June und Helmut Newton - José Alvarez - E-Book

June und Helmut Newton E-Book

José Alvarez

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Beschreibung

Das Porträt eines außergewöhnlichen Künstlerpaars und seiner Zeit

Ein Berliner Jude, der die Fotografie liebt, strandet in den vierziger Jahren in Australien und verliebt sich dort in eine junge Schauspielerin. Ein Jahr später heiraten June Browne und Helmut Newton. Zunächst ist sie sein Model und seine Assistentin, später fotografiert sie leidenschaftlich und erfolgreich selbst. In Paris revolutionieren die beiden gemeinsam die Kunstszene. Helmut wird zum Weltstar durch seine ungewöhnlich inszenierten Mode- und Aktfotos. June alias Alice Springs spezialisiert sich auf Porträts. Sein Werk ist nicht ohne ihren Einfluß zu denken, ihres nicht ohne seine Inspiration. Der gemeinsame Freund José Alvarez hat June und Helmut Newton Jahre lang begleitet und erzählt hier zum ersten Mal ihre Geschichte – mit außergewöhnlichen Details und bislang unbekannten Fotos.

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Seitenzahl: 299

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Über das Buch

»Da ich dem Ehepaar Helmut und June seit über fünfzig Jahren sehr nahestehe, hörte ich eines Abends, wie June zu mir sagte: Du solltest unsere Geschichte aufschreiben, du kennst sie so gut ... Meine Erinnerungen reichten nicht aus: Ich musste viel recherchieren und lesen, um die Tragödie zu erzählen, die den kleinen Helmut Neustaedter, einen Berliner Juden, traf. Und die Umstände seiner Begegnung in Melbourne mit June Dunbar, einer jungen, anerkannten australischen Schauspielerin, die ihr Umzug nach Paris dazu zwang, die Bühne aufzugeben. Was mich begeisterte, war dieses ungewöhnliche Leben eines außergewöhnlichen Paares, das durch Kreativität zusammengehalten wurde. Ein Paar, dessen Intelligenz, Modernität und Freiheit in Staunen versetzt.« José Alvarez

Über José Alvarez

José Alvarez hat den Verlag Éditions du Regard gegründet und leitet ihn seit 1978. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Kataloge über Architektur, Kunst, Design, Fotografie und anderes. Er hat außerdem zwei Romane veröffentlicht. José Alvarez hat June und Helmt Newton jahrelang als Freund begleitet. 

Kirsten Gleinig hat Germanistik, Kunstgeschichte und Romanistik in Göttingen und Aix-en-Provence studiert. Seit 2002 ist sie freiberuflich als Lektorin tätig sowie als Übersetzerin und Autorin.

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José Alvarez

June und Helmut Newton

Biographie eines Künstlerpaars

Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Das letzte Shooting

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

Bildteil

Quellen

Filme

Dank

Bildnachweis

Impressum

Für June, Helmut und Laetitia

J. A. Helmut und June, Paris, 1968.

Das letzte Shooting

Am 23. Januar 2004 schaffte es die Sonne kaum durch den Nebel über dem Sunset Boulevard, ein Hauch von Morgentau ließ die Pflanzen des Chateau Marmont in Regenbogenfarben schillern. Helmut wollte mit seinem neuen weißen Cadillac eine Runde durch die Stadt drehen – sein tägliches Ritual. Seit beinahe dreißig Jahren reisten er und June, sobald der Winter in Europa anfing, nach Los Angeles in die Suite 54 im Chateau Marmont, wo sie viele Freunde trafen: Billy und Audrey Wilder, Bob Evans, Anjelica Huston, Jack Nicholson, Jane Fonda, Ed Ruscha, David Hockney, Tina und Mr. Chow, Timothy und Barbara Leary … June organisierte dort exzellente Partys. Abgesehen davon führte sie Tagebuch und arbeitete nach wie vor an ihrer Porträtserie.

Ein Guten Morgen zum Portier, und der Cadillac setzte sich in Bewegung. Die Palmenblätter strichen sanft über den Himmel hinter der efeuberankten Mauer, die das Hotel umgab. Der Wagen düste los und knallte nach zehn Metern in die Mauer. Das Hotelpersonal stürzte hinaus. June war ganz in der Nähe, am Steuer eines Mietautos, das sie gerade zurückgeben musste. Im Krankenwagen, der Helmut unter Sirenengeheul ins Cedars-Sinai-Krankenhaus brachte, machten sich die Sanitäter am reglosen Körper des Fotografen zu schaffen, der auf der anderen Seite des Atlantiks als großer Star gefeiert wurde. Aber Helmut Newton überlebte nicht.

Nach seinem Tod kümmerte June sich zusammen mit Philip Pavel, dem Manager des Chateau Marmont, um die Beisetzung, und zwar mit jener außergewöhnlichen Energie, die entsteht, wenn sich ein tiefgreifender Erschöpfungszustand mit großem Schmerz paart. Noch ahnte sie nichts von der ungeheuren Leere, die Helmut hinterlassen würde. Ich wusste, wie präsent er war, wie ein aufsässiges Kind, das ständig irgendetwas suchte: »Junie, hast du meine gelben Strümpfe gesehen, Junie, wo ist mein Fernglas, Junie, ich finde meine Olympus nicht …« Denn Helmut hatte nicht nur den absoluten Blick, er besaß auch eine besonders klangvolle Stimme, die man nicht vergisst.

Als Helmut starb, stand noch ein Fototermin aus, den er vereinbart hatte. Das letzte Shooting! June einigte sich kurzerhand mit dem Kunden, Gillette International, und schlüpfte geschmeidig in Helmuts Rolle und übernahm das Studio, die Models, das Licht … so, wie der Meister alles zwei Tage vorher für die Aufnahme organisiert hatte. Eine Anekdote, die ein Symbol für die perfekte Übereinstimmung dieser beiden außergewöhnlichen Menschen ist. Für ein Paar, das sich in der Fotografie begegnete. Für eine Lebenshaltung.

