Jüdisches Glück - Semjon S. Umanskij - E-Book

Jüdisches Glück E-Book

Semjon S. Umanskij

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dieser autobiographische Bericht führt nach Transnistrien, einem schmalen Landstreifen zwischen Bug und Dnjestr, wo vor dem Zweiten Weltkrieg Ukrainer, Russen, Rumänen, »Volksdeutsche« und zahlreiche Juden friedlich miteinander lebten. Mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht im Jahre 1941 änderte sich die Situation schlagartig. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 280

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Semjon S. Umanskij

Jüdisches Glück

Bericht aus der Ukraine 1933–1944

Herausgegeben von Ingrid Damerow

Aus dem Russischen von Ingrid Damerow

FISCHER Digital

Inhalt

Die Zeit des Nationalsozialismus [...]LebensbilderDie Buchreihe »Lebensbilder« will [...]VorbemerkungVorwort des AutorsKindheitTultschinKinderspieleDer KriegOkkupationUnd es kam der TagWald-OdysseeIm Konzentrationslager PetschoraVorbereitung zur FluchtDer Weg nach BerschadDie »rumänische« Stadt BerschadDie Mädchen des GhettosAronPapa heiratetZu zweitNebenverdienstEine GoldaderWinterFanja heiratetIch werde OnkelBefreiung

Die Zeit des Nationalsozialismus Eine Buchreihe Herausgegeben von Walter H. Pehle

Lebensbilder

 

Jüdische Erinnerungenund Zeugnisse

 

Herausgegeben vonWolfgang Benz

Die Buchreihe »Lebensbilder« will unter anderem dunkle Flecken in der Geschichte des Nationalsozialismus anhand von Autobiographien aufhellen. Die in diesem Band erzählte Geschichte hat in Transnistrien stattgefunden, einem schmalen Landstreifen zwischen Rumänien und der Ukraine, nicht weit vom Schwarzen Meer entfernt. Aufgrund der besonderen geographischen Lage lebte dort vor dem Zweiten Weltkrieg eine multikulturelle Vielvölkergesellschaft, die damals aus Ukrainern, Russen, Rumänen, sogenannten Volksdeutschen und zahlreichen Juden bestanden hat.

Der Autor beginnt mit seinem Bericht in seinem Geburtsort Tultschin/Ukraine, wo er als Kind die berüchtigten Hungerjahre überlebt hat, die infolge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft durch Stalin Millionen von Menschen in der Ukraine den Tod gebracht hatten. Im Frühsommer 1941 fielen deutsche Truppenverbände auch in diese Region ein, und es begann sogleich die Verfolgung der jüdischen Minderheit. Semjon Umanskij beschreibt die Fluchtwege durch die ukrainischen Wälder im ersten, eisigen Kriegswinter 1941/42, die schrecklichen Monate im Todeslager Petschora, über das hier erstmalig berichtet wird. In diesem Lager führte die ukrainische Polizei mit Duldung der deutschen Besatzer ein unglaublich brutales Regiment. Von hier gelang es der Familie Umanskij mit viel Glück, in das Ghetto der rumänischen Stadt Berschad zu entkommen.

Erneut verhaftet – diesmal von rumänischen Soldaten, die mit den Nazis unter einer Decke steckten, wurde der Autor 1943 zur Zwangsarbeit in die Umgebung der ukrainischen Hafenstadt Odessa deportiert. Sowjetische Truppen befreiten den damals 15jährigen Jungen am 14.3.1944.

Fünfzig Jahre danach berichtet der Autor unter dem ironisch gemeinten Titel dieses Buches – »jüdisches Glück« heißt bei den Juden, in Wahrheit in der »Tinte sitzen« – über das jüdische Alltags-Leben im Kriege und aus dem Untergrund bei den Partisanen. Er zeigt in seinem authentischen Bericht, wie sehr auch regionale Kollaborateure an den Grausamkeiten der nationalsozialistischen Judenverfolgung beteiligt waren.

Vorbemerkung

Semjon Umanskij lernte ich 1995 in Tallinn, der Hauptstadt Estlands, kennen, wo er seit 1957 mit seiner Familie lebt. Er ist Mitglied der kleinen Jüdischen Gemeinde, zu der auch eine Gruppe ehemaliger Ghetto- und KZ-Häftlinge gehört. Nur ein Mitglied dieser Gruppe ist estnischer Jude, alle übrigen hat es aus verschiedenen Republiken der ehemaligen Sowjetunion hierher verschlagen, aus Lettland, aus Weißrußland oder der Ukraine.

Auch Semjon Umanskij stammt aus der Ukraine. 1929 wurde er in Tultschin, in der Westukraine, geboren, wo der größte Teil der ukrainischen Juden lebte. In einigen Städten machten sie 50 % der Bevölkerung aus. Sie lebten vor allem in den kleinen Provinz-, weniger in den Großstädten und auf dem Lande. Jahrhundertelang hatte man ihnen die bürgerlichen Rechte vorenthalten, mit Ausnahme kurzer Reformperioden, an deren Ende ihnen regelmäßig die eingeräumten Rechte wieder entzogen worden waren. Erst die Oktoberrevolution 1917 hatte den Juden die gesetzliche Gleichstellung mit der nichtjüdischen Bevölkerung gebracht. Aber spätestens unter Stalin wurden ihnen diese Errungenschaften der Revolution wieder genommen. Doch die ständige Angst vor Pogromen, die im Zarenreich Generationen von russischen Juden verfolgt hatte, war gebannt, wenn sich auch bei einem großen Teil der nichtjüdischen Bevölkerung Vorurteile und Mißtrauen hielten.

