen, nicht wesentlich verschieden zu sein. Sie sind Glieder eines Volkes und zwar des Volkes, das einen Zusammenhang und eine Einheit hat, wie kein anderes. Wenn das Hellenentum eine bindende Kraft hatte, so dass das Bewusstsein der Bildung und schönen Humanität die griechisch redenden Menschen über die Barbaren erhob, wenn das Römertum ein stolzes Herrscherbewusstsein verlieh, so waren doch die hebräischen Menschen viel inniger miteinander verwachsen, als die griechischen und römischen. Eine heilige Erinnerung, welche durch unvergessbare Namen von Märtyrern, von Königen, von Propheten auf Mose den Gottesknecht, auf Abraham den Vater und weiterhin bis in die Anfänge aller Dinge zurückreichte, und eine noch heiligere Hoffnung auf eine überschwängliche Verherrlichung des Volkes und Reiches Gottes band diese hebräischen Menschen zusammen, wie es griechische Bildung und römische Herrschermacht nicht vermochten. Alle diese Heiligtümer teilte die Hebräergemeinde Jesu mit der Menge ihres Volkes. Jeder Gedanke an eigenwillige Scheidung und Absonderung von ihrem Volke war diesen ersten Gläubigen auch völlig fern und fremd. Gerade sie fühlten sich als die rechten Hebräer und hatten gerade darum in Jesu den Christ gefunden. Und dennoch konnte nur der Jude, der zu einem ganz neuen Denken, Fühlen und Wollen gelangt war, in Jesu den Christ erkennen. Alles war so ganz wider jüdisches Hoffen und Erwarten gegangen. Jesus war gerade darum verworfen worden, weil Israel und seine gottgeordneten Häupter sich selbst und das Allerheiligste, die Christuserwartung nicht wegwerfen wollten.

Weil Er so christuswidrig schien und doch Christus sein wollte, hatte Jesus sterben müssen. War Er es dennoch gewesen, so war seine Verurteilung Israels Selbstverurteilung. Nur der Jude, welcher es über sich gewann, sein ganzes Volk, seine eigene Vergangenheit, sich selbst zu verurteilen, konnte in Jesu den Christ erkennen. Was war doch jüdische Gerechtigkeit und Weisheit, was war das Beste in Israel gewesen, wenn doch Christus eine solche Ausnahme und ein solches Ende hatte finden müssen? Wer es daher versucht, die tiefste Grundstimmung, welche sich durch das ganze Neue Testament, durch die erste Gemeinde Jesu, durch alle apostolischen Worte und Zeugnisse hindurchzieht, nachzufühlen und mitzuempfinden, wer es versucht, diesen Menschen, welche Juden waren und die ersten Christen wurden, nachzugehen, und das Innerste ihres Lebens mitzuerleben, – wird als den Grundakkord ein Doppeltes heraushören. Das Durchherrschende und alle Disharmonie immer wieder Auflösende ist die Christusfreudigkeit, die Wonne: Er ist gekommen, auf den die Väter gehofft haben, alle Sehnsucht ist erfüllt. Aber zwischen hindurch klingt das Gefühl einer unendlichen Beschämung, einer Demütigung, welche die ganze alte Welt, alles, was hoch und groß gewesen ist, gerichtet findet. Und zwar werden nicht die allein angeklagt, welche die augenscheinlichen Mörder Jesu gewesen sind, auch nicht das Volk, sondern jeder in der Gemeinde findet sich beteiligt und mitschuldig am Tode Jesu. Was anders hat ihm Arbeit und Not gemacht, was anders die bittersten Tropfen in seinen Leidenskelch gemischt, als das, woran jeder sein Teil hat? Der Unglaube und Halbglaube, die Eigengerechtigkeit und falsche Weisheit. Nicht anders ist der Welt das Heil geworden als so, dass auch ein Gericht über sie gegangen ist.

