JOHN ETTER - Stummer Schrei - John Etter - E-Book

JOHN ETTER - Stummer Schrei E-Book

John Etter

0,0

  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

John Etter - Stummer Schrei 2003 verschwand die 10-jährige Selina spurlos. 2013 kommt sie nach einem Unfall, bei dem der Entführer ums Leben kam, frei. Sie hat in der Zwischenzeit ein Kind vom Entführer geboren. Kann sie jetzt lernen, ein normales Leben zu führen? John Etter nimmt sich ihrer an und erfährt am eigenen Leib, was missbrauchte Entführungsopfer auf dem Weg ins normale Leben mitmachen. Die Lösung des Falls wird zum Nebenschauplatz. Selina und ihr Kind stehen im Mittelpunkt. Mitfühlend, beengend, einfühlsam, ergreifend, jenseits des Krimimainstreams. Der etwas andere Krimi, der die Seite des Opfers miterzählt. Das Auf und Ab im täglichen Leben, die verschiedenen Phasen aus der beklemmenden Aussichtslosigkeit in ein Weiterleben, das diesen Namen auch verdient. Nicht reißerisch - nahe am Leben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 360

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



John Etter

Privatdetektiv

Stummer Schrei

Kriminalroman

Text: © Silvio Z. via buchwerkzeug.ch

Umschlaggestaltung: © Silvio Z., www.silvioz.ch

Das Unerträgliche ist, dass die Kinder,

wenn sie sich aus dem Kokon

von Schweigen und vermeintlicher Schuld

heraus trauen, nicht auf offene Ohren stoßen.

Sie suchen nach Hilfe – aber sie bekommen sie nicht.

Wer Missbrauch überlebt hat,

gehört zu den mutigsten und stärksten

Menschen in unserer Gesellschaft, ausgestattet mit Sensibilität, Mitgefühl und einem hohen Maße an Kreativität.

Diese Menschen sind über sich selbst hinausgewachsen

und haben Unvorstellbares geleistet.

Nur viele von ihnen wissen das gar nicht!

Petra Pauls

Kapitel 1

November 2003. Selina betrat früh an diesem trüben Novembermorgen die Küche. In der Wohnung war es vollkommen still. Ihre Eltern waren arbeiten. Noch vor einem Jahr war die jetzt Zehnjährige nicht alleine gewesen, bevor sie zur Schule musste, nur manchmal, wenn sie mittags nach Hause kam. Doch seit sie in die Realschule gewechselt hatte, achteten die Erwachsenen nicht mehr ganz so stark darauf, dass immer einer bei ihr war. Seufzend nahm sie die bereits fertig geschmierten Schulbrote aus dem Kühlschrank. Wenigstens das tat ihre Mutter noch, wenn sie so früh aus dem Haus musste. Selina rümpfte die Nase, nachdem sie nachgesehen hatte, was es geben würde. Käsebrote. Die mochte sie am wenigsten. Doch sie hatte nicht die Zeit, sich etwas anderes zu machen, denn im Bad hatte sie heute wieder viel zu lange herumgebummelt. Daher warf sie die Brotdose achtlos in den Rucksack zu den Schulbüchern für den heutigen Tag. Im Stehen schlang sie eine Banane herunter, zu mehr fehlte ihr heute die Zeit.

Draußen war es noch beinahe dunkel, als das Kind die Haustür hinter sich schloss. Die Schultasche wirkte viel zu schwer für die schmächtige Gestalt des Mädchens. Gelbliche Lichter von Scheinwerfern folgten ihr. Zuerst bemerkte sie es nicht, obwohl hier um diese Uhrzeit fast nie Autos auf der Straße unterwegs waren. Erst als sie in den schmalen Waldweg einbog, den sie jeden Morgen ging, um zur Schule zu kommen, kam ihr der Gedanke, dass sie verfolgt wurde, denn der Wagen war noch immer dicht hinter ihr.

Sie ließ den Rucksack fallen und lief los, so schnell, wie ihre Beine sie tragen konnten. Doch es hatte keinen Sinn, vor jemandem zu fliehen, der in einem Auto sitzt.

Das musste Selina auch einsehen, Sie hatte keine Wahl, es gab auf dieser Strecke keinen Ausweg. Eine Wurzel brachte sie zum stolpern und so stürzte sie der Länge nach hin. Noch bevor sie sich hatte aufrappeln können, spürte sie, wie sie emporgezogen wurde.

Als sie schreien wollte, presste sich eine schwielige Hand auf ihre Lippen und raubte ihr nicht nur die Stimme, sondern auch die Luft zum Atmen. Unsanft wurde sie in den dunklen Kastenwagen geworfen.

Die massige Gestalt des Mannes kroch hinterher. Zitternd presste sich Selina gegen die kalte Wand. Er packte sie grob und sie fühlte einen feinen Stich am Handgelenk. Kurz danach wurde alles um sie herum dunkel.

Kapitel 2

Juni 2013. John Etter nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse und blickte sich um. Seine Tarnung war perfekt, ein Mann, der seine Mittagspause nutzte, den Sonnenschein zu genießen, bevor die Büroarbeit wieder rief. Am Nebentisch in der Bistro-Bar saß die Frau, die er beschattete. Wie schon die ganze letzte Woche über, während er sie beobachtete, tat sie nichts Auffälliges. Sie hatte eine Tasse Tee vor sich stehen und las. Wenn er den Titel richtig deutete, einen Liebesroman. An Tagen wie heute verfluchte er seinen Entschluss, sich mit einer Detektei selbstständig zu machen. Noch vor wenigen Jahren war er Kriminalkommissar gewesen. Man hatte ihm eine überdurchschnittliche Intelligenz bescheinigt und eine schnelle Karriere versprochen. Doch nun saß er hier und verbrachte seine Tage damit, untreue Ehepartner zu verfolgen und das alles nur, weil er meinte, den Anblick der Opfer nicht länger ertragen zu können. Abgesehen von seinem ehemaligen Partner und besten Freund, Bruno Bär, wusste niemand, wie sensibel der große Mann mit dem breiten Kreuz sein konnte.

Natürlich gab es ab und zu auch einen Fall zu lösen, der ihn herausforderte und je länger er Detektiv war, umso mehr suchte er die Herausforderung in schwierigeren Fällen.