In dieser bei aller Normalität sensiblen Atmosphäre wächst Semjon Umanskij heran, wächst wie »das Gras auf der Wiese«, bis die furchtbare Hungerkatastrophe in der Ukraine diese sorgenlose Existenz zerstört. Infolge der Stalinschen Zwangskollektivierungsmaßnahmen verhungern bis Mitte der 30er Jahre mehrere Millionen Menschen.

Kaum daß die Jahre des Hungers überstanden sind, eliminieren aufs neue stalinistische Säuberungsmaßnahmen große Teile der sowjetischen Bevölkerung, die auch vielen Juden die Existenz zerstören oder sogar das Leben kosten.

All diese Schrecken aber treten in den Hintergrund angesichts der Katastrophe, die im Juni 1941 über die Juden hereinbricht. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion macht sie vogelfrei, raubt ihnen jegliches Recht auf Leben und läßt vor allem auch bei ihren ukrainischen Landsleuten den latenten Antisemitismus wieder hochkommen.

Vor diesem Hintergrund läuft die Lebensgeschichte des Autors ab. Umanskijs Erzählungen sind wie eine Mischung aus Familiensaga, Abenteuerroman und Aufzeichnungen aus einem Totenhaus. Die große Bedeutung, die der Familie im jüdischen Leben zukommt, zeigt sich in der Beschreibung der engen Familienbande, die sich besonders in den Jahren der Hungersnot als lebensrettend erweisen. Umanskij berichtet von dem alltäglichen »kleinen« Sterben der Nachbarn ringsum, vom verzweifelten, schließlich erfolgreichen Kampf seiner Mutter, die Familie über diese schreckliche Zeit hinüberzuretten, wie überhaupt die Mutter der Lebensnerv der ganzen Familie ist. Und letztlich ist es auch die Familie, die sie alle die Schrecken des eisigen Kriegs winters 1941/42 überstehen läßt.

Im Lager von Petschora vollendet sich das Schicksal der Familie. Umanskijs Bericht über dieses Lager steht einzigartig da. Petschora war eines der vielen Lager, wie es sie zu Hunderten in der besetzten Sowjetunion gegeben hat. Dieses Lager war kein Arbeitslager, wo man noch ein gewisses Interesse an der Arbeitskraft der Insassen hatte. Es war auch kein Vernichtungslager der üblichen Art, wo man die Menschen vergaste oder erschoß. Hier wurde »kostensparend« gemordet. Die Häftlinge waren vollkommen auf sich allein gestellt, ohne Nahrung, »abgeschrieben«, nur von geringen ukrainischen Polizeiposten bewacht. Die Berichte der sowjetischen Staatlichen Außerordentlichen Kommissionen, die nach der Befreiung die Verbrechen der deutschen Besatzer untersuchten, erwähnen dieses Lager mit keinem Wort. Die Insassen des Lagers starben ungesehen, ungehört, ohne die geringste Spur zu hinterlassen, als ob es sie nie gegeben hätte.

Umanskij konnte der Hölle von Petschora entkommen. Nach dem Tod der Mutter floh die Familie ins Ghetto von Berschad. Von hier wurde er schließlich noch zur Zwangsarbeit im Kreis Odessa verschleppt. Die jahrelang ersehnte Befreiung durch die Rote Armee erlebte er dann wieder »zu Hause« im Ghetto von Berschad. Hier waren Vater und Schwester als einzige übriggeblieben.

Nach 1945 kehrte die Familie wieder in die Sowjetunion zurück, und Umanskij begann, an der angesehenen Leningrader Militärakademie Medizin zu studieren. Bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung 1971 diente er als Militärarzt bei der Pazifik-Flotte und später bei der Baltischen Flotte in Estland.

Mehrere Male versuchte er, seine Erinnerungen an die schrecklichen Jahre niederzuschreiben, schreckte aber immer wieder davor zurück. Erst jetzt, mehr als 50 Jahre danach, findet er Worte, über die Katastrophe zu berichten, die nicht nur seine Familie zerstört hat. Semjon Umanskij versteht daher sein Buch nicht nur als Schilderung seines ganz persönlichen Lebensweges, sondern auch als ein Kaddisch-Gebet für die spurlos untergegangenen Insassen der vielen unbekannten Vernichtungslager im Osten.

 

Berlin, im Sommer 1997

Ingrid Damerow

Vorwort des Autors

Jüdisches Glück, jiddisches Glick und auf jiddisch: Mazel.

Haben Sie solche Worte schon einmal gehört? Man konnte sie in der Ukraine hören, in Rußland, in Belorußland, in Moldawien, in Polen … Und auch mein Vater und meine Mutter haben so gesprochen. Diese Worte habe ich oft aus dem Mund unserer Juden gehört: wenn irgend etwas nicht so recht gelingen wollte, wenn irgend jemand aus der Familie krank war, vor allem aber später dann bei den Vertreibungen der Juden.

