Jo van Gogh-Bonger - Hans Luijten - E-Book

Jo van Gogh-Bonger E-Book

Hans Luijten

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Beschreibung

Das Buch erzählt erstmals ausführlich die Lebensgeschichte Jo van Gogh-Bonger. Als Ehefrau Theo van Goghs erbte sie nach dessen Tod den Nachlass ihres kurz zuvor verstorbenen Schwagers – des Malers Vincent van Gogh (1853–1890). Erst durch ihre umsichtige Nachlassverwaltung, geschicktes Marketing und eine kluge Verkaufspolitik verhalf seine Schwägerin Vincent van Gogh zu postumer weltweiter Berühmtheit. Eine längst überfällige Würdigung.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buchvorderseite

Titelseite

Hans Luijten

JO VAN GOGH-BONGER

Die Frau, die Vincent van Gogh berühmt machte

Aus dem Niederländischen von Gerd Busse und Christiane Burkhardt

Impressum

Das Buch entstand mit Unterstützung des Van Gogh Museum, Amsterdam

Die Übersetzung wurde ermöglicht mit freundlicher Unterstützung des Nederlands Letterenfonds - Dutch Foundation for Literature und der Vincent van Gogh Foundation

wbg Theiss ist ein Imprint der Verlag Herder GmbH© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deTitel der Originalausgabe: Hans Luijten: Alles voor Vincent. Het leven van Jo van Gogh-BongerCopyright © 2019 by Van Gogh Museum and Hans LuijtenOriginally published in 2019 by Uitgeverij Prometheus, Amsterdam

Umschlagfoto: Jo Cohen Gosschalk-Bonger, etwa 1904. Fotograf unbekannt© Van Gogh Museum, Amsterdam (Vincent van Gogh Foundation)

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster

ISBN Print: 978-3-534-61055-6ISBN E-Book (EPUB): 978-3-534-61071-6ISBN E-Book (PDF): 978-3-534-61087-7

Inhalt

Einleitung»Ein Amsterdamer Mädchen«
IGediegenes Bürgertum ‒ die Bongers1862‒1888

1Eine sorglose Kindheit und Jugend in einer harmonischen Familie

2Höhere Schule und die Ausbildung zur Englischlehrerin

3Übersetzerin, Lehrerin und die Liebe zu Eduard Stumpff

IIEinführung in die Kunst ‒ die van Goghs1888‒1891

4Vorbereitungen zur Hochzeit mit Theo van Gogh

5Eheleben und Mutterschaft in Paris

6Leben mit dem unzertrennlichen Brüderpaar Theo und Vincent

IIIPensionswirtin mit einem Dachboden voller Kunst1891‒1901

7Zurück in den Niederlanden ‒ die Villa Helma in Bussum

8Kontakte zu Jan Veth, Jan Toorop und Richard Roland Holst

9Spiel mit dem Feuer ‒ Isaac Israëls

IVZweite Ehe und intensive Werbung für das Werk van Goghs1901‒1905

10Johan Cohen Gosschalk ‒ Villa Eikenhof in Bussum

11Buchbesprechungen und Werbung für van Gogh ‒ zurück in Amsterdam

VDer Aufstieg van Goghs1905‒1912

12Eine grandiose Ausstellung im Sommer 1905

13Die Kunsthändler Gaston Bernheim, Paul Cassirer und Johannes de Bois

14Verträge über Editionen der Van-Gogh-Briefe

VIEinsatz für die Sozialdemokratie und die Veröffentlichung der Briefe van Goghs1912‒1925

15Die Sociaal-Democratische Arbeiderspartij (SDAP)

16Die Veröffentlichung der Brieven aan zijn broeder (1914)

17New York ‒ englischsprachige Übersetzungen der Briefe

18Ein Opfer für Vincents Ruhm

Epilog»Ein überragendes Vorbild für Frauen«
Anmerkungen

Abbildungsverzeichnis

Verzeichnis der Abkürzungen

Literaturverzeichnis

Danksagung

Personenregister

Bildteil

Einleitung»Ein Amsterdamer Mädchen«

Das Van Gogh Museum in Amsterdam ist heute eines der bekanntesten Museen weltweit. Jährlich zieht es Millionen von Besucherinnen und Besucher an, und selbst die, die nie dort waren, wissen, dass es existiert. Die Hintergründe dieses Museums ‒ seine Entstehung, der Bau und seine Geschichte ‒ sind jedoch nur wenigen bekannt. Und was auch nur wenige wissen: Der größte Teil der Sammlung der Van-Gogh-Gemälde, die heutzutage zu sehen sind, lagerte einst auf dem Dachboden einer Villa in Bussum.

In dieses Haus, die Villa Helma an der Koningslaan 4, war Jo van Gogh-Bonger (1862‒1925) im April 1891 mit ihrem Sohn Vincent eingezogen. 1889 hatte sie Theo, den jüngeren Bruder des Künstlers Vincent van Gogh geheiratet und mit ihm eine glückliche Zeit in Paris verbracht. Doch das Schicksal hatte es nicht gut mit ihr gemeint: Kurze Zeit nach Vincents Tod starb im Januar 1891 in Utrecht auch Theo. Von da an ‒ Jo war zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre alt ‒ trug sie die alleinige Verantwortung für ihr Kind, das noch nicht einmal ein Jahr alt war. Hinzu kam, dass ihr als Witwe ein riesiger Nachlass zufiel: Theo, der zu Lebzeiten Kunsthändler gewesen war, hatte die Mehrzahl der Werke Vincents als Gegenleistung für die finanzielle Unterstützung erhalten. All diese Gemälde und Zeichnungen sowie die Kunstsammlung Theos gelangten jeweils zur Hälfte in den Besitz Jos und Vincents. Da Vincent noch ein Kind war, verwaltete Jo als Vormund automatisch den Besitz ihres Sohnes, bis dieser mit 21 Jahren volljährig wurde.1

Nach Theos Tod war Jo nicht nach Paris zurückgekehrt. Auf Anraten von Freunden zog sie nach Bussum, wo sie nach einigen Monaten in der Villa Helma eine Pension eröffnete ‒ etwas, das alleinstehende Frauen damals öfter taten. Voller Elan machte sie sich ans Werk. Gleich nach ihrem Einzug schloss sie eine Feuerversicherung über insgesamt 12.600 Gulden ab. Die Police wurde am 18. April 1891 ausgestellt und enthält unter anderem folgende Posten:

2.000,‒ f 200 Gemälde von V. van Gogh

600,‒ f 1 Mappe mit Zeichnungen von V. van Gogh2

Eine interessante Quelle, diese Feuerversicherungspolice, doch es sind Zahlen und Beträge, die nach heutigem Kenntnisstand schon etwas merkwürdig anmuten. Wir wissen nämlich, dass es sehr viel mehr Kunstwerke gab: Zwischen dem April 1891 und dem Tod Jos im September 1925 dürften gut und gern 247 van Goghs aus der Sammlung verkauft worden sein, genauer gesagt: 192 Gemälde und 55 Werke auf Papier ‒ so das Kassenbuch, das Jo führte, in dem allerdings nicht alles festgehalten wurde.3 Die Zahl 200 muss daher eine viel zu niedrige Schätzung gewesen sein. 1962 übertrug Jos Sohn Vincent der Vincent van Gogh Foundation 209 Gemälde und 490 Zeichnungen.4 Zusammengenommen bilden diese Kunstwerke heute das Herzstück der Sammlung im Van Gogh Museum.

Jos Haus in Bussum hing voller Gemälde, und alle von Theo und Vincent nachgelassenen Briefe und Dokumente (darunter Fotos und Skizzenbücher) waren in Schränken aufbewahrt. Doch die Mehrzahl der van Goghs befand sich noch immer auf dem Dachboden. »Sicher« und »versichert« sind relative Begriffe. Eine Feuerversicherung ist schön und gut ‒ und auch beruhigend ‒, aber was hätte es bedeutet, wenn die Villa Helma 1891 tatsächlich in Flammen aufgegangen wäre? Die Folgen wären nicht auszudenken gewesen, und die Entwicklung der modernen Kunst in Europa hätte vollkommen anders ausgesehen.

Es ist nachvollziehbar, dass die größte Aufmerksamkeit stets Vincent und seinem Bruder Theo galt und nicht Theos Witwe Jo. Dennoch ist es mehr als gerechtfertigt, dass sie nun endlich auch selbst ins Rampenlicht gerückt wird. Denn dass Vincent van Gogh nach seinem Tod so berühmt geworden ist und beispiellosen Ruhm erlangt hat, ist schließlich nicht zuletzt ihrem unbezähmbaren Eifer und ihrem Engagement zu verdanken ‒ und somit nicht einzig und allein der Qualität seines Werks geschuldet. Von Jos Ausdauer, ihrer grenzenlosen Hingabe und ihrem überraschend vielseitigen Leben handelt diese Biografie.5 35 Jahre lang setzte sie es sich zum Ziel, Anerkennung für das künstlerische Œuvre Vincent van Goghs zu finden. Sie unternahm alles, um seinen Ruf weltweit zu festigen. Dank ihrer großen Liebe zu seiner Kunst, ihres festen Glaubens an sein Talent und ihrer energischen Persönlichkeit sollte ihr dies schließlich auch gelingen. In einer gänzlich von Männern dominierten Welt konnte sie sich behaupten. Sie kümmerte sich sowohl um das Werk van Goghs als auch um dessen Verbreitung. Als Hüterin seines Nachlasses begründete sie so den späteren Van-Gogh-Kult. Nach ihrem Tod übernahm ihr Sohn diese Aufgabe und erfüllte sie ebenso gewissenhaft wie seine Mutter, auch wenn er erklärte, dass dieser Auftrag ihn überrumpelt habe. In seiner Ansprache bei der Eröffnung des Van Gogh Museums im Jahr 1973 sagte er: »Ich habe nicht darum gebeten, inmitten all dieser Gemälde geboren zu werden. Doch ungefragt bekam ich es mit der Sammlung zu tun.«6 (Abb. F1, Farbeinlage)