Er trank noch einen Schluck Kaffee und zog das Handy aus der Tasche. Zumindest diese Frau hatte er entlasten können. Aber das hatte er ihrem Mann schon vor einigen Tagen mitteilen wollen, doch dieser hielt an seiner Behauptung fest, dass seine Frau ihn betrog. Nun, wenn sie es tat, so spielte sich alles nur in ihrer Fantasie ab, denn sie verbrachte ihre Mittagspausen immer alleine mit einem Buch und auch abends ging sie nicht aus, es sei denn, ihr Mann begleitete sie. Nun winkte sie den Kellner mit einem freundlichen Lächeln zu sich und zahlte. Ohne auf ihr Wechselgeld zu warten, obwohl sie mit einem Schein bezahlt hatte, stand sie auf. Sie schob die Sonnenbrille, die ihre langen dunklen Locken aus dem fein geschnittenen Gesicht gehalten hatte, auf die Nase und bummelte zurück zu dem Bürogebäude auf der anderen Straßenseite. Dort arbeitete sie am Empfang einer großen Anwaltskanzlei. Nun machte sich auch John zu Fuß auf den Rückweg. Er wusste ja, wann sie Feierabend hatte und wenn sie nicht gerade mit einem der Anwälte eine Affäre hatte, der sie während der Arbeitszeit frönte, würde sich für sie keine Gelegenheit zum Fremdgehen ergeben. Er konnte durch die großen Fensterscheiben in ihr Büro sehen und ihr vermuteter Chef sass ein Büro daneben. Nie gab es auch nur einen kleinsten Hinweis auf eine mögliche Affäre.

Weit war er noch nicht gekommen, als er quietschende Bremsen und einen lauten Schrei vernahm. John Etter lief in die Richtung und kam bei der großen, vierspurigen Kreuzung an, an der es schon mehrfach zu Unfällen gekommen war. Ein Mann lag am Boden, mehrere Meter entfernt stand ein Auto. Der Fahrer lehnte zitternd und blass an der Tür und stammelte leise vor sich hin. Ein unscheinbares Mädchen kniete beim Verletzten. Ihre Hände waren voller Blut, das aus seiner Kopfwunde sickerte. Eine Menschentraube bildete sich um die Szenerie und es war kurze Zeit später auch bereits das Martinshorn des herannahenden Krankenwagens und die Sirenen der Polizei zu hören.

„Bitte sag mir, wo sie ist!“, hörte John das Mädchen wimmern. Er ging zu ihr und zog sie weg, um den Sanitätern und dem Notarzt Platz zu machen. Sie wehrte sich.

„Ich muss bei ihm bleiben!“

„Warte, lass die Ärzte ihm helfen. Später kannst du mit ihm sprechen.“ Instinktiv duzte John sie. Doch das junge Mädchen schüttelte den Kopf.

„Ich muss jetzt mit ihm reden. Es ist wichtig. Nichts Wichtigeres gibt es für mich!“ John sah, wie der Notarzt den Kopf schüttelte, das Unfallopfer würde vermutlich nicht überleben.

„Bist du verletzt?“ John besah sich die schmutzige Kleidung. Blutspritzer trockneten auf dem Rock.

„Nein und jetzt lassen Sie mich zu ihm. Ich muss etwas von ihm erfahren, bevor es zu spät ist.“ Verzweifelt riss sie sich los und lief in Richtung des Krankenwagens, in den der leblos wirkende Körper gerade hineingehoben wurde. An den ruhigen Bewegungen der Sanitäter konnte man schon erkennen, dass ihm wohl nicht mehr zu helfen war. Er würde zum Sterben und zur Obduktion ins Kantonsspital gebracht.

„Es tut mir leid …“, flüsterte John. Sie schrie auf und sackte ohnmächtig zusammen.

Kurze Zeit später im Krankenzimmer des Kantonsspitals fragte sein ehemaliger Kollege ihn: „Weißt du, wer sie ist?“ Bruno Bär sah zu der noch immer Bewusstlosen in dem hellen Krankenzimmer. John schüttelte den Kopf.

„Nein! Hatte sie keine Papiere bei sich?“

„Sonst hätte ich nicht gefragt. Das Unfallopfer hatte auch keinen Ausweis dabei. Wir überprüfen seine und auch ihre Fingerabdrücke, mal sehen, was dabei herauskommt. Aber vielleicht wird sie ja vorher wach und kann unsere Fragen beantworten.“

„Und was ist mit dem Fahrer des Wagens?“

„Er ist für uns ein Unbekannter. Noch nicht einmal einen Strafzettel wegen Falschparkens hat er in seinem Leben bekommen. Ich gehe also erst einmal von einem Unfall aus.“

„Sag mir Bescheid, wenn sich etwas ergibt, Bruno! Ich werde hier bleiben und warten, ob das Mädchen etwas sagen kann.“

„Oder sagen will. Es klang ja sehr mysteriös, was sie deiner Aussage nach von sich gegeben hat.“ Bruno nickte seinem besten Freund noch einmal zu, bevor er das Krankenzimmer wieder verließ. John Etter setzte sich auf den Stuhl, den er sich neben das Bett im Einzelzimmer gestellt hatte. Mysteriös hatte er die Worte des Mädchens nicht gefunden. Eher beklemmend, denn er ahnte schon, dass sich etwas hinter all dem verbarg. Er sah in das eingefallene Gesicht. Dunkle Schatten lagen unter den Augen und irgendwie wirkte die Haut seltsam, so als hätte sie nicht viel Kontakt mit Sonnenlicht.

Leise vibrierte sein Handy.

„Ja, Susanne?“ John flüsterte und stand auf.

„Ich bin noch im Krankenhaus und ich werde wohl auch hier bleiben, bis das Mädchen wieder bei Bewusstsein ist.“ Wieder lauschte er schweigend.

„Nein, ich weiß noch nicht, wer sie ist und ja, es interessiert mich. Du weißt ja, ich bin von Natur aus neugierig.“ Er lachte.

„Ja ich melde mich, wenn ich mehr weiß. Und nein, Frau Walser werde ich nicht weiter beschatten. Die Frau hat definitiv keine Affäre. Sagst du es ihrem Mann und machst einen Schlussbericht mit Abschlussrechnung?“

Nachdem Susanne zugestimmt hatte, bedankte er sich und packte das Handy wieder in die Innentasche seiner Lederjacke. Nun betrat er den Raum wieder. Das junge Mädchen lag nun wach im Bett und starrte an die Decke.

„Wohin haben Sie mich gebracht? Und wo ist er?“

„Du bist im Krankenhaus. Und er lebt nicht mehr. Es tut mir leid!“

„Nein, das darf nicht sein“, schrie sie auf.

„Leider hat er den Unfall nicht überlebt. Willst du mir nicht erzählen, wer du bist?“

„Ich bin Niemand“, flüsterte sie und schloss die Augen.

„Kein Mensch ist Niemand. Man ist immer jemand. Ich bin John, John Etter. Verrate mir doch deinen Namen.“ Sanft und ruhig sprach er auf sie ein.

„Ich bin Niemand“, wiederholte sie jedoch nur.

„Gut! Verrätst du mir dann wenigstens, wer der Mann war, den du so dringend sprechen wolltest? Er hatte keinen Ausweis bei sich.“

„Er war jemand, doch wer genau, kann ich nicht beantworten!“

„Und warum nicht?“ Obwohl dieses Gespräch alles andere als ergiebig war, verlor John nicht die Geduld.

