John - Bernhard Aichner - E-Book

John E-Book

Bernhard Aichner

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Beschreibung

Nach «Yoko» erzählt «John» die packende Geschichte eines gnadenlosen Mörders.  John ist Yoko. Yoko ist John. Doch niemand kann sich selbst entkommen. Yoko ist eine gesuchte Mörderin auf der Flucht. Unter einer neuen Identität lebt sie als John auf einer kleinen griechischen Insel, arbeitet in einem Restaurant hoch über dem Meer, sie hat Freunde gefunden und ist zur Ruhe gekommen. Yoko ist Vergangenheit. John ist die Zukunft. Neben der Arbeit in der Taverne kümmert sich John um das Anwesen von Ingrid, einer wohlhabenden Frau, die nur die Sommermonate auf der Insel verbringt. Er pflegt den Garten, genießt die exklusive Ruhe und das Wohlwollen seiner Arbeitgeberin. Doch während John sich in Sicherheit wähnt, wird in Deutschland immer noch nach Yoko gefahndet. In einer Fernsehsendung wird der «Fall Yoko» wieder aufgerollt, neue Beweismittel kommen ans Licht. Ihre Akte wird wieder geöffnet, wovor Yoko sich immer gefürchtet hat, geschieht. John wird enttarnt. Die Jagd beginnt.

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EPUB
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Seitenzahl: 304

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Bernhard Aichner

John

Thriller

 

 

 

Über dieses Buch

Nach «Yoko» geht es mit dem zweiten Teil rasant und packend weiter. Aichner erzählt ohne Atempause von einer Mörderin, die ihrer Vergangenheit nicht entfliehen kann.

 

John ist Yoko. Yoko ist John. Doch man kann sich nicht entkommen!

Yoko hat all das Schreckliche, das ihr widerfahren ist, hinter sich gelassen. Unter dem Decknamen John lebt sie auf einer kleinen griechischen Insel, arbeitet für Elena und Stavros in einem Restaurant hoch über dem Meer, sie hat Freunde gefunden und ist zur Ruhe gekommen. Yoko hat sich in Luft aufgelöst.

Neben seiner Arbeit in der Taverne kümmert sich John um das Anwesen von Ingrid, einer wohlhabenden Frau, die nur die Sommermonate auf der Insel verbringt. Er pflegt den Garten, genießt die exklusive Ruhe und das Wohlwollen seiner Arbeitgeberin. Doch Ingrid wird von einem Tag auf den anderen zur Bedrohung.

Während John sich in Sicherheit wägt, ist Yoko in Deutschland immer noch eine gesuchte Mörderin. Mit dem Tod von Richard, dem ermittelnden Beamten von damals, tauchen unter Verschluss gehaltene Unterlagen auf, in einer Fernsehsendung wird der «Fall Yoko» neu aufgerollt und die Bevölkerung um Mithilfe gebeten.

Und Yoko wird erkannt. Von Ingrid.

Vita

Bernhard Aichner, geboren 1972, lebt in Innsbruck und im Südburgenland. Nach seinem Germanistikstudium arbeitete er als Fotojournalist und anschließend vierzehn Jahre lang als Werbefotograf. Er schrieb mehrere Hörspiele und Romane, bis er 2014 mit seinem Thriller «Totenfrau» den internationalen Durchbruch als Autor feierte. Seine Bücher wurden in 16 Sprachen übersetzt, die «Totenfrau»-Trilogie von Netflix und dem ORF verfilmt. Inzwischen ist auch eine zweite Staffel erschienen.

Mit einer Million verkauften Exemplaren zählt Aichner zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Thrillerautoren. Er hat zahlreiche Preise und Stipendien erhalten, darunter das Österreichische Staatsstipendium für Literatur, den Burgdorfer Krimipreis, den Crime Cologne Award, den Friedrich-Glauser-Preis, zuletzt den Fine Crime Award 2023 und das Wiesbadener Krimistipendium 2024. Die «Times» beschreibt seine Arbeit als «originell, kraftvoll und fesselnd».

Neben seinen Romanen verfasst Aichner Theaterstücke, ist Veranstalter von Österreichs größtem Krimifestival und ist auch als bildender Künstler erfolgreich.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung semper smile, München

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-01652-1

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Hast du meinen Hunger vertrieben?Hast du meinen Durst verschüttetund einen Mistelzweig quer durch mein Herzgesteckt,um ihn dann vertrocknen zu lassen?

Christine Lavant

Yoko

Ich habe acht Menschen getötet.

Lange leuchtete dieser Satz in dunkelroten Buchstaben auf meiner Stirn. Jedes Mal, wenn ich vor dem Spiegel stand, fragte ich mich, ob ich die Vergangenheit irgendwann von mir abwaschen und alles vergessen könnte. Doch jeden Morgen war die Erinnerung wieder da. Das Blut und die Angst und der Zorn.

In den ersten Monaten auf der Insel hatte ich ununterbrochen vor Augen, was passiert war, ich befürchtete, dass man mir mein neues Glück wieder nehmen könnte. Jeden Augenblick erwartete ich, dass jemand kommen und alles beenden würde.

Doch niemand kam.

Wenn ich nach dem Aufwachen aus dem Fenster schaute, war das Meer noch am selben Ort, das Funkeln des Wassers war genauso schön wie am Vortag. Die Möwen kreisten, ich konnte das Salz in der Luft schmecken. All das Schöne, das sich vor mir ausbreitete, verführte mich dazu, an ein gutes Ende zu glauben. Niemand wusste, dass ich in diesem Zimmer im ersten Stock über der Taverne versuchte, das Geschehene hinter mir zu lassen.

