Jung, besorgt, abhängig - Ronja Ebeling - E-Book

Jung, besorgt, abhängig E-Book

Ronja Ebeling

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Ihr seid jung, euch gehört die Welt« – ein Satz, den die 24-jährige Ronja Ebeling schon oft gehört hat. Der Traumjob in den Zwanzigern, Eigenheim und Familie mit dreißig, dazwischen jede Menge Strandurlaube und Chancen zur persönlichen Entfaltung, und dann, im Alter, irgendwo im Grünen entspannt den Lebensabend verbringen. Doch die Realität? Die sieht leider anders aus. Anstatt sich auf unbefristeten Jobverträgen auszuruhen, pendelt die junge Generation von Praktikum zu Praktikum, statt Urlaub gibt es Burn-out, statt einer satten Rente den Ausblick auf Altersarmut. Und Kinder? Die kann sich heute doch eh keiner mehr leisten! Vom Konsumzwang über Geschlechterstereotype bis hin zur Klimaverantwortung: In ihrem Buch spricht Ronja Ebeling schonungslos all die Fragen an, die ihre Generation beschäftigen und liefert eine längst überfällige Analyse unserer Gesellschaft in der Krise.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 285

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Vorwort: »Hepp!«

Arbeit, Angst und Chancen

Teilhabe? Können sich viele nicht leisten

Blutjung und Angst vor Altersarmut

Geschlechterrollen – von gestern oder brandaktuell?

Über Fruchtbarkeit und Kinderfreisein

Achtsamkeit oder Selbstoptimierung?

Im Zwiespalt des Klimawandels

Alte Gewalt, neue Gewalt

Dank

Nachweise und Anmerkungen

Vorwort: »Hepp!«

Kreismeisterschaften in der Leichtathletik, 2007: »Alle Staffelläuferinnen der U12 in Position!«, dröhnte es durch die Lautsprecher im Stadion. Die heiße Sommersonne knallte auf die Tartanbahn. Ich war in zweiter Position in dieser Staffel und strich noch mal über meine Startnummer, die an den Ecken mit vier Sicherheitsnadeln an meinem Vereinsshirt befestigt war. »Ihr schafft das, gebt Gas!«, riefen Zuschauer*innen uns vom Rand aus zu. Ich versuchte, nicht hinzugucken. Vorsichtig setzte ich meinen linken Fuß ein paar Zentimeter hinter der weißen Startlinie auf die Bahn, beugte die Knie, winkelte den rechten Arm nah an meinem Körper an und streckte den linken mit geöffneter Handfläche nach hinten aus. Blick nach vorn, bereit für die Übergabe. Im Kopf ging ich noch mal durch, was gleich passieren würde: Sobald der Startschuss ertönte, würde eine andere Läuferin mit dem Stab losrennen, um ihn mir nach fünfzig Metern in die Hand zu drücken. Ich würde sie bei dieser Übergabe nicht angucken, sondern nur auf ihr Signal warten. »Hepp!« – und ich wüsste, dass ich zupacken und losrennen müsste. Damit die Übergabe funktionierte, mussten wir beide konzentriert sein und einander vertrauen.

Warum ich das erzähle? Ich glaube, wir sind als Gesellschaft genau jetzt an diesem Punkt angekommen. Die jüngere Generation wartet darauf, dass die ältere »Hepp!« sagt und uns den Staffelstab übergibt. Ich bin jetzt 25 Jahre alt. Und genauso wie damals bei den Leichtathletik-Meisterschaften mache ich mir auch heute Sorgen, dass ich den Stab nicht richtig zu greifen bekomme, dass er mir aus der Hand fällt und ich die verlorene Zeit nicht mehr aufholen kann. Außerdem habe ich das dumpfe Gefühl, dass die Person, die mir den Stab übergeben soll, sich schwer damit tut, ihn loszulassen. Manchmal glaube ich, sie würde am liebsten allein die vier mal fünfzig Meter über die Stadionbahn sprinten, im Adrenalinrausch und unter den Blicken der jubelnden Zuschauer*innen.

Dieses Buch beschreibt den Moment, in dem die Person, die den Stab übergeben soll, nicht »Hepp!« sagt. Stattdessen haut sie mir ihre spitzen Spikes in die Hacken, schubst mich weg und jagt an mir vorbei. Sie ruft noch so was wie: »Beim nächsten Mal! Ich zieh das jetzt erst mal allein durch!«, und ich liege da auf der heißen Tartanbahn, mit blutenden Hacken, und suche nach den richtigen Worten, die ich in dieser Situation hinterherrufen kann. »Ähm, das war so aber nicht ausgemacht … Scheißegoist, das ist echt … ’ne miese Aktion …«, liegt es mir auf der Zunge, aber so richtig schlagkräftig fühlt sich das in dem Moment nicht an. Deshalb sage ich einfach gar nichts. Ich sitze nur da, völlig perplex, und schaue der immer noch sprintenden Person nach, während sich in mir langsam Wut und Angst breitmachen. Wut, weil diese Person mich ignoriert, weggeschubst und aus dem Teamsport einen Einzelwettkampf gemacht hat. Angst, weil ich von dieser Person abhängig bin und nicht weiß, ob sie es allein überhaupt bis zur Ziellinie schaffen wird. Tut sie das nicht, ist auch mein Lauf vorbei.