Wendepunkte in Jos Leben

Die Lebensgeschichte eines Menschen wird neben seiner Herkunft, seinem Umfeld und den Zeitläufen durch Ereignisse, Erfolge und Katastrophen geprägt. Zu solchen Wendepunkten kommt es in dieser Biografie häufiger.7 Dass Jo ihre Beziehung zu dem Assistenzarzt in der Anatomie Eduard Stumpff abbrach, war einer davon, aber auch der Tod Mien Doormans und Cateau Stumpffs. Es kostete Jo große Mühe, den Verlust ihrer teuren, jung verstorbenen Freundinnen zu verwinden. Auch der Weggang ihres Bruders Andries, der sich bereits früh in seinem Leben in Paris niederließ, erschütterte sie stark. In ihren jungen Jahren vergötterte sie ihn. Jahrelang war sie auf der Suche nach einer neuen Person, in deren Dienst sie sich stellen konnte. Theo van Gogh war der Erste, bei dem dies wirklich möglich war. Der Entschluss, eine Beziehung mit ihm einzugehen, war zweifellos der Schlüsselmoment in ihrem Leben. Jo war damals 26 Jahre alt. Die Ehe der beiden war glücklich, währte jedoch nicht einmal zwei Jahre. Dennoch sollte dieser Schritt über ihr ganzes weiteres Schicksal entscheiden: Theo schenkte ihr nicht nur einen Sohn, Vincent (»mein Trost und mein Schatz, mein Ein und Alles«),8 sondern auch den immensen Nachlass seines Bruders. Diesen zwei Vincents sollte Jo ihr ganzes weiteres Leben widmen ‒ aus Liebe zu den beiden, aber vor allem auch aus Liebe zu Theo. Es war für sie der Weg, seinen frühen Tod, unter dem sie entsetzlich litt, zu ertragen und sich wieder halbwegs zu fangen. Indem sie sich auf die zwei Namensvettern konzentrierte, konnte sie Theo weiterhin nahe sein. Spätere entscheidende Momente in ihrem Leben gingen daraus hervor: die überwältigende Van-Gogh-Ausstellung, die sie 1905 im Stedelijk Museum in Amsterdam organisierte, und ihre bejubelte Ausgabe der Briefe Vincents an Theo im Jahr 1914, die dafür sorgte, dass das Publikum noch einmal auf ganz neue Weise Bekanntschaft mit dessen Leben und Werk machen konnte.

Ein wichtiger Übergangsmoment war auch Jos zweite Ehe, die sie im Jahr 1901 mit dem Künstler und Kunstkritiker Johan Cohen Gosschalk schloss. Es war eine Ehe, die zeitweise einen sehr mühsamen Verlauf nahm ‒ der zögerliche Anlauf zur Eheschließung war bereits ein Vorbote. Johan war intelligent und kunstinteressiert, doch zugleich auch unberechenbar und nervenkrank. Er führte ein zurückgezogenes Leben und fand, dass Jos Durchsetzungsvermögen zu einer gewissen charakterlichen Härte führte, die ihm zufolge nicht die Oberhand gewinnen dürfe, wie er ihr gleich zu Beginn der Verbindung schrieb:

Du, mein Schatz, Du hast, obwohl Du Dich durchsetzen kannst und zäh bist, auch viel echte weibliche Sanftheit, Zartheit, Feinheit des Fühlens und Denkens. Glaub nicht, dass ich diese Eigenschaften des sich Durchsetzens, das allerdings vielleicht zur Härte wurde, nicht schätze. Aber ich würde Dich doch vielleicht nicht lieben, wenn Du nicht auch dieses echt Weibliche hättest.9

Trotz der Reibereien und der großen Charakterunterschiede unterstützten sie sich in den zehn gemeinsamen Jahren gegenseitig. Einfach waren diese Jahre nicht. Und Jo hatte kein Glück mit ihren beiden Männern: Theo starb mit 33, Johan mit 38 Jahren.

Darüber hinaus gab es noch zwei andere interessante Wege, die Jo im Laufe ihres Lebens bewandelte. Das war zunächst einmal ihre Arbeit als Lehrerin und Übersetzerin. Nach der weiterführenden Schule absolvierte sie eine Ausbildung zur Englischlehrerin und unterrichtete eine Zeit lang an verschiedenen Mädchenschulen in den Niederlanden. Danach entwickelte sie sich zu einer respektierten Übersetzerin von Romanen und Geschichten, die in Zeitungen und Zeitschriften wie De Amsterdammer, De Kroniek und Belang en Recht veröffentlicht wurden. Die Ausbildung, die Arbeit als Übersetzerin, der Lehrerberuf und ein permanenter kultureller Hunger trugen zu ihrer Bildung und geistigen Entwicklung bei, die mehr oder weniger mit der ersten Welle der Frauenbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammenfielen.

Der zweite Weg führte sie in die sozialistische Bewegung. Schon früh in ihrem Leben wies Jo einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn auf, der nicht zuletzt durch ihre Erziehung angefacht wurde. Sie war sozial eingestellt und optimistisch bezüglich der Vervollkommnung des Menschen und der Gesellschaft sowie einer neuen Rolle der Frau darin. Über lange Zeit hinweg war sie deshalb in der Sociaal-Democratische Arbeiderspartij (sdap) und der Frauenbewegung aktiv und schrieb Rezensionen für die gemäßigt feministische Zeitschrift Belang en Recht.

Ihr Sohn Vincent, der später ein Studium der Ingenieurwissenschaften absolvieren sollte, war der Einzige, den sie letztlich bedingungslos lieben konnte ‒ eine Liebe, die ihn bisweilen gehörig einengte und der er sich nur mit viel Mühe entziehen, die er jedoch in späteren Jahren relativ gut ertragen konnte.10 Mit ihm und seiner Frau Josina Wibaut pflegte Jo einen vertrauten und intensiven Umgang. Ihre Enkelkinder bereiteten ihr am Ende ihres Lebens viel Freude. »Als sie älter wurde, mochten junge Leute sie gern, und sie mochte sie auch«, schrieb Vincent über ihre Rolle in dieser letzten Phase, in der sie es ein wenig ruhiger angehen ließ: »Sie genoss einfache Dinge, und sie war stets ihrer Gesellschaft wert.«11 Innerhalb der Verwandtschaft galt Jo daher auch als »nette Tante«.12 Obwohl sie sich in diesen Jahren etwas mehr Ruhe gönnte, verhandelte sie dennoch weiter über das Werk van Goghs und verkaufte es auch weiterhin. Daneben war sie voller Hingabe damit beschäftigt, seine Briefe ins Englische zu übersetzen, und suchte emsig nach einem Verleger dafür. Sie hatte bereits zwei Drittel der Briefe übersetzt, als sie 1925 im Alter von 62 Jahren starb.

Ein Amsterdamer Mädchen

»Weißt Du schon, dass Theo verlobt ist und ziemlich bald ein Amsterdamer Mädchen heiraten wird?«, schrieb Vincent van Gogh im Januar 1889 an seinen Malerkollegen Arnold Koning in Winschoten. Er deutete an, dass dies vielleicht auch der Grund sein könnte, weshalb sein jüngerer Bruder mit dem Kopf nicht so ganz bei der Sache war. »Von Deinen (ich glaube) an Theo geschickten Studien habe ich trotz meines Drängens, eine mit Dir zu tauschen, rein gar nichts gesehen. Liegt das an Theo, der möglicherweise andere Dinge im Kopf hatte, oder an der nicht unbeträchtlichen Entfernung zwischen uns.«13 Vincent hatte Jo noch nicht getroffen ‒ das sollte erst später geschehen ‒, doch Theo hatte ihm bereits ausführlich von ihr berichtet, als er Vincent Ende Dezember 1888 im Krankenhaus von Arles besuchte. Seite an Seite hatten sie im Bett gelegen und sich unterhalten, so, wie sie es seit ihrer Kindheit in Noord-Brabant häufig getan hatten. Theo hatte es seiner Mutter erzählt, die sogleich zärtlich darauf reagierte: »Wie rührend von Zundert, zusammen auf einem Kissen.«14

Ein paar Tage später informierte Theo auch Jo über Vincents Situation. Es ist der erste Brief, in dem er sie am Schicksal seines Bruders teilhaben lässt. Aufmunternd waren die Nachrichten nicht gerade. Ausgerechnet der Bruder, der sich so sehr gewünscht hatte, dass Theo Jo heiratete, konnte dies ‒ als es erst einmal so weit war ‒ nicht in vollem Umfang miterleben, weil er geistig verwirrt war.

Im vergangenen Jahr hat er so oft darauf gedrängt, dass ich versuchen sollte, Dich zu meiner Frau zu machen, dass ich weiß, dass er unter anderen Umständen, wenn er gewusst hätte, wie wir zusammen waren, seine volle Zustimmung gegeben hätte. Du weißt es, nicht wahr, wie viel er für mich war & das, was an Gutem in mir sein kann, von ihm herangezogen & ermuntert worden ist. Ich wäre sehr glücklich gewesen, wenn er noch lange, auch wenn wir zusammengelebt hätten, aus der Ferne oder nahebei derselbe Ratgeber & Bruder im vollsten Sinn des Wortes für mich & auch für Dich geblieben wäre, diese Hoffnung ist nun verflogen & unser beider Leben hat dadurch verloren.