Während des Tages räumte ich Tische ab, trug Teller mit Gyros und Zaziki aus der Küche und hasste mich dafür, dass ich so blind vor Wut gewesen war. Wieder und wieder sah ich diese Menschen sterben. Die leblosen Körper, die vor mir lagen und ausbluteten. Durchschnittene Kehlen. Am schönsten Platz der Welt musste ich damit umgehen, dass sich ein Monster in mir verbarg, nach dem sie suchten.

Beharrlich sperrte ich das Dunkle in mir ein. Verdrängte es, wusste aber, dass es in mir lauerte. Sosehr ich mir auch einredete, dass ich keine andere Wahl gehabt hatte, ich war schuldig. War eine Schlächterin, vor der man Angst hatte. Ein wildes Tier, das vorgab, zahm zu sein.

Ich wusste, dass diese Gedanken niemals weggehen würden. All diese Bilder in meinem Kopf. Egal, wie sehr ich mich bemühte zu lächeln, wie still und unscheinbar ich mich verhielt, mich in dieser wunderbaren Landschaft verlor. Ich blieb eine Mörderin.

Trotzdem bemühte ich mich um ein normales Leben.

Wanderte über die Insel, arbeitete, ging zu Bett, wachte wieder auf und wischte meine Albträume weg. In dem kleinen Restaurant über dem Meer fand ich Heimat, die friedliche Stille heilte einen Teil von mir. Nahm mir allmählich die Tränen und den Zorn. Ich zwang mich, daran zu glauben, dass die Welt in dem kleinen Bergdorf, in dem ich nun lebte, nichts mehr mit der Welt zu tun hatte, aus der ich gekommen war. Jeden Tag betrog ich mich erneut. Ließ mich von der Gastfreundschaft, die man mir entgegenbrachte, tragen. Von der Freundlichkeit der Wirtin, die mich bei sich aufgenommen hatte. Sie sorgte dafür, dass ich bleiben konnte. Dass ich dazugehörte. Ohne Fragen zu stellen, hatte sie mir ihre Hand gereicht.

Elena.

Eine alte Griechin, die ihren Sohn und ihre Küche liebte. In der Taverne, mit der sie seit ihrer Kindheit verbunden war, war sie glücklich. Mit vierundachtzig Jahren schälte sie morgens Kartoffeln und Zwiebeln und bereitete nach den Rezepten ihrer Mutter Gerichte zu, die den Gästen in der Saison ein Lächeln ins Gesicht zauberten. Unerschütterlich stand sie am Herd und ließ ihre Gäste in die Töpfe schauen, weil sie sich nach all den Jahren immer noch weigerte, eine Speisekarte zu schreiben.

Sie beide wurden Familie für mich.

Elena und ihr Sohn Stavros.

Nach meiner Ankunft war ich den Touristenströmen ausgewichen und den Berg hochgelaufen. Die Taverne hatte eigentlich schon geschlossen, doch Elena bestand darauf, dass ich mich zu ihnen setzte. Sie mochte mich vom ersten Augenblick an, mit einem warmen Lächeln lud sie mich ein, ein Glas mit ihnen zu trinken und von mir zu erzählen.

Dass ich mir über einige Dinge in meinem Leben klar werden und eine Zeit lang auf der Insel bleiben wolle, sagte ich. Mit zitternden Knien erzählte ich ihnen, dass mein Vater und meine Freundin gestorben waren. Ohne es auszusprechen, ließ ich sie wissen, dass ich verletzt worden war. Elena nahm meine Hand und hielt sie. Drei Stunden nachdem ich sie kennengelernt hatte, sagte sie mir, dass ich bleiben konnte, wie lange ich wollte.

Elena sah meine Wunden und zeigte mir das Zimmer.

Da war nur ein alter Holzschrank, ein Bett mit blauer Wäsche und ein Flickenteppich auf den Fliesen. Doch durch das Fenster konnte ich das Meer sehen. Für die nächsten Jahre sollte ich hier wohnen, glückliche Umstände waren es.

Ein Kellner war von heute auf morgen nicht mehr aufgetaucht, und ich durfte seinen Platz einnehmen. Dankend nahm ich das Angebot an und nistete mich ein. Strandete vierhundert Meter über dem Meer in einem Dorf, das aus einer Handvoll Häusern bestand. Ich tauchte unter an einem Ort, der außer dieser wundervollen Natur wenig zu bieten hatte. Das Restaurant und die Bar am Ende der Straße, in der alte Männer jeden Tag Tavli spielten und Ouzo tranken. Touristen, die sich hierher verirrten, genossen für ein paar Stunden den malerischen Blick von der Terrasse, dann gingen sie wieder. Für die allermeisten war das Meer zu weit weg, um länger zu bleiben. Die wenigen Privatzimmer im Dorf waren nur im Sommer ausgebucht, Hotels und Geschäfte suchte man vergebens, weder Lebensmittel noch sonst was gab es hier zu kaufen. Man musste eine knappe Stunde nach unten laufen, um in das touristische Leben einzutauchen, das ich mied. Wenn es im Sommer laut und bunt wurde, blieb es oben im Dorf friedlich und still.

Nur abends und nachts wagte ich es, an den Strand zu gehen.

Wenn niemand mehr sonst da war, schwamm ich.

Ich zog mich aus und tauchte unter.

Keiner sah mich dabei.

Konnte entdecken, was ich all die Zeit verbarg. Die ehemalige Metzgerin, nach der man fahndete, blieb unerkannt. Ich war ein anderer, seit ich auf der Insel lebte.

Nicht Yoko.

Sondern John.