I

Mit zehn Jahren beobachtete Helmut Neustädter vom Balkon im dritten Stock des Familienhauses in der Innsbrucker Straße, in einem Berliner Wohnviertel, wie die Zeppeline aus Amerika am Himmel vorbeizogen, während sich unten auf der Straße die bewaffnete Polizei auf den baumbestandenen Seitenstreifen und in den angrenzenden Straßen auf Gruppen von Kommunisten und Rechtsextremen, späteren Nazis, stürzte, die sich gegenseitig angriffen. Es war das Jahr 1930, bevor Hitler an die Macht kam. Die Wirtschaftskrise war auf dem Höhepunkt, die Arbeitslosigkeit beträchtlich, und die Berliner waren überdreht, schwankten zwischen Übermut und Verzweiflung, warteten auf den Funken, der die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Auflösung des Deutschen Reiches unhaltbare Situation endlich entflammte. Ein toxisches Klima, das die deutsche Elite täuschen, gar verblenden sollte. Lediglich die hellsten Köpfe der jüdischen Bevölkerung oder vielleicht diejenigen, die Mein Kampf gelesen hatten, als sie Deutschland verließen, sahen das Schicksal voraus, das ihnen zum Verhängnis wurde.

Dieses tragische Schicksal war auch dem verwöhnten Helmut bestimmt, dessen jugendliches Leben von einer der schlimmsten Umwälzungen der Geschichte erfasst wurde: das Verschwinden einer ganzen Welt, seiner Welt. Aber auch das eines ganzen Volkes, das sich mit dem Hass eines einzigen Mannes konfrontiert sah, Adolf Hitler.

Als Erwachsener würde Helmut in seinen Erinnerungen an eine zerstörte Jugend, in den erlittenen Verletzungen und seinen Obsessionen einen Nährboden für sein vom Licht beseeltes fotografisches Werk finden. Bilder mit kontrastreicher Beleuchtung, die die Menschen, Frauen vor allem, überhöht. Präzise wie ein Insektenforscher erfasste Helmut Newton Frauen, die eine geistige Aura umgab, und rief damit den Eindruck von Grenzenlosigkeit hervor. Ein obsessives Werk, durchdrungen von Leichtigkeit, Verzweiflung, Erotik, Luxus – und von Aufrichtigkeit, ein grausames, aber befreiendes Werk. Indem er sich ständig sein familiäres Umfeld und den vornehmen Lebensstil in Erinnerung rief, suchte er unablässig nach diesem Teil von sich selbst, der ihm immer entwischte und der zugleich seine Basis und sein Gefängnis war. Etwas Subtiles, Nostalgisches, auch Gewaltsames in ihm.

Sein ganzes Leben lang, in das sich das 20. Jahrhundert eingebrannt hatte, jagte Helmut seiner Vergangenheit nach – dem, was er selbst erlitten hatte, dem Abstieg in die Hölle, der Demütigung des Vaters. Aus Gewalt, Schmach und Verlogenheit der »Konformisten«, aus der Vernichtung von Menschen durch ihresgleichen ließ er Bilder von entschlossenen, flüchtig-ernsten Frauen entstehen, die, wenn nicht die Männer, so doch zumindest ihr Schicksal am Zaum führen und ironisch und zurückhaltend zärtlich wirken oder überbordende Sinnlichkeit ausstrahlen. Frauen mit begehrenswerten Körpern, manchmal furchterregend, oftmals klassisch wie Statuen. Schlichte Bilder, gespeist aus seinem geheimen Ich, die an eine wie vom Blitz getroffene Vergangenheit erinnern, in der funkelnde Autos herumfahren und Ferienorte und Schwimmbäder oder bezaubernde Hotelzimmer angedeutet werden. Eine überhöhte Vergangenheit, die sich entzieht, die auf ewig verschwunden ist und immer wieder aufs Neue erfunden wird. Denn die Vergangenheit heraufzubeschwören bedeutet ja, sich ihr zu entziehen, weil es sie ohne unseren Blick gar nicht gäbe. Die Bestimmung eines Kindes, dessen Leben von Anfang an von schwierigen Umständen geprägt war und dessen unschuldiger Blick unfehlbar wurde. Ein tragisches Missgeschick der Geschichte, das dazu führte, dass im Werk von Helmut Newton die Katastrophe eines verheerenden Jahrhunderts widerhallt. Ein Werk, das vom Zauber einer einst flüchtig wahrgenommenen Welt erzählt, die er nicht müde wurde, immer neu zu erfinden in Form von allegorischen Bildern, aus denen seine von der Moderne geprägte Melancholie spricht.

Als Hans, Helmuts zehn Jahre älterer Halbbruder, die beeindruckenden Banknoten des Inflationsgeldes sammelte, das sich in Deutschland verbreitete und das die Berliner in Schubkarren transportierten, flehte Helmut seine Eltern voller Sorge an, ins Ausland zu fliehen. Zur jugendlichen Naivität gesellte sich bei ihm die Fähigkeit, sich in die Zukunft hineinzuversetzen, wodurch die Wirklichkeit durcheinandergeriet. Doch sein Vater, Max Neustädter, der sich über jeden Verdacht erhaben sah und noch dazu Besitzer der größten Knopffabrik Deutschlands war, wollte nicht an die vorhergesagte Katastrophe glauben. Wie hätte man ihm, dem derart gut integrierten Großbürger in dem Land, in dem schon seine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern geboren waren, das auch verdenken können? Gehörte er als Privilegierter mit seiner Familie denn etwa nicht zur jüdischen Intelligenz Berlins? Auch seine Hausangestellten und sein Chauffeur, der treue Joachim, der ihn jeden Tag ins Büro fuhr, bevor er den kleinen Helmut an der Schule absetzte, waren schließlich ein Beweis dafür. Max war nicht in der Lage, die Absurdität der Geschichte abzuschätzen, unfähig, die Anfänge einer neuen Ordnung zu begreifen, aus der die Juden als Sündenbock ausgeschlossen sein würden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein guter Mensch, der in denselben Vereinen war wie jeder andere ehrbare Bürger und dieselben Lebensgewohnheiten hatte, schon morgen bei der Polizei angezeigt werden konnte, nur weil er jüdisch war. Er konnte nicht begreifen, dass sich ein System zur Vernichtung seiner Gemeinschaft und mit ihr von Sinti und Roma, Homosexuellen, Behinderten und Kommunisten formierte. Nicht einfach irgendein politischer Abweg, sondern ein tiefgreifendes, unausweichliches Übel, dessen unerbittliche Umsetzung zum Tod führte.