Israel als Volk ist bei seinem Urteil über Jesum geblieben, weil es sich selbst nicht verurteilen wollte. Die gläubigen Hebräer erlebten, statt der Hoffnung, welche sie im Anfang erfüllte, ihr ganzes Volk zur Erkenntnis Jesu kommen zu sehen, einen Riss und Bruch, wie er schmerzlicher und unheilbarer nie ein Volk gespalten hat. Israel fest und hart zu machen, dass es je länger je mehr die Apostel und Jünger Jesu nicht anders behandelte als ihren Herrn selbst, dazu musste das Werk des Paulus dienen.

Den Heiden, den gesetzlos dahinlebenden Naturvölkern, die Verheißung Israels anzubieten, um keinen andern Preis als den Glauben an den Gekreuzigten, das war ein unnennbarer Frevel, das machte den Abfall der Nazarener völlig und eine Versöhnung unmöglich. Ja, sich in diese Wendung zu finden und mit ihr die Hoffnung auf ein jesusgläubiges Israel aufzugeben, die Heidenwelt zur Stätte seiner Gemeinde werden zu sehen, – das wurde selbst vielen der gläubigen Hebräer schwer, ja manchem so unmöglich, dass sie den Glauben an Jesum für die Gemeinschaft mit ihrem Volke preisgaben.

Ganz anders als die hebräische Urgemeinde, die Stiftung des Petrus, waren die paulinischen Heidengemeinden geartet. Paulus trat in eine Welt, die weder ein heiliges Gesetz, noch eine heilige Hoffnung hatte. Es waren Völker, die ihre Blüte und Jugend längst hinter sich hatten, gebrochen und zermalmt durch den eisernen Arm Roms. Die Religionen hatten ihre Macht über die Gemüter verloren; als es galt, Trost und Kraft zu bieten in der Not der Zeit, versagten diese Religionen völlig. Die Philosophie lehrte entweder epikureisch das Leben genießen oder es stoisch verachten. Aber gerade diese Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit der Heidenwelt, dieses Gefühl, die Kräfte verbraucht zu haben, war die Vorbereitung für das paulinische Evangelium. Dieser Jesus, der arme, der verkannte, der gekreuzigte, und doch zur Herrlichkeit gekommene, war für die Heiden gerade anziehend mit dem, was für die Juden an ihm abstoßend war. Wie wundersam und geheimnisvoll auch die Kunde klang, dass einer, der ein unscheinbares Leben gelebt und des schmachvollsten Verbrechertodes gestorben sei, eine Herrlichkeit und Ehre empfangen habe, die ihm alle feindlichen Gewalten zu Füßen lege, – auf die vielen Niedergetretenen, Ehrlosen und Sklaven übte diese Kunde einen unwiderstehlichen Zauber aus. Diese dachten nicht daran, mit eigenem Tun und Wirken sich eine Gottesgemeinschaft erringen zu können und hatten nicht wie die Juden, etwas, wofür sie Lohn erwarteten. Das Wort von der Gnade, der lautern Gnade, die einen Himmel zu bieten habe um nichts als den Anschluss und die Hingabe an den allein Gerechten, war diesen heidnischen Menschen nicht wie den jüdischen eine tödliche Beleidigung, sondern die herzgewinnendste Einladung.

Die ganze alte Welt mit ihrem Jammer, das eigene alte Leben mit seiner Not und Sünde, den ganzen alten Menschen vergessen und verlieren zu dürfen, einzutreten in die himmlische Welt, in die Gemeinschaft Jesu, die volle, selige Gottesgemeinschaft – das war diesen todesmüden und verzweifelten Menschen unendlich überraschend, tief beschämend, unaussprechlich dankenswert. Das Grundgefühl der paulinischen Gemeinden in den Tagen ihrer ersten Liebe ist daher die Seligkeit der unverdienten, reinen Gnade. Gerade diese unverhoffte Gnade, die die Zeiten der Unwissenheit übersehen hat, nun aber aller Orten Buße und Glauben verkünden lässt, demütigt sie, tötet das alte Wesen und schafft eine Heiligung des Einzellebens und des Gemeinlebens, wie sie selbst in dem gläubigen Israel kaum gefunden wird.

