Jewish Roulette - Shelley Kästner - E-Book

Jewish Roulette E-Book

Shelley Kästner

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Beschreibung

Sind Sie jüdisch? Sind Sie es nicht? Sind Sie sicher? Die jüdische Identität gibt es nicht. Es gibt unzählige Abstufungen davon, wie man jüdisch sein kann. Shelley Kästners Interviewbuch "Jewish Roulette" zeigt die vielseitigen Facetten der ererbten, angenommenen oder verloren gegangenen Zugehörigkeit zum Judentum und spannt den Bogen vom orthodoxen Atheisten bis zum jüdischen Erzbischof. Manche von Shelley Kästners Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern pflegen ein liberal religiöses, ein traditionelles oder ein säkular kulturelles Judentum. Einige von ihnen sind in traditionsreichen jüdischen Familien aufgewachsen, andere sind vom Judentum zum Christentum oder vom Christentum zum Judentum konvertiert, wieder andere haben erst spät erfahren, dass sie überhaupt jüdisch sind. Und einige leben schlicht überhaupt keinen Glauben. In "Jewish Roulette" wird eine große Bandbreite vielseitiger, spannender, humorvoller und nachdenklicher Lebensgeschichten von 14- bis zu 88-Jährigen präsentiert. Was bedeutet es, "jüdisch" zu sein? Was wird unter "jüdisch" verstanden? Welchen Einfluss hat dies allenfalls auf die Identitätsbildung? Welche Reaktionen kommen von außen? Welche persönlichen Schicksale stehen hinter dieser Zuordnung? "Jewish Roulette" ist ein überzeugendes Plädoyer für Offenheit, Vielfalt und Individualität.

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Seitenzahl: 190

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SHELLEY KÄSTNER

JEWISHROULETTE

Vom jüdischen Erzbischof biszum atheistischen Orthodoxen

21 Gespräche

Mit freundlicher Unterstützung der Marianne und René Lang Stiftung, der Katholischen Kirche im Kanton Zürich, des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, der Georges und Jenny Bloch-Stiftung sowie der Stiftung für Kultur und Jugend.

Der Elster & Salis Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Förderbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

 

Shelley Kästner

 

Jewish Roulette – Vom jüdischen Erzbischof zum atheistischen Orthodoxen. 21 Gespräche

Verlag

Elster & Salis AG, Zürich

 

[email protected]

 

www.elstersalis.com

Lektorat

Patrick Schär für www.torat.ch

Korrektorat

Ina Serif für www.torat.ch

Umschlaggestaltung

André Gstettenhofer für www.torat.ch

Umschlagfoto

storm, Adobe Stock

Foto Autorin

Thomas Raschle

 

1. Auflage 2018

 

© 2018, Salis Verlag AG

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN e-Pub 978-3-906195-79-7

 

ISBN Print 978-3-906195-78-0

Gewidmet meiner Familie

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

Shelley Kästner

VORWORT

Prof. Dr. Peter Schneider, Psychoanalytiker und Satiriker

ES GIBT KEINE ANDEREN

Die ukrainische Schriftstellerin Katja Petrowskaja, die ihr preisgekröntes Buch Vielleicht Esther über Kriegsopfer des Zweiten Weltkriegs auf Deutsch schrieb, weil das die Sprache der Täter ist

ZWISCHEN STÜHLEN

Lea Rosh, Vorsitzende des Förderkreises »Denkmal für die ermordeten Juden Europas«, die sich fragt, ob es wirklich nötig ist, dass beide Elternteile in Auschwitz umgekommen sind, damit die Leute es einem verzeihen, wenn man sich für die ermordeten Juden engagiert

DIE GRANDE DAME DES ISRAELISCHEN THEATERS

Orna Porat, die als junge deutsche Christin aus Liebe nach Israel auswanderte und dort formal zum Judentum übertrat, um Kinder adoptieren zu können

DER FRUSTRIERENDE KONFLIKT

Michal, eine säkulare Jüdin, die gefangen ist im frustrierenden Konflikt zwischen Juden und Palästinensern