Eine zutiefst traurige Situation, und Theo setzte nun alles daran zu verhindern, dass die Menschen Vincent später als verrückt oder gestört betrachten würden. Er ging davon aus, dass Jo genauso darüber dachte:

Wir werden sein Andenken in Ehren halten, nicht wahr, Liebes? denn jetzt schon spüre ich an den Briefen von zu Hause, dass alle außer Wil [Willemien] unter ihren Worten des Mitleids kaum ihre Gedanken verbergen, dass er eigentlich immer ein Wahnsinniger war.15

Es ist eine aufschlussreiche Passage, die sich im Nachhinein fast wie ein zwingender Aufruf liest, ein Aufruf zu einem gemeinsamen Bündnis, einem Pakt gegen die Welt, zu der in dem Fall auch die eigene Familie gehörte. Es ging darum, Vincents Andenken zu bewahren und zu schützen. Theo spürte, wie entscheidend und notwendig dieser Vorsatz war, doch er sollte vor allem für Jo weitreichende Folgen haben. Dadurch war ihr Schicksal für immer besiegelt. Während das Glück ihres Sohnes unvermindert Priorität besaß (»Ich habe nur ein Ziel ‒ ihn gesund und glücklich zu machen ‒ soweit ich es kann«),16 kam unmittelbar nach Theos Tod noch ein zweites Ziel für sie hinzu: die Sorge um den künstlerischen Nachlass ihres Schwagers Vincent. Der Titel der niederländischen Biografie, Alles voor Vincent, bezieht sich deshalb auch auf diese doppelte Lebensaufgabe ‒ und darin schwingt außerdem stets ein »Alles für Theo« mit.

Das Amsterdamer Mädchen von der Weteringschans war eine intelligente Frau, die ein Leben lang darum rang, zur Selbsterkenntnis zu gelangen. Sie wollte ein edler Mensch sein und war empfänglich für Mängel, die sie an sich selbst wahrnahm. Sie hatte dunkelbraune Augen, ein etwas orientalisch anmutendes, rundes Gesicht und dunkles Haar, und sie war kaum 1,60 Meter groß. Auch ihre Ehemänner Theo und Johan waren eher klein geraten.17 Sie mochte Kleidung, bei der »farbliche Harmonie herrscht«, und trug lange Röcke, die ihre Füße verbargen. Jo stand mit dem nötigen Ernst im Leben, Humor war ihre Sache nicht. Freunden zufolge war sie eine gute Schachspielerin, ließ nur selten den Kopf hängen, war klug, sensibel und umgänglich, und sie verwöhnte ihre Pensionsgäste.18 Ihre Freundschaften waren innig, und sie verfügte über ausgeprägtes Verantwortungsgefühl. Sie bürdete sich eine Menge Aufgaben und Verpflichtungen auf, vor allem, was die Erziehung Vincents betraf. Jos Charakter war eine Mischung aus Bescheidenheit ‒ des Öfteren beschrieb sie sich als still und in sich gekehrt ‒ und Aufmüpfigkeit mit einem starken Hang zu Unabhängigkeit. Vor ihrer Ehe war sie unsicher gewesen, etwas verträumt und hatte eine starkes Bedürfnis nach Führung und Anleitung gehabt. Nach 1891, als sie plötzlich allein dastand, machte diese Unausgeglichenheit rasch einer Entschlossenheit und einem energischen Auftreten Platz. Obwohl sie auf den Beistand und die Unterstützung ihres Umfelds zählen konnte ‒ und sie auch rückhaltlos annahm (in verschiedenen Momenten ihres Lebens wusste sie sich durch einflussreiche Personen an ihrer Seite gestärkt) ‒, traf sie, soweit es die damalige Etikette zuließ, ihre eigenen Entscheidungen. Darin war sie hartnäckig und resolut.19 Das Fundament für all das wurde wie im Leben eines jeden in ihrer Kindheit gelegt.

Forschungsquellen

Eine Biografie zu schreiben bedeutet, sich ausgiebig mit den Lebensspuren eines Menschen zu beschäftigen, und dabei fällt es oft schwer, die genauen Umstände in Erfahrung zu bringen. Eine solche Beschreibung ist nicht nur ein Versuch, die betreffende Person wieder zum Leben zu erwecken, sondern auch eine Entdeckungsreise. Was jemand tut oder lässt, welche Motive und Beweggründe sich dahinter verbergen ‒ all das sind Aspekte, die sich unseren Blicken häufig entziehen. Selbstverständlich bietet eine umfassende Quellenlage Halt bei der Rekonstruktion der sichtbaren wie unsichtbaren Dinge. Ich konnte über zahlreiche Briefe, Tagebücher Jos, Fragmente aus den Tagebüchern ihres Sohnes Vincent, einige Haushaltsbücher, ein Kassenbuch, Dutzende Fotos, ihre eigenen Veröffentlichungen und Übersetzungen in verschiedenen Tages- und Wochenzeitungen sowie über diverse schriftliche Augenzeugenberichte verfügen. Doch wie viel Gewissheit lässt sich getrockneter Tinte entnehmen?20

Dass man mit solchen Quellen vorsichtig umgehen muss, liegt auf der Hand. Jo warnte bereits selbst davor, als ihr ungefähr in der Mitte ihres ersten Tagebuchs klar wurde, wie sie bis dahin über sich geschrieben hatte: »Ich wette, dass, würde jemand dieses Buch einmal durchblättern, er einen falschen Eindruck von meinem Charakter bekäme.«21 Und, noch niederschmetternder für einen Biografen: »Vom wirklichen Zustand meiner Seele und meiner Gefuhle schreibe ich nie.«22 Dennoch kann dies kein Grund sein, die Entdeckungsreise aufzugeben. Schließlich bleibt noch genug übrig. Jos Tagebücher enthalten sehr viele Einträge, die direkt von Herzen kommen, und bedeutungsschwer bezeichnete sie 1881 deren Inhalt als den »Spiegel meines Gemütslebens«.23 Es fällt auf, dass sie in ihrer Jugend häufig Selbstkritik übte.

Die vier Tagebücher, verfasst zwischen ihrem 17. und dem 34. Lebensjahr (vom März 1880 bis zum Mai 1897, manchmal mit langen Pausen dazwischen), geben einen guten Einblick in ihr Denken und Handeln. Seit Kurzem lassen sie sich in einer digitalen Ausgabe in ihrem vollen Umfang einsehen.24 In einer gleichmäßigen Handschrift geschrieben und über Hunderte von Seiten verstreut wechseln sich ernsthafte Überlegungen mit Trivialitäten ab. Jo schrieb über Menschen, mit denen sie Umgang hatte, über ihre Verwandten, Freunde, Dozenten, aber auch über die Pfarrer, deren Gottesdienste sie besuchte. Sie reflektierte in ihrem Tagebuch, was sie las, und beurteilte die Konzerte und Vorstellungen, die sie besuchte. Das Schreiben stärkte ihr Selbstbewusstsein. Auch munterte es sie hin und wieder auf, bestimmte Passagen noch einmal zu lesen. Stets versuchte sie, die Triebfedern und Ambitionen ihres Lebens, ihre Scham, ihre Enttäuschungen, ihre Sehnsüchte und ihre Verliebtheiten in Worte zu fassen. Auf die Weise zeichnen die Tagebücher ein gewissenhaftes Selbstporträt, auch wenn es notgedrungen fragmentarisch bleibt. Welche Bedeutung es darüber hinaus haben könnte, wurde ihr im Februar 1892 nur allzu deutlich klar:

Ich habe nun mein Tagebuch ergänzt und werde es im Weiteren treu weiterführen. Das Kind muss später wenigstens über das Leben seiner Mutter urteilen können ‒ was sie gedacht, gefühlt und gewollt hat. Ihr Tagebuch und die Briefe seines Vaters und seines Onkels ‒ damit kann er ihr Leben aus dem Vergangenen wiederaufbauen.25

Zweifellos haben ihre Aufzeichnungen auch für Vincent diese Funktion gehabt ‒ für seine Ausgabe der Verzamelde brieven van Goghs sollte er jedenfalls später einige Passagen daraus verwenden.26 Auch er führte Tagebuch, das gleichfalls eine wichtige Quelle für diese Biografie darstellt, weil sich daraus vieles über die Beziehung zu seiner Mutter und wie er über sie dachte, ablesen lässt.

Neben den Tagebüchern stellen auch Briefe eine entscheidende Quelle für die Rekonstruktion von Jos Lebens dar. Es sind Hunderte von ihnen erhalten geblieben, Briefe von Freunden, Freundinnen, ihren Eltern, ihrem Bruder Andries, Theo, ihrem Sohn Vincent und vielen anderen sowie Briefe, die sie geschrieben hat. Die meisten von ihnen befinden sich im Van Gogh Museum. Gelegentlich kann die Sammlung noch um bemerkenswerte Neuzugänge bereichert werden. So fügte ihr das Vorstandsmitglied der Vincent van Gogh Foundation Sylvia Cramer im Mai 2008 einen überraschenden Posten hinzu: 102 unveröffentlichte Briefe des Künstlers Isaac Israëls an Jo, darunter dreizehn Postkarten und zwei Ansichtskarten. Die Briefe waren all die Jahre im Besitz der Mutter Sylvias, Mathilde Cramer-van Goghs, gewesen, der Tochter Vincents und Enkeltochter Jos. Heute gehören sie zur Sammlung der Vincent van Gogh Foundation. Die Briefe sind in der Mehrzahl undatiert, umfassen den Zeitraum Februar 1891 bis Januar 1924 und enthüllen eine kurze, aber intensive Beziehung, die dem breiten Publikum bis heute unbekannt war.27 Das Verhältnis zwischen Isaac und Jo begann als Freundschaft, wurde eine Weile zur Liebesbeziehung und entwickelte sich später erneut zu einer festen Freundschaft. Die Briefe Jos an Isaac sind, soweit bekannt, nicht überliefert.

Wichtig für eine gute Einschätzung der frühen Jahre Jos sind vor allem die Briefe, die ihr Bruder Andries an ihre Eltern schrieb und die auch sie zu lesen bekam. Sie zeigen, womit man in der Familie beschäftigt war und welche Themen man relevant fand: Alltägliches wie Nahrung, Kleidung und Körperpflege, aber auch hehrere Dinge wie die Pflege sozialer Kontakte und die Förderung künstlerischer und intellektueller Bildung durch Literatur, Musik sowie Museums- und Theaterbesuche. Jo war neugierig und las viel. Nicht nur zum Vergnügen und um sich abzulenken, sondern auch, weil es für sie von Kindesbeinen an eine innere Notwendigkeit war. Ideen und das Handeln von Romanfiguren, die sie sympathisch fand, boten ihr immer wieder Halt.