„Ich kann nicht oder darf nicht. Vielleicht will ich auch nicht. Suchen Sie sich doch einfach die Antwort aus, die Sie am ehesten hören wollen.“

„Ich würde am liebsten eine ehrliche Antwort hören. Deinen Namen, seinen Namen, seine Adresse und auch den Grund, was so wichtig gewesen wäre, dass du mit ihm sprechen wolltest. Vielleicht kann ich dir helfen.“

„Helfen kann man mir schon lange nicht mehr. Und ich wollte mit ihm sprechen, ich habe nur eine Antwort gebraucht, die ich jetzt nicht mehr bekomme. Seine Adresse, die kenne ich nicht, seinen Namen hat er mir nie verraten und meiner wurde mir vor Jahren genommen.“

John Etter ahnte Schlimmes, schließlich wurden oft junge Mädchen entführt. Manche tauchten wieder auf, lebend aber verstört, so wie dieses hier. Andere fand man tot und man ahnte nur, dass dieser eine Erlösung gewesen sein musste und wieder andere blieben verschwunden. Viele waren auch nur ein paar Tage weg und tauchten fröhlich wieder auf. Dieses Mädchen aber nicht. Sie schien schwere Zeiten hinter sich zu haben.

„Und wie wurdest du genannt, bevor man dir deinen Namen genommen hat?“

„Selina“, flüsterte sie beinahe tonlos.

„Gut Selina, kannst du mir die anderen Fragen vielleicht auch beantworten?“ Sie schüttelte den Kopf. Dann klopfte es und eine junge Krankenschwester betrat das Zimmer.

„So, Sie sind wach, dann kann ich Sie direkt mit zu einigen Untersuchungen nehmen.“

„Ich will nicht! Ich will gehen“, widersprach Selina.

„Tut mir leid, aber Sie können nicht gehen, bevor sie nicht gründlich untersucht wurden!“ Obwohl die Schwester klein und zierlich war, hatte sie eine höchst energische Stimme. Sie zog Selina vom Bett und platzierte sie in einen Rollstuhl. John erhob sich ebenfalls.

„Ich komme später noch einmal wieder. Bitte denk darüber nach, ob du meine Fragen beantworten kannst. Ich glaube, dass ich dir wirklich helfen kann.“ Mit diesen Worten legte er eine seiner Visitenkarten auf den Nachttisch.

„Sie können mir nicht helfen, so sehr ich es mir auch wünsche. Nur der Tote hätte es gekonnt.“ Tränen rannen über die Wangen und ließen die hellen Augen glitzern.

„Ich bin Privatdetektiv und arbeite eng mit der Polizei zusammen. Mir fällt bestimmt etwas ein, womit ich dir helfen kann!“

Wieder schüttelte sie den Kopf, doch dieses Mal sagte sie nichts mehr. John Etter beobachtete noch, wie der Rollstuhl den langen Gang hinunter geschoben wurde, dann verließ er das Krankenhaus.

Nachdem er in seinen Wagen gestiegen war, nahm er sein Handy. Die Nummer von Kommissar Bruno Bär stand an einer der ersten Stellen seiner Anrufliste.

„Hallo, ich wollte dir sagen, dass unsere Unbekannte wach ist. Sie heißt Selina und ich vermute, dass der Kerl, der überfahren wurde, sie längere Zeit gefangen gehalten hatte. Alles, was sie andeutet, spricht dafür.“ John hörte, wie Bruno tief durchatmete, bevor er antwortete.

„Wir kennen doch so was. Ein kleiner Spaziergang, nachdem sie jahrelang brav gehorcht hatte. Und ich glaube, dass er sie mit noch etwas in der Hand hat. Du kennst solche Fälle ebenso gut wie ich, Bär! Es wird dauern, bis sie mir oder einem von uns genug vertraut, um mir ihr Leid zu klagen.“ Während er Brunos Antwort lauschte, kramte er im Handschuhfach nach seinen Zigaretten.

„Natürlich werde ich mich weiter um diese Selina kümmern. Das ist auf jeden Fall spannender, als hübsche Empfangsdamen beim lesen zu beobachten, weil der Mann an einer latenten Paranoia leidet und meint, dass sein braves Frauchen ihn betrügt. Also, ich halte dich über Selina auf dem Laufenden und du sagst Bescheid, wenn sich bei dem Toten und dem Unfallfahrer etwas Neues ergibt. Ich nehme an, dass ihr gleich noch jemanden bei Selina vorbeischickt, falls sie euch mehr sagt, wäre ich froh, es zu erfahren.“

Nach einem kurzen Abschiedsgruß legte John auf und startete seinen Wagen. Er wollte nur noch nach Hause. Vielleicht ein Bier trinken und etwas entspannen. Wobei er wusste, dass er nicht würde entspannen können, sondern sich Worte für das nächste Gespräch mit Selina zurechtlegen würde. So war er immer schon gewesen und dieser grundlegende Aspekt seines Charakters, würde sich vermutlich auch nicht ändern.

Zu Hause wartete bereits seine Partnerin Alina auf ihn und bemerkte sofort die Anspannung in John. Sie hatte ebenfalls schlechte Nachrichten für ihn.

Ihr Bruder hatte in der Produktionsstätte in Hongkong ein wahres Tohuwabohu hinterlassen und sie müsste dies wieder in Ordnung bringen.

John kannte diese Geschichte nur zu gut und stellte sich auf einige Wochen ohne Besuche von Alina ein. Eine letzte Nacht blieb ihnen noch, bevor Alina ihn für mehrere Wochen verlassen musste.

Die Liebe war noch neu. Jahre hatte er niemanden mehr in sein Leben gelassen. Nicole war vor Jahren eine ernsthafte Beziehung, und nachdem diese Beziehung in die Brüche ging, gab es nur noch einen One-Night-Stand mit einer Kollegin – Andrea.

Die Sache mit seinen Eltern ließen den Partnerwunsch in den Hintergrund treten und nachdem sie gestorben waren, fand er keine Zeit dazu. Bis Alina anlässlich eines speziellen Falles in sein Leben trat.1

1 John Etter – Verschollen in den Höllgrotten

Kapitel 3

November 2003. Als Selina erwachte, lag sie auf einer Matratze und ihr war kalt. Ihr Rucksack war nicht da, obwohl sie meinte, dass ihr Entführer ihn auch mitgenommen hatte. Grau verputzte, glatte Wände umgaben sie und nur in einer Ecke war ein Vorhang. Sie stand auf und schlich vorsichtig dorthin. Es war eine Toilette und ein Waschbecken. Das einzige Licht in diesem Verlies kam von einer nackten Glühbirne, die von der niedrigen Decke baumelte. Fenster gab es in diesem Raum keine. Außer der Matratze gab es keine anderen Möbel und die Tür, die sie entdeckte, konnte man nur von außen öffnen.