Weil ich das nicht möchte, habe ich dieses Buch geschrieben. Es soll bei der Staffelstabübergabe helfen und der älteren Generation zeigen, was uns Nachfolgenden auf der Tartanbahn durch den Kopf geht, während wir auf den Staffelstab warten. Warum es uns so wichtig ist, selbst zu laufen und nicht zurückzubleiben. Jungen Menschen soll dieses Buch demonstrieren, dass sie mit ihren Ängsten und Zweifeln, ob sie diesen Stab überhaupt tragen können, nicht allein sind. Ich schreibe auf den folgenden Seiten nicht nur über meine persönlichen Gefühle, sondern über die einer ganzen Generation. Zudem gibt es sicherlich genügend Menschen, die zwar schon älter sind, aber dieselben Ängste wie wir, die »Jungen«, haben. Manchmal hat das gar nichts mit dem Alter zu tun, sondern vielmehr mit der Perspektive. In diesem Buch kommen deswegen viele Stimmen zu Wort, nicht nur meine. Die Erzählungen sind inspiriert von echten Begegnungen, Gesprächen und Schicksalen, einige Personen und Dialoge sind direkt aus dem Leben übernommen, andere sind fiktionalisiert. Die Kapitel in diesem Buch sind in sich geschlossene Essays und lassen sich auch einzeln lesen, zusammen ergeben sie eine große Geschichte mit vielen, durchwachsenen Emotionen.

Manche von euch werden sich mit den in den einzelnen Kapiteln beschriebenen Ängsten und Gefühlen mehr, andere weniger identifizieren können, und ein paar können sie vielleicht überhaupt nicht nachvollziehen. Andere vermissen womöglich ein Thema, das ihnen persönlich Sorgen bereitet. Einige werden sich aufregen, weil dieses Buch viele Fragen aufwirft, aber längst nicht genauso viele Antworten liefert. In manchen Zeilen wüte ich, in anderen weine ich, weil ich die Lösung selbst nicht kenne. Damit mache ich mich angreifbar, das weiß ich. Vielleicht führe ich meinen Gedanken an einigen Stellen nicht zu Ende, aber welche Person tut das schon, wenn sie rotsieht? Auch verbrenne ich mich in diesem Buch an meinen eigenen Privilegien und tue mir dabei weh. Aber das geht nun mal nicht anders, wenn wir ein ehrliches Gespräch über Chancengleichheit führen wollen. Das alles ist nötig, damit die Übergabe des Staffelstabs funktioniert – für alle. Nur so können wir junge Menschen endlich gehört werden.

Wie sehr wir aktuell noch missverstanden werden, hat zum Beispiel eine Kampagne der Bundesregierung gezeigt, die im Rahmen der Coronapandemie erschienen ist. »Ich glaube, das war im Winter 2020, als das ganze Land auf uns schaute«, sagt in dem Video ein älterer Herr namens Anton Lehmann. Er sitzt in einem breiten Ledersessel, am unteren Bildrand steht, er sei 2020 in Sachsen im Einsatz gewesen. Im Hintergrund ertönt dramatische Musik, während er fortfährt: »Ich war gerade 22 geworden und studierte Maschinenbau in Chemnitz, als die zweite Welle kam.« Im Video werden Explosionen gezeigt, die sich in den Brillengläsern eines jungen Mannes spiegeln. »Das Schicksal dieses Landes lag plötzlich in unseren Händen. Also fassten wir all unseren Mut zusammen und taten, was von uns erwartet wurde«, fährt Anton Lehmann fort. Die Musik steigert sich zu einem dramatischen Höhepunkt, dann kommt die Pointe: »Wir taten: nichts!« Der junge Mann, in dessen Brillengläsern sich kurz zuvor noch die Explosionen spiegelten, greift in eine Chipstüte – er verfolgt einen Actionfilm auf Netflix. Das Drama verpufft.

Die Kampagne der Bundesregierung sollte junge Leute dazu animieren, ihre Wohnung während der Pandemie möglichst nicht zu verlassen und soziale Kontakte zu meiden. Und obwohl diese Maßnahmen durchaus angebracht waren, war die Message des Videos etwas zu einfach formuliert: Netflix und chill eben. Dieser ganze Ansatz spiegelt wider, welchen Platz meine Generation in unserer Gesellschaft einnimmt, und darüber hinaus auch, wie mit unseren Emotionen und unserer psychischen Gesundheit umgegangen wird. Wir sind eben die »Jungen«, was uns häufig entweder zu den Rücksichtslosen macht, manchmal aber auch zu den Naiven. Und dann sind wir hin und wieder auch die Sensiblen, die ein »Ihr haltet ja nichts mehr aus« an den Kopf geschmissen bekommen. Schließlich wurde von uns nur verlangt, dass wir allein auf der Couch sitzen, und nicht, dass wir wie andere Generationen in den Krieg ziehen sollten. Ich persönlich finde die Kriegsmetaphorik, deren sich die Bundesregierung in ihrer Kampagne und viele andere in dieser Diskussion bedient haben, absolut daneben. Die Coronapandemie ist nicht mit einem Krieg zu vergleichen, wie ihn die Menschheit zuvor erlebt hat. Das bedeutet aber nicht, dass ihre Auswirkungen schlimmer oder weniger schlimm sind. Beides, sowohl ein Krieg als auch eine Pandemie, kann für Einzelne tödlich sein. Jedoch ist die Herausforderung eine völlig andere, und die Menschen tragen am Ende andere Wunden davon. Es ist nicht der Schuss ins Bein, der sie später ein Leben lang humpeln lässt. Es sind seelische Wunden in Form von verpassten Chancen, nicht gemachten Erfahrungen und häufig auch Zukunftsängsten, die sie in vielen Fällen noch lange Zeit belasten werden. Ich kann nicht entspannt auf der Couch liegen, wenn ich mir die ganze Zeit Sorgen mache oder stinkwütend bin. Und ja, es macht mich wütend, wenn es so dargestellt wird, als hätte meine Generation während dieser Krise und auch darüber hinaus die einfachste und bequemste Position in unserer Gesellschaft.