Niemand zweifelte daran. Kam auf die Idee, es zu hinterfragen. Man hatte sich sogar an meine Eigenheiten gewöhnt, wunderte sich nicht über die unerschütterliche Konsequenz, mit der ich mich vor der Sonne schützte. Ich trug Langarmshirts und Cargohosen. Bedeckte meine Brust und meine Tätowierung. Niemand kam mir nahe und berührte mich, nur die Fische wussten, wer ich wirklich war. Ich schwamm in der Nacht.

Yoko war spurlos verschwunden.

Still und heimlich irgendwo im Ägäischen Meer.

Fünf Jahre nachdem ich auf der Insel angekommen war, rechnete ich nicht mehr damit, dass jemand kommen würde, um alles zu beenden. Ich vertraute auf mein Glück, hoffte, dass es nicht erneut zerbrechen würde. Und doch geschah es.

Am Ende eines langen Tages.

Auf der Terrasse der Taverne war beinahe alles so wie immer. Wenige Stühle waren besetzt, ein letzter Gast saß am Tisch in der Ecke. Eine Frau allein, um die fünfzig, die darauf wartete, bedient zu werden. Mit einem Lächeln hob sie die Hand und winkte mir zu.

Zuerst konnte ich ihr Gesicht nur im Profil sehen. Trotzdem war da plötzlich ein Gefühl in meinem Bauch, das mir Angst machte. Unbeirrt und selbstsicher drehte sich die Frau zu mir um, nahm ihre Brille ab und schaute mich an.

Freude lag in ihrer Stimme.

Schön, dass ich Sie endlich gefunden habe, Yoko.

Alles, was ich vergessen wollte, war plötzlich wieder da.

Was ich verbarg, schlug plötzlich wieder mit Wucht auf mich ein.

Rot und dunkel leuchtete er wieder auf meiner Stirn.

Dieser Satz, der beinahe verschwunden war.

Er war wieder da.

Liebermann

– Sie erinnern sich an mich? Katrin Liebermann, Polizeihauptkommissarin. Wir hatten vor fünf Jahren bereits das Vergnügen.

– Sie sind ja ganz blass. Vielleicht ist es besser, wenn Sie sich erst mal setzen. So wie es aussieht, haben wir beide nämlich einiges zu besprechen.

– Wie haben Sie mich gefunden?

– Damit haben Sie nicht mehr gerechnet, oder? Dass irgendwann doch noch jemand an diesem einsamen Ort hier auftauchen und Sie an all das Hässliche erinnern würde, das Sie angerichtet haben.

– Sie sind hier, um mich zu verhaften?

– Natürlich bin ich das. So lange habe ich mich auf diesen Moment gefreut. So viel Zeit und Energie habe ich in diesen Fall gesteckt. Ich bin wirklich überglücklich, dass sich unsere Wege wieder kreuzen. Dass ich endlich erfahre, was Sie in den letzten Jahren so getrieben haben. Ich brenne darauf, von Ihrer Flucht zu hören. Meine Kollegen und ich haben Jahre damit verbracht, das Puzzle zusammenzusetzen. Zu verstehen, was passiert ist, warum Sie all diese Menschen getötet haben. Und vor allem, wie. Ich muss zugeben, dass wir beeindruckt sind, wie Sie es geschafft haben, so spurlos zu verschwinden. Jemand, der sich in diesem Ausmaß schuldig gemacht hat, kommt normalerweise nicht so einfach davon.

– Wo sind Ihre Kollegen?

– Falls Sie überlegen zu fliehen, muss ich Sie leider enttäuschen. Sie werden maximal bis zum Parkplatz dieser wunderbaren Taverne hier kommen. Spätestens dort wird man Ihnen Handschellen anlegen oder Sie im Falle, dass Sie sich der Verhaftung widersetzen, mit den nötigen Mitteln zur Vernunft bringen. Ich rate Ihnen also, zu kooperieren, ruhig zu bleiben und sich zu setzen. Es gibt so viele Antworten, die ich von Ihnen haben möchte. Also, lassen Sie uns reden.

– Was sollte das noch bringen?

– Vielleicht verschafft es Ihnen ja Erleichterung, endlich die Wahrheit zu sagen? Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Situation sehr belastend für Sie ist. Sehen Sie unser Aufeinandertreffen also als eine Chance. Sie können endlich aufhören zu lügen und wieder Sie selbst sein.

– Ernsthaft? Als ob Sie sich darüber Gedanken machen würden, wie es mir geht. Das ist lächerlich.

– Wenn Sie sich dafür entscheiden zu schweigen, verspreche ich Ihnen, dass irgendein Staatsanwalt Sie unter weit weniger angenehmen Bedingungen zum Reden bringen wird. Ich schlage Ihnen also vor, dass Sie Ihrem Chef zu verstehen geben, dass wir uns in den nächsten Stunden an diesem Tisch hier ungestört unterhalten wollen. Und bitten Sie ihn auch, uns eine Flasche Retsina zu bringen. Seit ich von der Fähre gegangen bin, freue ich mich nämlich schon darauf. Kommt ja schließlich nicht häufig vor, dass mich meine Ermittlungen an so einen wunderbaren Ort führen. Außerdem kann ein bisschen Alkohol nicht schaden, sage ich immer. Lockert bekanntlich die Zunge.

– Sind Sie fertig?

– Wir fangen gerade erst an.

– Was wollen Sie von mir?

– Die Wahrheit, von Anfang an.

– Die Wahrheit interessiert Sie doch gar nicht.

– Lassen Sie das mal meine Sorge sein. Reden Sie einfach mit mir. Ihre Aussage könnte sich strafmildernd auswirken. Wenn Sie kooperieren, werde ich mich für Sie einsetzen.

– Warum sollten Sie das tun?

– Sie wissen, dass ich sehr lange Zeit mit Richard zusammengearbeitet habe. Dem Freund Ihres Vaters, der Ihnen, wie wir mittlerweile wissen, bei Ihrer Flucht geholfen hat.

