Jetzt fahrn wir... Übersee! - Monika Felsing - E-Book

Jetzt fahrn wir... Übersee! E-Book

Monika Felsing

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Beschreibung

Von Hessen an den Hudson: Der Podcast "Jetzt fahrn wir... Übersee" des Bremer Geschichtsvereins Lastoria ist der Migration in die USA gewidmet. Wie ist es Kapitän Edmund Badenhausen aus Melsungen ergangen oder Ruth Stern aus Nieder-Ohmen, die vor den Nazis floh? Wohin ist die Gießener Auswanderungsgesellschaft gezogen? Ein Buch zum Lesen und Hören.

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Seitenzahl: 206

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Gewidmet

meiner Ururururoma

Anna Maria Felsing,

geborene Hartmann.

Wäre sie mit ihren Kindern

an Bord gegangen,

gäbe es dieses Buch nicht.

Inhalt

Vorwort

Teil 1: Aus der Not heraus nach Amerika

Hessische Landesflüchtige im 19. und im frühen 20. Jahrhundert

Teil 2: Aufbruch in die Freiheit

Die Gießener Auswanderungsgesellschaft

Teil 3: Schiffszwieback und Captain’s Dinner

Wie ein 17-Jähriger und eine Fünfjährige in zwei verschiedenen Jahrhunderten ihre erste Seefahrt erlebt haben

Teil 4: Heimat fern der Heimat

Aus Emigration wird Immigration. Wie Hessinnen und Hessen die Geschichte der USA vom 17. bis ins 19. Jahrhundert mitgeprägt haben

Teil 5: Im Schein der Fackel von Lady Liberty

Im Vorzimmer der USA: Einwanderer und Einwanderinnen in Castle Garden und Ellis Island

Teil 6: Willkommen oder nicht willkommen? Eine bange Frage

Einwanderungspolitik seit der Wende zum 20. Jahrhundert

Herb’s proverbs: Herbert Sondheim

Zuflucht im Zweiten Weltkrieg

Ellen’s Island: Die Insel als Gefängnis

Abschiede und Neuanfänge

Anmerkungen zu den einzelnen Podcastteilen:

Teil 1:

Mitwirkende, Fußnoten, Literatur

Teil 2:

Mitwirkende, Fußnoten, Literatur

Teil 3:

Mitwirkende, Fußnoten, Literatur

Teil 4:

Mitwirkende, Fußnoten, Literatur

Teil 5:

Mitwirkende, Fußnoten, Literatur

Teil 6:

Mitwirkende, Fußnoten, Literatur

Geschichtsverein Lastoria Bremen

Unsere Bücher

Dank

Ergänzungen

Nachwort

Vorwort

Wie viel Hessen steckt in den USA? Wer sich mit Familiengeschichte beschäftigt, lernt Menschen kennen. Menschen, die Entscheidungen getroffen haben: Bleiben oder gehen? Das eigene Dorf, die eigene Kleinstadt, die eigene Stadt verlassen und einen Schritt ins Ungewisse wagen, ins Nichts vielleicht, in eine Fremde, in der die eigenen Wurzeln, die eigene Sprache nichts mehr zählen. In ein Land, in dem niemand weiß, wer du warst, während du nicht weißt, wer du sein wirst.

Unser Bremer Geschichtsverein Lastoria hat in den vergangenen Jahren drei Hörbücher und einen Podcast veröffentlicht: Das Hörbuch „Friedrich Ludwig Weidig" über die deutsche Sozialrevolution, Friedrich Ludwig und Amalie Weidig, die Ober-Gleener Petition zur Freilassung des politischen Gefangenen und die Polizeiverhöre, das es auf meiner Website auch als kurzes Hörstück gibt. Das Hörbuch über den Ersten Weltkrieg auf der Grundlage der Postkarten der vier Brüder Schneider aus Ober-Gleen. Das Hörbuch „Jiddisch Leben" über jüdisch-hessische Geschichte. Und den vierteiligen Podcast über unsere deutsch-niederländische Geschichtswerkstatt „Deutschland auf der Flucht. Exil in Amsterdam 1933-1945“ in der Villa Ichon (Bremen) im Jahr 2022. Für die Hörbücher haben Profis und Laien an unserem Küchentisch oder bei sich zu Hause Dokumente und Erzählstücke aus verschiedenen Jahrhunderten eingelesen und sind unversehens in die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts eingetaucht. Diese Erfahrung wollen wir mit anderen teilen.