Ich habe sehr lange gezögert, meine Erinnerungen niederzuschreiben. Ich wollte mich nicht mehr erinnern, nicht wieder den Hunger des Jahres 1933 durchleben, das KZ von Petschora 1942, den Hungertod der Mutter, der vielköpfigen Familie und der Bekannten und Nachbarn. Nicht wieder die Leichenstapel vor mir sehen, nicht die mit Leichen gefüllten Gruben, die man offen gelassen und nicht extra mit Erde zugeschüttet hatte, da ja jeden Tag wieder neue Leichen hinzukamen. Ich wollte mich nicht wieder erinnern an das Ghetto von Berschad 1942–44 im sogenannten Transnistrien. Und an vieles andere mehr …

Aber jetzt möchte ich mein ganzes Leben, das dem Leben meiner jüdischen Landsleute so sehr ähnlich ist, an mir vorüberziehen lassen. Es soll keine Autobiographie werden, sondern eine Erzählung über die Zeit, in der es uns bestimmt war, zu leben, auszuharren und schließlich zu überleben.

Kindheit

Meine ersten Kindheitserinnerungen sind verbunden mit der Pockenschutzimpfung. Das war in Brazlaw, im Haus meines Großvaters. Ich war damals ungefähr drei Jahre alt. Geboren bin ich in Tultschin, ganze 20 Werst von Brazlaw entfernt. An das Haus meines anderen Großvaters, in dem ich geboren wurde, kann ich mich nicht erinnern.

Nach Brazlaw zogen wir, weil wir hofften, daß das Leben dort leichter sein würde, nahte doch das Hungerjahr 1933. Heute kann ich das verstehen. Aber damals …

Eine andere Erinnerung: Fanzja und ich hopsen auf der Chaiselongue. Fanzja ist fast ein Jahr jünger als ich. Sie ist die Tochter von Tante Ljuba, der Schwester meines Vaters. Ich habe auch eine Schwester Fanja, die ganze vier Jahre älter ist als ich. (Fanja und Fanzja wurden beide zu Ehren meiner Großmutter väterlicherseits so genannt.) Und da meine Fanja ja schon so groß war, nannte man die kleine, um keine Verwirrung aufkommen zu lassen, Fanzja. Eigentlich wurden beide Feigeleh gerufen. Aber registriert waren sie auf den modischen russischen Namen Fanja.

Ähnlich war es mit der Registrierung meines Cousins und mir geschehen, beide auf den Namen Semjon. In Wirklichkeit aber nennt man sowohl ihn als auch mich Simcha, zu Ehren des ältesten Bruders meines Vaters, den die Petljura-Leute[1]1918 auf der Schwelle seines Hauses erschossen. Papa und Meir erzählten, daß Simcha ungeheuer kräftig war; so konnte er einfach zwei Säcke mit Zucker unter den Arm nehmen und sie gemächlich in den Laden tragen. Und so stand Simcha auch an diesem unseligen Morgen an der Schwelle seines Hauses, als sich ein ihm bekannter Ukrainer (in Brazlaw kannte jeder jeden) mit einer Waffe in der Hand näherte. Sie begrüßten einander. Simcha fragte den Petljura-Mann, was für eine Waffe er da habe. Statt einer Antwort hob dieser das Gewehr, und aus zwei Schritt Entfernung erschoß er den Onkel. Daraufhin fügten alle meine Onkels und Tanten dem Namen Simcha den Zusatz Schymschi-a-Giber hinzu, das war der biblische Samson, der irgendwann in der frühen Zeit in Aschkalon gelebt und über kolossale Kräfte verfügt hatte. So heißt es, daß er den Tempel in Gaza umwarf und ihn auf die Köpfe der griechischen Eroberer stürzte. Mein Onkel war verheiratet und ließ eine junge Frau als Witwe zurück – meine Tante Chaika.

Ich habe auch noch einen Bruder Schunja. Er ist schon sehr groß – sieben Jahre älter als ich.

Also, Fanzja und ich hopsen herum. Auf der Grupka (ein einfaches ukrainisches Ofchen) steht eine runde Büchse mit Kakao, und heimlich naschen wir von diesem duftenden Pulver. Unsere Gesichter sind mit Kakao verschmiert, und als Tante Ljuba hereinkommt, gibt es daher einen Klaps. Das tut nicht weh, wir weinen nicht, um so mehr, als wir wissen, daß es verboten ist, den Kakao anzurühren. Tante Ljuba handelt nämlich heimlich mit Wodka, mit Selbstgebranntem, mit Kakao … mit allem möglichen, denn leben muß man doch, da sich der Hunger schon bemerkbar macht.

Und an noch etwas erinnere ich mich. Die Sommersonne brennt heiß. Es ist morgens. Meine große Schwester Fanja, schon sieben Jahre alt, trägt in der Hand einen handgewebten, kleinen ukrainischen Teppich und geht mit Fanzja und mir zur katholischen Kirche von Brazlaw. Das ist nicht weit von uns entfernt. Vom Marktplatz, wo Großvaters Haus steht, muß man die Straße hinaufgehen, und genau an der Ecke steht die Kirche. Der Kirchhof ist mit einem Zaun umgeben, und auf dem Hof wächst so viel Unkraut, daß Fanzja und ich gar nicht zu sehen sind. Fanja ist schon auf der kleinen Wiese und breitet den Teppich aus, auf dem wir alle drei herumhopsen, Purzelbäume schlagen und unseren Spaß haben. Wenn wir doch bloß nicht solchen Hunger hätten, das wäre gut.

Vor einigen Jahren bin ich in Brazlaw gewesen. Den Marktplatz und den Markt gibt es nicht mehr, aber es gibt noch die Schors-Straße. Auch das Haus des Großvaters gibt es nicht mehr. Nur mit Hilfe der Nachbarn konnte ich den Ort finden, und still stand ich da und erinnerte mich an meine längst vergangene Kindheit.