Den intimsten und intensivsten Briefwechsel unterhielt Jo jedoch mit Theo. Der größte Teil datiert aus ihrer Verlobungszeit und ein weiterer aus der Zeit, in der sie verheiratet waren. Dabei handelt es sich um insgesamt 101 Briefe. Bis heute ist von Jos Briefwechseln lediglich dieser eine, der zwischen Theo und ihr, in Buchform erschienen ‒ wegen des spannenden und ergreifenden Inhalts, aber auch, weil sich darin die letzten tragischen Jahre im Leben Vincents größtenteils nachverfolgen lassen.28 Obwohl viele persönliche Briefe Jos überliefert sind, ist der überwiegende Teil ihrer Korrespondenz geschäftlicher Natur. Im Laufe der Zeit weitete sich der Kontakt zu Ausstellungsmachern, Kunsthändlern und Verlegern immer mehr aus, und die Stapel an ein- und ausgehender Korrespondenz wuchsen beständig.

Vieles ist erhalten geblieben, aber sicher nicht alles. Auch durch Jos eigenes Zutun, wenn wir ihrer energischen Aussage aus dem Jahr 1889 Glauben schenken dürfen. Es war im Januar, sie bereitete sich auf ihren Umzug nach Paris vor und schrieb Theo: »Du musst wissen, dass ich immer die Manie gehabt habe, Briefe, die mich einigermaßen interessierten, aufzubewahren, aber jetzt muss ich doch endlich anfangen, sie wegzuwerfen.«29 Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie es auch getan hat. Doch selbst, wenn es nicht so sein sollte, wusste ihr Sohn Rat damit ‒ so geht es jedenfalls aus den Quellen hervor, denn eine Passage aus Vincents Tagebuch (einige Jahrzehnte später) enthüllt einen noch sehr viel drastischeren Anfall von Aufräumwut:

Stieß auch auf einen Karton mit Briefen meiner Mutter, von Jo und von mir aus der Zeit vor 1920 und manche noch danach. Es war alles persönlich mit wenig allgemeinen Dingen, zum Teil vom Zensor geöffnet. Ich habe das ganze Paket in meinem Zimmer im Herd verbrannt ‒ auch ohne sie alle noch einmal zu lesen.30

Aus der letzten Lebensphase Jos sind bedeutend weniger Briefe bekannt, weil sie und ihre Angehörigen zu der Zeit nahe beieinanderwohnten und das Telefon inzwischen seinen Einzug gehalten hatte.31

Neben den Tagebüchern und Briefen enthält auch das bereits erwähnte Kassenbuch unverzichtbare Informationen über Jos Leben.32 Das Kassenbuch führt die Institutionen und Personen auf, denen sie Werke van Goghs verkaufte, aber auch die Beträge, die sie für Gemälde und Zeichnungen bekam, hielt sie darin ziemlich genau fest, sodass sich hier auch die gigantische Preissteigerung, die das Werk im Laufe ihres Lebens erfuhr, gut nachverfolgen lässt. Dennoch kann Jos Kassenbuch nicht als einzige Quelle für diese Biografie dienen, denn es gab natürlich auch Ausstellungen, auf denen sie nichts verkaufte bzw. auf denen von vornherein nicht verkauft wurde. Für das vorliegende Buch bin ich daher von allen Van-Gogh-Ausstellungen ausgegangen, an denen Jo mitgewirkt hat, habe also nicht nur jene, auf denen sie etwas verkaufte, betrachtet. Für diese Rekonstruktion von Ausstellungen konnte ich mich auf die ausführliche Dokumentation und die Literatur in der Bibliothek des Van Gogh Museums stützen. Das bedeutet, dass in den folgenden Kapiteln Beispiele beider Kategorien, also sowohl Verkaufsausstellungen als auch »gewöhnliche« Ausstellungen, zur Sprache kommen. Dabei wurde jedoch in keiner Weise Vollständigkeit angestrebt. Von den zahlreichen Ausstellungen, für die Jo ihre Sammlung zur Verfügung stellte, bespreche ich nur die markantesten und bemerkenswertesten. Auch von ihren Kontakten zu privaten Interessenten habe ich mir nur die auffallendsten näher angesehen. Ausstellungen konnten für Jo aus verschiedenen Gründen wichtig sein: Manchmal überzeugten sie die künstlerische Auffassung und die Ideale der Veranstalter, oder eine internationale Ausstrahlung gab den Ausschlag. Bei anderen Gelegenheiten handelte sie hauptsächlich aus sozialen Beweggründen.

In dieser Lebensbeschreibung werde ich zeigen, wie Jo vorging, welche Wege sie beschritt und welche Entscheidungen sie traf bzw. mit wem sie Kontakt hatte ‒ kurzum: wie es ihr gelang, die Aufgabe, der sie sich gestellt hatte, zu meistern. Dass sie nebenher noch einen Alltag mit Pensionsgästen, Dienstmädchen, einem heranwachsenden Sohn, Eltern, Brüdern und Schwestern, Freunden, Büchern, Haustieren und einem Garten voller Blumen hatte, wird in den folgenden Kapiteln ebenfalls ausgiebig zur Sprache kommen. Und sei es allein deshalb, weil Jo gerade die intimen Details in Lebensbeschreibungen so schätzte. Zu einer Biografie von George Eliot merkte sie beispielsweise in ihrem Tagebuch an, dass darin zwar alles Mögliche über die intellektuelle Beziehung zwischen Eliot und deren Ehemann George Henry Lewes stehe, aber leider nicht mehr Einzelheiten, nichts über das Besondere ihres Verhältnisses: »Etwas aus dem alltäglichen Leben ‒ die kleinen, vielsagenden Charakterzüge fehlen.«33 Für sie war es deutlich eine verpasste Chance.

Jo blieb ihr Leben lang eine leidenschaftliche Leserin und Liebhaberin von Biografien. Schon auf einem ihrer frühesten Porträtfotos sieht man sie mit einem Buch auf dem Schoß.

I Gediegenes Bürgertum ‒ die Bongers 1862‒1888

Wie wäre es denn mit Ihnen, Enid Parker?

Mächten Sie Ihre voluminösen Röcke raffen

und im Damensattel auf dem Horn reiten

und mir erzählen, was zwischen 1863 und 1931 geschah?

‒ Billy Collins1

1 Eine sorglose Kindheit und Jugend in einer harmonischen Familie

Der 4. Oktober 1862 war ein windstiller Tag, die Temperatur lag um die 16 Grad. Um halb zwei in der Nacht wurde Johanna Gezina Bonger in der Amsterdamer Egelantiersgracht 504 geboren. In einer Anzeige im nrc hieß es, dass Hermine Louise Weissman und Hendrik Christiaan Bonger jun. »durch Gottes Güte« ein gesundes Mädchen bekommen hätten. Zwei Tage später zeigte ihr Vater (zu dem Zeitpunkt Kommissionär und 34 Jahre alt) beim Standesamt die Geburt seiner Tochter an. In der Familie sollte sie »Jo« bzw. »Net« gerufen werden. Sie wurde nach ihrer Tante, der Junggesellin Johanna Gezina Weissman, der Schwester ihrer Mutter, benannt. Ihren zweiten Namen Gezina fand Jo selbst äußerst hässlich und ließ ihn daher auch immer weg.1 Pfarrer Willem Moll, Professor für Kirchengeschichte, taufte sie am 2. November in der Nieuwe Kerk.

Ein Notizbuch vermerkt, dass sie die üblichen Kinderkrankheiten hatte, unter anderem Windpocken, Keuchhusten und Masern.2 Ein Jahr nach ihrer Geburt, am 24. September 1863 ‒ ihrer Mutter zufolge war Jo zu dem Zeitpunkt »ein engelhaftes Würmchen« ‒ ließen Hendrik und Hermine Bonger sich mit ihrer Familie in Zeist auf dem Zusterplein nieder.3 Hendrik war einer von drei Direktoren der Algemeene Brandwaarborg- & Verzekeringsmaatschappij Ultrajectum. Er war »Liquidator« und kümmerte sich um die Abwicklung bei Unternehmensaufgaben. Doch Ultrajectum ging es nicht gut, denn im Jahr 1865 beschloss man auch die Liquidation des eigenen Unternehmens.4

1. Hermine Bonger-Weissman mit ihren Töchtern: Jo (neben ihr), Lien und Mien, ca.1869.

Anschließend kehrte die Familie nach Amsterdam zurück.5 Hendrik war 37 Jahre alt, Hermine 34. Die beiden hatten inzwischen sechs Kinder und fanden eine Bleibe in der Keizersgracht 320.6 (Abb. F2) Vater Bonger wurde nun Redakteur und Herausgeber bei der Zee-post, einer täglich erscheinenden Zeitung mit internationalen Schiffsmeldungen.7 Im Jahr 1866 zogen sie um in die Weteringschans 159a. Dort, damals noch am Stadtrand, wohnten sie zwölf Jahre und zogen dann ein paar Türen weiter in die Nummer 121, ein Haus, das dem Weteringplantsoen gegenüberlag. Ab 1895 lautete ihre Adresse Weteringschans 89, die sich auf der Höhe des 1885 eröffneten Rijksmuseums befand.8

Für ein Kinderporträt hat der Fotograf Jo auf einen Tisch gesetzt. Sie stellt die Füße auf den Stuhl und hält ein Bilderbuch in der Hand (Abb. F3). Während derselben Sitzung in der Spiegelstraat ließ sich auch Hermine mit ihren drei Töchtern ablichten. Jo hielt dabei ihren Kopf ein wenig schräg (Abb. 1). Nicht alle Familienmitglieder sollten verewigt werden, denn bereits in jungen Jahren wurde Jo mit dem Tod konfrontiert: Vor ihrem siebten Lebensjahr hatte sie bereits drei Brüder verloren.