Der Podcast Jetzt fahrn wir... Übersee“ hat langsam Fahrt aufgenommen. Ganz langsam. Das Manuskript war im Sommer 2022 fertig. Zum ersten Mal, wenn man so will. Ein Jahr später, im Sommer 2023, hat die Genealogin und Bloggerin Susan Eldridge, geborene Badenhausen, auf meine Mail reagiert. Und aus dem hessisch-bremischen ist ein transatlantisches Projekt geworden.

Das Manuskript der deutschen Urfassung veröffentlicht unser Geschichtsverein Lastoria unabhängig von der englischen Fassung, die in den USA und Deutschland gelesen und aufgenommen worden ist. Ich habe auf die Archive unserer Projekte zurückgegriffen, O-Töne, Musik und Rechercheergebnisse zusammengefügt und um weitere Informationen ergänzt. Gemeinsam gehen wir auf die Reise nach Übersee. In wessen Schuhen hätten wir stecken wollen, wessen Geschichte berührt uns auf besondere Weise? Und was haben all diese Schicksale mit der aktuellen Situation zu tun? Machen wir uns auf den Weg, von Hessen über Norddeutschland nach Nordamerika.

Jetzt fahrn wir... Übersee.

Aus der Not heraus nach Amerika

Hessische Landesflüchtige im 19. und im frühen 20. Jahrhundert

Edds foahrn merr... Ewwersee!

(Oberhessischer Dialekt, Mundart von Ober-Gleen)

Edds foahrn merr Ewwersee, Ewwersee!

Edds foahrn merr ewwer...!

Edds foahrn merr Ewwersee, Ewwersee!

Mir foahrn nooch Ewwersee!

Off so emm aale Seechler,

Seechler, Seechler, Seechler,

off so emm aale Seechler.

Es Schaire, doas dudd...

Off so emm aale Seechler,

Seechler, Seechler, Seechler,

off so emm aale Seechler.

Es Schaire, doas dudd wieh!

Es gidd voo Breme luus, Breme luus,

es gidd voo Breme...

Es gidd voo Breme luus, Breme luus,

es gidd voo Breme luus!

Auf, pagg èmo dai Sache,

Sache, Sache, Sache,

auf, pagg emo dai Sache,

die Nuud eas hieh sè...

Auf, pagg emo dai Sache,

Sache, Sache, Sache,

auf, pagg emo dai Sache,

die Nuud eas hieh sè gruus!

Ach, wiern merr nur schuh doadd,

nur schuh doadd,

ach, wiern merr nur schuh....

Ach, wiern merr nur schuh doadd,

nur schuh doadd,

ach, wiern merr nur schuh doadd.

Mir mache ins voom Agger,

Agger, Agger, Agger!

Ean Hesse ins voom Agger,

mir mache ins edds...

Mir mache ins voom Agger,

Agger, Agger, Agger!

Ean Hesse ins voom Agger,

mir mache ins edds foadd!

On wann merr oo Boadd gieh, oo Boadd gieh,

on wann merr oo Boadd...

On wann merr oo Boadd gieh, oo Boadd gieh,

on wann merr oo Boadd gieh,

dann gidd's eans Zweschedegg,

Zwesche-, Zweschedegg, Zweschedegg,

dann gidd's eans Zweschedegg,

bai die Lois on die...

dann gidd's eans Zweschedegg,

Zwesche-, Zweschedegg, Zweschedegg,

dann gidd's eans Zweschedegg,

bai die Lois on die Flieh.

Jetzt fahrn wir übers Meer, übers Meer

Jetzt fahrn wir übers Meer, übers Meer

jetzt fahrn wir übers...

Jetzt fahrn wir übers Meer, übers Meer

jetzt fahrn wir übers Meer!

Auf so nem großen Segler,

Segler, Segler, Segler,

auf son nem großen Segler,

das Scheiden, das tut...

Auf so nem großen Segler,

Segler, Segler, Segler,

auf so nem großen Segler,

das Scheiden, das tut weh!