– Und?

– Ich mochte Richard. Auch wenn ich es nicht verstanden habe, war er der Ansicht, dass Sie die Chance auf ein neues Leben verdient haben. Er wollte nicht, dass Sie gefunden werden. Ich will wissen, warum.

– Richard ist tot. Was er wollte, spielt keine Rolle mehr.

– Am Ende ist es Ihre Entscheidung. Entweder Sie erzählen mir Ihre ganze Geschichte, oder ich lasse Sie sofort in Gewahrsam nehmen und werde dafür sorgen, dass Sie so lange wie möglich in irgendeiner Zelle verschwinden.

– Von mir aus, machen Sie das. Sie haben gewonnen. Ich werde mich nicht gegen meine Verhaftung wehren. Bringen Sie es zu Ende und lassen Sie uns gehen.

– Ach, kommen Sie, Yoko. Sie haben doch nichts mehr zu verlieren. Ich will Ihnen nur die Gelegenheit geben, sich zu erklären. Stillen Sie meine Neugier, und ich werde Ihnen Ihre Heimreise so angenehm wie möglich machen. Trinken Sie Wein, solange Sie noch die Gelegenheit dazu haben.

– Was genau wollen Sie von mir hören?

– Alles, was Sie mir anvertrauen, kann Ihnen weiterhelfen. Erzählen Sie mir, wie Sie hier gelandet sind. Was in den letzten fünf Jahren passiert ist.

– Das wollen Sie nicht wirklich hören.

– Doch, das will ich.

– Das kann aber dauern.

– Ich habe Zeit, Yoko. Oder soll ich lieber John sagen?

John

Yoko hatte sich damals in Luft aufgelöst.

Als die Morde ans Licht gekommen sind, musste sie verschwinden. Alles zurücklassen, was ihr wichtig gewesen war. Ihr Zuhause, ihre Freunde, ihr ganzes bisheriges Leben. Yoko war plötzlich eine der meistgesuchten Personen des Landes, unter großem Druck musste sie eine Entscheidung treffen, wie sie weiterleben sollte. Wo sie wohnen, wie sie sich einen Neubeginn finanzieren würde. Wie und wo es möglich sein könnte, nicht aufzufallen und unentdeckt zu bleiben.

Aus einem Bauchgefühl heraus beschloss Yoko, das zu tun, was niemand von ihr erwartete. Anstatt über die Grenze zu fliehen, blieb sie im Land. Sie nahm einen anderen Namen an und tauchte dort unter, wo niemand es vermutete. Sie tat das Unerwartete.

Yoko versteckte sich in einer grauen Industriestadt. Sie verkroch sich in einem Dschungel aus Plattenbauten, mit zitternden Händen unterschrieb sie den Mietvertrag für eine Einzimmerwohnung. Ein erster Versuch war es, die Dinge neu zu ordnen. In einem Wohnghetto unter tausend anderen wurde sie unsichtbar.

Niemand interessierte sich für sie.

Aus der androgynen, schlanken Frau wurde von heute auf morgen ein Mann. Sie behauptete es, und man glaubte ihr. Niemand bezweifelte, was in ihren Papieren stand.

Zu Beginn klebte ein täuschend echter Bart über ihren Lippen, sobald sie unter Menschen ging. Sie zog sich große Kapuzenpullover über, weite Hosen, schlichte Sneaker, zwei Nummern größer. Yoko lernte, sich zu verstellen. Je öfter sie jemand mit ihrem neuen Namen ansprach, desto selbstverständlicher wurde es, John zu sein.

Unter ihrer neuen Identität stellte Yoko sich in einem Schlachtbetrieb vor und begann wieder das zu tun, was sie gelernt hatte. Im weißen Kittel mit Haube und Mundschutz reihte sie sich in einer Heerschar von Metzgern ein, die bis zu dreißigtausend Tiere am Tag schlachteten und zerlegten. Völlig anonym war sie hier. Sie beherrschte den Umgang mit dem Messer, hielt spielend mit den anderen mit, verlor sich in Routine und erinnerte sich unter Schmerzen an den Teil ihrer Vergangenheit, den sie eigentlich hinter sich lassen wollte.

Den Familienbetrieb.

Ihre Kindheit und Jugend im Schlachtraum.

Yoko war in der Metzgerei aufgewachsen, hatte gelernt, mit dem Geruch von Blut zu leben, das Handwerk war ihr vertraut, das Töten ein notwendiges Übel.

Du musst es nicht gerne tun,hatte ihr Vater gesagt. Aber tu es.

Und Yoko hatte es getan. Als ihr Vater krank wurde, übernahm sie die Metzgerei. Mit seinem Tod wandte sie sich davon ab. Sie wollte eigentlich nie wieder etwas damit zu tun haben. Das Schreien der Tiere nicht mehr hören, das Geräusch des Bolzenschussapparats.

Yoko hatte damit abgeschlossen.

Doch nun war ihr keine Wahl geblieben.

Sie musste Geld verdienen, ihre Miete, Kleidung und Lebensmittel bezahlen. Die Idee mit der Fleischfabrik war naheliegend. Sie war sich sicher, dass niemand vermutete, dass sie wieder als Metzgerin arbeiten würde. Tagein, tagaus stand sie in der großen Halle am Fließband und zerlegte Tiere, nach Feierabend verfolgte sie die Nachrichten. Yoko las über sich in den Zeitungen und weinte sich in den Schlaf. Sie vermied jeden Kontakt zu anderen, war einsam. Und voller Angst. Jedes Mal, wenn sie ihre Wohnung verließ, rechnete sie damit, dass man ihr Handschellen anlegen würde. Zermürbend war es. Der Wunsch nach ein wenig Glück wurde immer lauter, die Tristesse ihres Alltags irgendwann unerträglich.