Quietschende Schritte auf einer Treppe ließen sie zurück zur Matratze laufen. Doch die Tür öffnete sich, noch bevor sie diese erreicht hatte. Der Mann, der nun eintrat, wirkte auf das Mädchen riesenhaft. Zitternd wich sie zur Wand zurück.

„Aufs Bett“, knurrte er. Selina schüttelte den Kopf und presste sich noch dichter gegen die kalte Wand.

„Zum Bett hab ich gesagt! Du hast mir zu gehorchen!“ Er wurde lauter. Doch auch jetzt blieb das Mädchen stehen. Er kam auf sie zu, packte sie am Arm und zerrte sie zu der Matratze.

„Wenn ich dir etwas befehle, hast du es auch zu tun!“ Mit diesen Worten stieß er sie hinunter. Tränen rannen über ihre Wangen.

„Hör auf zu flennen!“

„Ich will nach Hause“, schluchzte sie.

„Das ist jetzt dein Zuhause. Deine Eltern haben dich an mich verkauft.“ Mit diesen Worten zerrte er an ihrer Kleidung und presste sie hinunter auf die Matratze. Selina weinte leise, doch dieses Mal schien es ihn nicht zu stören.

Kapitel 4

Juni 2013. Die geöffnete Bierflasche stand auf der Glasplatte des Couchtisches. John hatte jedoch noch nicht einen Schluck getrunken. Seine Gedanken kreisten um Selinas Worte. Er fragte sich, wer Sie war. Diese Selina wollte vom Mann wissen, wo SIE war. Es musste jemand sein, der dem Mädchen viel bedeutete. Eine Mitgefangene vielleicht. Sein Handy klingelte.

„Ja, Susanne?“ Er lauschte, was seine Sekretärin über das Gespräch mit dem Klienten zu berichten hatte.

„Egal, dann zahlt er eben nicht. Kopie vom Auftrag und der Rechnung ans Inkassobüro, wie immer in solchen Fällen. Den kleinen Verlust wegen der Gebühren, das nehme ich in kauf.“ John zündete sich noch eine Zigarette an. Es war die Vierte in den zweiundzwanzig Minuten, seit er sein Haus betreten hatte. Er hatte Alina zum Flughafen gebracht und sie schweren Herzens verabschiedet. Wieder einmal sagte er sich, dass er zu viel rauchte. Doch im Moment war es ihm egal.

„Ach Susanne, kannst du mal bitte nach vermissten Mädchen suchen. Unsere Verletzte heißt Selina und ich schätze sie so auf sechzehn, siebzehn.“ Sie versprach es ihm. John legte auf und schaltete den Laptop ein. Er erstellte eine neue Datei und tippte langsam, mit vielen Pausen alles, was er bislang erfahren hatte. Eine Seite verwendete er für Fragen, die er Selina stellen wollte, sobald sie mehr Vertrauen zu ihm aufgebaut hatte. John seufzte und griff nun doch nach der Bierflasche. Doch noch bevor er einen Schluck trinken konnte, klingelte sein Handy. Er sah auf das Display. Eine ihm unbekannte Nummer wurde angezeigt. Keine fünf Minuten später verließ er sein Haus.

Auf dem Parkplatz des Krankenhauses rauchte er noch eine Zigarette, bevor er das Gebäude betrat. Wie so oft wartete er nicht auf den Lift, sondern lief die Treppen hinauf. Vor dem Stationszimmer atmete er noch einmal tief durch. Warum ihn die behandelnde Ärztin sprechen wollte, konnte er sich nicht vorstellen. Schließlich war er nur Privatdetektiv und kein Polizist mehr. Zudem gab es ja auch noch die ärztliche Schweigepflicht. John schüttelte den Kopf, wie um jeden Gedanken zu vertreiben und klopfte.

„Herr Etter, die Patientin hat mir ihr ausdrückliches Einverständnis gegeben, mit Ihnen zu sprechen. Warum mit Ihnen und nicht mit der Polizei sagte sie nicht.“

„Das ist auch nicht unbedingt notwendig. Dinge, die für die Ermittlungen relevant sind, bespreche ich mit dem ermittelnden Beamten. Ich war früher selber bei der Polizei.“

"Ich bin mir nicht sicher, ob die junge Frau damit einverstanden sein wird, doch ich kann Sie verstehen.“

„Das werde ich mit ihr klären. Aber, worum geht es?“ Er spürte das Kribbeln in seinem Körper, das sich schon früher immer eingestellt hatte, wenn es einen schwierigeren Fall zu lösen gab.

„Die junge Frau ist in einem schlechten Gesundheitszustand, kein Sonnenlicht über längere Zeit, mangelhafte Ernährung und nur schlecht verheilte Verletzungen. Alles in allem gehe ich davon aus, dass sie seit Jahren eingesperrt war und nicht gut behandelt wurde.“

„Das dachte ich mir bereits, als ich sie das erste Mal sah. Auf wie alt schätzen Sie Selina, Frau Doktor?“

„Schwer zu sagen, achtzehn höchstens. Zumindest von ihrem gesundheitlichen Zustand her. Aber deswegen hatte ich Sie nicht hergerufen, das hätte ich Ihnen auch am Telefon berichten können.“

„Und weswegen sollte ich kommen?“

„Es geht um etwas, das ich bei der Untersuchung herausgefunden habe.“ Hier stockte die Ärztin. John war es so, als fiele es ihr schwer, über ihre Untersuchungsergebnisse zu sprechen.

„Es gibt Anzeichen für anhaltenden sexuellen Missbrauch“, flüsterte sie dann endlich. John stockte der Atem.

„Aber das ist noch nicht alles. Nach meinen Erkenntnissen hat das Mädchen ein Kind geboren. Und das schon vor einigen Jahren. Mindestens drei oder vier.“

Wenig später stand John vor der Tür zu Selinas Krankenzimmer. Er wusste noch nicht, wie er mit ihr über sein Wissen sprechen konnte. Als er es nicht länger aushielt, klopfte er an. Sofort erklang Selinas matte Stimme.

„Hallo, ich hatte dir ja versprochen, dass ich noch einmal zurückkomme.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass Sie ihr Versprechen halten.“ Sie zuckte mit den Schultern.

„Darf ich fragen, warum du die Ärztin mir gegenüber von ihrer Schweigepflicht entbunden hast?“ John setzte sich wieder neben das Bett.

„Sie wollen doch wissen, was los ist. Sagt das Untersuchungsergebnis nicht alles?“ Sie war beinahe noch abweisender als zuvor.