Eine solche Pauschalisierung junger Menschen ist nicht nur übergriffig, sie verharmlost auch Probleme. Sie gibt einer ganzen Generation das Gefühl, dass ihre Sorgen nicht relevant seien. Ich glaube, es ist höchste Zeit, endlich über die Gefühle dieser vermeintlich unbesorgten, unabhängigen Generation zu sprechen. Auf den folgenden Seiten schreibe ich darum über die Rolle der Jungen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt. Es geht um Chancengleichheit und unser Konsumverhalten, um die Angst vor Altersarmut und althergebrachte Genderrollen. Ich beschäftige mich mit den zunehmenden Fruchtbarkeitsproblemen in unserer Gesellschaft und der bewussten Entscheidung gegen das Kinderkriegen. Selbstoptimierung, Achtsamkeitswahn und Sorgen um unseren Planeten im Angesicht des Klimawandels – all das kommt zur Sprache. Und ganz am Ende gehe ich dann auf meine größte Angst ein: die Sorge darum, ob wir in unserer Gesellschaft sicher sind – vor sexistischen Übergriffen und rechtem Hass, vor Gewalt im analogen wie im digitalen Raum.

Das klingt heftig, und oftmals ist es das auch. Trotzdem möchte ich meinen Leser*innen mit diesem Buch nicht die Hoffnung nehmen. Ganz im Gegenteil. Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich will, dass wir jungen Menschen trotz aller Sorgen den Mut nicht verlieren. Ich möchte, dass wir den Willen bewahren, laut zu werden und es besser zu machen, startklar zu sein, wenn hinter uns – endlich – jemand »Hepp!« ruft. Es ist an der Zeit, dass wir gemeinsam den Staffelstab über diese verdammte Tartanbahn tragen.

Ich war 14 Jahre alt, als ich entschied, dass ich von nun an mein eigenes Geld verdienen wollte. Laut der Deutschen Bahn war ich ab diesem Zeitpunkt nämlich kein Kind mehr. Wenn ich mit meiner Freundin Pia nach Krefeld fahren wollte, um dort durch die kleinen Läden in der Nähe des Bahnhofs zu stöbern, kostete das plötzlich ein Vermögen. Pia und ich verbrachten regelmäßig unsere Nachmittage in den schlauchförmigen Shops, probierten High Heels an und kauften am Ende doch die gefälschten Converse-Verschnitte für zehn Euro. Zu Hause bemalte ich die lilafarbenen Schnürschuhe mit Edding und zog bunte Schnürsenkel durch die Ösen. Meine Eltern sahen es irgendwann nicht mehr ein, mir dafür Geld in die Hand zu drücken.

»Ihr müsst ja nicht ständig nach Krefeld fahren«, sagte meine Mutter und betonte, dass unsere katholische Kleinstadt ja auch ein paar schöne Läden habe. Sie stopfte gerade im Hauswirtschaftsraum die Waschmaschine voll, als ich sie nach Geld für das Bahnticket fragte.

»Hier? Hier gibt’s nur Kerzengeschäfte oder Klamottenläden für Omas!« Ich verzog das Gesicht.

»Die Sachen aus den Oma-Läden halten wenigstens! Die Sohle von deinen komischen Schuhen ist schon wieder durch. Können die nicht mal in die Tonne?« Sie zeigte auf das Loch in meinen Fake-Converse, die vor dem Schuhschrank lagen.

»Sicher nicht!«, rief ich, schnappte die Schuhe und schlüpfte hinein. Die viel zu langen, neonpinken Schnürsenkel wickelte ich mir mehrfach um den Knöchel. »Dann suche ich mir jetzt eben ’nen Job!«

Mama schmunzelte. »Du bist 14, da findest du keinen Job …«

»Du hast doch keine Ahnung, ich regle das schon«, antwortete ich ihr selbstsicher. Schließlich war ich laut der Deutschen Bahn jetzt erwachsen, da würde ich doch wohl auch einen Job finden!

An diesem Tag setzte ich mich mit dem typischen Trotz eines Teenagers auf mein grünes Holländerfahrrad namens Anton und fuhr in die Innenstadt unserer Kleinstadt. »Bitte nicht Prospekte austeilen oder so einen Mist!«, rief mir meine Mutter noch hinterher. Sie hatte Angst, dass das am Ende an ihr hängen bleiben würde. In unserem Wohngebiet liefen ständig irgendwelche Eltern in Regenjacken mit Zeitungswagen durch die Gegend und schmissen bunte Prospekte in die Briefkästen. »Mein Sohn hat heute ein Fußballspiel«, erklärten sie dabei und winkten fröhlich. Meine Mutter hatte dafür kein Verständnis. »Niemals teile ich für euch Zeitung aus, damit das klar ist! Sucht euch andere Jobs«, sagte sie meinem Bruder Robin und mir jedes Mal, wenn sie diese Eltern sah.