Es geht von Bremen los, Bremen los,

es geht von Bremen...

Es geht von Bremen los, Bremen los,

es geht von Bremen los!

Auf, pack mal deine Sachen,

Sachen, Sachen, Sachen,

auf, pack mal deine Sachen,

die Not ist hier zu...

Auf, pack mal deine Sachen,

Sachen, Sachen, Sachen,

auf, pack mal deine Sachen,

die Not ist hier zu groß!

Ach, wärn wir nur schon dort,

nur schon dort,

ach, wärn wir nur schon...

Ach, wärn wir nur schon dort,

nur schon dort,

ach, wärn wir nur schon dort.

Wir machen uns vom Acker,

Acker, Acker, Acker!

In Hessen uns vom Acker,

wir machen uns jetzt...

Wir machen uns vom Acker,

Acker, Acker, Acker!

In Hessen uns vom Acker,

wir machen uns jetzt fort.

Und wenn mir an Bord gehn, an Bord gehn,

und wenn wir an Bord...

Und wenn mir an Bord gehn, an Bord gehn,

und wenn wir an Bord gehn,

dann geht’s ins Zwischendeck,

Zwischen-, Zwischen-, Zwischendeck,

dann geht’s ins Zwischendeck,

zu den Läusen und ...

dann geht’s ins Zwischendeck,

Zwischen-, Zwischen, Zwischendeck,

dann geht’s ins Zwischendeck,

zu den Läusen und Flöhn.

Auf und davon. Hessinnen und Hessen haben sich vom Acker gemacht. Mit Kind und Kegel sind sie fort: weit, weit weg, über Bremen, manche auch über Hamburg, nach Amerika. Wir wollen einige ihrer Geschichten erzählen und drehen die Zeit um etwas mehr als zwei Jahrhunderte zurück, nicht ganz bis zu den acht Jahren des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, 1775 bis 1783, als der Landgraf von Hessen-Kassel Tausende seiner männlichen Untertanen als Soldaten an die Briten vermietet hat und sie in Kassel bei der Parade zum Abschied sangen:

Juchheißa, nach Amerika!

Dir, Deutschland, gute Nacht!

Ihr Hessen, präsentiert's Gewehr,

der Landgraf kommt zur Wacht!

Ade, Herr Landgraf Friedrich,

du zahlst uns Schnaps und Bier.

Schießt Arme, Mann und Bein uns ab,

so zahlt sie England dir.

Ihr lausigen Rebellen, ihr,

gebt vor uns Hessen acht!

Juchheißa, nach Amerika!

Dir, Deutschland, gute Nacht.

Vier Jahrzehnte später lassen sich zwei Hanauer Gelehrte in Kassel von Frauen Märchen erzählen. Eines handelt von vier zum Tode Verurteilten, die das Weite suchen, und beginnt so:

„Es hatte ein Mann einen Esel, der ihm schon lange Jahre treu gedient, dessen Kräfte aber nun zu Ende gingen, sodass er zur Arbeit immer untauglicher ward. Da wollt ihn der Herr aus dem Futter schaffen, aber der Esel merkte, dass kein guter Wind wehte, lief fort und machte sich auf den Weg nach Bremen; dort, dachte er, kannst du ja Stadtmusikant werden.“

Landesflüchtige werden der Esel, der Hund, die Katze und der Hahn in der Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ von 1819 noch genannt. Weit sind sie nicht gekommen. Nicht einmal bis Bremen, um genau zu sein. Millionen von Menschen aber treibt die Not über die Grenzen des heutigen Deutschland hinaus, in Länder, über die sie wenig wissen. Die einen ziehen über Land nach Polen, Litauen, Russland oder Ungarn. Die anderen wagen sich über den Atlantik, emigrieren nach Brasilien oder Nordamerika. Schon 1819 gibt es eine „Verordnung betreffend die Auswanderung von Untertanen nach Amerika, insbesondere das Verhalten der Polizeidirektion der freien Stadt Bremen bei missglückten Auswanderungsvorhaben". Ob selbst entziffert, weitererzählt oder vorgelesen: Alles wird begierig verschlungen. Im Alsfelder Wochenblatt schaltet der Bremer Reeder Friedrich Jacob Wichelhausen im März 1835 folgendes Inserat:

„Bekanntmachung. Sämtliche von mir im vorigen Jahre mit Passagieren nach den Vereinigten Staaten von Amerika abgefertigten Schiffe sind nicht allein glücklich und nach einer Reise von 35 bis höchstens 45 Tagen dort angekommen, sondern es haben auch die Passagiere ihre vollkommene Zufriedenheit mit der Überfahrt, mit der Behandlung des Schiffs-Capitains und den an Bord erhaltenen Lebensmitteln durch ein schriftliches Zeugnis dargetan, welches mich dann auch veranlasst hat, den Schiffs-Capitains die ihnen in diesem Fall zugesicherte Gratifikation auszahlen zu lassen. Herr Werner Ramspeck junior hat die Güte gehabt, die Agentur für mich in der dortigen Gegend zur Annahme von Passagieren zu übernehmen. Und (so) ersuche ich daher alle diejenigen, welche dieses Jahr zu den Vereinigten Staaten von Amerika abzureisen gedenken, sich baldigst an diesen Herrn zu wenden. Derselbe ist bevollmächtigt, das Hand- oder Draufgeld für meine Rechnung in Empfang zu nehmen und sich mit den Passagieren über die Bedingungen der Überfahrt zu verständigen.“

Manche Gemeinden bezahlen ihren Armen und anderen, die sie loswerden wollen, sogar die Überfahrt. Wie Großen- Buseck. 142 mittellose Männer, Frauen und Kinder werden 1857 neu eingekleidet und nach Nordamerika abgeschoben. Mehr als 13.000 Gulden bringt die Gemeinde dafür auf. In seinem Beitrag über „Auswanderer aus dem Kirchspiel Maulbach“ in den Mitteilungen des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld nennt Wolfgang Seim weitere Beispiele für die Armenabschiebung. Seine wichtigste Quelle waren die Auswandererlisten von Karl Geisel im Stadtarchiv Alsfeld. Unter denen, die das Land auf Kosten ihrer Heimatgemeinde verlassen, war demnach der 28-Jährige Balthasar, ein Bettler, den die Dannenröder 1854 vermutlich zu seiner älteren Schwester in die USA schicken. In einem Steckbrief von 1851 wird er als „geistesschwach“ bezeichnet. Wenige Jahrzehnte später lassen die Behörden der Vereinigten Staaten geistig Behinderte nicht mehr einreisen.

Auch der Tagelöhner Johannes Weber, Mitte 50 aus Dannenrod, soll 1871 von seiner Gemeinde in die Neue Welt abgeschoben werden. Was nicht gelingt: Er hätte mit der „Christel“ nach New York fahren sollen, aber er kehrt 1872 heim und behauptet, die Deutsche Gesellschaft der Stadt New York, die sich um Neuankömmlinge kümmert, habe ihn zurückgeschickt. Das nimmt ihm niemand ab. Ob er überhaupt in Bremerhaven an Bord gegangen ist?

Die meisten müssen ihre Passage selbst bezahlen oder begeben sich bei Amerikanern für Jahre in Schuldknechtschaft. Diese Form des Seelenhandels hat es auch in Brasilien gegeben. Eindringlich hat die „Gartenlaube“ noch 1869 „Schulzen und Bürgermeister, Pfarrer, Schullehrer und Landärzte als Vertrauensmänner des Volks“ vor diesem System gewarnt. In Nordamerika werden die modernen Leibeigenen Redemptioners genannt: Auslöslinge. Nach der Ankunft werden sie als Arbeitskräfte versteigert, Familien auseinander gerissen, Kinder von ihren Eltern getrennt, manchmal für immer. 1890 wird diese Form der Knechtschaft in den USA verboten. Aber auch ohne sie war und ist die Emigration ein lukratives Geschäft. Reeder, Agenten, Fuhrleute, Ausstatter, Gastwirte und Hoteliers, alle verdienen am Auswandern. Im Vogelsberg und angrenzenden Regionen gibt es gleich mehrere Anlaufstellen.