Als Paulus Abschied nahm von seinen Gemeinden, sah er über die lieblich aufblühende Pflanzung, deren Mittelpunkt Ephesus geworden war, eine furchtbare Gefahr heraufziehen. Der judaistische Irrtum, dass nur innerhalb der heiligen Lebensordnung Israels, nur für den, welcher die Werke des Gesetzes tue, das Heil in Christo sei, aber nicht für den gesetzlosen Menschen, den Heiden, hatte seine Kraft verloren. Paulus selbst hatte ihn in dem Kampfe seines ganzen Lebens gebrochen. Nicht von dieser, der jüdischen Seite, sondern von der andern, der heidnischen Seite sah er die Gefahr heraufziehen. Er sah, dass wenn sein Evangelium seine erste Frische und Neuheit verloren hatte, ein ungebrochener heidnischer Sinn gerade das Innerste dieses Evangeliums: die Gesetzesfreiheit und Glaubensgerechtigkeit entehren und verzerren werde. Lässigkeit in der Heiligung, Geringschätzung der Sünde, Missachtung des heiligen und ewigen Gesetzes werde einbrechen. Dazu auch werde die heidnische Weisheit das Hochheilige des Christenglaubens: Jesus ist der Christus, zum Spielzeug ihrer Willkür machen.

Diese trübe Ahnung des scheidenden Paulus, dass heidnischer Sinn und heidnisches Denken seinen Gemeinden eine große Gefahr bereiten werde, ist in Erfüllung gegangen, als Johannes von Ephesus aus die paulinische Stiftung verwaltete und sie zu christlicher Vollendung zu führen suchte. Da sind Irrlehrer aufgestanden, welche bei unheiligem Leben, das die Gebote nicht tut, leugnen, dass Jesus der Christus sei, dass Christus im Fleisch gekommen, Mensch geworden, Jesus und kein anderer sei. Für diese ist der wahre Christus niemals Jesus gewesen, kann auch nie ein einzelner Mensch werden; er hat wohl Jesum benutzt, als sein Organ und Gefäß, aber er hat sich nicht mit ihm vereinerleit, ist nicht selbst Jesus gewesen. Denn der wahre Christus ist ein himmlischer Äon, ein Geist, ein göttliches Wesen, das wohl Menschen berühren, beseelen, durchdringen kann, aber niemals selbst Mensch wird. Ein Einzelner ist viel zu eng und klein, um seine ganze Fülle zu fassen. Nur die Menge, in welcher jeder einen Strahl empfängt, keiner das Ganze hat, ist die wahre und würdige Verleiblichung und Verwirklichung Christi, des Gottmenschen. Es gibt eine Gottmenschheit, viele Gottesmenschen und Gottessöhne, viele, die den Christusgeist haben, Jesus ist unter ihnen der Erste gewesen und behält auch seinen besondern Rang, aber Er ist nicht der Einzige gewesen, nicht Er allein Christus.

Die Christengemeinden gegen diese heidnische Verkehrung des Lebens und der Lehre zu sichern und zum Vollbewusstsein und zur Vollgestalt zu erziehen, sind die Johanneischen Schriften, die letzten apostolischen, geschrieben. Jesus ist nach diesen Schriften des Johannes auch gewesen, wie ihn die früheren Evangelien zeichnen: Israels Messias, in welchem die alten Verheißungen erfüllt sind, nach Matthäus, der machtvolle Gottessohn nach Markus, der Welt Heiland nach Lukas, aber ist das alles gewesen, weil Er war, wie ihn Johannes erkannt hat: das fleischgewordene Wort, in welchem Gott sich ganz ausgesprochen, seine letzte, höchste und volle Offenbarung gegeben hat. So hat Er sich selbst bezeugt mit Wort und Werk, so haben seine Jünger nach und nach seine Herrlichkeit fassen lernen. Er selbst hat Licht und Leben, Weg und Wahrheit sein wollen und alle Gottessehnsucht an sich gebunden.