Helmut war ein schmächtiges Kind und hatte nur wenige Freunde. Er war ein Einzelgänger und las begeistert, ermuntert von Onkel Moritz, der Verleger in Leipzig war und ihm Kinderbücher schickte, die er selbst herausgab. Darunter Fabeln von Äsop, Erzählungen von Wilhelm Hauff oder Märchen von Andersen und den Brüdern Grimm … und natürlich Bücher zur griechischen Mythologie, allesamt illustriert. Sie waren wie ein Heilmittel für Helmuts Ungeduld, die ihn bis ins Erwachsenenalter begleitete – bis er Fotograf wurde. Dank der Bücher langweilte er sich nie, außer in der Schule. Mit sechs Jahren las er immer wieder über Kleopatra, vermutlich weil ihre Schönheit ihn so faszinierte. Und es gab Geschichten, die ihn in Angst versetzten, von reichen Kindern, die von einer niederträchtigen Figur entführt und verstümmelt wurden, die sie unter Androhung schrecklicher Misshandlungen zum Betteln zwang. Diese Erzählungen ließen ihn schaudern. Er liebte es, abends lange wach zu bleiben und sich mit einer Taschenlampe unter der Decke zu verkriechen. All diese Geschichten bewegten ihn zutiefst, und er lernte darüber die Welt und sich selbst kennen. Ein Vierteljahrhundert später fanden sich dann in seinen Fotografien die Szenen und Bilder wieder, von denen er als Kind gelesen hatte.

Da Helmut ein Buch nach dem nächsten verschlang, griff er auch bald nach den verbotenen Büchern in der Familienbibliothek, darunter Fräulein Else von Arthur Schnitzler und die Romane von Stefan Zweig, in denen er die Vielschichtigkeit menschlicher Beziehungen entdeckte und deren Sinnlichkeit ihn begeisterte. Texte, die später im Denken und in den Obsessionen des Fotografen Helmut Newton zutage traten. Er entdeckte, dass Geschichten besonders stark wirkten, in denen die Heldin ein Unglück erleidet, das sie zum Ungehorsam treibt und aufbegehren lässt. Abenteuerliche Lebenswege taten sich hier vor ihm auf mit starken, autoritären, oft unvernünftigen Frauen, die sich nicht den Gesetzen der gemeinen Leute unterwarfen. Das Lesen begeisterte ihn jeden Tag aufs Neue und verbarg seine Einsamkeit. So konnte er geduldig auf die Ferien warten, die stets zur selben Jahreszeit am Meer verbracht wurden.

Heringsdorf war das Lieblingsstrandbad jüdischer Familien. Wenige Kilometer entfernt von Ahlbeck, wo Nazis und Veteranen abstiegen. In Heringsdorf wehte die Fahne der Weimarer Republik und in Ahlbeck die des Kaiserreichs, bereits mit dem Hakenkreuz versehen. Beide Lager hegten Ressentiments gegenüber dem jeweils anderen und verachteten sich. Manche waren Alkoholiker geworden oder wurden depressiv, nachdem sie die falschen Frauen geheiratet hatten. Andere hatten ihre Millionen im Casino von Ahlbeck zum Fenster hinausgeworfen; wieder andere hatten in Verdun an der Spitze ihres Regiments gekämpft und sich verirrten Kugeln entgegengestellt. Alle erinnerten sie sich sehnsüchtig an das wilhelminische Zeitalter und die Jahre des sozialen Friedens unter Wilhelm II., dem vergötterten Herrscher.

Zum Baden im Meer kamen die Thermalkuren und die unvermeidlichen Rituale hinzu. Schon wenn sie sich dem Ort der Sommerfrische näherten, verordnete Klara ihren Söhnen Helmut und Hans: »Ganz tief ein- und ausatmen, Kinder, die Luft hier ist wertvoll!« Während die beiden Brüder zu Hause nichts miteinander anfangen konnten, segelten sie hier gemeinsam mit ihrem Vater und schwammen stundenlang. Wenn sie allein waren, verstanden sie sich bestens. Es verband sie eine überbordende Lebensenergie, und sie strotzten beide vor Gesundheit. Ein Ventil dafür waren Sex und Vergnügen, aber auch eine ablehnende Haltung gegenüber der Schule, außerdem Witze und bei Hans das Erzählen jüdischer Geschichten, das Onkel Edward ihm beigebracht hatte, – dem er ähnlich sah und der Hans seit dem frühen Tod des Vaters wie einen Sohn behandelte.

Eines Tages überraschte Max Hans mit einer seiner Eroberungen im Badezimmer des Hotels. Er war gerade dabei, dem Mädchen mit Bubikopf, das nackt in der Badewanne saß, den Nacken zu rasieren – auf dem Wasser schwammen unzählige schwarze Haarsträhnen. Max hatte einen Wutausbruch und bestrafte den Jungen entsprechend, der das nicht begriff. Um sich zu rächen, setzte Hans mit Helmuts Beihilfe kleine grüne Frösche in die Senftöpfe im Speisesaal des Restaurants.