ZURÜCK ZUR FAMILIENTRADITION

Bettina, die als Tochter eines jüdischen Vaters und einer christlichen Mutter zum Judentum übergetreten ist

HANS-RUEDI IST JETZT SCHLOMOH

Ein Journalist, der von einer extrem linken Lebenseinstellung zu einer extrem jüdisch-orthodoxen Position wechselte und gemeinsam mit seiner deutschen Frau und Tochter zum Judentum übergetreten ist

EINE GANZ NORMALE BAUERNFAMILIE

Eine Familie, die seit Jahrhunderten in der Schweiz ansässig ist und nach jüdisch-orthodoxen Regeln lebt

MAN SOLLTE ALLES HINTERFRAGEN UND NICHT MITLÄUFER SEIN

Schilderungen von Eduard Kornfeld, der seit dem Erleiden des Holocausts Probleme mit der Religion hat

MEIN VATER IST EIN HOLOCAUSTÜBERLEBENDER

Rahel, die den Überlebenskampf ihres Vaters als Hypothek mit sich herumträgt

ICH HABE MEINEN SOHN NICHT BESCHNEIDEN LASSEN

Eine Deutsche, die als »Dreivierteljüdin« von den Nazis verfolgt wurde, während ihre vierteljüdische Cousine mit einem Nazi-Bonzen verheiratet war und unbehelligt blieb

GENERATION X

Betrachtungen eines Vierzehnjährigen, der in einer religionslosen Familie aufgewachsen ist und doch als Jude gilt

MEIN LEBEN IST MIT EINER GROSSEN VERWIRRUNG GEPFLASTERT

Mischa, der seine Kindheit, die aus Bruchstücken zusammengesetzt ist, endlich aufarbeiten will

SAG NIEMANDEM, DASS DU JÜDISCH BIST

Eine Schweizerin, die während ihrer Kindheit als Tochter einer Jüdin und eines Katholiken einer subtilen Form von Antisemitismus ausgesetzt war

AUCH DU?

Eine Frau, die erst im Alter von 54 Jahren erfuhr, dass sich ihr Großvater, ein berühmter amerikanischpresbyterianischer Priester, eine falsche Identität zugelegt hatte, um zu verschleiern, dass er jüdischer Herkunft war

KANNST DU JÜDISCH SEIN, WENN DU DICH IN DIESER RELIGION NICHT AUSKENNST?

Peter, der als Mitglied der Church of Scotland aufwuchs und erst mit 26 per Zufall erfuhr, dass seine beiden Eltern Juden waren

LINKER ANTISEMITISMUS MACHT MICH KRANK

Ein abtrünniger Orthodoxer, der im Alter wieder näher ans Judentum gerückt ist

MAN KANN AUCH EIN GUTER JUDE SEIN, WENN MAN DIE RELIGIÖSEN GEBOTE NICHT SO STRENG EINHÄLT

Ein 24-jähriger Ex-Chasside, der jetzt in einer Bar und als Jiddisch-Coach arbeitet

DER ATHEISTISCHE ORTHODOXE

Ein orthodoxer Jude, der den Glauben an Gott verloren hat und seither den Spagat machen muss zwischen der säkularen und der orthodoxen Welt

SEIN ODER NICHTSEIN

Shelley Kästner, die sich fragt, wie ihr Leben ohne jüdischen Hintergrund oder mit einem ungebrochenen Verhältnis zum Judentum verlaufen wäre

FÜR MICH IST DIE WAHRHEIT ENTSCHEIDEND

Thomas Kästner, dem seine Mutter unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute, dass sein Vater, die deutsche Dichterikone Erich Kästner, Halbjude sei

WIR SIND ALLE GEMISCHT

Joëlle Apter, die eine Genanalysefirma betreibt, selbst einem jüdischen Elternhaus entstammt und mit ihrer Familie ein Judentum ohne Gott zelebriert

Dank

Zur Autorin

VORWORT

Was würde Ihnen als Erstes einfallen, würden Sie gefragt, wie sich Juden von Nichtjuden unterscheiden?