Das mit der Jobsuche war allerdings gar nicht so einfach. Ich fragte in der ganzen Stadt nach Arbeit: im Blumengeschäft, in der Bäckerei, in Cafés, in Restaurants, in Hotels. Die meisten schüttelten lediglich den Kopf, nur hier und da schrieb jemand meine Kontaktdaten auf, um sie an die Geschäftsleitung weiterzugeben. »Ich mache wirklich alles! Ich bin total motiviert!«, bettelte ich. Enttäuscht, dass ich nicht direkt eine Zusage bekommen hatte, fuhr ich nach ein paar Stunden wieder nach Hause.

Die Arbeitswelt hatte ich mir anders vorgestellt. Meine Mutter versuchte, mich mit den Worten zu trösten, dass ich in meinem Leben noch genug arbeiten würde, aber das wollte ich nicht hören. »Toll …«, brummte ich nur. Es nervte mich, dass ich meine Eltern ständig nach Geld fragen musste. Mit 14 wollte ich diese Abhängigkeit nicht mehr. Ich wollte möglichst schnell erwachsen werden.

Während ich auf dem Sofa saß und schmollte, klingelte das Telefon. Meine Mutter nahm ab. Als sie wieder auflegte, drehte sie sich überrascht zu mir um und sagte: »Du kannst morgen um achtzehn Uhr in die Fleischerei zum Probeputzen.« Ich weiß noch genau, wie sie mich in diesem Augenblick musterte, gespannt auf meine Reaktion. Ein Test.

Ich starrte sie ungläubig an. Dann jubelte ich los. »Mega! Ha, ich hab’s doch gesagt!«

Von da an sortierte ich in der Fleischerei zweimal die Woche nach Ladenschluss die Wurst im Kühlraum, schrubbte das eingetrocknete Blut aus den Lagerwannen und machte den Fleischwolf sauber. Ich polierte die Glastheke, wischte den Boden, brachte den Müll raus. Dafür bekam ich fünf Euro die Stunde und war ziemlich stolz darauf.

Dieses Gefühl änderte sich erst, als ich in der Schule mal zufällig neben einem Mädchen aus der Parallelklasse saß. Meine Tischnachbarin trug einen perfekt zurückgekämmten Ballettdutt, während mein unordentlicher Zopf von meinem letzten Experiment mit einer orangefarbenen Schaumtönung aus der Drogerie fleckig leuchtete. »Findest du es nicht eklig, da zu putzen?«, fragte das Mädchen mich. Ich guckte sie irritiert an und spürte gleichzeitig, wie mein Stolz einen tiefen Kratzer bekam. Ratsch.

Dabei mochte ich den Job in der Fleischerei: Die Frauen, die dort mit mir arbeiteten, waren wirklich nett. Ich durfte beim Putzen Musik hören. Ich verdiente mein eigenes Geld. Die Dinge, die ich mir kaufte, bekamen dadurch einen anderen Wert.

Als mir meine Mitschülerin diese Frage stellte, begann ich allerdings zu ahnen, dass es verschiedene Arten von Berufen gab. Es gibt Berufe, die einen schlechten, und solche, die einen guten Ruf haben. Es gibt Berufe, um die man beneidet wird, und andere, für die man bemitleidet wird. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob der Job die ihn ausübende Person erfüllt oder nicht. Berufe bringen einen Stempel mit sich.

Der Versuch von Politik und Wirtschaft, eher negativ bewerteten Berufen durch eine andere Bezeichnung einen neuen Anstrich und damit mehr gesellschaftliche Wertschätzung zu verleihen, ist in den meisten Fällen leider nicht gelungen. Von einem Facility Manager ist eigentlich nur in der offiziellen Stellenausschreibung die Rede. Das gesellschaftliche Bild von Hausmeister*innen hingegen ist geblieben, genauso wie das der Person, die nach Ladenschluss in der Fleischerei putzt.

Nach einem Jahr erhielt ich die Möglichkeit, am Wochenende zusätzlich im Service eines Hotelbetriebs im Nachbardorf zu arbeiten. Woche für Woche fuhr ich mit dem Bus dorthin und saß dabei ganz aufrecht, damit meine Bluse nicht verknitterte. Das Arbeitsklima im Hotel war wesentlich schlechter als das in der Fleischerei, der Job machte weniger Spaß. Dort bekam ich ebenfalls fünf Euro die Stunde. Das Trinkgeld haben sich die Hauptkellner*innen eingesteckt, ohne es mit den Leuten in der Küche oder mir zu teilen. Auf der Arbeit durfte ich nur Leitungswasser trinken. Wenn ich mir mal einen kleinen Schluck Apfelsaft einschenkte, gab es Ärger. Einmal machte mich meine Chefin darauf aufmerksam, dass sich mein BH durch die weiße Bluse abzeichnete. Sie stellte mich dafür vor einen Spiegel im Flur und zeigte mit dem Finger auf meinen kaum vorhandenen Brustansatz. »Sehen Sie das?« Reflexartig hob ich meine Hände, erschrocken darüber, dass jemand meine Brüste wahrnahm. Bisher hatte ich gedacht, sie würden niemandem auffallen. »Sie ziehen damit die Missgunst von Ehepartnerinnen auf sich, wenn der männliche Gast Sie deswegen anlächelt«, erklärte meine Vorgesetzte mir. Ich verstand die Welt nicht mehr und wollte einfach nur aus dieser peinlichen Situation fliehen. Ein anderes Mal drohte meine Chefin damit, »mir in die Fresse zu schlagen«, sollte ich die Türklingel überhören. Als ich sie daraufhin wie ein Auto anstarrte und mir nicht sicher war, ob ich sie auch wirklich richtig verstanden hatte, korrigierte sie sich scheinheilig: »Nein, nein, dann haue ich Ihnen auf die Finger!«

»Das hat sie gesagt?«, fragte meine Freundin Pia schockiert. Es war große Pause, wir wanderten über den Schulhof.