Als Max Klara geheiratet hatte, war diese bereits Mutter und Hans auf der Welt. Der junge Soldat hatte sich nach der Rückkehr von der russischen Front 1918 in die herrische Frau mit den perfekten Beinen verliebt. Dann wurde Helmut geboren, zwei Monate vor dem Termin – das geliebte, tadellose Kind, auf das sie so gewartet hatten.

Klara, die aus einer wohlhabenden Familie stammte, war in erster Ehe mit einem sehr reichen Mann verheiratet gewesen, von dem sie ein Kind bekommen und bei dessen Tod sie geerbt hatte. Unmerklich schlich sich eine Rivalität zwischen den beiden Jungen ein, was Hans, den ungeliebten Sohn, empörte, was Helmut aber gar nicht bemerkte. Dem hierarchischen Familienprinzip zufolge hätte eigentlich Hans die Vorteile des älteren Sohnes erfahren müssen. Zumal er aus erster Ehe stammte.

Klara war eine Powerfrau, autoritär und unerbittlich mit den Hausangestellten und ebenso bewundert wie gefürchtet für ihre Seitenhiebe. Sie besaß Eleganz und zudem eine erstaunliche Intuition. Sie war stolz auf ihre Gewandtheit, verachtete alles Banale, und es war ihr vollkommen egal, was man von ihr dachte. Dafür machte es ihr großen Spaß, Menschen, die ihr lästig waren, gehörig ihre Meinung zu sagen. Und sie achtete pedantisch darauf, dass die Dinge ausgeglichen waren: Wie du mir, so ich dir. Helmuts Mutter weckte in ihm Abenteuerlust, Freiheitsdrang und eine gewisse Anspruchshaltung, aber auch das Verlangen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und es niemandem zu überlassen, darüber zu bestimmen. Die Gewalt, die er kennenlernen und die ihn für immer prägen sollte, war unbegreiflich für einen Heranwachsenden, den nichts auf dieses Unglück vorbereitet hatte. Entsprechend war seine Haltung in Liebesabenteuern, in seiner Kunst und im sonstigen Leben … er war immer auf dem Absprung. Die Verletzungen aus seiner Kindheit traten später in einem umfangreichen Werk zutage, das sich jeder Einordnung entzieht und das alle Genres umfasst. Als hätte er sein Territorium abgesteckt oder sich sogar eine Welt ausgedacht, die es vor seinen Bildern noch nicht gab. Und einen meisterhaften Stil, der dieser Welt zugrunde liegt.

Um ihm dem Einfluss seiner Mutter hin und wieder zu entziehen, nahm Max seinen Sohn sonntags manchmal mit in die Grunewaldstraße, wo sich ein paar Freunde zum Aperitif trafen. Die Gespräche der Erwachsenen, die sich vor allem um die wachsende Anspannung innerhalb der von den Rechtsextremen bedrängten jüdischen Gemeinschaft drehten, beunruhigten den für sein Alter sehr reifen Helmut. Als er zehn Jahre alt war, war sein Vater noch immer darauf bedacht, den weiblichen Einfluss zu durchkreuzen, und schrieb ihn in einer Gymnastikschule für wohlhabende jüdische Kinder in der Hardenbergstraße ein. Aber Helmut war nicht für den Sport gemacht. Es vergingen drei weitere Jahre, bevor er das Schwimmen für sich entdeckte, seine große Leidenschaft, in der er es sicherlich zum Meister gebracht hätte, hätten die Ereignisse seinem Training nicht ein Ende gesetzt.

Die Spannungen zwischen Juden und Ariern verstärkten sich. Helmut flüchtete sich ins Lesen und in den Jazz und hörte Cab Calloway, Duke Ellington oder den angelsächsischen Publikumsliebling Jack Hylton mit seinem Orchester, in den die Berliner ganz vernarrt waren. Es war auch die Zeit des Schulschwänzens. Er trieb sich mit seinen Freunden in den Bars in der Tauentzienstraße herum, wo sich Hausangestellte und Prostituierte trafen. Hier streiften sich die Körper beim Tanzen und gaben sich rückhaltlos hin, und Helmut erlebte, was Sinnlichkeit bedeutet. Während Verliebtheit ihn in Verlegenheit brachte, begegnete er hier in den Armen der überschwänglichen Mädchen, die deutlich zeigten, dass sie den Männern Vergnügen bereiten wollten, Sexualität ohne jegliches Tabu. Da er ein perfekter Kavalier und immer wie aus dem Ei gepellt war, bat auch seine Mutter ihn, sie zum Tanztee zu begleiten. Als ziemlich miserabler Tänzer bewunderte er dort vor allem den Luxus im Hotel und die Eleganz der Frauen, die miteinander um Kosmetik und Schmuck wetteiferten und größtenteils aus Paris kamen. Der Glamour dieser legendären Jahre machte Berlin zur intellektuellen, künstlerischen und kosmopolitischen Hauptstadt Europas, deren glanzvolle Tage gezählt waren.

Zu dieser Zeit kaufte Helmut sich seine erste Kamera, eine Agfa Box Tengor, die er – inspiriert von den Fotografien Moholy-Nagys –, noch bevor er sie richtig eingestellt hatte, gleich in der S‑Bahn ausprobierte, von wo aus er den Berliner Funkturm einfing. Die Abzüge stießen auf Bewunderung bei Helmuts Cousin Bennett.

Als Helmut erfuhr, dass in einer der Garagen seines Vaters das prächtige amerikanische Cabriolet des Fotografen Munkácsi stand, der zusammen mit Erich Salomon ebenfalls zu seinen Idolen zählte, versteckte er sich stundenlang hinter einem Wagen, bis er den Meister überraschte, als der gerade seine Fotoapparate von der Rückbank nahm und auf die Straße verschwand, wohin Helmut ihm folgte. Schon lange bewunderte er die Werke der Fotografen in der Berliner Illustrierten Zeitung. Eines war klar: Er würde Reporter werden, und zwar der größte. Das war 1933, Helmut war dreizehn Jahre alt, und seine Welt war beherrscht von Sex, vom Schwimmen und von Fotografie.