»Juden essen kein Schweinefleisch« – »Das sind Männer mit Bärten, Schläfenlocken und großen Hüten« – »Jüdisch ist, wer eine jüdische Mutter hat«?

Wissen Sie, ob Sie jüdisch sind oder nicht? Sind Sie da ganz sicher? Und was wäre wenn?

Auf einer Gedenktafel, die zu Ehren des 2005 verstorbenen Pariser Erzbischofs Jean-Marie Lustiger in der Kathedrale Notre-Dame platziert wurde, findet sich folgender Text:

Je suis né juif.J’ai reçu le nom de mon grand-père paternel, Aron. Devenu chrétien par la foi et le baptême, je suis demeuré juif comme le demeuraient les Apôtres. J‘ai pour saints patrons Aron le Grand Prêtre, saint Jean l’Apôtre, sainte Marie pleine de grâce. Nommé 139e archevêque de Paris par Sa Sainteté le pape Jean-Paul II, j’ai été intronisé dans cette cathédrale le 27 février 1981, puis j’y ai exercé tout mon ministère. Passants, priez pour moi. Aron Jean-Marie cardinal Lustiger Archevêque de Paris1

Lustiger bezeichnet sich gleichermaßen als Jude wie als Christ. Und hebt damit die mit unglaublich viel Bedeutung aufgeladene und scheinbar undurchdringliche Grenze zwischen Juden und Christen auf. Eine Grenze, die jahrhundertelang als fadenscheinige Begründung herhalten musste für Ausgrenzung, Diffamierung, Enteignung und Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen.

Jewish Roulette zeigt die vielseitigen Facetten der ererbten, angenommenen oder verloren gegangenen Zugehörigkeit zum Judentum und spannt den Bogen vom jüdischen Erzbischof bis zum atheistischen Orthodoxen. Es werden Lebensgeschichten beleuchtet, die unterschiedlicher nicht sein könnten und deren Erzählerinnen und Erzähler alle dem Judentum zugerechnet werden. Dabei zeigt sich: So etwas wie »die jüdische Identität« gibt es nicht.

Die Gesprächspartnerinnen und -partner stammen aus der Schweiz, aus Deutschland, Frankreich, Tschechien, der Ukraine, Slowenien, Schottland, England, Israel und den USA. Viele haben eine jüdische Mutter, manche auch einen jüdischen Vater. Einige haben erst im Laufe ihres Lebens erfahren, dass sie jüdischer Herkunft sind. Andere wiederum sind vom Christentum zum Judentum übergetreten oder haben der jüdischen Religion entsagt und leben vollkommen assimiliert an die vom Christentum geprägte Kultur. Viele pflegen gleichzeitig die jüdischen und die christlichen Feiertage, und dies sehr häufig ohne an Gott zu glauben. Ein Orthodoxer outet sich als Atheist und beschreibt, wie er es schafft, in zwei extrem verschiedenen Welten zu leben. Einige meiner Gesprächspartnerinnen und -partner haben nur einen jüdischen Elternteil und stehen zwischen den Stühlen. Andere wurden von ihren Familien dazu angehalten, ihre jüdischen Wurzeln totzuschweigen, um sich im Falle eines wieder aufflammenden Antisemitismus nicht in Gefahr zu bringen. Einige von ihnen tragen berühmte Namen, wie zum Beispiel die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Katja Petrowskaja, die bekannte Journalistin Lea Rosh, die das Denkmal für die ermordeten Juden Europas mitinitiiert hat, die 2015 verstorbene Grande Dame des israelischen Theaters Orna Porat oder Thomas Kästner, der Sohn von Erich Kästner.

Anhand der Gespräche lässt sich nachvollziehen, warum der Wechsel von einer Kultur zur anderen manchmal Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern kann und welche geschichtlichen Ereignisse eine Assimilation befördert oder dazu geführt haben, dass das Judentum gestärkt wurde.