Die Familie des Brazlawer Großvaters Jankele (Jakob) war zu jener Zeit nicht sehr zahlreich. Das erzählte mir der Vater. Man nannte ihn Schopa oder Schapsa. Man muß wissen, daß die meisten der Juden in der Ukraine, in Rußland, in Moldawien und in anderen Regionen nicht so gerufen werden, wie sie eigentlich heißen. Im Jahre 1802 wurden den Juden Rußlands durch allerhöchsten Erlaß Familiennamen gegeben. Der eine nahm den Familiennamen Umanskij an (das war mein Vorfahr), ein anderer den Namen Averbach, ein dritter wurde zu Rosenberg. Wie und wann die Familie meines Ururgroßvaters aus Kischinew nach Brazlaw kam, konnte mir mein Vater nicht sagen. Dort in Kischinew sind unsere Wurzeln. Ich habe da eine Cousine Mina, die ich leider nur aus Briefen und Fotografien kenne. Die Großmutter Minas und meine Großmutter Feigeleh waren leibliche Schwestern. Ihr Familienname ist Ladyschenski. In Kischinew lebte die große Familie der Ladyschenskis. Nach einem der großen jüdischen Pogrome zu Beginn des 20. Jahrhunderts zogen sie fort, die einen nach Nordamerika, die anderen nach Südamerika. Lange hatten sie ausgehalten, sie wollten den Ort, an dem sie verwurzelt waren, nicht verlassen. Aber während einem der Pogrome verbarg sich die Familie im Keller und versteckte einen Säugling unter der Decke, damit man sein Schreien nicht von draußen hören konnte. Das kleine Mädchen erstickte. Da sagte die Mutter des Kindes: »Wenn man uns in Rußland nicht beschützen will, dann müssen wir woanders hingehen.« Und so wanderte fast die ganze Familie Ladyschenski nach Amerika aus.

Wie viele meiner Verwandten sind für nichts und wieder nichts umgekommen oder über die ganze Welt verstreut?

Aber kehren wir wieder zur Familie des Vaters zurück. Großvater Jakow und Großmutter Miriam (oder vielleicht auch Mariam) hatten sechs Kinder: zwei Töchter und vier Söhne: Etl (Tante Emilija), Sjama (Sinowij), Simcha, Libe (Ljuba), Meir und als jüngster Schopa, mein Vater. Tante Etl und ihre vier Brüder waren von hohem Wuchs, mächtiger Statur und von auffallender Schönheit, nur Tante Ljuba war klein, eher etwas mager, doch eine sehr sympathische Frau, aber auch die unglücklichste in der Familie. Ich greife der Geschichte ein wenig voraus, wenn ich sage, daß sie alle Brüder und die Schwester überlebte und erst mit über neunzig Jahren starb.

Onkel Simcha war derjenige unter den Geschwistern, der von dem Petljura-Mann erschossen wurde.

Tante Ljuba kam nach Tultschin, als Papa und Mama heirateten. In Brazlaw hatte sie kein Glück mit den Männern gehabt, und sie kam hierher in der Hoffnung, einen Bräutigam zu finden. Mama staffierte sie mit einem Pelzmantel aus. Schließlich fand sich auch ein ganz netter Bursche, Arke (Arkadij) Lukower, der Tante Ljuba Hand und Herz versprach. Bis zur Geburt von Fanzja lebten sie zusammen. Bald ging Arkadij aber zum Geld verdienen nach Odessa und verschwand spurlos. Das Schicksal meinte es mit Tante Ljuba nicht gut: Früh wurde sie Waise, wurde der Bruder erschossen, verschwand ihr Mann, und zurück blieb sie allein mit einem Kind. Alle waren von Brazlaw weggegangen, und auch wir nagten schon am Hungertuche. So wurde der Hunger in den Jahren 1932 – 1933 für uns und Tante Ljuba zu einer schrecklichen Zeit.

Ungefähr ab 1934 besuchte sie das Pädagogische Institut in Tultschin, und nach dem Examen erhielt sie die Befähigung, in den unteren Klassen zu unterrichten. Sie wurde an die Schule in dem Dorf Bortniki im Bezirk Tultschin versetzt. Man gab ihr ein Bauernhäuschen am Berghang, nahe am Flüßchen. Nach dem Regen weichten der Lehm und die Schwarzerde dort auf, und es war nicht mehr möglich, in Schuhen zu gehen. So mußte man eben barfuß laufen, was mir besonders gefiel. Tante Ljuba sprach mit mir ukrainisch, russisch, jiddisch, was sie hervorragend beherrschte. Und manchmal ging sie über zu polnisch oder deutsch, und Fanzja und ich verstanden sie bestens.