2. Jo Bonger, ca. 1876.

Von ihrer Grundschulzeit verbrachte sie ein Jahr auf der Tesselschadeschool in der Plantage Muidergracht, einer Openbare Burgerschool für Schüler von sechs bis 13 Jahren. Christina Louisa Theunissen leitete dort die zweite Klasse. »Nie bin ich so verdorben worden wie da«, so Jo im Rückblick auf diese Zeit.9 Außerdem besuchte sie die »Französische Schule«, eine allgemeinbildende Schule zum Zweck einer breiten Bildung einschließlich der französischen Sprache. Ihr ältester Bruder Henri notierte in einem Kalender mit Geburtstagen den Namen Eugenie Petit, zu der Jos Sohn später anmerkte: »Die Töchter H.C. Bongers jun. waren auf der ›Französischen Schule‹ von Fräulein Petit.« Eugenie Charlotte Petit schrieb das Gedicht »Op de reize door dit leven« (Auf der Reise durch dieses Leben) in Jos Poesiealbum. Jo war damals 14 Jahre alt und sollte bald darauf zur Hogere Burgerschool, einer Höheren Schule, wechseln. Diese französischen Mädchenschulen hatten das Ideal einer verheirateten Frau und Mutter zum Ziel. Doch für manche Schülerin waren sie das Sprungbrett in den Lehrerberuf.10 Das galt auch für Jo, die in der Schule gut mitkam. Aus dieser Zeit ist ein Porträtfoto erhalten geblieben, das sie mit einem perfekten Mittelscheitel zeigt.11 (Abb. 2)

Das Poesiealbum hatte sie 1876 begonnen. Ihre Eltern schrieben ihr als Erste einen Eintrag.12 Der Vater zitierte ein paar Zeilen von Lord Byron: »Ja, Liebe ist ein Himmelsstrahl / Des ew’gen Lichts, von Gott verliehn, / Ein Funken, um vom Erdenthal / Den niedern Sinn emporzuziehn« mit der dazugehörigen Botschaft: »Lass Dich von der darin ausgedrückten Wahrheit tief durchdringen, dann wirst du den behaglichen inneren Frieden kennenlernen, der für den Menschen ein nicht hoch genug zu bewertender Schatz ist.«13 Die Mutter kopierte das Gedicht »Jonge roeping« (Frühe Berufung) des damals populären Dichters P.A. de Génestet, das von frischer Lebenslust handelt, die einem Herzen entspringt, das »in Gott ruht«.14 Beide Eltern verweisen in ihren Beiträgen auf die Kraft himmlischer Unterstützung, die zu innerer Ruhe führen kann. In dieser Lebensphase Jos war anscheinend noch alles in Ordnung, doch später sollte es mit ihrer Gemütsruhe so manches Mal nicht weit her sein.

Im Jahr 1885 charakterisierte Jo ihren Vater folgendermaßen: »Mein lieber Vater ist, was man sehr liberal nennt, aber ein echt frommer, religiöser Mann, der die göttliche Lehre: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹ nicht nur mit den Lippen, sondern mit Taten bekennt.« Und sie sprach von ihrer »lieben, guten Mutter mit ihrem grenzenlosen, kindlichen Vertrauen«.15 Diese Eigenschaften, die ihre Eltern auf die Kinder übertragen hatten, fasste sie einige Jahre später auch für ihren zukünftigen Ehemann Theo van Gogh in Worte:

Pa hat etwas zunehmend Solides in seinem Charakter, etwas, das Ma ganz und gar abgeht. Sie gibt sich einzig ihrem Gefühl hin, und da dies bei ihr besonders fein entwickelt ist, kann sie beruhigt darauf vertrauen, weil es ihr immer das Gute eingibt, dennoch wäre sie dort, wenn sie allein dastehen müsste, so nicht gekommen.

An verschiedenen Familienmitgliedern nage, wie sie andeutete, die »Willensschwäche«, auch an ihr, aber vor allem an ihrem Bruder Andries:

Er will etwas ‒ doch ihm fehlt die Kraft, die sein Vater hatte ‒ um es zur Ausführung zu bringen ‒ und das Sensible, das er von seiner Mutter hat, führt dazu, dass er sich alles viel zu sehr zu Herzen nimmt und unter dem leidet, was ihm fehlt ‒ und gerade weil ich etwas Ähnliches in mir spüre, habe ich immer so viel Angst, dem nachzugeben. Das hat mich immer dazu getrieben, meinen eigenen Weg zu suchen, von zu Hause wegzugehen, unabhängig zu sein, denn ich spürte, dass, wenn ich nicht die Kraft, die in mir war, benutzte, nicht ein bisschen härter würde ‒ dann käme nichts von dem nach außen, was in mir war.

Theo reagierte darauf, ergänzte es und entdeckte bei Jo durchaus auch »etwas Moderneres, etwas Revolutionäreres, wenn man so will«.16 Die hier genannten Charaktereigenschaften manifestierten sich später: die Verhärtung, als sie sich gegen allerlei Kunsthändler und Käufer der Werke van Goghs zur Wehr setzen musste, und das Revolutionäre, als Jo sich voller Überzeugung den Sozialisten anschloss.

Ihre jungen Jahre waren paradiesisch. So blickte sie zumindest in ihren Zwanzigern darauf zurück, nachdem sie in London die Foundling Church besucht hatte und dort vom Schicksal der Waisenkinder berührt worden war, die ein »happy home« entbehren mussten. Sie selbst war ungewöhnlich anhänglich. Bis zu ihrem 22. Lebensjahr wurde sie an ihrem Geburtstag immer zuerst von ihrer Mutter geküsst, darauf folgten die herzlichen Umarmungen ihrer Brüder und Schwestern ‒ ihr Vater war um sieben Uhr bereits zur Arbeit gegangen.17 In der harmonischen Familie hatte Jo eine unbekümmerte Kindheit und Jugend. Später schrieb sie, dass sie als Kind die Sonntage so sehr geliebt habe, weil sie bei ihnen zu Hause so schön und gemütlich gewesen seien.18

In der Zeit, in der Jo aufwuchs, zählte Amsterdam etwa 265.000 Einwohner. Die Gegend um die Weteringschans war noch halbwegs ländlich geprägt, doch ab 1875 änderte sich viel: Die Vondelstraat und die P.C. Hooftstraat wurden angelegt, und das Straßennetz breitete sich rasch aus. Die Stadt bekam einen immer großstädtischeren Charakter. Die industrielle Revolution und der moderne Kapitalismus setzten sich zunehmend durch. Ab Mitte des Jahrhunderts hatte sich als eigene Schicht der Mittelstand herausgebildet. Parallel dazu entwickelten sich Ausbildung, berufliche Qualifizierung und Handelsunternehmen. Im Jahr 1876 wurde der Nordseekanal eröffnet, neun Jahre später das Rijksmuseum an der Stadhouderskade, 1888 das Concertgebouw, kurz darauf der neue Bahnhof Amsterdam-Centraal und 1895 das Stedelijk Museum. Die städtische Verkehrsgesellschaft Amsterdamsche Omnibus Maatschappij nahm den Betrieb einer Pferdestraßenbahnlinie Leidseplein‒Plantage auf. Um 1890 prägten rund 9.000 Handkarren und zahlreiche Drehorgeln das Straßenbild. Viel wurde zu Fuß erledigt.19

Jo war ein echtes Stadtkind. Das wurde ihr im März 1892 bewusst, zusammen mit ihrem zweijährigen Sohn Vincent im Bussumer Garten: »Was ist das neu für mich ‒ die Vögel, die Blumen, die Pflanzen ‒ ich merke erst jetzt, dass ich in einem Obergeschoss in der Stadt aufgewachsen bin und nie, nie im Freien gewesen bin!«20 »Im Freien«, das war für sie der Vondelpark gewesen, eröffnet, als sie drei Jahre alt war. Der größte Teil des Parks, entworfen von L.P. Zocher, entstand zwischen 1875 und 1877. Im Rückblick auf ihre sorglosen frühen Jahre musste sie wieder an die abendlichen Spaziergänge im Park, Arm in Arm mit Andries, denken.21

Jos Eltern und die Familie

Jo war das fünfte Kind Hendrik Christiaan Bongers (5. Januar 1828 bis 28. April 1904) und Hermine Louise Weissmans (19. Februar 1831 bis 18. Juni 1905). Die beiden gaben sich am 5. Juli 1855 das Ja-Wort, und ihre Heirat ging nicht unbemerkt vonstatten: Es waren mehr als hundert Personen gekommen, um ihnen zum Aufgebot zu gratulieren.22 Pfarrer Louis Meijboom führte in Sloterdijk die kirchliche Trauung durch. Hendrik war der Sohn des Buchhalters Hendrik Christiaan Bonger und Carolina Sabels. Als Elfjähriger hatte Hendrik mit seinem Vater noch die Gottesdienste des Schriftstellers und Pfarrers Nicolaas Beets besucht, was ihn stark beeindruckte. Als er Beets 1880 zu dessen 40-jährigem Amtsjubiläum gratulierte, schrieb er ihm, dass er sich noch an seine erste Predigt erinnern könne.23 Bei den Eltern Hermines handelte es sich um den Weinhändler Gerrit Weissman und Hermina Drinklein; ihre einzige Schwester war Johanna Gezina, und sie hatte zwei Brüder, Adriaan Willem und Gerrit.

3. Hendrik Bonger, undatiert.

Jos Vater absolvierte die Handelsschule und arbeitete von 1843 bis 1859 im Büro von Johannes Rahder Hzn.24 Dieser hatte zusammen mit Charles Faber Boissevain, Mitglied der Firma Boissevain & Kooy, Schiffsreedern und Kaufleuten die N.V. Maatschappij van Verzekering De Phoenix gegründet und war in diesen Jahren Eigner einiger Schiffe. Unter seinem Namen wurden unter anderem Kaffee und Pfeffer aus Padang und Indigo aus Batavia eingeführt.25 Die Tätigkeit in diesem Unternehmen dürfte Vater Bonger einige Jahre später zu seinem Beruf als Verlagsredakteur und Herausgeber der Zee-post geführt haben. Außerdem war er ab April 1885 Mitgesellschafter der Assekuranzfirma Brak & Moes, und von da an sah seine finanzielle Situation etwas rosiger aus. 1869 wurde er Geschäftsführer des Unternehmens.26 Die Familienmitglieder litten keinen Mangel, konnten aber auch nicht aus dem Vollen schöpfen. Bonger gehörte zur Mittelschicht, wirklich vermögend war er jedoch nicht. Er muss ein bedächtiger und sanftmütiger Mann gewesen sein: Auf einem Porträtfoto schaut er nachdenklich in die Kamera (Abb. 3).