Der Storndorfer Frachtfuhrmann Heinrich Rausch ist seit 1828 dazu bevollmächtigt, Passagen zu vermitteln, wie aus seinem Inserat im Intelligenzblatt für den Kreis Alsfeld vom Februar 1848 hervorgeht, die im Ober-Gleener Dorfarchiv aufbewahrt wird: „Auswanderer nach Nordamerika können fortwährend auf guten soliden Dreimasterschiffen I. Klasse zu den billigsten Preisen befördert werden. Indem ich dieses zur Kenntnis der Auswanderungslustigen bringe, bemerke ich, dass ich nun seit fast 20 Jahren die Beförderung der Auswanderer nach Nordamerika zur größten Zufriedenheit der Auswanderer betreibe und deshalb als wirklicher Agent konzessioniert bin und eine angemessene Kaution gestellt habe. Ich übernehme die Beförderung von hier bis Bremen mit meinem eigenen Geschirr und zu dem I. und 15. eines jeden Monats.“

Gabriele Conder Carey mit ihrem Mann und ihren Söhnen.

Die Erwartungen sind groß, die Ungewissheit auch. Schon um 1830 singen sie in Deutschland:

Ach wie viele schöne Sachen

hört man aus Amerika.

Dorthin wollen wir uns machen,

das schönste Leben hat man da.

Bei uns ist’s manchmal zum Erfriern,

und man kann kaum die Finger rührn.

Und dort ist es auch im Winter warm.

Am Holze kauft sich niemand arm.

Die größten Fische, die bekannt,

fängt man dort mit der bloßen Hand.

Die Karpfen sind, bei meiner Ehr',

oft einen halben Zentner schwer.

Die Schokolade wächst sogleich

und Zuckerrohr an jedem Teich.

Es ist fürwahr zu glauben kaum:

Die Wolle wächst auf jedem Baum.

Und als zum Hafen wir gekommen,

waren wir vor Kummer bleich!

Alles, was wir mitgenommen,

zahlten für die Fracht wir gleich.

Wir fuhren auf die hohe See,

und viele schrien „Ach und Weh!“

Und die Kinder sehn erbärmlich aus.

Ach, Vater, ach, Mutter, wann sind wir zu Haus?

Im Laufe der Jahrzehnte werden die Fahrtzeiten kürzer und die Überfahrt etwas komfortabler. In der Alsfelder Zeitung inserieren Bremer Reeder im März 1841:

„Benachrichtigung für Auswanderer nach Nord-Amerika. Die Unterzeichneten bringen hierdurch zur öffentlichen Kunde, dass sie am 1. und 15. Tage eines jeden Monats, wie bisher, große und schnellsegelnde, gekupferte, dreimastige Bremer Schiffe erster Classe und mit hohen geräumigen Zwischendecken versehen, nach Baltimore und New York abfertigen werden und dass sie den Großherzoglich-Hessischen Postverwalter, Herrn Philipp Bäppler in Schellnhausen, zu ihrem Agenten bestellt (...) haben.“

Im Frühjahr 1851 sind in einem Monat rund 3000 Menschen über Bremen ausgereist. Im Laufe der Zeit sollen mehr als vier Millionen aus Europa diesen Weg nehmen. Aus unterschiedlichen Motiven. Demokratische Abgeordnete fliehen nach Übersee, als Errungenschaften der Märzrevolution von 1848 abgeschafft werden. „48er" wird man sie in den USA nennen. Forty-Eighters. In der Wirtschaftskrise während der Weimarer Republik emigrieren Erwerbslose wie der 23-jährige Damen- und Herrenschneider Heinrich Geißler aus Ober-Gleen, der 1922 in Baltimore Arbeit findet. Sein inzwischen verstorbener Neffe Walter Ruppenthal, der Sohn der Dorfhebamme Marie Ruppenthal, geborene Geißler, hat mir 2014 in einer Mail berichtet, wie es zur Auswanderung gekommen ist und was danach geschah:

„Die Geißlersch hatten schon Verwandtschaft in Buffalo, mit denen man in Briefwechsel stand. Dieser wurde überwiegend von meiner Mutter geführt. Sie gab damals den Amerikanern auch die Arbeitslosigkeit von ihrem Bruder bekannt und ließ sie wissen, dass der jetzt eigentlich Zeit hätte, auch deren Kleider in Ordnung zu bringen. Mehr oder weniger eine Floskel, deren Folgen nicht abgesehen werden konnten. Dem nächsten Brief aus Buffalo lag nämlich die Schiffsreisebuchung nach den USA bei. Meine Mutter wurde dafür von ihren Eltern heftigst gerügt. Die Familie stand Kopf. Mein Onkel Henry fand das aber ganz gut und nahm die Gelegenheit wahr. Er mietete mit Hilfe der Verwandtschaft eine kleine Wohnung und verrichtete fortan Näharbeiten jeglicher Art. Das Geschäft ging gut, und er konnte schon bald das Geld für die Überfahrt dankbar zurückgeben."

Er hat seine Chance genutzt. Einen Wirtschaftsflüchtling wird ihn deshalb niemand nennen. Manche Deutsche aber verfolgen die Auswanderungswellen mit gemischten Gefühlen. Das Lied „Ein stolzes Schiff“ wird 1925 veröffentlicht, als längst Dampfschiffe zwischen den Kontinenten unterwegs sind.

Ein stolzes Schiff

Ein stolzes Schiff

streicht langsam durch die Wellen

und führet unsre deutschen Brüder fort.

Der Ostwind weht, die weißen Segel schwellen.

Amerika ist ihr Bestimmungsort.

So auf dem Verdeck zu stehen,

nach der Heimat hinzusehen:

Amerika, zu fernen Kolonien.

Seht ihr sie übers große Weltmeer ziehn?

Da ziehn sie hin! Wer wagt’s, danach zu fragen:

Warum verlassen sie ihr Heimatland?

Du armes Deutschland, kannst du es ertragen,

wie deine Söhne man so hart verbannt?

Schauet her, ihr Volksbeglücker!

Schauet her, ihr Unterdrücker!

Seht eure besten Arbeitskräfte fliehn!

Seht ihr sie übers große Weltmeer ziehn?

Da ziehn sie hin auf blauen Meereswogen.

Was schauen wehmutsvoll sie noch zurück?

Sind in der Heimat sie so arg betrogen,

daß sie im fremden Land nun suchen jetzt ihr Glück?

Was sie hier nicht konnten finden,

suchen sie sich dort zu gründen.

Sie segeln hier vom deutschen Boden ab

und finden in der Fremde dann ihr Grab.

Auch Walter Ruppenthals Onkel ist in Amerika geblieben, hat aber den Kontakt zu seiner Familie in Hessen gehalten. Walter Ruppenthal schrieb in einer Mail: „1926 kam er zu Besuch, um bei meiner Taufe dabei zu sein und um seine in Ober-Gleen zurückgebliebene Braut zum Mitkommen zu überreden. Soweit mir überliefert, wäre sie wohl auch dazu bereit gewesen. Das Veto der Eltern ließ dieses Vorhaben leider scheitern. Es soll geäußert worden sein, dass nur ,Taugenichtse’ nach Amerika gehen. Die Verlobung ging dadurch in die Brüche. Mein Onkel Henry hat dann im Deutschen Klub seine spätere Frau Käthe, geboren 1905, aus Ernstroda (Thüringen) kennen gelernt. Zusammen betrieben sie dann eine Damenschneiderei, die wohl sehr gut gelaufen ist. 1934 haben sie ein etwas größeres Haus gekauft. 1930 wurde der Sohn Herbert und 1935 die Tochter Betty geboren. Sowohl die Eltern als auch die Kinder haben uns in Deutschland mehrmals besucht. Und wir waren natürlich auch mehrmals dort.“

Wo Deutsche sind, gehen Deutsche hin. Das gilt auch für Auswanderinnen und Auswanderer aus Oberhessen: 1927 ist der jüdische Schneider Nathan Lamm aus Ober-Gleen in die USA gegangen. Gegenüber den Einwanderungsbehörden erklärt er, dass er nach Buffalo will, wo Heinrich Geißler lebt. Im Census von 1930 wird er als Max Nathan Lamm geführt, wie Amy B. Cohen, die Autorin der Bücher „Pacific Street“ und „Santa Fe Love Song“ und des Brotmanblog, herausgefunden hat. Nathan arbeitet in den USA zunächst als Bäcker, dann auf dem Bau, gehört ab 1942 zur US-Army und kehrt nach Kriegsende zurück nach Buffalo. In den Dreißigern und frühen Vierzigern versuchen Nazigegnerinnen und Nazigegner und wegen ihrer jüdischen Herkunft Verfolgte verzweifelt, ein Visum für die USA zu bekommen. Von einigen von ihnen wird noch die Rede sein. Kehren wir erst einmal zurück ins frühe 19. Jahrhundert.