Tante Ljuba war äußerst gutmütig. Sie übersah bei ihren Schülern die Schreibfehler und sogar die Fehler in den Kontrollarbeiten und verbesserte ganz offen die Zensuren. Einer der Vorsitzenden der dörflichen Intelligenz, der Agronom Feodosij Kiraschenko, der ungefähr fünf Jahre jünger war als die Tante, war von ihrer kultivierten Art, von ihrem Takt und ihrer Güte so angezogen, daß er sie heiratete. Feodosij nahm Feigeleh (Fanzja) als Tochter an, und sie wurde zu Anna Kiraschenko. Kinder gab es aus dieser Ehe nicht, Feodosij liebte Fanzja sehr. Feodosij war ein besonnener, ruhiger, gutmütiger Mensch. Wenn er in Geschäften nach Tultschin kam, besuchte er uns oft. Als der Große Vaterländische Krieg begann, wurde er zur Armee einberufen. Dann hörten wir nie wieder etwas von ihm, er ist im Gemetzel des Krieges umgekommen. Auch dieser Ehemann meiner Tante kam um, ohne eine Spur zu hinterlassen. Kiraschenko hat Tante Ljuba und Fanzja das Leben gerettet. Im Paß von Tante Ljuba stand Kiraschenko Ljubow Jakowlena (und nicht jankelewna), und bei Fanzja stand Anna Feodosejewna Kiraschenko. Als sie ihren Paß erhielt, stand als Nationalität »Ukrainerin« drin. Meine Cousine Fanzja, die jetzt schon 60 Jahre alt ist, eine hundertprozentige Jüdin, war Ukrainerin geworden. An ihr war nichts Echtes mehr, weder der Vorname, der Vatersname, der Familienname, noch die Nationalität. In Wirklichkeit ist sie Fanja Arkadjewna Lukower, Jüdin … Solche Umwandlungen waren während und nach dem Krieg nicht selten.

Der Vater des Autors: Schopa Umanskij, in Brazlaw, 1919 (Privatfoto)

Als 1941 der Krieg begann, stießen die Faschisten schnell ins Gebiet von Winniza vor. Im Dorf Bortniki wurden die Nationalisten, die alten Petljura-Leute und die Halunken schnell rührig. Ein paar von diesen Leuten, und unter ihnen gab es auch Verwandte des an der Front weilenden Feodosij, planten, seine Witwe, also Tante Ljuba, zu berauben und umzubringen. Fanzja war zu der Zeit bei uns in Tultschin, wo wir uns auf die Evakuierung vorbereiteten.

Vier dieser Verbrecher aus Bortniki kamen des Nachts. Da Tante Ljuba ohne Argwohn gegenüber den Verwandten Feodosijs war, ließ sie sie ins Haus. Sie würgten die Tante, begannen alles auszurauben und verschwanden. Zum Glück hatte die Tante nur das Bewußtsein verloren und war gegen Morgen wieder zu sich gekommen. Sie stand lange unter Schock, wurde krank und konnte nur mit heiserer Stimme sprechen. Schließlich zog sie fort nach Brazlaw. Doch es gelang ihr nicht, evakuiert zu werden, so daß sie schließlich mit dem Kind ins Todeslager nach Petschora kam. Als sie sah, daß es im Lager für das Mädchen keine Rettung gab, brachte sie Fanzja, die damals 11 Jahre alt war, dazu, des Nachts über den Zaun zu klettern. Fanzja zog durch die Dörfer und verdingte sich als Dienstmagd. Durch ihre tadellose ukrainische Aussprache, die sie sich durch ihr Leben im Dorf angeeignet hatte, und ihr Äußeres, ihre Kleidung, gelang es ihr, bei einer alleinstehenden Bauersfrau Arbeit zu finden. Fanzja hütete und fütterte die Kuh, hielt das Haus rein, bereitete das Essen … Nach dem Krieg fand Tante Ljuba Fanzja nur mit großer Mühe wieder.

Der zweite Bruder meines Vaters war Onkel Sjama (Sinowij), den ich in meinem ganzen Leben nicht ein einziges Mal gesehen habe, obwohl er erst im hohen Alter starb. Onkel Sjama war das vierte Kind in der Familie. Im Ersten Weltkrieg zog man ihn zu den Soldaten ein. Er muß wohl ein guter Soldat gewesen sein, denn er soll es bis zum Oberleutnant gebracht haben. Ich glaubte nicht so recht daran, denn ich wußte, daß den Juden in der Zarenzeit keine Offiziersränge verliehen wurden. Und keiner konnte beweisen, daß sich Onkel Sjama hatte taufen lassen. Er lebte in Moskau und heiratete eine sehr schöne Russin. Sie hieß Viktoria (Tante Vitja). Sie hatten eine Tochter Nora.

Es war im Hungerjahr 1933. Mama fuhr mit mir nach Moskau zu ihren Cousinen, Tante Golda, Tante Chaika und Tante Gita. Und von da fuhren wir auch nach Malaja Nikitinska, zu Tante Vitja und Nora. So eine große Cousine (sie war 14 Jahre alt) zu haben fand ich wunderbar. Sie war »von unserem Blut«, sie war ein hübsches brünettes Mädchen, meinem Vater ähnlich, denn alle Brüder ähnelten einander sehr. Hier übernachteten wir auch. Tante Vitja machte köstliche Piroggen für uns. Den Onkel hatte es in die weite Welt geführt. Niemandem hatte er je geschrieben, großer Erfolg war ihm in seinem Leben nie beschieden.

Onkel Meir, Papas anderer Bruder, war schwer krank, obwohl er immer gesund und gut aussah. Er lebte mit seiner Frau, Tante Bronja, im Hause des Großvaters in Brazlaw. Sie hatten zwei Söhne, Jascha und Sjoma. Onkel Meir hatte keine Ausbildung erhalten und war Arbeiter geworden. In jener Zeit gab es eine große Arbeitslosigkeit, und Onkel Meir fuhr Gott weiß wohin, um für sich und die Familie das tägliche Brot zu verdienen … Im Jahr 1937 oder 1938 kam er aus Rostow am Don zu uns. Dort hatte er in einer Mühle gearbeitet. Als der Krieg begann, wurde Jascha, der ältere Sohn, zur Armee eingezogen, er ist wahrscheinlich umgekommen, von ihm haben wir nie wieder etwas gehört.