Während seine Liebeserfahrungen sich noch auf ein paar verstohlene Küsse beschränkten, tobte er sich auf dem Experimentierfeld der Fotografie aus. Die Paris-Fotos bei Nacht von Brassaï, die er zu Hause in einer der zahlreichen Zeitschriften fand, zogen ihn in ihren Bann und regten ihn dazu an, dasselbe in Berlin zu versuchen. Weil die Stadt nicht mehr besonders sicher war, begleitete ihn sein Cousin Bennett, der ihn schon immer zum Fotografieren ermuntert hatte, auf seinen nächtlichen Streifzügen. Bennett war Jude, aber seine Frau Elsa, eine Meisterin im Eiskunstlauf, war eine echte Arierin. Sie war blond, zierlich, hatte große silberne Augen, kam vollkommen ungekünstelt daher, abgesehen von dem der damaligen Mode entsprechenden Konturstrich um ihren karminroten Mund, und hatte einen naiven Spaß daran, anderen zu gefallen. Wenn sie nachmittags beim Kaffeeklatsch Kuchen mit Schlagsahne aßen, fand sie es lustig, mit Helmut unter dem Tisch zu füßeln. Ganz erregt fragte Helmut sich, wie sie nur zu dieser traditionellen jüdischen Familie gekommen war, die zwar abenteuerlustig, aber auch sehr snobistisch war, vor allem seine eigene Mutter. Sie hatte ihm einmal von seinem 1844 geborenen Großvater Markiewicz erzählt, den es nach Italien verschlagen hatte, wo er sich, nachdem er an der Seite Garibaldis im Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatte, für die USA eingeschifft hatte. Dort trat er 1865 der Nordstaatenarmee bei, wo ihm der Posten als Leibwächter der Ehefrau des General Grants zugewiesen wurde. Diese verliebte sich in den jungen Anwärter, und nach einer flüchtigen, aber leidenschaftlichen Beziehung ließ sie ihn aus Sorge, dass die Sache auffliegen könnte, zu ihrem Bedauern an die Artillerieschule nach Fort Monroe in Virginia schicken. So nahm er die amerikanische Staatsbürgerschaft an und nannte sich fortan Marquis, was für seine Kommilitonen leichter auszusprechen war. Zurück in Berlin, heiratete er und bekam drei Söhne und vier Töchter, darunter Klara als zweitjüngste, seine Lieblingstochter. Er war ein wenig mondän und draufgängerisch, hatte einen kämpferischen und findigen Unternehmergeist, der ihn zu einem Vorreiter in der Werbebranche machte und ihm Erfolg mit Plakaten in öffentlichen Verkehrsmitteln bescherte. Seine zahlreichen Eroberungen, seine Liebesabenteuer und gleichzeitigen Szenen zu Hause, seine äußerst kultivierte Art sowie die Sorgfalt, mit der er sich dem herrschenden Diktat der Mode gemäß elegant kleidete und auf jedes Detail achtgab – von den Stiefeletten über die Länge des Gehrocks bis hin zum aktuellen Hutmodell –, verschafften ihm allgemeine Bewunderung. Einer seiner vielen Spleens, für die man ihn kannte, war es, in seiner Kutsche mit sechs Pferden wie der Teufel durch die Straßen Berlins zu rasen.

Mit elf Jahren war Helmut, trotz gewisser Befürchtungen, auf ein Jungengymnasium gekommen, das als nazifreundlich galt, das Heinrich von Treitschke Realgymnasium in der Prinzregentenstraße. Kurz darauf wurde er Mitglied im BSC – dem Berliner Schwimm-Club – und entdeckte dort seine Leidenschaft für das Schwimmen. Später sagte er über seine in Schwimmbädern entstandenen Fotografien: »Nichts ist sinnlicher als eine Frau, die durch das Wasser oder die Luft gleitet.« Er trainierte täglich bis zur Erschöpfung. Sein Körper formte sich langsam, ohne dass er wie ein Athlet aussah. Aber auch die intensive körperliche Betätigung konnte seinen Geschlechtstrieb nicht besänftigen, der die Eltern beunruhigte. So wurde ein Termin beim Arzt der Familie, Doktor Ballin, vereinbart, der keinen anderen Rat hatte als den, er solle sich eine Freundin zulegen, und darauf beharrte, dass Exzesse in jeglicher Hinsicht schädlich seien.

Zusammen mit Bennett entdeckte Helmut eine weitere Leidenschaft: das Kino. Er konnte sich nicht sattsehen an Metropolis von Fritz Lang, an Das blaue Licht von Leni Riefenstahl, an Kameradschaft und Brigitte Helm in Die Herrin von Atlantis von Georg-Wilhelm Pabst oder Conrad Veidt in Die letzte Kompagnie. Vor allem aber Der blaue Engel mit Marlene Dietrich, den er in dem Sommer sehen durfte, als er dreizehn war, erregte die Aufmerksamkeit des jungen Cineasten, ebenso wie Eine Stadt sucht einen Mörder von Fritz Lang, der schon bald zurückgezogen und von Goebbels verboten wurde wegen des Verdachtes, das Regime des Dritten Reiches zu parodieren. Nach der Vorstellung lernte Helmut zwei Fotografen kennen, die mit Bennett befreundet waren und ihm vorschlugen, als Laufbursche für sie zu arbeiten, aber auch um Kaffee zu kochen, Artikel und Negative zu sortieren und Material zu besorgen … Ein Glücksfall für den angehenden Fotografen. Selbstverständlich ließ er seinen Eltern gegenüber nichts von dieser Tätigkeit fallen. Unermüdlich eilte er von einer Aufgabe zur nächsten, war am Abend vollkommen erschöpft und empfand ein heimliches Vergnügen, wenn er sich auf dem Nachhauseweg in der rastlosen Stadt unter die gleichgültigen Passanten mischte.