„Zum einen sag doch auch du und John zu mir, Selina. Und dann müssen wir uns unterhalten.“

„Ich will keine Vertraulichkeiten. Und wir brauchen nicht mehr zu sprechen, es ist zu spät.“

„Ich weiß von deinem Kind, Selina. Wolltest du deswegen von ihm wissen, wo eine bestimmte sie ist. Geht es darum, dass er noch immer deine Tochter in seiner Gewalt hatte, als ihr durch die Stadt gelaufen seid?“ John hatte Mühe, ruhig zu sprechen.

„Ja, meine Tochter Lea. Sie ist noch in seinem Haus. Seine Schwester ist bei ihr. Was sie meiner Kleinen antun wird, wenn wir nicht zurückkommen …“. Selina konnte nicht mehr weitersprechen, so stark wurde ihr ausgemergelter Körper von Schluchzern geschüttelt. John konnte sich nicht länger zurückhalten. Er setzte sich auf die Bettkante und nahm das Mädchen, das sich aufgesetzt hatte und seine Tochter hätte sein können, in den Arm. Und obwohl sie ihn zuerst abwehren wollte, schien ihr die freundliche Geste doch gutzutun.

Lange brauchte sie, um sich zu beruhigen.

„Jetzt erzähl mir alles, was dir einfällt. Wie lange warst du bei ihm?“

„Viel zu lange. Mehr will ich dazu nicht sagen.“

„Wie alt ist Lea?“

„Vor drei Tagen fünf geworden.“

„Und wie alt bist du?“

„Heute ist mein Geburtstag.“

„Dann meinen Glückwunsch, du hast die Freiheit geschenkt bekommen.“

„Freiheit. Aber ohne Lea!“, wisperte sie, schon wieder den Tränen nahe.

„Sag mir doch, wie alt du heute geworden bist.“

„Zwanzig!“ Damit hatte John jetzt nicht gerechnet. Schließlich hatten sowohl er als auch die Ärztin das Mädchen jünger geschätzt. Und dazu kam die schockierende Erkenntnis, dass sie wenige Tage vor ihrem fünfzehnten Geburtstag ein Kind zur Welt gebracht hatte. Wahrscheinlich alleine, oder nur in Gesellschaft des Mannes, der sie eingesperrt hatte und sich regelmäßig an ihr verging. Eine ungeheure Wut auf den Toten baute sich in John auf, die er jedoch bekämpfen musste, um weiterhin ruhig mit Selina zu sprechen, um wichtige Informationen zu bekommen.

„War das heute dein erster Ausflug, seit er dich in seiner Gewalt hatte, oder ward ihr schon mehrfach unterwegs?“ Sie nickte nur.

„Das erste Mal.“

„Und wie seid ihr in die Stadt gekommen?“

„Mit seinem Auto.“

„Weißt du, wo er geparkt hatte?“

„Draußen, vor einem Park. Er musste ein Ticket ziehen.“

„Das machst du sehr gut, Selina. Und kannst du mir auch sagen, wie lange ihr gefahren seid?“

„Nein, ich habe keine Uhr und in seinem Wagen habe ich nicht darauf geachtet. Ich hatte einfach Angst.“

„Okay, das ist nicht schlimm. Kannst du mir sagen, wie das Haus aussah, in dem er dich festgehalten hat?“

„Es war alt und die Farbe bröckelte ab. Aber das Haus daneben war schön. Richtig bunt. Ich konnte es von meinem Fenster aus sehen, wenn ich mal die Vorhänge aufmachen durfte, um zu lüften. Ich wurde lange im Keller eingesperrt, aber irgendwann durften wir dann im Estrich hausen.“

„Wie bunt? Ganz bunt oder nur eine Farbe.“

„Nein, ganz bunt. Der Besitzer hat Bilder aufgemalt. Blumen und einen Steinbock.“

„So finden wir das Haus und auch deine Tochter.“

„Und Sie holen Lea da raus?“ John tat etwas, was er als Polizist nie getan hätte. Er gab ein Versprechen, von dem er nicht wusste, ob er es halten konnte. Doch der hoffnungsvolle Blick, mit dem Selina zu ihm aufsah, hatte ihn dazu veranlasst.

Bald danach hatte John Etter sich von Selina verabschiedet. Unten auf dem Parkplatz rief er zuerst Bruno Bär an, um ihm von den Neuigkeiten zu berichten. Dieser versprach sofort nach dem Wagen, den Selina noch als blau und größer beschrieben hatte, fahnden zu lassen. Und auch alle Streifen wurden angehalten, nach einem Haus mit aufgemaltem Steinbock Ausschau zu halten. Während er eine Zigarette rauchte, rief John Susanne an.

„Ich hab noch ein paar Infos für dich, die deine Suche eingrenzen können“, sagte er statt einer Begrüßung. Später würde sie ihm diese Unfreundlichkeit vorhalten, doch jetzt wollte er keine Zeit verschwenden, sondern Selinas Eltern finden. Susanne, die Perle des Büros, war es sich gewohnt, aber ab und zu musste sie ihm den Freundlichkeitstarif durchgeben.

„Selina ist bereits zwanzig und seit mindestens sechs Jahren verschwunden, eher mehr. Die genaue Zeit wollte sie mir genauso wenig verraten, wie ihren Nachnamen. Obwohl sie ihn bestimmt noch kennt. Zu sehr will ich sie aber auch nicht bedrängen, um ihr Vertrauen, dass sie langsam aufzubauen scheint, nicht sofort wieder zu verlieren.“

Susanne versprach ihm, weiter zu suchen. John legte auf und fuhr wieder nach Hause. Zurück in die Leere und zu dem langsam verschalenden Bier auf dem Couchtisch. Der atmete die letzten Gerüche von Alina ein, die noch im Haus schwebten. Er vermisste sie, ihre Nähe, ihr in Wohlfühlenlassen.

Kapitel 5

Mai 2006. Seit anderthalb Jahren war Selina schon in der Gewalt des Mannes. Ein Fernseher war ihre einzige Gesellschaft, wenn sie von seinen täglichen Besuchen in ihrem Zimmer absah. Ja, er hatte ihr sogar ein Zimmer in seinem Haus eingerichtet. Eigentlich war es hübsch. Doch jedes bisschen musste sie sich verdienen, wie er es nannte. Für jedes Buch und jede CD, verlangte er nach ihrer Nähe. Und dieses Verlangen tat ihr noch immer weh. Und noch mehr, es widerte sie an. Doch er schien nicht genug davon bekommen zu können. Nahezu jeden Tag kam er zu ihr hoch, nur selten hatte sie Ruhe vor seinen Händen. Und selbst, wenn er nicht zu ihr gekommen war, weinte sie sich in den Schlaf und Nacht für Nacht meinte sie, sein Keuchen an ihrem Ohr zu hören.