Viele Auswanderungswillige werden nicht selten schon in der Heimat geneppt. Und so weist der Bremer Senat, um den guten Ruf der Stadt besorgt, 1832 die Wirte an, „dass alles, was zum Wohle derer nötig scheint, welche Bremen zu ihrem Auswanderungsplatz gewählt haben, soviel wie möglich Berücksichtigung finde“. Zum Schutz der Menschen, die Europa über Bremen verlassen, wird im gleichen Jahr ein erstes staatliches Gesetz in Deutschland erlassen: die „Verordnung wegen der Auswanderer mit hiesigen oder fremden Schiffen”. Von jetzt an sind Passagierlisten Vorschrift und ab 1852 beim „Nachweisungsbureau für Auswanderer" abzuliefern, das die Handelskammer eigens eingerichtet hat.

Wenn Untertanen Hessen-Darmstadt verlassen wollen, müssen sie erst einmal einen Antrag stellen. Der Bürgermeister reicht das Gesuch zum Beispiel ans Großherzogliche Kreisamt in Alsfeld weiter. In der Zeitung erscheinen dann Aufrufe an mögliche Gläubiger, sich binnen drei Monaten zu melden. Mehr und mehr Auswanderungs-willige kommen in Bremen an. Der erste Weg führt ins Nachweisungsbüro. Und sie suchen Unterkunft. Sind noch Zimmer frei in der Herberge „Die Stadt Baltimore“ am Neuen Markt? In der „Stadt Newyork“ an der Großen Johannisstraße oder „Zum Admiral Nelson“ an der Langenstraße? Die Zimmer reichen längst nicht mehr. Und so lässt der geschäftstüchtige Friedrich Mißler Auswandererhallen an der Hemmstraße in Findorff errichten. Bei ihm gibt es den Rundumservice: Logis, Fahrkarten, Versicherungen, Informationen. Meist über Schiffe des Norddeutschen Lloyd.

Wer nicht gehen darf, verschwindet bei Nacht und Nebel: Junge Männer, die sich dem Wehrdienst entziehen wollen, sind darunter, wie Friedrich Trump aus Kallstadt an der Weinstraße, der im Goldrausch als Gastwirt und Bordellbetreiben reich werden wird. Auch Wilderer wandern aus, ohne sich abzumelden, Schuldner, manchmal sogar ganze Familien, Sozialrevolutionäre, die mit Steckbrief gesucht werden, Ehemänner, die ihre Frauen im Stich lassen, Jugendliche und andere, die nicht damit rechnen, eine Erlaubnis zu erhalten. Im Intelligenzblatt für den Kreis Alsfeld und die angrenzenden Bezirke ist am I. Januar 1848 zu lesen: „Das Großherzoglich-Hessische Landgericht Homberg an die Bürgermeister des Bezirks. Es ist in neuerer Zeit häufig der Fall vorgekommen, dass Personen nach Amerika ausgewandert sind, ohne vorher in ihrem früheren Vaterland jemanden mit der Besorgung ihrer Angelegenheiten zu beauftragen, was dann mitunter die Anordnung kostspieliger gerichtlicher Kuratelen, immer aber die Verzögerung von Erbauseinandersetzungen und ähnlichen Geschäften zur Folge hatte. Wir fordern Sie daher auf, die Auswanderer in ihrem eigenen und dem Interesse ihrer zurückbleibenden Verwandten auf die Nachteile der Unterlassung einer solchen Bevollmächtigung aufmerksam zu machen. G. Klingelhöffer.“