Im selben Jahr zog die Familie auf Klaras Mahnen hin in die Friedrichsruher Straße, eine schmucklose Straße in einem eleganten Stadtteil von Berlin, in der viele berühmte Leute wohnten oder gewohnt hatten, nur wenige Minuten vom Schwimmverein entfernt. Es war höchste Zeit, seufzte Klara: »In unserem Viertel haben sich unerträgliche neureiche Bürger niedergelassen und sich die Gegend angeeignet. Berserker, die uns Juden gegenüber Vorurteile schüren.« Der neoklassizistische Bau, der dem Geschmack der damaligen Ideologie entsprach, brachte viele Vorteile mit sich, darunter den, dass es eine Turnhalle und einen Kinosaal gab. Und das Kino würde später eine entscheidende Rolle in Helmuts Werk spielen, denn seine Fotografien muten allesamt wie Filmszenen an. Bei ihm wird nichts explizit benannt, und es ist an den Betrachtern und Betrachterinnen, sich die eigene Geschichte, das eigene Drehbuch dazu auszudenken. Zudem war das Haus zwar von baumbestandenen Parkflächen umgeben, aber das umliegende Viertel war durchaus belebt, zum Glück, denn als Jude konnte man sich in der Hauptstadt nur in der Menge sicher fühlen.

Ein Jahr bevor die abscheulichen Nürnberger Rassengesetze öffentlich bekannt gemacht wurden, die dem Dritten Reich den juristischen Rahmen für die Verfolgung der Juden und später deren Vernichtung boten, hatte Max Helmut aus Angst von seiner Schule genommen, obwohl der nie unter irgendwelchen Diskriminierungen von seinen Klassenkameraden zu leiden gehabt hatte. Max meldete ihn an der amerikanischen Schule an, wo der Unterricht zum Glück – auch wenn das für Helmut zunächst ein Alptraum war – auf Englisch stattfand.

Als Klara die neue Wohnung eingerichtet hatte, ließ sie ihre Kontakte und Aktivitäten rund um Musik, Theater und Oper wieder aufleben und fuhr sogar nach Bayreuth, um Wagner zu hören. Max fand sich mit diesen Abenden ab, ohne dass er selbst größeres Interesse daran hatte, zumal er mit seinen eigenen Dingen beschäftigt und davon erschöpft war und ihn die ständige Bedrängung durch die Nazis umtrieb, und so bat er Helmut eines Abends, seine Mutter ins Konzert zu begleiten. Diese war bekümmert darüber, dass ihr Idol Arturo Toscanini, nachdem er von Faschisten angegriffen worden war, nicht mehr als Dirigent in Bayreuth auftreten wollte, während Kurt Weill, Alban Berg und Arnold Schönberg unter die Zensur der Nazis fielen und ihr Schicksal bereits erahnen ließ, welchen Schwierigkeiten jüdische Künstler und Künstlerinnen in Zukunft ausgesetzt sein würden. Aber Klara wollte die Wiener Philharmoniker unter Leitung Wilhelm Furtwänglers nicht verpassen, den sie bei ihrem Bruder Edward kennengelernt hatte. Er war stolz darauf, mit berühmten europäischen Größen in der Musik zu verkehren und die angesehensten Dirigenten, Musikwissenschaftler, Instrumentalisten, Tenöre und Stars aus ganz Europa zusammenzubringen. Klaras Vorahnung und ihr Geschmack waren Teil ihrer künstlerischen Ader. Im Gegensatz zu Frauen, die behaupteten, ihre äußere Erscheinung sei ihnen egal, war sie Klara äußerst wichtig, wobei sie nicht an bissigen Witzen sparte, wenn sie sich selbst im Spiegel betrachtete. Die Jahre waren vergangen, und die Falten zogen sich wie Kratzer durch ihre zarten Gesichtszüge. Das kommentierte sie selbst mit Sarkasmus, während sie von anderen noch immer für ihren Charme gelobt wurde.

In einem Klima der Unterdrückung, das auf der gesamten jüdischen Gesellschaft lastete, wähnten sich Künstler und insbesondere Musiker noch in der naiven Hoffnung, ihr künstlerisches Schaffen könne die Barbarei vereiteln. Viele von ihnen mussten später erkennen, dass diese Einschätzung falsch war, und wurden deportiert.

Helmut verliebte sich schließlich in Illia, eine Schwimm-Meisterin, die älter war als er. Mit ihr lernte er die Liebe kennen und damit auch ein neues körperliches Betätigungsfeld, das er eher als Sport denn als Gefühlsangelegenheit betrachtete. Für ihn war Sex nur Sex. Eine Entdeckung, die ihm ganz neue Seiten an sich selbst offenbarte, so dass er nicht länger gegen seine »Selbstbefriedigungssucht« ankämpfen musste. Von da an führte Helmut ein glückliches Leben, das in der Fotografie, beim Schwimmen und in einer frei ausgelebten, lustbetonten und orgastischen Sexualität ohne jegliches Tabu stattfand. Helmut war ein großer Verführer, ein Frauenheld. Aber erstaunlicherweise stand für ihn bis zuletzt die Liebe nicht an erster Stelle, sondern die Fotografie.

Seit seiner frühesten Kindheit ging für Helmut ein besonderer Reiz von Körpern aus. Zunächst faszinierten ihn seine Tagesmütter, die er halb nackt beobachtete, wenn sie sich vor dem Spiegel in seinem Zimmer auszogen, aber auch seine Mutter, die ihm jeden Abend einen Kuss gab oder ihm eine Geschichte erzählte. Dabei kam dem Kind keinerlei inzestuöser Gedanke, sondern es genoss lediglich den Hautkontakt.