Aber es wurde nicht nur gearbeitet. Bonger liebte Musik, und im Haus wurde viel musiziert. Er selbst spielte Altgeige in einem Streichquartett, dessen Zusammensetzung sich häufiger änderte. Neffe Willem Weissman erinnerte sich, dass sein Onkel mit dem Chirurgen A.A. de Lelie, dem Notar J.C.G. Pollones und dem Musiker Henri Viotta Quartette aufführte. Er durfte im Zimmer nebenan zuhören und wurde auf diese Weise mit Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert vertraut. Bonger war ein treuer Besucher der Konzerte der Maatschappij Caecilia; sein Neffe ging oft mit und, als sie das entsprechende Alter hatten, auch seine eigenen Kinder.27

An Musikinstrumenten und Musikunterricht wurde nicht gespart. Die Kinder Mien, Jo und Betsy spielten Klavier, Henri Cello, Wim Geige und Betsy sang. Andries spielte kein Instrument, besuchte jedoch öfter Konzerte. Musikalisch konnte es im Hause Bonger hoch hergehen. Lien schrieb im Oktober 1889 an Theo van Gogh: »Ich hoffe, dass Du das Gekritzel lesen kannst, aber sie sind so eifrig dabei, Musik zu machen, dass ich fast nicht dadurch hindurchschreiben kann.« Und Wim berichtete Jo am selben Tag: »Betsij ist so sehr damit beschäftigt, Do Re Mi zu singen, dass ich mich ständig vertue.«28 Der Vater bezahlte die Schulausbildungen seiner Kinder, und Verwandte kauften Bücher. Auch konnten sie sich kleine Ausflüge erlauben. Regelmäßig gingen sie ins Theater, zu Konzerten und in den Zoo, wo in der Artis Schouwburg (ab 1894: Hollandsche Schouwburg) Konzerte gegeben wurden. Und sie unternahmen gern Bootsfahrten auf der Amstel. Dennoch führten sie ein einfaches Leben. Bezeichnend ist etwa, dass 1889 eine geplante Bootstour nach Muiderberg nicht stattfand, als bekannt wurde, dass Jo in der zehnten Woche schwanger war. Mutter Bonger wollte das Geld dafür lieber für eine Fahrt nach Paris beiseitelegen, damit sie Jo, wenn es so weit war, bei der Entbindung beistehen konnte.29

Im täglichen Leben fand die Familie Anschluss beim Bürgertum. Daraus ergaben sich bestimmte Interessen und ein gewisses maßvolles Verhalten. Nach einem Paris-Besuch bei der Familie des prominenten Schriftstellers Conrad Busken Huet hatte man Andries den Roman Sara Burgerhart (1782) von Betje Wolff und Aagje Dekenmitgegeben. Seinen Eltern schrieb er: »Es wundert mich, dass wir, die uns doch etwas darauf zugutehalten, eine echte holländische Familie zu sein, deren Roman nie im Haus gehabt haben.« Das seien sie ihrem Stand doch schuldig. Er betrachtete dieses Versäumnis zugleich als Erziehungsversagen, denn er fügte feinsinnig hinzu, dass der Roman, in dem danach gestrebt werde, ein möglichst perfekter Bürger zu sein, im Elternhaus Frau Huets laut vorgelesen worden sei.30 Was die Bongers lasen, waren die Wochenzeitungen The Family Herald: A Domestic Magazine of Useful Information & Amusement sowie L’Illustration: Journal Universel, die breit über das Weltgeschehen informierten; möglicherweise besaßen sie ein Abonnement auf einen Lesezirkel.31 Und sie liebten Haustiere. So lief eine Katze im Haus herum, und sie hatten einen Hund, der Tommie hieß (Abb. 4). Jo war ebenso wie ihre Mutter verrückt nach Katzen und Hunden.

4. Hermine Bonger-Weissman mit der Katze im Arm. Tochter Betsy späht um die Ecke, undatiert.

Mutter Bonger taucht in sämtlichen Briefen und Erzählungen als eine einfache, fürsorgliche und hingebungsvolle Frau auf, die ungern untätig herumsaß. Sie zerbrach sich nicht den Kopf über große Themen, war heiter und lebenslustig.32 Sie zeigte viel Liebe, ging aber nicht wirklich vertraulich mit Jo um ‒ dafür gab es die Freundinnen und Schwestern. Obwohl sie die Schule besucht hatte, tat sie sich mit Sprachen schwer.33 Das Dienstmädchen und ihre beiden ältesten Töchter halfen ihr im Haushalt, der sehr gut in Schuss war. Jo wurde dabei merklich geschont, was bewirkte, dass sie später die größte Mühe hatte, ihren eigenen Haushalt zu führen. Im Hause Bonger ging man sparsam mit den Dingen um: 1903 benutzte die Mutter immer noch die zwölf Überschlaglaken, die sie 1855 zur Hochzeit bekommen hatte.34 Jos Sohn Vincent, der später Informationen über die Mitglieder der Familien Bonger und Weissman zusammentrug, bemerkte zur Generation seiner Mutter: »Je jünger die Kinder, umso mehr haben sie sich der dominanten Mutter entziehen können.«35

Die Familie hatte regen Kontakt zu den Mitgliedern der Familie Adriaan Weissmans, dem Bruder Hermines, der mit Wilhelmine Stoerhaan verheiratet war. Im April 1866 bezogen sie ein Obergeschoss in der Weteringschans 147. Ihr Sohn Willem war regelmäßig bei den Bongers zu Gast. Er war der Junge, der es so genossen hatte, den Streichquartetten von Jos Vater zuzuhören und zumindest bis 1914 zu Jo Kontakt hielt ‒ als Architekt entwarf er unter anderem das Stedelijk Museum in Amsterdam sowie eine Reihe imposanter Wohngebäude.36

Die Geschwister

Jos älteste Schwester Carolina (»Lien«; 27. Oktober 1856 bis 5. Januar 1919) klebte an ihrer Scholle und war eine gut gelaunte, zufriedene Frau, die vornehmlich mit Haushaltsdingen beschäftigt war (Abb. 5). Diese Aufgabe war ihr wie auf den Leib geschneidert. Jo zeichnete 1889 folgendes Bild von ihr: »Henri, Lien und Mien finden sich damit ab, so zu sein, wie sie sind ‒ bei Lien ist das in Ordnung, denn sie ist jemand, für die anderen nicht.«37 In ihren Briefen zeigt sich Lien als eine kluge Frau, die im täglichen Klein-Klein aufging. Alle profitierten davon, dass sie eine versierte Schneiderin war. Mit ihrem Bruder Henri ruderte sie, und sie las gern. Zu Jos Poesiealbum trug Lien das Gedicht »Look aloft« (Sieh empor) von Jonathan Lawrence bei. Sie fürchtete sich so sehr vor Gewittern, dass es ihr den Appetit verschlug.38 Während Jos Zeit in Paris brachte Lien viel Empathie für sie und Theo auf. Jo ihrerseits sah Lien in Gedanken »fortwährend in ihrem grauen Baumwollkleid mit dem kleinen Hut mit den Gänseblümchen«.39 Über das Verhältnis der beiden Schwestern nach Jos Rückkehr in die Niederlande ist wenig bekannt. Lien war allerdings ganz vernarrt in ihren Neffen Vincent ‒ mit dem Geburtstelegramm war sie hinaus auf die Straße und zu ihrem Vater gerannt.40 Sie selbst blieb unverheiratet.

5. Lien Bonger, undatiert.

Auch die zweite Schwester, Hermina Louize (»Mien«; 27. April 1858 bis 15. Juli 1910) war Junggesellin und half im Haushalt mit (Abb. F4). In der Anfangszeit ihrer Ehe brachte Jo in den Briefen an ihre Schwester Haushaltsprobleme zur Sprache, die sich auf Seifenlauge und Mattenausklopfen bezogen.41 Mien reiste kaum; die Ausnahme waren eine Fahrt nach Kleve im Jahr 1887 und eine Reise nach Paris 1889, als sie Jo im Wochenbett half. Sie liebte es auszugehen, und es kam vor, dass sie drei Tage in Folge Wagner-Aufführungen besuchte.42 Mien war musikalisch, eine flotte Briefschreiberin, sie las gern und tauschte Bücher mit Jo.43 Jo und Mien pflegten einen vertraulichen Umgang.44 Jo nannte sie zärtlich »Minnie« oder »Minkie«, umarmte sie auf dem Papier ein ums andere Mal und schickte ihr »Tausende von Küssen« mit. Im April 1889 erklärte Jo: »Ich möchte Dir so viel erzählen, dass ein Karton Papier nicht ausreichen würde, um es aufzunehmen.«45

6. Henri Bonger, vermutlich 1894.

Jos ältester Bruder Hendrik Christiaan (»Henri«, »Han«; 15. Juli 1859 bis 19. Mai 1929) trug einen Schnurrbart und war ein leidenschaftlicher Ruderer (Abb. 6). Er besaß ein leichtes Ruderboot, ein englisches Wherry, in dem er mit dazu passender Kleidung und Jo auf dem Steuersitz über die Amstel ruderte.46 Henri absolvierte die Handelsschule und wurde ebenso wie sein Vater Versicherer und Herausgeber der Zee-post. Auch er blieb unverheiratet. Henri war ein großer Opern- und Theaterliebhaber und ausgesprochen musikalisch: Er spielte Cello und besaß eine umfangreiche Sammlung an Kammermusik.47 Sein Neffe Frans Bonger sollte sein Instrument erben. In dessen Familie wurde das Cello scherzhaft »Onkel Hans’ Schönste« genannt.48 1896 wurde Henri Gesellschafter der Versicherungsfirma Brak & Moes, deren Geschäftsführer und Teilhaber sein Vater war. Er unternahm zahlreiche Auslandsreisen. In seinen Reisenotizen, die von 1882 bis 1912 reichen, werden wir Zeuge, wie er seinen Horizont erweitert und europäische Städte und Regionen erkundet.49 Er dürfte Jo bestimmt von seinen Erlebnissen berichtet und damit ihr Bedürfnis geweckt haben, mehr von der Welt zu sehen. Henri war ein etwas förmlicher, aber zugleich auch sympathischer Mensch, der gelegentlich von Trübsinn geplagt wurde.