Im Kurfürstentum Hessen-Kassel ist Emigration ab 1831 nicht mehr illegal. Gegangen sind die Leute auch vorher schon, wie auf den Seiten der Familienforschung Neustadt zu lesen ist. Von 1820 bis 1840 haben sie sich an der „gebrannten Eiche“ im Wasenberger Wald versammelt, um im Treck nach Norden zu ziehen. Vier bis fünf Tage brauchen sie mit ihren Pferdewagen für die erste Etappe. 120 Kilometer durch die Schwalm, den Knüll, den Kellerwald und den Habichtswald nach Hannoversch-Münden, wo die Gruppe erst einmal rastet. Pferde und Fuhrwerke werden verkauft. Und weiter geht die Reise mit Weserkähnen nach Bremen und Bremerhaven, fünf bis sechs Tage auf dem Fluss. 1852 wird die Main-Weserbahn gebaut, die Kassel und Frankfurt am Main verbindet. Für viele Auswanderinnen und Auswanderer aus der Region verkürzt sich damit die Fahrt um Tage. Sie fahren mit dem Zug nach Karlshafen und besteigen ein Weserdampfschiff, in Bremerhaven dann einen Segler. In Inseraten geben Passagiere nach der Überfahrt Bewertungen ab, ob bezahlt oder auf eigene Initiative.

Wie in der Alsfelder Zeitung 1841: „Dank dem Capitain J. H. Bosse. Die unterzeichneten Passagiere des Herrn Friedrich Jacob Wichelhausen in Bremen fühlen sich aus freiem Antrieb verpflichtet, die vorzügliche Tüchtigkeit, unermüdete Aufmerksamkeit, Tätigkeit und Vorsicht des Capitäns, Herrn J. H. Bosse, wovon sich dieselben Tag und Nacht Gelegenheit hatten sich zu überzeugen, hiermit öffentlich zu rühmen und sowohl dafür als auch für die ihnen außerdem bewiesene Zuvorkommenheit, Güte und Humanität ihren wärmsten Dank auszusprechen. Bei den häufigen Klagen über Sorglosigkeit mancher Capitains ist das Glück, in so menschenfreundliche und teilnehmende Hände zu kommen, doppelt wohltuend, und wir können nur wünschen, dass unseren nachfolgenden Landsleute ein ähnliches widerfahren werde. New York, 4. Juni 1841, E. A. Schumann für sich und im Namen der übrigen 185 Passagiere.“

Warum sich trennen, wenn man zusammenbleiben kann? In Neustadt in Kurhessen beschließen einige Familien 1832, gemeinsam auszuwandern, wie unter anderem auf der Internetseite über Familienforschung in Neustadt nachzulesen ist. Die „Columbus“, ein Dreimaster der Bremer Reederei Wätjens & Co., soll die fast 200 Menschen aus Neustadt, Momberg und der Region nach Amerika bringen. Das Schiff ist seit einem Jahr auf der Route Bremen-New York eingesetzt. Viele Fahrten sind der „Columbus“ nicht vergönnt, sie wird 1834 kurz vor der Wesermündung in der Nordsee untergehen. Der 32-jährige Ludwig Diegel aus Neustadt, seine Frau Elisabeth, geborene Reichbach, und ihre beiden Kinder gehören 1832 zu der Auswanderergruppe. In ihrem Gepäck haben sie die Papiere, die ihnen das Kreisamt in Kirchhain ausgestellt hat. Ende Mai legt das Schiff in Bremerhaven ab, Mitte Juli erreicht es New York. Nach sechswöchiger Fahrt. Um 1880 ist in Oberhessen das Auswandererlied gesungen worden:

Jetzt ist die Zeit und Stunde da,

wir reisen nach Amerika.

Die Wagen stehn schon vor der Tür,

mit Weib und Kind marschieren wir.

Die Freunde, die uns sind verwandt,

reichen uns zum letztenmal die Hand:

Ihr Freunde, weint nur nicht so sehr,

wir sehn uns nun und nimmermehr!

Und als wir kamen in Bremen an

und schaun das große Wasser an.

Wir fürchten keinen Wasserfall:

Der liebe Gott ist überall.

Und als wir kamen nach Baltimore,

da reckten wir die Hand empor.

Wir riefen aus: Viktoria!

Nun sind wir in Amerika.

Wir reisten als noch weiter fort

und trauten auf den lieben Gott.

Der Müßiggang ist nun vorbei.

Ihr Brüder, es muß gearbeit’t sein!