Um noch einmal auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen: Viele Juden haben eine jüdische Mutter, einige essen Schweinefleisch, die wenigsten tragen Bart, Schläfenlocken und große Hüte.

1Von Geburt an bin ich jüdisch. Ich trage denselben Namen wie mein Großvater väterlicherseits, Aron. Obschon ich durch Glauben und Taufe Christ geworden bin, blieb ich doch gleichzeitig jüdisch, wie vor mir schon die Apostel. Meine heiligen Patrone sind der Hohepriester Aron, der heilige Apostel Johannes und die heilige Maria voll der Gnade. Von Papst Johannes Paul II. wurde ich zum 139. Erzbischof von Paris ernannt und am 27. Februar 1981 in dieser Kathedrale inthronisiert. Mein gesamtes Priesteramt habe ich hier verrichtet. Wer hier vorbeigeht, möge für mich beten. Aron Jean-Marie Kardinal Lustiger, Erzbischof von Paris.

VORWORT

Prof. Dr. Peter Schneider, Psychoanalytiker und Satiriker

Ich bin ein schlechter Gewährsmann für eine affirmative Sicht auf Identität. Ich bekomme keine leuchtenden Augen, wenn es um Identität geht. Im Gegenteil: Das Wort verursacht bei mir Engegefühle. Für mich ist Identität nicht der wahre Kern, der übrig bleibt, wenn man alles Kontingente abzieht, das einem im Leben widerfahren ist; sie ist vielmehr selbst etwas Kontingentes: der Effekt vielfältiger Identifizierungen und Gegenidentifizierungen, das Produkt zahlreicher Erfahrungen, die ihrerseits schrecklich kontingent gewesen sind. Zunächst einmal der Identifizierungen mit Mutter und Vater – und zwar aus der Position einer umfassenden Ohnmacht gegenüber einer umfassend erscheinenden Macht. Diese Identifizierungen sind notwendig im doppelten Sinne: Sie fügen einerseits das Subjekt in eine vorgegebene Ordnung ein, die es selbst nicht gemacht hat; sie sind andererseits aber auch aus der Not geboren. Aus der Not der Identifizierungen soll man keine Tugend machen – zum Beispiel die Tugend einer Identität. Ich bin auch kein Freund der derzeit grassierenden Anthropo-Botanik mit ihrem Gerede von den »Wurzeln«. Bin ich eine Birke? Wenn, dann höchstens die aus Hildegard Knefs Lied »Ich brauch Tapetenwechsel, sprach die Birke«. Und wenn in deutschen Festtagsreden das neu erblühte »jüdische Leben« gepriesen wird, dann berührt mich das seltsam. In meinen Ohren klingt das wie ein Lob, dass das Plansoll zur Wiederansiedlung des Luchses und der Juden erfüllt wurde und beide nun wieder von der roten Liste gestrichen werden können.

In Gestalt unserer »jüdisch-christlichen Kultur« ist »das Jüdische« in unserer Gesellschaft Teil einer Pathosformel geworden, die im Moment vor allem dazu dient, eine Abwehrfront gegen die »islamische Überfremdung« aufzubauen. Darüber hinaus ist es Klezmer2- und Schtetl3-Kitsch geworden. Eine furchtbar homogenisierte Pampe.

A lot of my best friends are Jews. Eine Menge meiner Lieblings-Nervensägen aber auch. Dazu sind zwei Drittel meiner dreiköpfigen Familie Juden. An der Tür unserer Berliner Ferienwohnung hängt eine Mesusa4. Eine Idee meines Sohnes, um meine Frau mit dem pied-à-terre in der Reichshauptstadt auszusöhnen. Für mich fungiert sie als eine Art Knoblauchkranz gegen den verbliebenen Stasi-Mief in unserem wunderbaren Plattenbau. Sagen wir so: In einem Kuddelmuddel von Bedeutungen ist das Jüdische ziemlich präsent, aber weder als religiöses noch als nationales oder ethnisches Bekenntnis, sondern auf diese unbestimmbare Art, die wahrscheinlich viele säkulare Juden und ihre gojischen5 Familienangehörigen pflegen. Es ist nicht präsent in dem Sinne, dass uns der Nahostkonflikt besonders am Herzen liegt. Und wir haben auch keine Idee, wie man ihn noch in diesem Jahr beilegen könnte.