Sie weinte nicht mehr, wenn er bei ihr war. Egal, wie schmerzhaft oder wie sehr es sie ekelte. Das hatte er ihr rasch und äußerst schmerzhaft abgewöhnt. Auch nach ihren Eltern fragte sie nicht mehr. Sie war durch ihn zur Überzeugung gelangt, dass diese sie wirklich an ihn verkauft haben mussten, sonst hätten sie sie doch schon längst gefunden. Bei solchen Gedanken kamen ihr die Tränen, die sie jedoch tapfer herunterzuschlucken versuchte. Dem Mann bloß keine Schwäche zeigen, war zur Devise der noch nicht einmal zwölf Jahre alten Selina geworden. Und obwohl sie ihn hasste, so sehr wie ihre zerbrochene, ehemals kindliche Seele überhaupt hassen konnte, wünschte sie ihn manchmal zu sich. Einfach, um nicht immer nur alleine im Raum zu sein. Der dunkle Raum, in dem sie noch nicht einmal die Vorhänge aufziehen durfte, um wenigstens einen Blick nach draußen zu erhaschen. Er hatte das einzige Fenster zusätzlich mit Brettern zugenagelt. Selina wurde von Tag zu Tag blasser. Es war, als wäre das fröhliche Mädchen, das sich an diesem kalten Novembermorgen zur Schule aufgemacht hatte, nicht mehr da.

Kapitel 6

Juni 2013. John Etter hatte in der Nacht so unruhig geschlafen, wie in den letzten drei Jahren nicht mehr. Er hörte in Gedanken wieder Brunos Stimme, die ihm riet, nicht immer alles so nahe an sich heranzulassen, wie er es bei schweren Fällen oft getan hatte. Wobei Bär genau der Richtige war, um solche Ratschläge zu geben. Schließlich nahm er die Fälle auch mit nach Hause. Mehr als einmal hatte sich Nina, Brunos zweite Frau darüber beschwert. Und eine Ehe war an dem Arbeitseifer, den Bruno an den Tag legte, auch bereits zerbrochen. Den Kaffee trank John Etter im Stehen, was er sonst nicht mehr tat. Er überlegte noch, ob er kurz im Büro vorbeischauen sollte, bevor er zu Selina fuhr, als sein Handy klingelte. Es war Bruno, der ihm mit heiserer Stimme eine Adresse nannte. John kippte die halb volle Tasse in den Ausguss und schnappte sich beim Rausrennen seine Lederjacke. Alles in ihm war angespannt, als er seinen Wagen startete.

Vor dem Haus hatte sich bereits ein Aufgebot an Zivilbeamten versammelt. John Etter kannte die meisten noch.

„Durch den Wagen haben wir ihn gefunden. Im Handschuhfach hatte er seinen Ausweis. Alberto Pazzotti.“ John sah sich um und sein Blick fiel auf das Nachbarhaus. Von hier aus konnte man keinen Steinbock erkennen, doch er war sich sicher, dass dieser vom Garten aus gut zu sehen war.

„Bereit?“ Bruno legte ihm eine Hand auf die Schulter. John nickte, obwohl er es nicht war. Seine Angst, dass er sein Versprechen nicht würde halten können, wuchs. Doch das musste er beiseiteschieben, denn einer der Beamten klingelte bereits. Die schrille Glocke war auch hier draußen zu hören. Die Stille im Inneren wurde von schlurfenden Schritten unterbrochen. Eine ältere Frau musterte sie misstrauisch.

„Polizei, ist Herr Pazzotti zu Hause?“ Andrea Hutmacher, eine zierliche Beamtin hielt der Frau ihren Dienstausweis vor die Nase.

„Mein Bruder ist nicht da.“ Ihre Stimme war unangenehm, wobei John nicht einmal hätte sagen können, was ihm missfiel.

„Wir haben einen Durchsuchungsbeschluss. Bitte sehr. Lassen Sie uns also bitte durch.“ Die Frau schnappte nach Luft, gab aber die Tür frei.

John wartete nicht ab, wie Bruno die anderen Beamten einteilte, sondern rannte die Treppe hinauf, schließlich hatte Selina ihm gesagt, dass ihr Zimmer im Dachgeschoss war. Er zog seine Waffe. Das Herz raste in seiner Brust. Unter dem Dach gab es nur eine Tür. Er rüttelte daran, doch sie gab nicht nach. In dem Raum konnte er leises Weinen hören.

„Hallo Lea, bist du da drin?“ Seine Stimme bebte vor Nervosität. Ein Schluchzen war die Antwort. Er sah sich um, doch ein Schlüssel war nirgendwo zu sehen. John schob die Waffe zurück ins Holster. Sollte Lea nicht alleine in dem Raum sein, würde er auch ohne kämpfen können. Und er wollte sie auch nicht erschrecken. Es musste schon furchtbar für dieses kleine Mädchen gewesen sein, einen Tag und eine Nacht ohne die Mami zu sein.

„Lea, tu mir bitte einen Gefallen und stelle dich ganz weit weg von der Tür. Hier ist kein Schlüssel und ich muss sie so öffnen, sie aufdrücken.“ Wieder war da nur dieses Schluchzen. John atmete noch einmal tief durch, lauschte auf die anderen Geräusche im Haus. Trampelnde Schritte der Beamten, die die weiteren Räume durchsuchten.

„Gut Kleines, ich komme jetzt zu dir rein. Du brauchst keine Angst zu haben.“ Er warf sich mit seinem Gewicht von über hundert Kilo gegen die Tür und hörte im Inneren des Holzes bersten. Noch zwei gezielte Tritte und er konnte den Raum betreten. Das kleine Mädchen saß zitternd auf dem Bett. Der Fernseher lief – Trickfilme - doch er war so leise eingestellt, dass man kaum etwas hörte. John kniete sich hin, nachdem er sich umgesehen hatte. Der Raum war zwar nett eingerichtet, doch es herrschte dennoch eine drückende Atmosphäre. Und das lag nicht nur an den vorgezogenen Vorhängen. John stand noch einmal auf, riss die Vorhänge auf, löste das gelockerte Brett vom Fenster und ließ das helle Sonnenlicht in den Raum. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, dass er mit seiner Vermutung recht hatte. Der Steinbock war deutlich zu erkennen.

„Hallo Lea. Ich heiße John.“ Er kniete sich wieder vor das Bett. Misstrauische Blicke aus hellblauen Augen, waren ihm die ganze Zeit gefolgt.

„Komm Lea, ich bringe dich zu deiner Mami.“ John streckte eine Hand aus. Lea schüttelte den blonden Lockenkopf.

„Er hat Mami weggebracht und sie kam nicht zurück. Bestimmt hat er ihr etwas getan.“ Die Worte klangen beklemmend aus dem Kindermund.