Yoko hielt es nicht mehr aus. Trist und dunkel war alles. Schlafen, Schlachten, Fotos von ihr, die über den Bildschirm flimmerten. Das Surren der Säge. Fleischteile, die sie in Wannen warf. Stichschutz, Gedärme und Blut. Die Vorstellung, weiter in der Fleischfabrik dahinzuvegetieren, wurde immer mehr zur Qual. Lieber wäre Yoko gestorben, als so weiterzumachen.

Sie wollte weg.

Um jeden Preis.

Egal was mit mir passiert, sagte sie sich.

Und schmiedete wach in der Nacht einen neuen Plan.

Wenn sie sich schon ihr restliches Leben verstecken musste, dann irgendwo, wo es schön war. An einem Ort, an den sie gute Erinnerungen hatte. Einem Ort, an dem es nicht nach Blut roch. Ihr fiel nur ein mögliches Ziel ein.

Griechenland.

Dort war sie früher einmal glücklich gewesen.

Unbeschwert mit der Frau, die sie geliebt hatte. Es waren schöne Erinnerungen, von denen sie immer noch zehrte. Sie trieben sie an. Dieser kleine Funken Hoffnung, den sie noch hatte, ließ Yoko kündigen. Arbeit, Wohnung, sie machte sich auf den Weg. Nahm den Zug, dann die Fähre, zuletzt stieg sie auf ein kleines Boot. Ununterbrochen hatte sie Angst, kontrolliert und erkannt zu werden. Sie zweifelte, dass der gefälschte Reisepass einer Prüfung standhalten würde. Trotzdem riskierte sie es.

Reiste als John Richtung Süden.

Yoko brach endgültig alle Brücken in die Vergangenheit ab. Sie tat alles, um keine Spuren zu hinterlassen, nahm nichts mit sich, das geholfen hätte, sie zu finden. Seitdem sie untergetaucht war, gab es keinen Computer in ihrem Leben, kein Handy, nichts Digitales. Sosehr sich Yoko auch danach sehnte zu telefonieren, sie tat es nicht. Erkundigte sich auch nicht nach ihrem Mitarbeiter, der im Koma lag.

Azad.

Der Mensch, der ihr damals am nächsten war.

Sie hatte sich bereits von ihm abgewandt. Aber nun war es ein endgültiger Abschied. Voller Schmerz und schwerem Gewissen, weil Yoko auch für sein Schicksal verantwortlich gewesen war. Sie hatte ihn in ihren Albtraum mithineingezogen. An so vielen Abenden, an denen sie schwimmen ging, dachte sie an ihn. Schmerzhaft war es. Mit jedem Zug, den ihre Arme im Wasser machten, entfernte sie sich noch mehr von ihm. Ein ganzes Meer lag mittlerweile zwischen Yoko und Azad.

Genauso wie Katrin Liebermann war Yoko mit einem kleinen Boot auf die Insel gekommen. Am Hafen hatte sich Yoko erkundigt, wo sie Arbeit finden könnte. Obwohl bereits später Nachmittag war, ging Yoko direkt los, die Serpentinen nach oben, und kam in dem Bergdorf an. Es war das Ende der Welt, an dem sie langsam Ruhe fand und das Vergangene in sich zu begraben begann.

Niemand zweifelte daran, dass sie John war. Elena und Stavros nahmen den Mann, den das Schicksal auf ihrer Terrasse angespült hatte, einfach so an, wie er war. Wunderten sich nicht, als das kleine Bärtchen aus Johns Gesicht verschwand, zeigten sich nicht interessiert daran, warum er seine Haut nicht zeigte. Sie ließen ihn in Ruhe. Akzeptierten, dass er über seine Vergangenheit nicht gerne sprach, sie erfuhren nur, dass er in einem großen Schlachtbetrieb gearbeitet und ihn die Arbeit dort ebenso unglücklich gemacht hatte wie die Liebe.

Yoko war zurückhaltend, aber stets freundlich. Sie fügte sich ein. Saß abends neben rauchenden Männern und schaute ihnen beim Spielen zu. Sie lernte die Sprache und die Menschen kennen. Irgendwo weit draußen am Meer begann etwas zu heilen, von dem sie dachte, dass es für immer kaputt bleiben würde. Die Sonne brachte Trost, ließ die Bilder in ihrem Kopf langsam verblassen.

An manchen Tagen war sie sogar glücklich. Das Leben am Meer machte sie zufrieden, das Salz in der Luft, die Weite. Bis zu dem Tag, an dem Katrin Liebermann sich auf die Terrasse des Restaurants setzte, glaubte Yoko manchmal sogar daran, dass alles für immer so bleiben würde.

Doch es blieb nur ein Wunsch.

Sie war gefunden worden.

Plötzlich lag Endgültigkeit in der Luft.

Als Yoko die Beamtin wiedererkannte, die sie nach den ersten Morden verhört hatte, wusste sie, dass sie keine weitere Chance bekommen würde. Ihre Flucht war zu Ende. Sich zu wehren, war sinnlos. Auf sie loszugehen, sich der Übermacht entgegenzustellen. Yoko wurde schlagartig klar, dass sie verloren hatte. Jede Hoffnung schwand. Ein unerwartetes Gefühl breitete sich in ihr aus. Akzeptanz. Yoko kapitulierte. Es ging nur noch um Schadensbegrenzung. Darum, so wenige Jahre wie möglich hinter Gittern zu verbringen.

Und so entschied sie sich, zu reden.

Sie bestellte den Wein, den Liebermann mit ihr trinken wollte.

Eine Flasche und zwei Gläser bitte, Stavros.