Helmut war so sehr mit der Entdeckung seiner sinnlichen Lust beschäftigt, dass er nicht zu bemerken schien, wie sich die Situation für die Juden zuspitzte und die Belästigungen zunahmen, die sein Vater Tag für Tag erdulden musste, wie ein Verwundeter, der sich davon nie wieder erholte.

Und als er eines Tages nach stürmischem Sex die Tür zu einem Café aufstieß, in dem er gern Freunde traf, las er mit Entsetzen auf einem Schild: »Für Juden und Hunde verboten«. Eine dunkle Verschwörung war im Gange, ersonnen von der SS, die entschlossen war zum Schlag gegen die Juden, dazu, sie zu erniedrigen und aus der Stadt zu verbannen, sie zu vernichten. Im Schwimmbad machte das gleiche Schild Helmut Angst, aber er ignorierte es und schwamm weiterhin täglich seine zwei Kilometer. Nachdem die amerikanische Schule dafür angeprangert worden war, jüdische Schüler aufzunehmen, musste sie kurz darauf den Standort am Nollendorfplatz verlassen und in eine alte renovierte Villa ziehen. Doch das hielt Helmut nicht davon ab, weiterhin fleißig zu trainieren, bis er Schwimmmeister auf der Kurzstrecke wurde, fünfzig und hundert Meter, und mit einem Abstand von nur wenigen Hundertstelsekunden den Olympiakämpfern auf den Fersen war. Angesichts seines Alters eine hervorragende Leistung.

In der Stadt entstanden große Gebäude in dem immer gleichen, von Albert Speer geprägten Stil, des von Reichskanzler Hitler vergötterten Architekten. Das symbolträchtigste darunter war die Neue Reichskanzlei, ein neoklassizistisches Gebäude, dessen Eingangstür von vier rechteckigen Säulen flankiert wurde, darüber der Reichsadler mit ausgebreiteten Flügeln und einem Lorbeerkranz in den Krallen mit dem Hakenkreuz darin. Schaulustige Sonntagsspaziergänger bewunderten das Gebäude. Und auch Helmuts Blick darauf war bewundernd, wenn er später nachts heimlich umherstreifte. Vielleicht beeinflusste die Strenge der neoklassizistischen Grundrisse Helmut Newton später in der Komposition seiner Fotos und in seinem Perfektionismus, zu dem die Verwendung von Objektiven mit großer Brennweite beitrug, um die Realität einzuebnen und die Ausrichtung zu betonen.

In den Parks und auf den Straßen gab es gelbe Bänke, die für Juden bestimmt waren. Die Tageszeitung Der Stürmer, die gegen Juden hetzte, war überall in der Stadt in öffentlichen Schaukästen zu lesen. Doch als die Olympischen Spiele 1936 näher rückten, verschwanden alle antisemitischen Anzeichen aus Berlin. Hitler wollte ein freundliches Bild von Deutschland vermitteln und legte seine Expansionspolitik und die Pläne zur Vernichtung der Juden auf Eis. Zu den verbotenen und am heftigsten geahndeten Vergehen, die mit Gefängnisstrafe belegt waren, gehörte die Beziehung mit einer Arierin. Und genau die hatte Helmut, der sich unsterblich in ein fünf Jahre älteres Mädchen verliebte, das als Mannequin bei einem Konfektionsschneider arbeitete, der mit seinen Eltern befreundet war. Als sein Vater davon erfuhr, setzte es zum ersten Mal Prügel. Dabei schrie Max: »Wie kannst du nur so dumm sein? Du weißt doch, was du aufs Spiel setzt!« Obendrein lief die gesamte Familie Gefahr, deportiert zu werden.

Die SS hatte einen menschenunwürdigen Spalt zwischen zwei Welten getrieben, die sich von nun an unversöhnlich gegenüberstanden – eine Tragödie und eine der größten Erschütterungen unserer Geschichte. Die größte! Von nun an konnte man nicht mehr an der Entschlossenheit der SS zweifeln. Die Ausschreitungen gegenüber den »unerwünschten Personen« spitzten sich unvorstellbar zu. Als Helmut an einem Samstagnachmittag von seinem Fotokurs nach Hause kam, bemerkte er, während er aus dem Bus ausstieg, ein Kommando der SA auf der Brücke in der Nähe der Haltestelle. Mit Angst in den Knochen – denn eine alltägliche Kontrolle konnte dramatisch, ja verhängnisvoll enden, davon kursierten schreckliche Geschichten in den jüdischen Familien – beschleunigte er seinen Schritt. Als er auf der Höhe der Gruppe ankam, kreuzte sein Blick den eines jungen SA‑Mannes, der ebenso verängstigt aussah wie er selbst. Einige Jahre später führte der Zufall die beiden in Australien wieder zusammen, im Internierungslager Tatura, wo Helmut einsaß. »Ich habe dich schon mal gesehen, im Juni 1934 an der Station Halensee mit deinem SA‑Kommando. Was machst du hier?«, fragte Helmut ihn. »Stimmt genau, noch am selben Abend habe ich Berlin verlassen und bin nach London gegangen, um der Nacht der langen Messer zu entgehen. Ich war von dem Geliebten eines befreundeten SS‑Offiziers gewarnt worden«, antwortete der ehemalige SA‑Mann.

Seit 1933, als Adolf Hitler gerade Reichskanzler in Berlin geworden war, nahmen die vom Führer inszenierten Versammlungen und Massendemonstrationen zu, deren einziges Ziel es war, den Hass gegenüber den Juden zu schüren und Hitlers Personenkult zu stärken, und auch die in der ganzen Stadt angeschlagenen Plakate, die die jüdische Gemeinschaft diffamierten, wurden immer mehr: »Rassenfeinde«, »Nicht alle Menschen sind gleich«, »Staatsfeinde« und »Volksfeinde« … Das Gebrüll und die ständig wiederholten wirren Sätze schaukelten sich immer höher und schwächten sich dadurch gegenseitig, gleichzeitig fachte aber deren Maßlosigkeit die Wut der Massen an.