»Ja, ich hab mich mega erschrocken. Die Frau ist so komisch, das macht echt keinen Spaß. Neulich habe ich das Spielzeug ihrer Kinder sortieren müssen, als keine Gäste da waren«, erzählte ich.

Pia zuckte mit den Schultern: »Na ja, aber ist entspannter als Putzen, oder?«

Ich überlegte, während ich meinen großen Zeh durch das Loch in meinen gefälschten Converse-Schnürern bohrte. Meine Mutter hatte sie am Vortag in den Müll geworfen, aber ich hatte sie schreiend wieder rausgeholt. »Mhm«, machte ich nur. Ich war irritiert. Die Arbeit im Hotel brachte das gleiche Geld, machte aber im Vergleich zum Putzen in der Fleischerei weniger Spaß. Trotzdem wurde sie insgesamt besser bewertet. In den Augen der anderen war der Hoteljob eine Art Upgrade. Irgendwie komisch, dachte ich mir. Damals verstand ich das Bewertungssystem, den Wert und die Rolle von Arbeit in unserer Gesellschaft noch nicht.

Wenn ich heute auf einer privaten Party bin, zwischen Weißwein und Bier hin und her wechsle und weiß, dass ich davon am nächsten Tag Kopfschmerzen haben werde, fange ich gern Gespräche mit Fremden an. Ich will in ihre Welt eintauchen und ihre verrücktesten Geschichten hören. Leider dauert es bei diesen Gesprächen normalerweise nicht lange, bis die andere Person mir folgende Frage stellt: »Was machst du eigentlich?«

Auf diese Frage gibt es viele Antworten. Ich mache vieles und an manchen Tagen auch gar nichts. Ich balanciere gern auf Bordsteinkanten und esse gern Reiswaffeln mit Leberwurst. Ich höre beim Fahrradfahren laut Musik und erschrecke mich manchmal, wenn ein Auto nah an mir vorbeifährt. Mich nervt es, wenn andere sagen, dass es gefährlich sei, auf dem Fahrrad Kopfhörer zu tragen. Das ist mir egal. Meinen Kaffee trinke ich schwarz und kippe jedes Mal einen Schuss kaltes Leitungswasser rein, weil ich zu ungeduldig bin, darauf zu warten, dass er etwas abgekühlt ist. Am Sonntag mag ich mein Frühstücksei wachsweich, mit viel Salz. Ich telefoniere fast jeden Tag mit meiner Mutter, an manchen sogar zweimal. Ja, all diese Dinge tue ich regelmäßig, und trotzdem ist relativ klar, dass die Person auf der Party mit ihrer Frage auf etwas ganz anderes abzielt. Sie möchte wissen, was ich beruflich mache.

Obwohl ich meine Arbeit in der Medienbranche liebe, bekomme ich bei dieser Frage Bauchschmerzen. Sie suggeriert, dass mein Beruf mich definiert. Und das möchte ich nicht.

Für die meisten Menschen in Deutschland ist die Erwerbsarbeit die Grundlage ihrer Existenz. Zusätzlich bietet sie Wertschätzung, die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung und gibt das Gefühl dazuzugehören. Ein gewisses Pensum an Arbeit soll sogar psychischen Erkrankungen vorbeugen können. So geben viele Menschen in Umfragen an, dass sie selbst dann noch einen kleinen Nebenjob ausüben würden, wenn sie eigentlich finanziell abgesichert wären.1 Arbeit gibt uns Beschäftigung. Und die braucht der Mensch.

Arbeit definiert aber auch auf eine komische Art und Weise unseren Platz in der Gesellschaft. Sie kann uns belasten und krank machen. Sie kann uns beherrschen und in Maschinen verwandeln. Verlieren wir unsere Arbeit, kommt oft auch ein großer Teil unserer gesellschaftlichen Identität ins Wanken. Es gibt viele Gründe dafür, warum hierfür besonders junge Menschen gefährdet sind. So habe ich es zum Beispiel auch erlebt, als ich am Ende meiner journalistischen Ausbildung beschloss, das Übernahmeangebot meiner damaligen Redaktion nicht anzunehmen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich wusste, wie es danach weitergehen würde. Während dieser Monate wurde durch die Frage, was ich eigentlich so mache oder als Nächstes machen wollte, jedes noch so lockere Gespräch zu einem Kraftakt. Die Frage wurde mir in dem Verlag gestellt, wo ich tätig war, von meiner Familie und von Freund*innen. Das war anstrengend. Denn es erfordert viel Energie, sich von Zukunftsfragen und Zukunftsängsten nicht lähmen zu lassen. Offen zuzugeben, dass man keinen Plan hat. Und das in einer Gesellschaft, in der man immer einen Plan haben und ganz genau wissen sollte, wo man hinwill im Leben.