Ihn danach zu fragen, war ihr unangenehm. Sie versuchte mit ihrem Blick zu signalisieren, dass es jetzt wichtiger war, sitzen zu bleiben, als die restlichen Tische abzuräumen und Elena in der Küche zu helfen. Sie gab Stavros zu verstehen, dass sie keine andere Wahl hatte. Dass etwas Schlimmes passiert war. Und er nichts tun konnte, um ihr zu helfen.

Yoko lächelte ihn traurig an.

Dann drehte sie sich zu Liebermann.

Und begann zu reden.

Liebermann

– Schön, dass Sie sich darauf einlassen, Yoko. Es ist tatsächlich die beste Option, die Sie im Moment haben.

– Ich rede mit Ihnen, aber ich möchte, dass Sie Stavros und seine Mutter in Ruhe lassen. Sie haben nichts damit zu tun. Sie haben keine Ahnung, wer ich wirklich bin und was ich getan habe.

– Sind Sie sich da sicher? Sie schauen zwar nicht aus wie eine Frau, aber als Mann gehen Sie auf den zweiten Blick auch nicht unbedingt durch.

– Ob ich John bin oder jemand anderes, spielt für die Menschen hier keine Rolle.

– Warum eigentlich dieser Name? Sie hätten sich jeden anderen aussuchen können. Warum John?

– Meine Mutter hätte mich so genannt, wenn ich ein Junge geworden wäre.

– So einfach? Das ist die Geschichte dahinter?

– Meine Eltern waren Fans von John Lennon. Alles, was mit ihm und den anderen Pilzköpfen zu tun hatte, war ihnen heilig.

– Und Ihnen? Mögen Sie die Musik?

– Sie wollen mit mir über meinen Musikgeschmack reden?

– Reden wir über Ihre Familie. Ihre Mutter ist bei Ihrer Geburt gestorben, richtig?

– Ja.

– Sie war eine schöne Frau. Sie sehen ihr sehr ähnlich.

– Sie haben Fotos von ihr gesehen?

– Wir haben welche in Ihrem Haus sichergestellt. Wenn Sie wollen, können Sie die Bilder gerne wiederhaben. Ganz egal, wie die Geschichte ausgeht. Das kann ich Ihnen gerne versprechen.

– Sie spielen hier den good cop, oder was?

– Ich möchte Ihnen nur eine Chance geben.

– Eine Chance? Wir wissen beide, dass meine Reise zu Ende ist. So wie es aussieht, geht die Sonne heute hier ein letztes Mal für mich unter.

– Da haben Sie wohl recht. Deshalb sollten wir darauf trinken. Auch dazu werden Sie so schnell nicht mehr Gelegenheit bekommen. Jámas. So sagt man doch, wenn man hier miteinander anstößt, oder?

– Jámas.

– Sehr schön. Sie haben die richtige Entscheidung getroffen. Also lassen Sie uns über Ihren Vater reden.

– Warum über meinen Vater?

– Er hat Sie alleine großgezogen, das war bestimmt nicht immer einfach, oder?

– Sie interessieren sich für meine Kindheit? Ich dachte, es geht hier um die Morde, derer man mich bezichtigt.

– Wir haben neben den üblichen Protokollen noch weitere von Richards Aufzeichnungen zu Ihrem Fall gefunden.

– Und?

– Er hat mehrfach das Wort Missbrauch notiert. Der Name Ihres Vaters stand daneben.

– Darüber möchte ich nicht sprechen.

– Das sollten Sie aber. Ich denke, dass das zu Ihrem Motiv gehört und Ihr Amoklauf unter anderem durch die Handlungen Ihres Vaters motiviert war. Dass diejenigen, die Sie getötet haben, auch dafür bezahlt haben, was er Ihnen angetan hat.

– Keine Ahnung, wovon Sie reden.

– Sie wurden von zwei Männern vergewaltigt, richtig? Vor fünf Jahren im Wald, dort wo Ihr Lieferwagen ausgebrannt ist. Laut Richards Rückschlüssen wurden Sie dadurch wieder daran erinnert, was mit Ihnen geschehen ist, als Sie zwölf Jahre alt waren. Der Freund Ihres Vaters hat seine Vermutungen haarklein in seinem Notizbuch festgehalten. Richard hat sich viele Gedanken über Sie gemacht. Das scheint ihm am Ende aber zum Verhängnis geworden zu sein.

– Ich will und kann mich daran nicht erinnern.

– Verstehe ich. Trotzdem könnte das Auswirkungen auf das Strafmaß haben. Sie waren traumatisiert. Ein guter Anwalt könnte es nutzen, um Ihnen ein paar Jahre im Gefängnis zu ersparen. Also reden Sie mit mir darüber.

– Ich habe Nein gesagt. Ich werde nie wieder ein Wort darüber verlieren. Sollte das meine Strafe verlängern, werde ich es hinnehmen.

– Schade. Dann lassen Sie uns über Maren sprechen. Ich nehme zwar an, dass Ihnen auch das nicht leichtfallen wird, aber ich kann es Ihnen nicht ersparen.

– Maren ist tot.

– Sie müssen sie sehr geliebt haben. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass jemand beschließt, ein Blutbad anzurichten, nur um vermeintlich für Gerechtigkeit zu sorgen.

– Maren war alles, was ich hatte.

– Sie haben Sie damals gefunden. Erstochen in ihrer Schrebergartenhütte. Brutal ermordet. Ihr Körper grausamst verstümmelt. War das der Moment, in dem Sie beschlossen haben, Ihr Leben wegzuwerfen?

– Mein Leben war ab diesem Moment nichts mehr wert.

– Sie hätten sich nicht mit diesen Leuten anlegen sollen. Laut Richards Aufzeichnungen hat er Sie mehrmals vor ihnen gewarnt. Warum haben Sie es nicht einfach gut sein lassen?