Der Jüngste in Großvaters Familie war mein Vater, der Schapsa oder Schopa genannt wurde. Mein Vater sprach ausgezeichnet Jiddisch, Russisch, Ukrainisch und konnte sich einigermaßen gut auf deutsch und polnisch verständigen. Durch ihn beherrschten auch wir Kinder diese Sprachen.

Die schrecklichen Jahre des Ersten Weltkrieges, der Revolution, des Bürgerkriegs brachten auch über die Familie des Großvaters Angst und Schrecken. Onkel Simcha wurde ermordet, Onkel Sjoma wurde eingezogen, Onkel Meir erkrankte ernsthaft. Aus Angst, daß man meinen Vater auch wegholen würde, machte man ihm künstlich einen beidseitigen Leistenbruch, der ihm das Anrecht auf einen sogenannten weißen Schein gab. Alles ließ sich ganz einfach bewerkstelligen: Man machte ihn völlig betrunken und weitete ihm dann die Leistenringe. An meinem Vater wurde diese Selbstverstümmelung so »gewissenhaft« vorgenommen, daß keine Operation sie mehr rückgängig machen konnte. Er wurde dreimal operiert: das dritte Mal von dem Akademie-Mitglied Dshanelidse der Leningrader Medizinischen Akademie der Kriegsmarine. Ungeachtet dessen, daß ein hervorragender Chirurg die Operation durchführte, hielt der Erfolg nur kurze Zeit an. Im Jahre 1919 heiratete der Vater meine Mutter Golda, und sie zogen nach Tultschin ins Haus meines Tultschiner Großvaters. Großvater Ischmoel Landband und Großmutter Mariam hatten fünf Kinder. Wegen ihrer Güte und Herzlichkeit wurde Großmutter Duscha[2] genannt. Großvater und Großmutter wie auch die Brazlawer Großeltern starben Anfang des Jahrhunderts nach den Pogromen, und ich habe sie gar nicht erst kennengelernt, wie auch die drei Brüder meiner Mutter, denn der jüngste, Jechil, starb jung an Diabetes, die sich nach den Judenpogromen ausgebreitet hatte; die beiden anderen aber, Mordechai und Ber, wanderten nach Amerika aus, ohne daß jemand noch einmal etwas von ihnen hörte. Mamas älteste Schwester Sara zog ungefähr im Jahre 1930 mit der Familie nach Odessa, im Sommer aber kam sie immer nach Tultschin, und wir fuhren oft nach Odessa, besonders in den Jahren der Hungersnot.

Ich denke, daß Mama sehr traurig war und sich sehr um die Brüder sorgte, da sie nichts von ihnen hörte. Manchmal saß sie ganz versonnen da und sang »A briwale der Mamen«, und die Tränen flössen ihr nur so über das Gesicht. Am häufigsten hörten wir sie dieses Lied singen, als mein ältester Bruder in die Militär-Fliegerschule eintrat. Ich erinnere mich noch genau an dieses Lied:

Du fuhrst weg mein einziges Kind

über Wald und Meere.

Du fuhrst weg mein einziges Kind,

Du sollst bald zurückkommen,

einen Brief der Mutter schreiben.

Du sollst bald zurückkommen.

Und es waren die Tränen der Trauer um die Brüder und den Sohn.

Die Mutter des Autors: Golda Umanskaja, geborene Landband, in Tultschin (Gebiet Winniza/Ukraine) kurz nach der Hochzeit, 1920 (Privatfoto)

 

Im Gegensatz zu meinem Brazlawer Großvater Jankel war mein Großvater Ischmoel ein erfolgreicher Holz- und Obsthändler. Er hatte kleinere Filialen in Krakau und Lodz, wie mir Mama erzählte. In Tultschin hatte sich der Großvater auf dem Neuen Marktplatz (es gab auch noch den Alten Markt), neben der Synagoge, die zu Sowjetzeiten als Veterinär-Schule diente, ein Haus mit zwei Zwei-Zimmer-Wohnungen gebaut. Das Haus hatte den größten Keller in ganz Tultschin. Er diente als Lager, in dem der Großvater Holz und andere Waren aufbewahrte. Mama vermietete später diesen Keller und hatte dadurch eine kleine Nebeneinnahme zum Familienbudget. Allem Anschein nach war der Großvater nicht arm, denn in den 30er Jahren wurden Mama und Papa zu den Angehörigen der Ausbeuterklasse gezählt und wurden ihrer Rechte beraubt (sie waren sogenannte Lischenzy)[3]. Der Großvater hatte eine Hausangestellte, ein »altes Mädchen«, das »Golda die Magd« genannt wurde. Sie kümmerte sich um alle Kinder des Großvaters und war faktisch ein Mitglied der Familie. Sie sorgte für uns, die jüngere Generation. Es gab noch einen Pferdeknecht, Iwan Simtschuk, der unter der Sowjetmacht Kolchosvorsitzender in Belousowka (einem Dorf nicht weit von Tultschin) geworden war. Sein ganzes Leben war er ein Freund unserer Familie. Er war oft bei uns zu Hause, und als der Krieg begann, kam er aus eigenem Antrieb in einem Zweispänner vorgefahren, übergab dem Vater die Zügel und sagte auf ukrainisch: »Schopa und Golda, haut ab, unter den Deutschen werden die Juden umgebracht!«

Ich erinnere mich noch gut an das Tultschin meiner Kindheit. Überall lebten Juden. Auf dem Weg zu dem kleinen Fluß stand die orthodoxe Kirche. Am Stadtrand lebten Ukrainer, Russen, Polen. Alle sprachen jiddisch, einschließlich der Mitglieder des Exekutivkomitees, des Bezirkskomitees der Partei, alle Behörden. Es gab ein Medizinisches Institut mit Jiddisch als Unterrichtssprache, eine jüdische Mittelschule, ein Lehrerinstitut (kein pädagogisches, sondern ein ausgesprochenes Lehrerinstitut). Die anderen vier Schulen waren ukrainische und russische Schulen.