„Nein, er hat deiner Mami nichts getan. Er hatte einen Unfall und ohne ihn hat deine Mami nicht mehr hierher zurückgefunden. Sie wartet jetzt auf dich. Ich soll dich zu ihr bringen.“

„Du bringst mich zu meiner Mami?“ Ein leichtes Lächeln erhellte das ernste Gesicht. John nickte und hob sie hoch. Viel Ahnung hatte er nicht von Kindern, doch er ahnte, dass sie zu wenig wog.

Mit dem verängstigten Kind auf dem Arm stieg er langsam die Treppe hinunter. Er gab Bruno ein Zeichen, dass er ihn hinausbegleiten sollte.

„Du hast doch bestimmt einen Kindersitz im Auto, Bär?“ Bruno nickte und entriegelte seinen Wagen. Nur Augenblicke später half er John die Kleine anzuschnallen.

„Und, noch was gefunden?“ John hatte die Stimme gesenkt, sodass Lea ihn nicht hören konnte. Bruno nickte müde.

„Einiges. Alles verdammt ekelhaftes Zeug. Sei froh, dass du nur die netten Aufgaben bekommst.“

„Ich hab mir halt den richtigen Beruf ausgesucht“, witzelte John trotz der ernsten Situation.

„Denk daran, eine Psychologin zurate zu ziehen und das Jugendamt muss angerufen werden.“

„Mach ich. Im Übrigen dachte ich an Nina.“

„Mach das! Meine Frau freut sich bestimmt, von dir zu hören. Und dann muss man für die beiden auch noch einen Platz im betreuten Wohnen finden, wenn man Selina die Kleine überhaupt lässt.“

Bei Brunos Worten wurde John blass. Daran hatte er nicht gedacht. Es war schon vorgekommen, dass man Missbrauchsopfern daraus resultierte Kinder weggenommen hatte, aus Angst, dass sie sich nach der Befreiung nicht ausreichend kümmerten, weil die Stresssituation zu groß war.

„Ich werde mich auch weiterhin um die beiden kümmern.“

„Vatergefühle?“

„Selina könnte meine Tochter sein, wenn ich die Richtige damals gefunden hätte. Dann wäre die Kleine hier meine Enkelin.“

„Mach was du meinst. Alles, was dich aus deiner Einsamkeit reißt, ist gut, alter Freund.“

„Ich komme demnächst mal vorbei. Und halte mich auf dem Laufenden, was ihr findet.“ Bruno nickte noch einmal und sah seinem Freund zu, wie er den Wagen wendete und in Richtung des Krankenhauses fuhr, bevor er das Haus wieder betrat. An Tagen wie heute wünschte er sich auch einen anderen Beruf.

Lea sah interessiert aus dem Fenster.

„Warst du schon einmal draußen, Lea?“

„Nein! Aber manchmal hat der böse Mann die Vorhänge aufgemacht und ich konnte aus einem kleinen Schlitz in den Brettern das Haus nebenan sehen.“

„Hat außer dem Mann, der Frau, deiner Mami und dir noch jemand in dem Haus gewohnt?“

„Nein, aber manchmal bekam der Mann Besuch. Die waren dann richtig laut und ich sollte ganz still unter dem Bett liegen. Meine Mami musste dann aber immer raus aus dem Raum. Wenn sie zurückkam, hat sie sich im Bad eingeschlossen und geweint. Ich hab es deutlich hören können.“

„Hat der Mann dir auch weh getan, oder nur deiner Mami?“ John widerstrebte es, diese Frage zu stellen, doch Lea war zugänglicher als ihre Mutter und er musste wissen, was in dem Haus geschehen war.

„Nein. Aber ich hatte immer Angst, wenn Mami nicht da war. Letzte Nacht besonders. Noch nie war meine Mami nicht bei mir, wenn ich schlafen sollte.“ Nach diesen Worten schwor John sich, dass er alles tun würde, damit die beiden nicht getrennt wurden. Er wusste nur noch nicht, wie er das schaffen sollte.

Die vielen Menschen auf dem Krankenhausgang erschreckten das Kind. John hatte sie auf dem Arm und hielt sie an sich gedrückt. Beruhigend streichelte er ihr über das Haar. Sacht klopfte er an Selinas Tür. Sie saß auf dem Bett, rotgeränderte Augen sprachen von den Tränen in der Nacht. Als sie ihre Tochter auf dem Arm des Mannes, der so freundlich zu ihr war, erkannte, lächelte sie ungläubig. John setzte Lea auf dem Bett ab und verließ das Krankenzimmer wieder. Er wollte das Wiedersehen der beiden nicht stören und daher die Zeit nutzen, mit einer Ärztin zu sprechen. Er hatte Glück, es war die gleiche Ärztin, mit der er bereits am vergangenen Tag gesprochen hatte.

„Es ist gut, dass Sie das Kind gefunden haben. Das war Selinas größte Sorge.“

„Ich möchte erfahren, ob sie wirklich unverletzt ist. Ich traue dem Mann alles zu, nachdem ich in seinem Haus war.

„Ich werde sie bald untersuchen. Soll ich einen Psychologen hier aus dem Haus hinzuziehen oder wollen Sie sich mit einem in Verbindung setzen?“

„Das mache ich. Ich habe die Richtige für Selina bereits ausgesucht.“

„Gut! Werden Sie das Jugendamt sofort informieren?“

„Das muss ich wohl. Könnten Selina und Lea aber hier bleiben, bis sich eine Lösung hat finden lassen?“ Die Ärztin nickte.

„Sie wollen nicht, dass die beiden in verschiedene Einrichtungen kommen?“

„Das wäre für keine gut.“

„In einem Frauenhaus, oder einer Wohngruppe wäre es meiner Meinung nach zu unruhig. Selina braucht jetzt als dringendstes Stabilität und Menschen, denen sie vertrauen kann,“ bestätigte die Ärztin.

„Danke Frau Doktor, Sie haben mich auf eine Idee gebracht.“

„Sie wollen die beiden aufnehmen?“

„Merkt man mir das an?“

„Schon! Sie sind nicht mehr bei der Polizei, dennoch sind Sie es, der sich um Selina kümmert. Hat man inzwischen ihre Eltern gefunden?“ John schüttelte den Kopf.

„Sie will über ihre Familie nicht sprechen.“

„Ich würde gerne erfahren, wie es weitergeht.“

„Das wird sich einrichten lassen. Oh, und nachdem die Polizei das Haus des Mannes, der Selina so lange eingesperrt hatte, durchsuchte, könnte es sein, dass die Presse auf den Fall aufmerksam wird.“

„Schon verstanden, Selina wird von allem abgeschirmt, dass sie aufregen könnte.“

„Danke!“ John drückte der Frau noch einmal die Hand und ging dann zu Selina zurück. Lea war im Arm ihrer Mutter eingeschlafen.