2Volksmusik aus dem aschkenasischen Judentum.

3Siedlung mit vielen jüdischen Bewohnern.

4Schriftkapsel, die am Türpfosten angebracht wird.

5Nichtjüdisch. Ein Goi (Plural Gojim) ist ein Nichtjude.

ES GIBT KEINE ANDEREN

Katja Petrowskaja ist eine faszinierende, luzid denkende und charismatische Frau. Sie stammt ursprünglich aus der Ukraine, lebt aber seit vielen Jahren mit ihrer Familie in Berlin. Ihr Erstlingswerk Vielleicht Esther wurde 2013 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis, 2014 mit dem Aspekte-Literatur-Preis und 2015 mit dem Ernst-Toller-Preis und dem Schubart-Literaturpreis ausgezeichnet. Vielleicht Esther erzählt die Geschichte einer Familie im Angesicht der Katastrophen des 20. Jahrhunderts.

Neulich war ich in New York. Das war um Pessach herum. Ich bin auf einem Boot gefahren in einem Bezirk von Brooklyn. Plötzlich wurde das Boot von Hunderten von Chassiden gestürmt. Sie waren mit Kindern und Frauen unterwegs. Die Frauen hatten wahnsinnig weiße Haut, so als ob sie ihre ganze Zeit in der Dunkelkammer verbringen würden. Zufälligerweise waren außer den Juden und mir nur noch drei Deutsche an Bord. Es war ein unheimlich skurriles Gefühl, weil wir das meiste, das geredet wurde, verstehen konnten. In mir regte sich eine Art Sehnsucht, weil ich fühlte, dass da in meinem Leben etwas verloren gegangen ist, die Möglichkeit eines anderen Lebens. Es war ein sehr starkes Gefühl. Das bedeutet aber gar nicht, dass ich chassidisch leben möchte.

Ich bin in Kiew, damals noch in der Sowjetunion, aufgewachsen. In meiner Kindheit war die Frage, ob man Christ ist oder Jude, einfach kein Thema. Vielmehr war bedeutungsvoll, ob man an die Sowjetmacht glaubte, ein Mitläufer war oder gegen das System. In der Sowjetunion sind wir alle areligiös groß geworden, so dachte ich zumindest. Dass ich aus einer Art Anekdoten-Judentum komme, war mir überhaupt nicht bewusst. Das war irgendwann und irgendwo und nicht eindeutig platzierbar. Ich wusste nichts über jüdische Feste, die Sprache oder die Schrift. Mein Bruder hat davon vielleicht etwas mehr mitbekommen, weil er alte Leute kannte, die noch Jiddisch gesprochen haben. In meiner Kindheit habe ich absolut nichts von dieser Welt gesehen. Dass im Holocaust Juden getötet wurden, hat man natürlich schon gewusst.

Wir waren nicht religiös, aber das Wort, die Literatur, ist uns zu einer Art Religion geworden und wir glaubten daran. Dem Wort an sich kam religiöse Bedeutung zu. Im kommunistischen System, in dem es kein Geld und kaum Vergnügungen gab, hatten Bücher einen sehr großen Stellenwert. In Russland sagt man: »Ein Dichter ist mehr als nur Dichter.« Man ist komplett darauf fixiert, dass sich durch Worte die Welt verändern lässt. Die Leute haben auch ihre Arbeit als eine Art religiöse Berufung verstanden. In der Sowjetunion gab es beispielsweise Lehrer und Musiker, die man sonst nirgendwo hätte finden können. Das hat auch etwas sehr Religiöses. Aber hier geht es nicht um das Jüdische, sondern um eine Art protestantische Ethik, um eine Berufung. In negativem Sinne wurde das ganze sozialistische System und die Partei selbst vom Volk wie eine Religion angenommen.