In dieser Zeit nervten mich Gespräche, die sich um Arbeit drehten, ganz besonders. Wenn ich auf einer Parkbank saß und mich von den Unterhaltungen vorbeilaufender Menschen berieseln lassen wollte, musste ich leider oft feststellen, dass der Großteil der Spaziergänger*innen über die Arbeit sprach. Es ging um einen nervenden Teamkollegen, die biestige Chefin oder Projekte, die den Erzählenden den Schlaf raubten. »Das ist echt anstrengend«, beschwerten sie sich. Einige sagten auch: »Ich halte das nicht mehr lange aus, ich werde kündigen!« Ich saß dann auf meiner Bank, aß ein Franzbrötchen und hätte am liebsten mit vollem Mund hinterhergerufen: »Machst du eh nicht!«

Es ist wahr, Arbeit bestimmt unser Leben. Dabei wünschen sich viele eigentlich eine Pause: Jede*r Zweite würde gern ein Sabbatical machen, also zeitweise etwas Abstand vom Job gewinnen. Der Großteil gibt dabei an, dass er oder sie endlich Zeit für sich selbst und die eigenen Interessen haben möchte.2 Das leuchtet ein. Bei einer Woche, die aus 35 bis 40 Stunden Erwerbsarbeit plus Überstunden und unbezahlter Care-Arbeit besteht, bleibt nicht mehr viel Zeit für die eigenen Bedürfnisse. Dabei zeigte 2019 eine Studie von Forschenden der britischen Universitäten Cambridge und Salford, dass eigentlich acht Stunden Erwerbsarbeit pro Woche ausreichen würden, um die positive Wirkung von Erwerbsarbeit auf unsere Psyche zu erzeugen: Der Mensch fühlt sich gebraucht, ist beschäftigt, kann sich selbst verwirklichen und bekommt Anerkennung. In der restlichen Zeit kann er sich auf seine eigenen Bedürfnisse konzentrieren, sich in kulturellen Bereichen weiterbilden und sich um seine Mitmenschen kümmern.3 Diese Überlegung ist für viele eine bloße Wunschvorstellung. In der Realität sind wir weit davon entfernt.

Die Wahrheit ist nämlich, dass nur sehr privilegierte Menschen privat nach Möglichkeiten suchen können, um Zeit für sich selbst freizuschaufeln: durch eine Putzhilfe oder externe Kinderbetreuungsangebote zum Beispiel. Oder einfach dadurch, dass die Arbeitsstunden reduziert werden, weil unterm Strich genug verdient wird. Die gesellschaftliche Mehrheit ist jedoch im System gefangen und muss wöchentlich viele Stunden arbeiten, um sich das eigene Leben finanzieren zu können. Einige haben sogar mehrere Jobs.

In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich die Zahl der Nebenjobber*innen laut der Bundesagentur für Arbeit hierzulande verdreifacht. Mehr als drei Millionen Menschen üben neben dem Hauptberuf noch einen weiteren Job aus. Laut den Forschenden tue der Großteil das, weil das Einkommen aus einem Job nicht mehr ausreiche.4 Es gibt aber auch einige, die einen Zweitjob haben, obwohl ihr Hauptjob sie ausreichend über Wasser hält. Das habe ich auch jahrelang gemacht.

Während ich kurzzeitig studierte, arbeitete ich parallel im Friseursalon an der Rezeption, in einer Kinderkochschule und schrieb für ein Onlinemagazin. Ach ja, und Babysitting habe ich damals auch noch gemacht.

»Warum machst du das alles?«, hatte mich einmal meine Freundin Clara aus der Uni gefragt. Es war Freitagabend, wir saßen in ihrer Küche, und sie schnippelte Brokkoli, ihr Hauptnahrungsmittel. In ihren Augen wäre es leichter gewesen, einfach in einem Job die Stunden hochzuschrauben, statt in so vielen unterschiedlichen Betrieben zu arbeiten.

»Das wäre sowohl langweiliger als auch anstrengender für mich«, erklärte ich ihr. Ich konnte mir nicht vorstellen, jeden Tag mit kleinen Kindern in der Küche zu stehen, aber auch nicht, nur noch im Friseursalon der Hamburger High Society den Hintern hinterherzutragen. »Ich finde den Mix ganz gut. Außerdem mache ich mich so weniger abhängig.«

Sie guckte mich fragend an.

»Na ja, sollte mir ein Job nicht mehr gefallen, fällt es mir viel leichter zu gehen, weil ich nicht auf ihn angewiesen bin. So habe ich mehrere Standbeine«, erklärte ich meine Strategie.

In meinem Umfeld beobachte ich oft, dass viele einen Job machen, der sie eigentlich schon längst nicht mehr fordert oder erfüllt. Aber die Befürchtung, keine andere Option zu haben, lähmt sie. Manchmal ist es auch Bequemlichkeit. Das will ich nicht. Heute arbeite ich in der Medienbranche und möchte nach wie vor immer die Möglichkeit haben, aus freien Stücken den aktuellen Job an den Nagel zu hängen, wenn ich mich nach etwas anderem sehne oder es sich einfach nicht mehr richtig anfühlt.

Sich nicht von dem Einkommen aus einem einzigen Job abhängig machen zu wollen, würden manche als Bindungsangst betiteln. Das wird meiner Generation ja eh gern nachgesagt.

»Mit einem Arbeitsvertrag gehen doch beide Parteien eine Bindung ein«, versucht mir auch mein Vater ständig zu erklären. Viele aus seiner Generation haben jahrzehntelang für ein und denselben Betrieb gearbeitet. Mittlerweile ist das wegen befristeter Verträge aber anders.