An Förmlichkeit mangelte es auch Jos zweitem Bruder Andries (»Dries«, »André«; 20. Mai 1861 bis 20. Januar 1936) nicht. Wie schon Henri besuchte er die Handelsschule und lernte dort Niederländisch bei Willem Doorenbos und Englisch bei Cornelis Stoffel. Beide förderten sein literarisches Interesse, das er sich ein Leben lang bewahren sollte. Andries war ein begeisterter Leser, der sich schon früh mit Lord Byron und Percy Bysshe Shelley beschäftigte. Er selbst fand, er habe eine »harte Kindheit und Jugend« gehabt,50 eine Aussage, die später von seinem Neffen Henk Bonger relativiert wurde: »Das wird auch wohl so gewesen sein, aber die Bongers übertreiben gern einmal.«51

Jahrelang hatten Andries und Jo ein außerordentlich enges Vertrauensverhältnis. Am letzten Tag des Jahres gingen sie immer zusammen zur Messe, und am Karfreitag besuchten sie die Waalse Kerk.52 Voraussetzung für ihre Nähe war die gemeinsame Suche nach der Kunst des Lebens. Aus seiner Sicht brachte Jo auch Themen zur Sprache, die eine »ausführliche Behandlung« erforderten.53 Andries gab Anweisungen, er dozierte und indoktrinierte, während Jo seinen Fingerzeigen mit Interesse folgte, energisch handelte und sich die Leviten lesen ließ.

Andries arbeitete für kurze Zeit in einer Handelsfirma in Amsterdam. In Deutschland erteilte er den Kindern einer Ingenieursfamilie Privatunterricht in Englisch und Französisch, und Ende 1879 meldete er sich beim Einwohnermeldeamt ab, um nach Paris zu gehen, wo er zwölf Jahre blieb.54 Er fand eine Stelle bei Geo Wehry & Co., gegründet 1867 in Amsterdam. Die Firma handelte mit Tabak, Kaffee, Tee, Gummi und Kunstblumen. 1883 sehnte sich Andries nach einem anderen Betätigungsfeld. »Ich fühle mich zu etwas Besserem in der Lage als zu einem Kommissionär in Kunstblumen«, seufzte er.55 (Abb. F5)

Nahezu wöchentlich schrieb er nach Hause. Das Schreiben erlöste ihn aus seiner Einsamkeit, und nahezu jede kleine Alltagsbegebenheit vertraute er dem Papier an. Er war ein gläubiger Christ und hasste alles Bohemehafte. 1881 begegnete er Theo van Gogh im Hollandsche Club in Paris. Gemeinsam besuchten sie Museen und freundeten sich an. Ihre Freundschaft war entscheidend für Jos weiteres Leben: Über Andries sollte sie 1885 Theo kennenlernen. Andries heiratete 1888 Anne Marie Louise van der Linden (»Annie«; 1859‒1931). Vater Bonger erlaubte sich einen Scherz, indem er die beiden an ihrem Hochzeitstag mit drei Meldungen in einer Sonderausgabe der Zee-post (mit einer Auflage von einem Exemplar) überraschte: »Amsterdam, abgelegt am 3. Mai. Das Schiff der Ehe, von Schiffsführer A. Bonger in die Silber-Reede überführt.«56 So herzlich die guten Wünsche der Eltern auch sein mochten, seine Ehe mit dem früheren Nachbarsmädchen nahm einen traurigen Verlauf. Sie blieb kinderlos, und Andries und Annie litten sehr darunter. Gemeinsam führten sie ein angespanntes und unglückliches Leben. Später sollte Jo an ihre Schwester Mien schreiben, dass Annie »unausstehlich« sein könne, und um Andries sei es manchmal auch nicht viel besser bestellt: »Mit fast theatralischem, pathetischem Ernst gab er seine Urteile ab, und nichts taugte viel. Die Urteile wurden meist in Entrüstung verpackt. Ich habe ihn nie lachen sehen oder lachen hören, und ich glaube, dass er überhaupt nicht gelacht hat.«57 1934, drei Jahre nach Annies Tod, heiratete Andries in Rom erneut: Françoise Wilhelmina Maria van der Borch van Verwolde (1887‒1975), den Spross einer adligen Familie aus dem Achterhoek. Er war zu dem Zeitpunkt 73, sie 47 Jahre alt. Andries litt an »einem fast bis zur Überempfindlichkeit gesteigerten Nervenleben«, so Françoise.58 Die Ehe war nur von kurzer Dauer, denn schon zwei Jahre später sollte er sterben.

Nach Andries wurde Jo geboren, auf die drei Jahre später ein weiterer Bruder folgte, Bernard Johannes (12. September 1865 bis 23. Juni 1867), der an Krupp (Diphterie) starb. Auch die Zwillingsbrüder Johannes (10. Dezember 1867 bis 14. März 1869) und Bernard (10. Dezember 1867 bis 16. März 1869) starben sehr früh, beide an einer Erkrankung der Atemwege. Das war nicht weiter ungewöhnlich, denn Mitte des 19. Jahrhunderts starb eines von fünf Kindern noch vor dem ersten Lebensjahr.59

Jos jüngste Schwester Elizabeth Hortense (»Beb«, »Betsy«; 16. November 1870 bis 17. Januar 1944) spielte Klavier und studierte am Konservatorium Gesang: Sie hatte eine Sopranstimme (Abb. 7). Bis zu Jos Umzug nach Paris im Jahr 1889 (Betsy war damals 18, Jo 26 Jahre alt) schliefen sie zusammen in einem Zimmer.60 Auch musikalisch lagen sie mit Beethoven auf einer Linie und spielten vierhändig Klavier. Betsy führte sich mehr und mehr als vornehme Dame auf, Wim nannte sie deshalb auch »feine Beb«. Willem Weissman berichtete: »Betsy geht nun Arm in Arm mit einer unserer ersten Wagner-Sängerinnen herum, durchaus ein Beweis, wie populär sie auf dem Konservatorium ist.« Betsy war die Stimmungskanone im Hause Bonger, ohne sie fand Jo es oft langweilig. An den Abenden spielten sie manchmal Whist, und ihr Vater beteiligte sich daran.61

7. Betsy Bonger mit ihrem Hund im Wohnzimmer des Hauses Weteringschans 89 in Amsterdam, undatiert.

Jo und Betsy hielten ihr Leben lang engen Kontakt und hatten beide eine idealistische Einstellung zum Leben. Im September 1892 besuchte Jo einen Auftritt Betsys im volkshuis Ons Huis, ein Bildungsverein im Amsterdamer Arbeiterviertel Jordaan. Diese niederländischen »Volkshäuser« waren aus der Überzeugung heraus geschaffen worden, dass sich das Volk »erheben« lasse, indem man die bürgerliche und die Arbeiterschicht zusammenbringe.62 Jo hatte aufmerksam auf das Publikum geachtet, und ihre Beobachtung zeigt, wie sehr sie sich der Standesunterschiede bewusst war:

Es war ein netter Anblick, dieser Konzertsaal, nicht voll von hübsch angezogenen Damen und Herren ‒ sondern voller Menschen in ihren armseligen Klamotten mit erschöpften und verwitterten Gesichtern, die nun auch endlich einmal einen Abend des Genusses und der Entspannung hatten. […] die Sonate von Grieg ließ sie kalt ‒ damit konnte keiner etwas anfangen ‒ die Lieder, die Beb sang, wurden sehr genossen ‒ und bei den traurigen Enden wurden sie sehr sentimental ‒ die Augen schwammen in Tränen.63

Wie schon die beiden ältesten Schwestern sollte auch Betsy ledig bleiben. Nach ihrer Ausbildung wurde sie Gesangslehrerin und trat regelmäßig auf, auch im Ausland. Ihre Bewunderung für den Dirigenten Willem Mengelberg war so groß, dass sie ihm später van Goghs Zeichnung Zwei Häuschen in Saintes-Maries-de-la-Mer (F 1440 / JH 1451) schenken sollte. Die muss sie von Jo bekommen haben.64

Bei einem ihrer späteren Urlaube im Frühjahr 1904 reiste Jo mit ihrem Sohn Vincent und Betsy in die Schweiz. Sie hatten viel Spaß auf ihrer ersten gemeinsamen Reise.65 Im Sommer desselben Jahren ermunterte Betsy sie, von Bussum nach Amsterdam zu ziehen. Dass ihre Mutter kurz zuvor Witwe geworden war, führte dazu, dass Jo sich tatsächlich dazu entschloss. Im Sommer des Jahres 1906 reisten sie ein zweites Mal zusammen in die Schweiz. Außer gegenseitigen Geburtstagsbesuchen ist über ihr späteres Verhältnis wenig bekannt. Wohl aber, dass Betsy zwischen 1916 und 1919 ‒ also in den Jahren, in denen Jo, Vincent und seine Frau Josina in den USA lebten ‒ gemeinsam mit Andries ihre Angelegenheiten für sie regelte. Sie sollte bis an ihr Lebensende mit ihrem Bruder Henri zusammenleben.66