Eine Gesellschaft kann komplett atheistisch sein, aber in sich drin tragen die Menschen die christlichsten Werte. Dazu passt auch, was Dostojewski schreibt, dass man sozusagen nur durch Leiden zum tatsächlichen Sinn des Lebens kommt. Wir waren dadurch geprägt. Aber das ist natürlich absoluter Quatsch. Niemand wird ein besserer Mensch, nur weil er gelitten hat. Es ist oft sogar so, dass die Opfer damit ihre eigenen Untaten rechtfertigen.

Meine Eltern und ihre Freunde waren Menschen des Gewissens. Ihre Gespräche kreisten um Themen, die vom Staat totgeschwiegen wurden: sowjetische Okkupation von Prag, Afghanistan oder politische Gefangene zum Beispiel. Es waren alles Leute, die nicht wegschauen konnten. Der größte Schmerz aber war für einige von ihnen das Massaker von Babyn Jar6 von 1941, worüber man offiziell gar nicht gesprochen hat.

Bis 1917 hatten die Juden, abgesehen von wenigen Ausnahmen, kein Recht, in Zentralrussland, in Moskau oder St. Petersburg zu leben. Erst nach der Februarrevolution von 1917 haben Jüdinnen und Juden Rechte als Bürger bekommen. Viele ergriffen mit der Möglichkeit, überall wohnen zu können, enthusiastisch die Gelegenheit, sich aus den beengten und ärmlichen Verhältnissen des Schtetl-Judentums zu verabschieden, und strömten in die großen Städte. Meine Großeltern beispielsweise haben sich nach der Februarrevolution sofort an Bildungsinstituten eingeschrieben. Das war ein wahnsinniger Bruch. Plötzlich gab es für viele Juden einen Zugang zur »großen, weiten Welt«. Einerseits eröffneten sich den Menschen ungeahnte Möglichkeiten. Aber andererseits ging der Aufbau der Sowjetunion auch mit der Auslöschung von Familientraditionen einher und schlimmer noch mit dem Tod von Millionen von Menschen. Aber das galt nicht nur für Juden. Das war einfach sowjetisches Leben. Die Sowjetunion war ein riesiges Imperium, bestehend aus Mittelasien, dem Kaukasus und Sibirien. Nach der Revolution gab es im Land ein enormes Durcheinander. An manchen Orten herrschte Bürgerkrieg. Massen von Menschen emigrierten. Neben den Juden strömten auch Georgier, Armenier und Kasachen von überall nach überall und besonders in die Zentren nach Moskau und St. Petersburg. Die Nationen wurden gemischt wie verrückt. Die Juden waren dabei zwar eine große, aber nur eine von vielen Gruppen. Die Ethnie, der jemand angehörte, interessierte beim Aufbau des neuen Staates niemanden, außer gelegentlich als Repressionsmittel. Nichtsdestotrotz gab es vereinzelt antisemitisch motivierte Attacken auf Juden, zum Beispiel anlässlich der Pogrome von 1919 bis 1920 in der Ukraine oder der antikosmopolitischen Kampagne von 19487. Aber in der Hauptsache war man damit beschäftigt, gemeinsam den neuen Staat aufzubauen. Der sowjetische Enthusiasmus hat eigentlich wirklich alles andere ausgelöscht. Es bildeten sich ganz neue Feindbilder: die Aristokraten, die Reichen, die Bourgeoisie und halbreiche Bauern wie die Kulaken in der Ukraine. Da wurden Reichtum und Besitz bekämpft und die Anhäufung von Vermögen. In der Folge der Kollektivierung und im Rahmen der Entstehung von Kolchosen sind in den reichen Dörfern in der Ukraine und Südrussland ungefähr sechs Millionen Menschen einfach verhungert. Während der Stalinrepression Ende der Dreißigerjahre war niemand davor gefeit, vom Staat liquidiert zu werden. Zwischen 1936 und 1938 wurden nicht nur Oppositionelle, sondern wahllos Menschen getötet: Man wusste nicht, warum trifft es jetzt ausgerechnet diesen Straßenbahnfahrer, diese Krankenschwester, zufälligerweise diesen Menschen und nicht den anderen?