»Dieses Papier ist oft nichts weiter als ein einseitiges Versprechen«, erwidere ich in diesen Gesprächen stets kritisch. Es ist keine Beziehung auf Augenhöhe, wie ich sie mir wünsche. Vielmehr versuchen Arbeitnehmer*innen, es ihren Arbeitgeber*innen in allem recht zu machen: Sie leisten Überstunden bis spät in die Nacht, stellen ihre persönlichen Bedürfnisse hinten an, verleugnen oft ihre eigene Meinung, um ja nicht negativ aufzufallen, und verlieren damit übrigens auch einen entscheidenden Teil ihrer Motivation. Und das alles nur, weil sie entfristet oder nicht gekickt werden wollen. Weil sie wissen, dass sie abhängig sind, und sich sorgen, ihre Rechnungen in Zukunft nicht mehr bezahlen zu können. Die Angst, den Job zu verlieren, ist für viele Menschen ein ständiger Begleiter. Auch für die jungen – nur wird sie uns oft abgesprochen.

Befristete Sicherheit

Die Zahl der Arbeitslosen betrug im Jahr 2019 nur 2,27 Millionen und stellte damit die niedrigste Arbeitslosenquote seit der Wiedervereinigung dar. In der Pandemie stieg sie auf fast 2,9 Millionen an.5 Deutschland lobte sich gern dafür, denn im Vergleich zu anderen Ländern war dieser Anstieg noch überschaubar. Wer allerdings nicht in dieser Statistik auftaucht, sind die zahlreichen, größtenteils jungen Minijobber*innen und studentischen Aushilfen. Das Schicksal von nahezu einer Million Menschen, die Studien zufolge auf das geringe Einkommen von 450 Euro im Monat angewiesen sind,6 wurde einfach nicht ausreichend thematisiert. Schlimmer noch: Diese Menschen hatten keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld, Arbeitslosenschutz oder Arbeitslosengeld. Sie wurden mit ihren finanziellen Sorgen lange allein gelassen.

Dass es dazu eines Tages kommen würde, war schon vor der Krise absehbar, denn Minijobber*innen sind schon seit einer Weile Arbeiter*innen zweiter Klasse. Laut Statistik hat die Zahl der Minijobber*innen in den letzten zwanzig Jahren um fast fünfzig Prozent zugenommen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung empfiehlt daher schon lange eine Absenkung der Geringfügigkeitsschwelle von 450 auf 300 Euro, um möglichst viele Minijobs in sozialversicherungspflichtige Jobs umzuwandeln. Die Politik hat diesen Vorschlag bislang nicht umgesetzt. Wie irrelevant für die Politik die Absicherung von jungen Leuten im Allgemeinen ist, zeigt auch die Tatsache, dass es in der Coronakrise bis Juni 2020 gedauert hatte, bis ein Onlineportal für Studierende eingerichtet wurde, über das junge Menschen Überbrückungshilfen beantragen konnten.7 Es ist leichtsinnig zu sagen, dass diese Menschen ja flexibel seien und bestimmt schnell eine neue Anstellung finden würden. Mit solchen Sätzen werden die existenziellen Sorgen junger Menschen zu oft verharmlost oder gar als unwichtig abgestempelt. »Mach dir nichts draus, du hast ja keine Kinder. Außerdem bist du doch noch so jung«, wurde den jungen Erwachsenen nach dem Jobverlust gesagt.

Wenn ein Unternehmen Arbeitsplätze streicht, müssen meist jene zuerst ihre Schreibtische räumen, die einen befristeten Arbeitsvertrag haben und demnach noch nicht sehr lange im Unternehmen angestellt sind. So zum Beispiel auch meine Freundin Mya, die ungefähr gleich alt ist wie ich. Ich hatte noch vor ihr in einem Onlineartikel gelesen, dass das Unternehmen, für das sie damals noch arbeitete, bald viele Stellen streichen würde. Als sie mich einige Tage später abends beim Mexikaner auf den neusten Stand brachte, glühte ihr Gesicht. Das lag allerdings weniger am scharfen Essen, sondern vielmehr an ihrer Wut. Zwischen Wein und Tacos erzählte sie mir von ihrem auslaufenden Vertrag, der nicht verlängert werden würde. Sie hatte in dem großen Unternehmen ihre Ausbildung gemacht und war anschließend zwei Jahre als befristete Arbeitskraft dort angestellt gewesen. Insgesamt hatte sie also vier Jahre sehr viel Energie für diesen Betrieb aufgebracht. Als es um die Entfristung ging, wurde sie gekickt.

»Jahrelang bekam ich gutes Feedback für meine Arbeit, und jetzt ist das nichts mehr wert?«, fragte sie mich fassungslos. Anscheinend. Noch ein Glas Wein. »Diese verdammten Befristungen. Es macht mich so wütend, weil es immer dasselbe ist. Am Ende sagt irgendwer zu dir: ›Du weißt, ich schätze dich sehr, aber mir sind die Hände gebunden!‹ Bla, bla.« Mya verdrehte die Augen und knabberte an einem Nacho. »Und weißt du, was sie mir angeboten haben? Ich könne ja einen Teil meiner Aufgaben als Freelancerin weitermachen. Zuerst war ich nicht abgeneigt, aber dann haben sie mir das Honorar genannt: Ronny, ein Witz!« Die Firma mache es sich einfach, sagte sie. »Keine Versicherungen mehr zahlen wollen und freie Mitarbeitende ausbeuten. Da habe ich keinen Bock drauf!«

Ich hob mein Glas und unterbrach ihren Redefluss: »Finde ich super! Wut ist das Beste, was einem nach einer Kündigung passieren kann.« Wut mobilisiert nämlich, sie gibt Energie für Veränderungen und lässt uns neue Pläne schmieden. Dabei darf es natürlich keine aggressive Wut sein. Sie muss positiv sein und beflügeln. Im Gegensatz zu Angst führt positive Wut nicht dazu, dass wir uns unter Wert verkaufen oder im Unglück verharren.