– Ich wollte immer nur ein ganz normales Leben führen. Glücklich sein. Diese Leute haben mir mein Glück genommen.

– Wenn Sie zurück in Deutschland sind, wird man Sie wegen Mordes an mindestens drei Mitgliedern der chinesischen Mafia anklagen. Die Beweislast ist erdrückend. Während Sie es sich hier in der Sonne gemütlich gemacht haben, waren wir nämlich fleißig. Wir können Ihnen so einiges nachweisen. Alle Details zu Ihrem Amoklauf können Sie in einer mehrere tausend Seiten umfassenden Ermittlungsakte nachlesen.

– Ich weiß, was ich getan habe. Und Sie anscheinend auch. Ich verstehe also nicht, was das Ganze hier soll.

– Ich möchte gerne mit Ihnen über die Dinge reden, die wir nicht wissen. Über Ihre Flucht zum Beispiel. Ich möchte wissen, was hier auf der Insel passiert ist, nachdem Sie es vor fünf Jahren mit Richards Hilfe geschafft haben unterzutauchen. Es gibt noch so viele offene Fragen, und wie bereits erwähnt, bin ich unglaublich neugierig, Antworten darauf zu bekommen.

– Ich soll mich selbst belasten?

– Ja, das sollten Sie. Sie haben tatsächlich nichts mehr zu verlieren. Die Wahrheit ist das Einzige, worauf Sie jetzt noch bauen können. Stillen Sie meine Neugier, und ich verspreche Ihnen, dass ich mich für Sie starkmachen werde.

– Warum sollte ich Ihnen vertrauen?

– Ich bin extra hierhergereist, um Ihnen die Möglichkeit zu geben, mir verständlich zu machen, warum Richard Ihnen geholfen hat. Warum er Sie verschont hat. Ich habe ihn immer respektiert und seine Meinung geschätzt. Wer weiß? Vielleicht überzeugen Sie mich ja.

– Wovon? Dass ich unschuldig bin? Soll ich Sie überreden, mich laufen zu lassen? Das ist lächerlich. Ich habe begriffen, dass das hier kein Märchen ist und Sie nicht die gute Fee. Also hören Sie auf, hier Theater zu spielen.

– Das mache ich nicht. Ich würde die Geschichte nur gerne aus Ihrem Mund hören und anschließend dafür sorgen, dass man Sie gut behandelt. Das bin ich Richard schuldig.

– Wissen Sie, was komisch ist?

– Sagen Sie es mir.

– Irgendwann habe ich wirklich begonnen, daran zu glauben, dass ich hier neu anfangen kann. Eine Zeit lang hat alles so ausgesehen, als könnte ich noch einmal glücklich werden.

– Beinahe hätten Sie es geschafft. Von meinen Kollegen hat tatsächlich niemand mehr daran geglaubt, dass wir Sie jemals noch aufspüren werden. Wenn ich nicht wäre, würden Sie wahrscheinlich auf der Insel alt werden, ohne je wieder mit Ihrem alten Leben in Berührung zu kommen.

– Muss ich Ihnen jetzt zu Ihrer Beharrlichkeit gratulieren?

– Müssen Sie nicht. Aber wenn ich das richtig verstanden habe, wollen Sie wissen, wie ich Sie gefunden habe.

– Es geht um Ingrid, richtig?

– Deshalb bin ich hier, ja.

Ingrid

Ich wäre am liebsten aufgestanden und losgerannt.

Ich wollte nicht mehr zurückschauen, sondern nur noch laufen. Den Berg hinunter, durch den Ort bis zum Meer. Während Liebermann vor mir saß, mich erwartungsvoll anschaute und ihren Wein im Glas schwenkte, stellte ich mir vor, wie ich ins Wasser eintauchte und schwamm. Ich sah, wie sich ihre Lippen bewegten, und spürte das salzige Wasser auf meiner Haut. Es trug mich. Trieb mich von ihr weg. Immer weiter hinaus, stundenlang wollte ich zwischen den Wellen treiben, bis ich die Insel irgendwann nicht mehr sehen konnte. In Gedanken schwamm ich, bis ich meinen Körper nicht mehr spürte und mich das dunkle Blau verschluckte.

Bis es mich hinunterzog.

Dorthin, wo alles still war.

Ich starb, während Liebermann mit mir redete.

Und doch tat ich artig, was sie von mir forderte.

Weil ich die schützen wollte, die mir lieb geworden waren, begann ich über Ingrid zu sprechen. Ich redete und schaute auf den Horizont. Sah zu, wie die Sonne unterging, und erinnerte mich. Dachte an den Tag zurück, an dem Stavros mir diese Frau aus Deutschland vorstellte, die in den Sommermonaten Stammgast in der Taverne war.

Ingrid war eine elegante Erscheinung. Zurückhaltend, Mitte fünfzig, geschieden, alleinstehend, gut gekleidet, sehr großzügig mit Trinkgeld. Sie war reich. Besaß ein großes Haus direkt am Strand.

Nach dem Essen saß sie meistens noch lange auf der Terrasse und las ein Buch. Gerne unterhielt sich Ingrid mit mir, genoss es, mit jemandem Deutsch zu sprechen. Ihre weiche Stimme geistert immer noch durch meinen Kopf.

Esgibt wohl kaum einen schöneren Platz auf der Welt als diesen, sagte sie. Wenn ich könnte, würde ich das ganze Jahr über hier leben.