Als ich älter wurde, hat die Frage, was zu meiner eigenen Geschichte gehört, starke Gefühle in mir hervorgerufen. Anlässlich einer Reise nach Warschau besuchte ich die Feldkathedrale der Polnischen Armee8, wo die Getöteten von Katyn9 aufgelistet sind. In der Sowjetunion wurde uns erzählt, dass es die Deutschen gewesen waren, die damals in Katyn die Polen abgeschlachtet haben. Und dann stellte sich plötzlich heraus, dass es sozusagen wir waren, die Russen. Die Schuldgefühle, die ich Polen gegenüber habe, hatten mich viel mehr geprägt als die Identifizierung mit den jüdischen Opfern. Auf dieser Liste in der Kathedrale stand auch ein Name, der in unserer Familie vorkommt. Ich war mir aber sicher, das konnte niemand von meiner Familie gewesen sein. Aber dann dachte ich, man kann die Toten nicht selektieren. Allein das Wort »selektieren« erinnert ja schon an die Nazis. Man kann auch nicht sagen, meine Familie hat damals im Krieg in Haus Nr. 14 gelebt, deswegen interessiert mich die Geschichte von den Leuten aus diesem Haus mehr als die Geschichte von Haus Nr. 16. Und wenn die Bewohner von Haus Nr. 16 von den Nazis getötet wurden, dann sind das nicht meine Toten. Wenn du durch eine Gedenkstätte gehst, hast du das Gefühl, dass dir alle Geschichten gehören. Du kannst nicht sagen, das gehört jetzt zu mir, weil mein Urgroßvater im Jahre 1939 dort die Straße überquert hat, und wenn er zufälligerweise auf der anderen Straßenseite gestanden hätte, hat das Ganze nichts mit mir zu tun. Oder dieses Opfer ist eigentlich kein Jude, also interessiert mich das nicht. Es gibt keine fremden Opfer.

In meinem Buch10 geht es auch nicht im Besonderen um Juden, sondern einfach darum, dass es keine anderen gibt, egal ob sie jüdisch sind oder nicht. Es war mir literarisch wichtig, über die Meinigen zu schreiben, die gleichzeitig nicht die Meinigen sind. Es geht nicht um das Schicksal der Meinigen, sondern um die allgemeine Ungerechtigkeit.

6Am 29. und 30. September 1941 wurden in der Schlucht Babyn Jar in Kiew 33 771 jüdische Männer, Frauen und Kinder von der SS erschossen.

7Antisemitische Verfolgung durch Josef Stalin.

8Katedra polowa Wojska Polskiego NMP Królowej Polski.

9Beim Massaker von Katyn wurden 1940 auf Befehl Josef Stalins Tausende polnische Offiziere erschossen.

10Petrowskaja, K. (2014). Vielleicht Esther. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

ZWISCHEN STÜHLEN

Lea Rosh ist eine bekannte deutsche Fernsehjournalistin, Autorin, Publizistin und die Vorsitzende des Förderkreises »Denkmal für die ermordeten Juden Europas«. Sie studierte Geschichte, Soziologie und Publizistik an der FU Berlin.

Wir, Eberhard Jäckel11 und ich, und die anderen, die da mitgemacht haben, haben beschlossen, dass wir den ermordeten europäischen Juden ein Denkmal bauen wollen, mitten in Berlin, und das haben wir auch gemacht. Wir haben immer gesagt, Deutsche nichtjüdischen Glaubens bauen dieses Denkmal. Es hat dann ganze siebzehn Jahre gedauert, bis wir den Beschluss des Bundestages hatten und den Grundstein legen konnten. Es ist ja auch schwierig, ein Volk dazu zu bringen, zu seiner größten Schande und zu einem Menschheitsverbrechen zu stehen, sich dazu zu bekennen. Dass das überhaupt gelungen ist, finde ich nach wie vor ziemlich erstaunlich, weil es nicht gängig ist, dass ein Volk sagt: »Ja, das haben wir gemacht«, und mitten in seiner Hauptstadt die Opfer ehrt. In Israel hat man, glaube ich, zwölf Jahre gebraucht, um Yad Vashem zu errichten. Es hat auch über zehn Jahre gedauert, bis es so weit war für ein Holocaust-Museum in Washington. Nur haben die Amerikaner nicht den Holocaust auf dem Gewissen wie wir. Bei uns war und ist das ein sehr kontroverses Thema, wenn man so was angeht.