Meine besten Freunde waren Jaschka und Isja Schihwar. Der schönste Ort der Welt war für uns der Park beim Gut Pestel. Eines Tages gruben wir eine ungewöhnliche, dickbauchige Flasche aus. Wir entkorkten die Flasche, schnüffelten daran, und Jaschka, der zwei Jahre älter als Isja und ich war, sagte mit Bestimmtheit: »Selbstgebrannter!« Dann goß er den Inhalt auf den Boden, aber weil die Flasche so interessant aussah, warf er sie nicht weg. Auf dem Heimweg gingen wir am Stadtmuseum vorbei und zeigten dort unseren Fund. Ein älterer Angestellter des Museums bedauerte sehr, daß wir den Inhalt der Flasche ausgekippt hatten und bat uns, beim nächsten Mal so etwas nicht wieder zu tun. Er sagte, daß das ein französischer Cognac gewesen sei und behielt die Flasche als Ausstellungsstück. Uns aber gab er Geld für drei Portionen Eis, und wir waren glücklich.

Die größte Sehenswürdigkeit von Tultschin waren zwei Siegessäulen, auf denen in lateinischer Schrift die Siege der Truppen von Suworow[4] verewigt waren. Die Juden, die nicht wußten, was dort in Stein gehauen war, nannten die Säulen einfach Masten, den großen und den kleinen Mast. Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts lag in Tultschin ein großer Teil der Zweiten Suworow-Armee mit ihrem Stab. Hier befanden sich der Generalissimus A.W. Suworow und auch die Südgruppe der Dekabristen[5] mit Pestel an der Spitze. Zu dieser Zeit hielt sich in Tultschin auch der russische Dichter Puschkin auf, der Tultschin in seiner Ballade »Eugen Onegin« erwähnt.

Gelegen auf den hügeligen Ausläufern der Karpaten, war Tultschin eine sehr interessante Stadt, bei weitem interessanter als Brazlaw, wo ich ebenfalls einen Teil meiner Kindheit verbrachte. In Tultschin gab es auf dem Alten Marktplatz Ruinen einer türkischen Festung, Reste eines Landgutes der Grafen Potocki, den Suworow-Stab, das Landgut von Pestel und andere Sehenswürdigkeiten.

Niemand kümmerte sich weiter um mich, wenn ich nicht zur Schule ging. Im Sommer frühstückte ich zu Hause. Danach zog ich mit einer Bande anderer Jungen zum Fluß hinunter oder zum Pestelschen Gut, dessen Park sich von den höchsten Tultschiner Hügeln bis hinab zum Fluß erstreckte. Dort badeten wir, ließen uns die Sonne auf den Buckel scheinen, spielten stundenlang Fußball mit einem Ball, der aus Lumpen gemacht war (andere gab es damals nicht), gruben unterirdische Gänge und, und, und. Im Herbst und im Sommer schlugen wir uns den Bauch voll mit Vogeleiern, Süß- und Sauerkirschen und später mit Äpfeln, Birnen, Pflaumen, Melonen, Gemüse usw. Wir lebten auf diese Weise fast wie das Vieh auf der Weide. Manchmal kam der Bauer, und dem ein oder anderen von uns erging es schlecht. Gewöhnlich wuschen wir die Früchte und das Gemüse nicht ab, aßen mit ungewaschenen Händen, doch krank wurde nie jemand. Erst am Abend kamen wir nach Hause, wuschen uns die nackten Füße und waren zur Mittag- oder Abendmahlzeit schon eingeschlafen. Wir wuchsen heran, gesund, kräftig, geschickt und waren schwarz von der vielen Sonne.

Mein Bruder war sieben Jahre älter als ich. Er wurde dem Großvater zu Ehren Ischmoel (Schmerko) genannt, aber dann wurde sein Name modisch in Schunja, Schura (Alexander), umgewandelt. Im Jahre 1938 war Schunja schon in der 9. Klasse. Er konnte ganz passabel zeichnen, malte Plakate und Fähnchen und verdiente nicht schlecht dabei. So bestellte man z.B. bei ihm zum 1. Mai oder 7. November Plakate mit Lenin- oder Stalin-Porträts. Er nahm eine Postkarte mit einem Porträt, pauste es auf kariertes Papier ab, und in größerem Maßstab übertrug er das Ganze auf Stoff, zeichnete alles ein und erreichte so eine große Ähnlichkeit der Porträts mit den Vorlagen. Die Plakate gelangen ihm sehr gut. Zusätzlich zu den Feiertagen schrieb Schunja noch Losungen und Aufrufe. Die Losungen wurden aus einem Satz Zahnputzpulver auf roten Fahnenstoff geschrieben.