8. Wim Bonger, ca. 1884.

Jos jüngster Bruder Willem Adriaan (»Wim«; 16. September 1876 bis 15. Mai 1940) war ein Nachzügler. Auch wenn der Altersunterschied zwischen Wim und Jo 14 Jahre betrug, verstanden sich die beiden gut (Abb. 8). Er begann einen Brief an sie mit der Anrede: »Liebe schwarze Gazelle!«67 Wim absolvierte das Amsterdamer Barlaeus Gymnasium, spielte Kricket und sammelte Briefmarken. Er sang gern und bekam bis zur Mitte seines Studiums Geigenunterricht von Christiaan Timmer, dem Konzertmeister des Concertgebouw-Orchesters. 1895 begann er, Jura zu studieren. Als Mitglied und später Senior des Amsterdams Studenten Corps wurde er in die Studentenverbindung Clio aufgenommen, in der sich viele der Mitglieder für den Sozialismus und die Soziologie interessierten. Im Jahr 1898, kurz nach den für die Sociaal-Democratische Arbeiderspartij (sdap) erfolgreichen Parlamentswahlen, schloss sich Wim der Partei an ‒ Jo war zu dem Zeitpunkt bereits seit einigen Jahren Mitglied. Wim entwickelte sich zu einem überzeugten Kämpfer für den Sozialismus. In der sozialistischen Tageszeitung Het Volk schrieb er markige Kolumnen. Als Vorsitzender der Socialistisch Leesgezelschap lud er prominente Sozialisten zu Vorträgen ein, und in der Studentenzeitschrift Propria Cures beteiligte er sich an politischen Polemiken.68 1914 übernahm Wim den Vorsitz des Vereins »Kunst aan het Volk« und schrieb in den Jahren danach häufiger Beiträge für De Socialistische Gids (1916‒1938), der wissenschaftlichen Monatszeitschrift der SDAP. In den letzten 20 Jahren ihres Lebens, wenn Jo in Amsterdam wohnte, besuchte er sie regelmäßig. Dann tauschten sie sich ausgiebig über ihre sozialistischen Sympathien aus.69

Wim sollte, wie schon sein Vater und Bruder Henri, als Prokurist und Gesellschafter bei Brak & Moes arbeiten, was nicht nur auf enge familiäre Bindungen hindeutet, sondern auch darauf, dass Vater Bonger sich in einer Position befand, in der er Einfluss auf günstige Beschäftigungsverhältnisse für seine Söhne nehmen konnte. Wim promovierte am 3. März 1905 mit einer juristischen Doktorarbeit zum Thema Criminalité et conditions économiques. Sie knüpfte an den »wissenschaftlichen Sozialismus« an, der den Sozialdemokraten während der Zweiten Internationale (1889‒1914) ihre theoretische Grundlage verschaffte und in den Niederlanden vor allem von Frank van der Goes verbreitet wurde.70 Sechs Tage nach der Promotion heiratete Wim Maria Hendrika Adriana van Heteren (»Mies«; 1875‒1961). Jo schenkte dem Brautpaar van Goghs Zeichnung Montmajour (F 1446 / JH 1504), die Wim über seinen Schreibtisch hängte. Sie hatten zwei Söhne, Henk (1911‒1999) und Frans (1914‒1994).71 Henk, der später seine Memoiren veröffentlichte, nannte Jo seine Lieblingstante.72 Er erinnerte sich an die besondere Position, die sie in der Familie einnahm: »Bei Fragen des täglichen Lebens (Kleidung, Tischmanieren, Gesten und auch zu Fragen des Geschmacks bei Musik, Literatur und Malerei) sind fast alle Bongers (mit Ausnahme meiner Tante Net) äußerst konservativ.«73

Am 12. Juni 1922 trat Wim seine Stelle als Professor der Soziologie und Kriminologie an der Universiteit van Amsterdam an ‒ Jo dürfte bei seiner Antrittsvorlesung auch anwesend gewesen sein. Sein Leben endete tragisch: Nach dem Einfall der Deutschen im Mai 1940 verübte er zusammen mit seiner Frau Selbstmord. Gänzlich unerwartet überlebte Mies die Tat, weil ihr gerade noch rechtzeitig der Magen ausgepumpt werden konnte.74

Eine Familie mit einem wohldurchdachten Lebensstil

Alle Mitglieder der Familie Bonger lebten ihrem Stand entsprechend ‒ das heißt anständig, fromm und voller Pflichtbewusstsein. Andries war tief erfüllt von Vaterliebe und fühlte sich im Vergleich zu anderen »tausendmal gesegnet, einen Vater zu haben, so geachtet und verehrt wie der unsere. Gott helfe mir, dass ich ihm niemals Schande bereiten werde.«75 Von dieser Kinderpflicht waren alle Familienmitglieder durchdrungen. Vater Bonger war in der Lage, seinen Kindern ein Studium zu ermöglichen und sie mit den richtigen Leuten in Kontakt zu bringen, damit sie sich innerhalb ihres Standes entwickeln oder auf der sozialen Leiter sogar eine Sprosse höhersteigen konnten. Als junger Mann wurde Andries immer überzeugter von der Richtigkeit der elterlichen Lektion, dass der Umgang mit den richtigen Menschen eine der vornehmsten Lebensaufgaben sei.76 Man sollte nicht zu den Sternen greifen, aber durchaus zusehen, dass man in der Welt vorankam. Dazu passte ein wohldurchdachter Lebensstil.

Bezeichnend ist, wie Andries seinem Bruder Wim zum Geburtstag gratulierte ‒ er kleidete die Familienmoral in paternalistische Ermahnungen:

Ich hoffe doch, dass Du wissen wirst, wie ein braver, ehrlicher, offenherziger Junge, stets beseelt von guten Vorsätzen, ein geachteter Staatsbürger werden kann. ‒ Ist der Junge nicht brav gewesen, wird es der Mann auch nicht. ‒ Das Beste, was ich also tun kann, ist, Dich zu Gehorsam und Eifer anzuspornen, damit Du diese Voraussetzung erfüllen kannst.77

Das musste dem neunjährigen Wim vorläufig genügen.

Der Wille, die Triebe zu regulieren, war ein ständiges Thema im bürgerlichen Leben der Bongers. Unmissverständlich predigte der zartbesaitete Andries Selbstbeherrschung: »Allen Leidenschaften Widerstand zu bieten ist die erste Voraussetzung für ein edles Leben.« Dazu passte die respektable Position, die er in der Gesellschaft einnehmen wollte. Er fühlte sich durch und durch als Bürger.78 Andries widerten Theaterstücke an, in denen man »tigerartige Leidenschaften« ins Rampenlicht rückte, und er kam deshalb auch zu dem unumstößlichen Schluss: »Kein heilsamerer Einfluss als der einer zivilisierten Gesellschaft!«79 Andries war außerordentlich standesbewusst und hegte eine starke Abneigung gegen schlechte Umgangsformen, Gossensprache und Unflätigkeit. So graute es ihm vor ungekämmten Haaren, er verlangte »einen schicklich frisierten Schädel«. Allen Ernstes glaubte er, »dass die Haartracht einer Nation im Allgemeinen eine tiefe philosophische Bedeutung hat«.80 Ungekämmte Köpfe taugten nichts. Er selbst setzte deshalb alles daran, ein Gentleman zu sein und so eine Vorbildfunktion zu erfüllen. Vater Bonger dürfte beim Lesen dieser Zeilen seines Sohnes zustimmend genickt haben.

Die Briefe, die Andries an sein Elternhaus schickte, lassen abermals erkennen, dass die Familienmitglieder breites Interesse an Literatur, Musik, Kunst und Theater hatten. Vieles von dem, was er schrieb, wurde zu Hause von allen gelesen oder ihnen vorgelesen. »Es versteht sich von selbst, dass mein Brief an Net, von einigen persönlichen Bemerkungen abgesehen, auch für die Familie lesbar war.«81 An Phrasen wie »Sie erinnern sich, wie …« und »wie Sie wissen« zeigt sich, dass alle informiert waren, worüber er schrieb. Klassiker von Molière, Racine und Shakespeare wurden als bekannt vorausgesetzt. Ungefragt gab er Lektüreempfehlungen ab oder empfahl Stücke, die in Amsterdam gespielt werden sollten. Bücher, Zeitschriften und Zeitungen wanderten hin und her, und ein ums andere Mal beschrieb er voller Hingabe ein Kunstwerk, das ihn begeistert hatte, oder er äußerte seine Zustimmung zu den moralischen Entscheidungen, die Romanfiguren trafen. Andries mochte Charakterstudien und zitierte kräftig drauflos.82 Der Besuch des jährlichen Salons, einer großen Kunstausstellung in Paris, bildete einen festen Bestandteil seiner Briefe. Durch diesen fortwährenden Austausch verfolgte Jo aufmerksam die neuesten Entwicklungen auf kulturellem Gebiet, ihr Interesse an Kunst muss dadurch stark stimuliert worden sein.

In der Familie herrschte in der Regel eine gesellige Atmosphäre, dennoch waren Langeweile und Reserviertheit nie weit entfernt. Das wurde durch Freundschaftsbeziehungen außerhalb des Hauses kompensiert. Die vertrauliche Beziehung, die Jo zu Anna Dirks aufbaute, kam schon früh zustande. Die Familie von Justus Dirks (der als Ingenieur den Bau des Nordseekanals leitete) und Alida Clasina Kruijsse wohnte ganz in der Nähe, an der Stadhouderskade.83 Jahre später, im Mai 1892, schrieb Jo in ihr Tagebuch: »Wir sind hin- und hergelaufen, so wie früher, als wir uns als junge Mädchen gegenseitig von der Schans zur Kade und von der Kade zur Schans brachten. […] wir sprachen wieder einmal altmodisch gemütlich über alles.«84

Jos Eltern waren evangelisch-reformiert. Sie ließen ihre Kinder taufen und konfirmieren. Später schlossen sie sich, so wie viele liberal gesinnte Gläubige im 19. Jahrhundert, den Remonstranten an. Die protestantische liberale Familie ‒ Jo besuchte eine staatliche Schule ‒ hielt ziemlich eng zusammen.85 Als Jo sich im Sommer 1889 gerade in Paris eingerichtet hatte, verriet der Ton ihrer Briefe, dass sie den täglichen Kontakt vermisste: Ein Familienmitglied nach dem anderen brachte sie zur Sprache.86