Wir ahnten wirklich nicht, dass es so lange dauern würde bis zur Eröffnung. Es gab vielfältige Gründe, weshalb die Leute dagegen waren. Erstens war das ganz simpel und ergreifend der übliche Antisemitismus: »Wieso sollen die Juden schon wieder eine Extrawurst kriegen?«

Da hab ich ihnen gesagt: »Weil sie auch bei ihrer Ermordung eine Extrawurst hatten.«

Es ist ein Unterschied, ob jemand in der Gaskammer erstickt und dann hinterher verbrannt wird oder ob jemand in einem deutschen Konzentrationslager gequält wird. Das waren natürlich keine Erholungsheime, aber es war etwas anderes. Die Ermordung in der Gaskammer – Auschwitz als Synonym –, das ist schon eine »Sonderbehandlung« gewesen. Dann kamen die, die gesagt haben: »Den Juden steckt man sowieso alles vorne und hinten rein.« Dazu habe ich gesagt: »Man hat ihnen ja auch Milliardenwerte abgenommen, neben all den gesundheitlichen Schäden, die man ihnen zugefügt hat.« Das ist ganz primitiver Antisemitismus. Das haben die Leute aber nur gesagt, wenn sie sicher waren, dass sie nicht von anderen gehört wurden. Dann gab es die, die sagten: »Es geht nicht, dass nur – ausschließlich – für die Juden ein Denkmal gebaut wird.«

Margherita von Brentano, Mitglied unserer Arbeitsgruppe, Vize-Präsidentin der Freien Universität Berlin von 1970 bis 1972, schrieb dazu:

»Nichts liegt uns ferner, als hier eine Hierarchie aufzustellen. Aber die Täter dachten und handelten anders. Sie machten die Juden zum exemplarischen Opfer schlechthin, zum Opfer der ›Endlösung‹. Der Antisemitismus war nicht nur ein Element des Nationalsozialismus, sondern sein Zentrum. In und an den Juden sah er das Ganze: das Ganze der Schäden, des Übels, der Entstellung menschlichen Wissens und menschlicher Gesellschaft, die sein Bild von der Welt bestimmten.«

Was sich hier abspielte, war der Vollzug eines jahrhundertealten Antisemitismus. Gelang es, die Juden zu ermorden, würde es mit den anderen Opfergruppen auch gelingen. Und es gelang ja, wie wir wissen.

Und da haben wir gesagt: »Für alle Opfergruppen ein Denkmal zu errichten, das sagt gar nichts, und man kann auch nicht die in den Gaskammern ermordeten Juden und die Homosexuellen in einen Topf werfen.« Es wurden ungefähr 20 000 bis 23 000 Homosexuelle in Konzentrationslagern interniert, die zum Teil natürlich auch ganz furchtbar gequält wurden, aber sie sind nicht vergast worden. Die Vernichtung durch Zyklon B oder durch Erschießungskommandos war den Juden, den Euthanasieopfern und den Zigeunern vorbehalten. Man rechnet mit etwa 120 000 Euthanasieopfern.

Auch die wurden vergast und verbrannt oder mit Giftspritzen ermordet. Und was die Zigeuner angeht, so gibt es inzwischen Untersuchungen von Historikern, die besagen, dass etwa 100 000 bis 120 000 von ihnen in die Gaskammern gekommen oder erschossen worden sind. Das ist schrecklich genug, aber sie sind aus ganz anderen Gründen als die Juden verfolgt worden. Man