Ich entsinne mich noch gut an die Zeit, als man »für Gold« eingesperrt wurde. Man steckte die Tultschiner Juden ins Gefängnis und forderte von ihnen Gold für den Aufbau des Sozialismus. Sie wurden so lange festgehalten, eingeschüchtert und bedroht, bis sie sich bereit erklärten, Gold oder Devisen herauszugeben. Dann wurden sie freigelassen. Gewöhnlich wurden sie nach Hause begleitet, wo man ihnen eine Quittung über die herausgegebenen Werte gab. Meine Eltern wurden nicht »für Gold eingesperrt«, man wußte, daß sie nichts hatten.

Im Jahre 1936 begannen die Gerichtsprozesse, die die Volksfeinde der Trotzkisten und der Bucharin- wie auch der Sinowjew-Banden entlarven sollten. Bis nach Tultschin drangen nur schwache Ausläufer der Moskauer Gewitterstürme, doch auch hier gab es den ein oder anderen Volksfeind. Man fing an, beim kleinsten Vergehen, wie z.B. beim Zuspätkommen zur Arbeit, sehr rigide zu reagieren, und sehr schnell konnte man dafür ins Gefängnis kommen, was dann immer nachts geschah. Ich bin überzeugt, daß meine Landsleute überhaupt nicht wußten, was Trotzkisten und Bucharinisten waren.

In den Jahren 1937/38 begann immer mehr die Angst umzugehen. Als in Moskau der Prozeß gegen die Volksfeinde lief, fragten die Erwachsenen sich gegenseitig, wie es geschehen konnte, daß solch verdiente Leute, die die Revolution mitgetragen und mitvollendet hatten, sich zu Spionagediensten hergaben. Hatten die Leute noch in den Jahren davor abends auf der Straße die Ereignisse diskutiert, so sprachen sie in den folgenden zwei oder drei Jahren mit niemandem über die Ereignisse, aus Angst, jemand könnte sie beim NKWD anschwärzen.

Mama arbeitete wie fast alle Frauen in Tultschin nicht, schon deshalb, weil es ja auch schon für Männer keine Arbeit gab. Außerdem brachten drei Kinder viel Arbeit und Sorge mit sich. Mama hatte sehr selten Zeit. Gewöhnlich hatte sie zu kochen, zu backen, sauberzumachen, zu waschen … Sie buk selbst das Brot, weil es schmackhafter und billiger als das aus dem Laden war. An den Donnerstagabenden rührte sie in einem hölzernen Brottrog Mehl, Wasser und Sauerteig an, der noch vom letzten Teig übriggeblieben war, streute Salz darüber, rührte aus allem einen Teig und bedeckte ihn mit einem sauberen Handtuch und einer Bettdecke. Der Teig blieb die ganze Nacht dort stehen. Während der Nacht »kam« der Teig und füllte die ganze Schüssel aus. Am nächsten Morgen heizte Mama den Ofen an, und sobald das Feuer im Ofen kräftig aufloderte, knetete sie den Teig und bereitete alles Nötige vor. Schließlich war der Ofen glühend heiß geworden, das Holz niedergebrannt und die Hitze im Ofen so stark, daß man unmöglich daneben stehenbleiben konnte. Mit dem Feuerhaken holte Mama die verkohlten Holzstücke vor – und jetzt kam das Spannendste. Mama rollte ein Stückchen Teig auseinander und buk einen Fladen »a Papolyk«, indem sie das Teigstück mit einer hölzernen Schaufel in den Ofen legte. Der Papolyk wurde schnell größer, bekam eine rötliche Farbe und war nach einigen Minuten fertig. Mama nahm ihn geschickt mit der Schaufel heraus, bestrich ihn dick mit Butter und gab ihn mir. An den Geschmack erinnere ich mich noch heute.

Dann drehte Mama aus einer Teigwurst einige Halla-Zöpfe, formte sechs bis sieben Laibe Brot und legte alles in den Ofen. Die Halla und die Brote kamen groß und gerötet heraus. Mama machte der Reihe nach alle möglichen Varianten, machte die Form von kleinen Hühnerflügeln, die sie »Flejderwisch« nannte, bestrich sie und die Oberfläche jedes Brotes mit geschlagenem Ei. Auf diese Weise erhielten sie ein lackiertes Aussehen.

Wenn der Sommer zu Ende ging, bereitete Mama alles für den Winter vor. Aus mehreren Eimern Pflaumen kochte sie Marmelade. Zum Einkochen hatten wir einen großen Kupferkessel. Den Markt zum Einkäufen der Früchte hatten wir direkt vor unserem Haus. Wir setzten uns hin und pulten die Kerne aus den Pflaumen. Dann stellten wir den Kessel mit den Pflaumen und dem Zucker aufs Feuer und kochten sie. Ich mußte das Ganze mit einem Feuerhaken umrühren. Die fertige Marmelade wurde in Keramik-Schüsseln umgefüllt, die die Juden »Sloj« nannten. Im Winter aßen wir die Marmelade mit Butter und Brot. Es schmeckte köstlich. Mama machte auch Konfitüre aus Sauerkirschen, manchmal auch aus Süßkirschen und Paradiesäpfeln, aus Stachelbeeren und Kirschpflaumen. Wir kauften ein, zwei Krüge (sloj) Honig und auch ein Paar Gänse, die wir selbst mästeten. Als die Gänse die richtige Kondition hatten und fett geworden waren, brachte ich sie zum Schächter, wohin ich auch das Huhn brachte, und dann machten wir Gänseschmalz.

Am Ende des Sommers und im Flerbst brannten vor den Tultschiner Häusern die Herbstfeuer, die Menschen bereiteten sich auf den Winter vor. Normalerweise brannten die Feuer nur dann, wenn Wäsche gekocht wurde.

1932