Ingrid schwärmte von diesem Ort wie kaum jemand anderes sonst. Sie war fasziniert von der Schönheit der Insel, schätzte deren Kargheit und die Stille genauso wie ich. Es gab gemeinsame Interessen. Bücher, über die wir uns austauschten, freundliche und respektvolle Gespräche waren es. Von Mal zu Mal näherten wir uns an. Als sie mir das Angebot machte, auf ihr Anwesen achtzugeben in der Zeit, in der sie nicht da war, zögerte ich keine Sekunde.

Im Winter und im Frühjahr stand ihr Bungalow leer, Ingrid brauchte jemanden, der den Garten pflegte, die technischen Anlagen wartete, im Haus abstaubte und all jene abschreckte, die auf die Idee kommen könnten einzubrechen.

Geld spielt keine Rolle,sagte sie. Wichtig ist nur, dass ich mich auf dich verlassen kann, John. Wäre doch schön, wenn wir uns einigen würden, oder? Überlege es dir, ich würde mich freuen.

Ich gab ihr die Hand und willigte ein. So würde ich die Zeit ohne Touristen überbrücken können, in der Stavros mich nicht beschäftigte. Und ein Stück weit von Elena und Stavros unabhängig zu sein, fühlte sich gut an. Es war eine schöne Fügung des Schicksals, die dazu beitrug, dass ich mich auf der Insel noch wohler fühlte.

Ingrid zeigte mir alles und drückte mir die Hausschlüssel in die Hand, als der Herbst kam. Sie erklärte mir, worauf sie Wert legte, und ließ mich mit einem Augenzwinkern in ihrem Paradies zurück.

Du hast meine Nummer, John. Wenn etwas ist, ruf mich jederzeit an.

Ingrid stieg in ein Taxi und winkte.

Erst fünf Monate später wollte sie zurückkommen.

Ich mähte den Rasen, goss die Pflanzen, kehrte die Wege, überprüfte regelmäßig die Wasserleitungen, machte den Pool winterfest und sorgte dafür, dass alles sauber blieb. Dreitausend Quadratmeter Garten, dreihundertfünfzig Quadratmeter Wohnfläche inklusive Wellnessbereich, alles geschmackvoll eingerichtet, das Anwesen war ein Spielplatz für mich in der Zeit, in der ich im Restaurant nichts zu tun hatte. Ich schlief am Berg bei Stavros und Elena und verbrachte die Tage unten in Ingrids Haus und Garten.

Es war ein Geschenk, das Gartentor hinter sich schließen und allein sein zu können. Niemand beobachtete mich, stellte Fragen. Ich reparierte, schnitt Sträucher, ölte die Möbel und die Böden. Die Arbeit vertrieb die Angst, die mich sonst aufgefressen hätte, die Sorge, erkannt und eingesperrt zu werden, beinahe vollends. Ich beschäftigte mich. Dachte nicht nach. Weder über meinen Vater noch über die Monster, die mir meine Liebe genommen hatten. Die Arbeit, die ich für Ingrid leistete, drängte alles, was mich quälte, in den Hintergrund. Nur wenn ich nachts in meinem Zimmer über der Taverne war, erinnerte ich mich immer wieder an meine dunkle Vergangenheit. An das, was mich zur Mörderin hatte werden lassen.

Zwischen all der Schönheit blieb es dunkel.

Die Nacht verschluckte mich.

Bis ich wieder im Garten des Bungalows Blätter vom Boden aufsammelte und mir einredete, dass ich ein Recht auf diesen Neuanfang hätte. Als kleiner, unbedeutender Gast in Ingrids Welt. Verborgen und geschätzt. Denn als sie im Frühling zurückkam und sah, was ich in den Monaten ihrer Abwesenheit geleistet hatte, strahlte sie. Der Überschwang, mit dem sie mich lobte, tat mir gut, die Dankbarkeit, mit der sie mich bedachte. Ingrid ging mit mir über das Grundstück und durch das Haus, sie konnte ihre Begeisterung kaum bremsen.

Was bist du nur für ein Schatz, John. Wie hast du das alles nur hinbekommen? Von mir aus kannst du für immer hierbleiben, mein Lieber.

Sie umarmte mich und sagte, dass sie so etwas noch nie erlebt hätte. Bezahlte mir jede einzelne Überstunde, Ingrid zeigte sich großzügiger, als ich es jemals erwartet hätte.

Lass uns ein Glas Wein zusammen trinken, sagte sie.

Immer öfter lud sie mich nach der Arbeit dazu ein. Während der folgenden Wochen tranken wir Wein und manchmal einen Ouzo zusammen auf der Terrasse, einmal überredete sie mich sogar, zum Essen zu bleiben, sie servierte Moussaka, das sie nach einem Rezept von Elena zubereitet hatte. Zwischen Ingrid und mir entwickelte sich eine Art Freundschaft, doch ich bewahrte eine höfliche Distanz.

Sie duzte mich, ich sie nicht. Wir genossen die Gesellschaft des jeweils anderen, sprachen miteinander, lachten und verloren gerne gemeinsam die Zeit aus den Augen. Trotzdem war immer klar, was eigentlich meine Aufgabe war.

Ich arbeitete für sie, und sie bezahlte mich dafür.

Ich war weiterhin bei Stavros in der Taverne beschäftigt, verbrachte aber jede freie Minute in dem Bungalow. Knapp zwei Jahre lang lief ich den Berg hinunter und hinauf. Ingrid kam und ging.

Langsam wurde wieder Herbst.

Dann Frühling.

Und erneut Sommer.

Keine Sekunde machte ich mir Gedanken darüber, dass mit Ingrid etwas nicht stimmen könnte. Erst als sie kurz vor Wintereinbruch noch einmal, unerwarteterweise, auf die Insel zurückkam, zeigte sich, mit wem ich mich eingelassen hatte. Ohne ihren Koffer im Haus abzustellen, kam Ingrid direkt in den Garten auf mich zu.