Auch wenn die Deutschen die neue Partei zunächst nicht mehrheitlich unterstützten, wurden sie später aus Angst vor Repressalien dennoch zu Anhängern der nationalsozialistischen Doktrin und trugen darüber hinaus auch aktiv zur neuen politischen Ordnung bei.

»Es gibt noch immer Zehntausende, die unsere Feinde sind, selbst wenn sie den Arm heben und gedrillt werden«, brüllte Himmler 1934. Die angespannte Atmosphäre war bedrückend. Es wurden immer mehr Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle und Kommunisten verhaftet, Beschimpfungen, Schläge und Diebstahl waren an der Tagesordnung. Es herrschte Angst, überall und in jedem Moment. Dass diese Gruppen seit 1933 strikt von der »arischen Gemeinschaft« getrennt wurden, fand zwar nicht die ausdrückliche Zustimmung der Bevölkerung, sie tolerierte es aber feige. Vorerst riet man den Juden, Deutschland zu verlassen.

Währenddessen setzte Helmut sich in den Kopf, dass er nicht mehr zur Schule gehen wollte, obwohl er ein guter Schüler war – zumindest in Englisch und Deutsch, weniger in Mathematik und Geschichte, was aber auf keinen Fall einen Schulverweis gerechtfertigt hätte. Auch die Nachhilfestunden änderten nichts daran. Er verschanzte sich hinter trotzigem Widerstand, denn sein einziger Wunsch war es, nicht bis zum Abitur zur Schule gehen zu müssen. Dank der wohlwollenden Unterstützung durch seine Mutter, die ihm seine Launen stets durchgehen ließ, konnte er immerhin mit sechzehn Jahren von der Schule abgehen. Jetzt hatte er zwei Möglichkeiten: Kameramann werden wie sein Cousin Bennett oder Fotograf.

Und nachdem sein Vater dagegen gewesen war, dass er nach London ging, wo der Bühnenbildner Alexander Korda, ein Freund seines Onkels Edward, ihm eine Stelle angeboten hatte, wurde er Assistent bei Yva, einer der damals meistbeachteten Fotografinnen Berlins: Ihre Modefotografien, Porträts und anderen Aufnahmen machten sie international berühmt.

Viele Berliner Juden, darunter Ärzte, Anwälte, Architekten, Geschäftsleute und Studenten, lernten, weil ihnen für den Fall einer überstürzten Emigration zu Kurzausbildungen geraten wurde, Sprachen, Maschinenwesen, Tischlerei, Druckhandwerk und Ähnliches. Aber es gab auch viele andere wie Helmuts Vater, der nichts anderes konnte und wollte, als Knöpfe anzufertigen, und jegliche Veränderung ablehnte. Nichtsdestotrotz ermutigte er seinen Sohn Hans in seinem Bestreben, Landwirt zu werden, und schickte ihn auf einen Bauernhof in Dänemark in der Nähe Kopenhagens, wo Helmut ihn bald besuchen sollte. Weil er so darunter gelitten hatte, nicht geliebt worden zu sein – zumindest hatte er es so empfunden –, heiratete Hans 1936 zum großen Missfallen der Eltern die Tochter des Hauses und wanderte von Dänemark nach Argentinien aus, ohne je wieder nach Berlin zurückzukehren.

Nach der Verkündung der Nürnberger Gesetze wurde Max enteignet, und ihm wurde die Leitung seines Unternehmens entzogen, das zu seiner Schmach von einem Arier weitergeführt wurde. Helmuts Vater wurde auf die Rolle eines Untergebenen reduziert, sogar der Zugang zu seinem eigenen Büro wurde ihm verboten. Die tiefe Verletzung hatte keinerlei Chance zu heilen. Was er sich unlängst nicht hatte vorstellen wollen, war nun eingetreten. Eines Abends, als der damals fünfzehnjährige Helmut auf dem Weg in sein Zimmer seinen Vater im Dunkeln in der Bibliothek sitzen sah, wie er an seiner Zigarre zog und sein Schluchzen zu unterdrücken versuchte, wurde ihm klar, wie verzweifelt dieser gedemütigte, zugrunde gerichtete Mann war. Die symbiotische Beziehung zu seiner Mutter hatte der Nähe zu Max nie entgegengestanden, den er immer geliebt und dessen sanftes Wohlwollen ihn stets umgeben hatte. Max war am Boden und stand ohne Zukunft da, er hatte sich getäuscht und musste nun alles aufgeben. Das Familienerbe war verschwunden, an die Nazis gefallen. Keine Fabrik mehr. Er hatte alles verloren, was er nach der Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg aufgebaut hatte. Die Traurigkeit seines Vaters erschütterte Helmut so sehr, dass er Ungerechtigkeit, Demütigung und Tod nicht hinnehmen wollte: »Wir müssen weggehen, bevor es zu spät ist. Es geht nicht anders. Hier gibt es nichts mehr zu tun für uns.« Worauf sein Vater resigniert antwortet: »Das ist unmöglich, das können wir nicht, du hast keinen Beruf, wie sollst du überleben? Und wir haben auch nicht mehr die Mittel, um dich im Ausland zu unterstützen.« Mit einem Schlag wurde Helmut das Unglück bewusst, das über seine Familie gekommen war, und er warf sich selbst vor, ein so verwöhntes Kind zu sein. Seinen verzweifelten Vater vor Augen zog er Bilanz über sein kurzes Leben und versuchte für sich festzuhalten, was jenem entglitt. Es war so leicht zu sterben und aufzugeben. Aber das würde er nicht tun, niemals! Zumindest nicht, bevor er nicht der Fotograf geworden wäre, der er werden wollte.