„Selina, ich muss mit dir sprechen.“ John hatte seine Stimme gedämpft, um Lea nicht zu wecken.

„Worum geht es?“ Ängstlich sah das Mädchen zu ihm auf und wirkte so jung und verletzlich.

„Lange brauchst du nicht mehr im Krankenhaus zu bleiben, aber du willst ja nicht sagen, wo du herkommst. Also muss ein Ort, wo du wohnen kannst, gefunden werden.“

„Was ist mit Lea?“ Keuchte sie und zog das Kind enger an sich.

„Ich will ehrlich sein, ich weiß nicht, ob man euch zusammen lässt.“

„Sie ist doch mein Kind!“

„Man wird sagen, dass du Zeit für dich alleine brauchst, um das Geschehene zu verarbeiten. Aber ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, um zu verhindern, dass man euch trennt.“

„Und wie?“

„Ich habe einen Vorschlag für dich. Du musst nicht sofort antworten, sondern hast Zeit darüber nachzudenken. Ich habe ein großes Haus und ihr beiden könnt bei mir wohnen. Ich werde für euch sorgen und das Jugendamt kann sehen, ob du dich auch in Freiheit um dein Kind kümmern kannst.“

„Wie lange habe ich Zeit zum Nachdenken?“, wimmerte sie ängstlich.

„Ich weiß nicht, wann jemand vom Jugendamt hierher kommt. Ich muss sie jetzt gleich informieren. Und ich schicke auch eine Psychologin zu dir, die sich um Lea und dich kümmert.“ John tat es weh, sie so zu sehen.

„Und wo kommen wir hin, wenn ich das Angebot ablehne?“

„Ganz ehrlich? Das kann ich dir nicht sagen. Vielleicht in ein Frauenhaus, vielleicht in eine Wohngruppe. Aber jetzt lasse ich dich alleine, damit du nachdenken kannst. Ich bin jederzeit erreichbar.“ Er stand auf und setzte zum Gehen an, als Selina ihn noch einmal zurückhielt.

„John, ich nehme dein Angebot an.“

Kapitel 7

Während John auf dem Parkplatz stand und eine Zigarette rauchte, suchte er Ninas Nummer aus dem Speicher. Sie meldete sich sofort. Rasch erklärte er ihr, worum er sie bitten wollte. Ohne zu zögern, versprach sie ihm, Selina zu besuchen.

„Und dann möchte ich dich um noch etwas bitten. Könnten wir uns gleich beim Möbelcenter treffen?“ Hier klang seine Stimme nicht mehr so sicher wie zuvor. Ninas glockenhelles Lachen erklang, doch sie versprach in einer Stunde da zu sein, ohne große Fragen zu stellen, obwohl sie neugierig sein musste. Diese Unkompliziertheit schätzte John an der Frau seines besten Freundes. Er deutete an, ihre Hilfe zu brauchen, und sie war da. Der nächste Anruf galt Susanne.

„Hallo meine Lieblingssekretärin, hast du schon ein paar Infos für mich?“ Lachend verneinte sie, fragte ihn aber, was der Grund für seine gute Laune war.

„Wir haben Lea gefunden und so wie es aussieht, ist sie unversehrt.“ Er hörte ein erleichtertes Seufzen. Ihm ging es genauso.

„Gut Susanne, ruf mich an, sobald du was hast. Ansonsten, ich melde mich später bei dir.“

Bevor er den letzten Anruf tätigte, atmete er noch einmal tief durch. Er meinte, Bruno spotten zu hören, dass er sich problemlos in jede Schlägerei eingemischt hatte, jetzt aber Angst vor einem simplen Anruf hatte. Wobei, vor dem Anruf an sich hatte er keine Angst. Er hatte schon einige Male mit dem Jugendamt zu tun gehabt. Vielmehr hatte er Bedenken, dass man es ablehnen könnte, dass er sich um Lea kümmerte, wenn man überlegte, Selina das Kind zu nehmen. Nun wurde am anderen Ende abgenommen. Eine warme Frauenstimme meldete sich. John stellte sich vor und beschrieb den Sachverhalt. Sie ließ ihn sprechen und war selbst dann noch still, nachdem er schon schwieg.

„Entschuldigung, aber sind Sie noch dran?“

Sie bejahte, erklärte aber auch, dass sie einen Moment brauchen würde, um das eben gehörte zu verarbeiten. John wunderte sich, die Jugendamtsmitarbeiter, die er bislang kennengelernt hatte, waren nicht so sensibel. Nach einigen Augenblicken, die John genutzt hatte, um sich noch eine Zigarette anzuzünden, versprach sie ihm, so bald wie möglich vorbei zu kommen, um eine Lösung für Selina und ihre Tochter Lea zu finden.

„Ich hätte den Vorschlag, dass die beiden vorerst bei mir wohnen können. Ich lebe alleine in einem großen Haus.“ Sein Herz raste, während er auf die Antwort wartete. Die Worte waren mit Bedacht gewählt.

„Ich habe vor, auf jeden Fall zwei Gästezimmer für die beiden herzurichten. Ich habe Selina auch schon gefragt, ob sie einverstanden wäre und sie ist es.“

Die junge Frau am anderen Ende seufzte leise, versprach ihm aber, am nächsten Tag bei ihm vorbei zu kommen, um sich die Räumlichkeiten anzusehen und die Möglichkeiten zu besprechen. John bedankte sich, legte auf und machte sich auf den Weg zum Möbelcenter. Er freute sich schon darauf, eines der kargen Gästezimmer, die nie genutzt wurden, in ein hübsches Kinderzimmer zu verwandeln.

Obwohl er pünktlich war, wartete Nina Bär, eine etwas mollige Frau von Mitte dreißig mit einem schwarz gefärbten Pferdeschwanz, bereits auf ihn. Sie umarmte ihn und drückte ihm einen herzlichen Kuss auf die Wange, wofür sie sich ganz schön strecken musste, obwohl er sich ein Stück zu ihr hinabbeugte. Er sog ihr süßliches Parfum ein. Manchmal beneidete er seinen besten Freund um diese fröhliche, unkomplizierte Frau, die zudem auch noch sehr warmherzig war. Aber seit Kurzem war er ja mit Alina verbandelt. Endlich mal, wie Bär meinte. Es war für ihn immer noch neu, fühlte sich aber richtig an. Kurz ging ihm der Gedanke durch den Kopf, was Alina wohl dazu sagen würde. Aber für ihn war es wichtig, dass Selina und Lea es gut haben würden. Alina würde es verstehen.

„Na, willst du dich neu einrichten und brauchst eine Dekoexpertin?“ Jetzt war Nina nicht länger bereit, ihre Neugierde zu zügeln.

„Ich werde Selina und Lea bei mir aufnehmen, wenn die Sachbearbeiterin vom Jugendamt nicht noch etwas findet, was dagegen spricht.“