»Wir sollten viel öfter auf Wut anstoßen«, stimmte Mya mir zu und hob ihr Glas. Mit einem lauten Klirren stießen wir an.

Die Anzahl der befristeten Verträge hat seit 2005 stetig zugenommen, denn die Unternehmen haben in ihnen insbesondere nach der Finanzkrise ein Instrument für wirtschaftlich schlechte Zeiten erkannt: Angestellte können schnell und einfach entlassen werden, ohne dass ein Unternehmen eine hohe Abfindung zahlen muss. Laut einer Erhebung des Statistischen Bundesamts zur Erwerbstätigkeit hatten 2018 von allen 20- bis 24-Jährigen rund 43 Prozent einen befristeten Arbeitsvertrag, von den 25- bis 29-Jährigen waren es 21 Prozent.8 Daher waren es auch vermehrt Personen aus dieser Altersgruppe, die während der Coronapandemie ihre Festanstellungen verloren. Es waren Menschen, die gerade ihre ersten Arbeitserfahrungen machten, die vielleicht kurz zuvor noch aus der WG in die erste eigene Wohnung gezogen waren, die sie sich vorher nicht hatten leisten können. Oder jene, die sich das Studium mit einem Studienkredit finanziert haben und diesen eigentlich abbezahlen müssen. Aber egal ob jung oder alt: Wenn die Erwerbsarbeit plötzlich wegfällt, kann das dauerhaft Wunden hinterlassen. Und das gilt für jede*n von uns.

Das Geschwafel über New Work

»Weißt du, was das Komische ist?«, fragte ich Mya beim Mexikaner.

»Was denn?«, wollte sie wissen.

Ich erzählte ihr von meiner Beobachtung, dass viele Unternehmen versuchten, befristete Verträge attraktiver darzustellen, als sie es eigentlich waren. »Über unsere Generation sagt man ständig, dass wir ja selbst auch flexibler und ungebundener sein wollen. Es wird so formuliert, als wären befristete Verträge ein Geschenk, weil wir dadurch angeblich unabhängiger wären«, erklärte ich.

Mya nickte und führte meinen Gedanken fort: »Dabei haben wir ja gar keine andere Wahl. Befristete Verträge geben uns keine Unabhängigkeit. Sie machen uns abhängig, halten uns hin. Unser Privatleben wird on hold gesetzt. Aber das ganze Schöngerede ist Teil dieses New-Work-Gelabers.«

Unbefristete Jobs sind in vielen Branchen eine Rarität. Stattdessen werden junge Menschen mit vermeintlich attraktiven New-Work-Methoden geködert, also einer neuen Art des Arbeitens, die die Vereinbarung von Berufsleben und Privatleben vereinfachen soll. Gleichzeitig dringt der Job immer mehr in die Freizeit ein. An dieser Stelle muss außerdem einmal deutlich gemacht werden, dass die meisten New-Work-Methoden auf ohnehin schon privilegierte Branchen abzielen und daher von vornherein viele Berufsgruppen ausschließen. Mobiles Arbeiten ist für etliche Arbeitnehmer*innen gar nicht möglich. Viele davon sind im Niedriglohnsektor beschäftigt und profitieren überhaupt nicht von New Work. Das sind dann eher diejenigen, die es ausbaden und zum Beispiel länger an der Supermarktkasse sitzen müssen, weil sich der Feierabend der Besserverdienenden immer weiter nach hinten verschiebt. Die Anzugträger*innen kommen dann kurz vor Mitternacht in den Laden gehetzt, um sich noch schnell eine Tiefkühlpizza zu schnappen. »Schönen Feierabend«, trällern manche noch nach dem Bezahlen, aber gucken die Person hinter der Kasse dabei nicht mal an. Sie muss nach Ladenschluss noch die Abrechnung machen und die Regale auffüllen. Bis sie Feierabend machen kann, dauert es noch eine Weile. Sie hat durch New Work keinerlei Vorteile. Genauso ist Homeoffice für sie ein Fremdwort.

»Na ja, dazu muss man auch sagen, dass Homeoffice und flexibles Arbeiten vor der Pandemie auch in den meisten Unternehmen Fremdwörter waren. Wirklich gelebt wurde es nicht«, grätschte Mya in meine Überlegung, und ich musste lachen.

»Stimmt, Homeoffice ging vor Corona nur, wenn ein Handwerker kommen musste!« Das ist nicht nur ein Zeichen von Kontrollzwang und mangelndem Vertrauen in der Führungsetage, sondern es zeigt auch, dass körperliche Anwesenheit oft wichtiger ist als geistige. Durch die Coronapandemie war die Wirtschaft plötzlich dazu gezwungen, Teams im Homeoffice arbeiten zu lassen. Während dieser Zeit wurde deutlich, dass viele Unternehmen ihre Fürsorgepflicht zuvor nicht wirklich wahrgenommen und ihre Mitarbeitenden nie darin geschult hatten, im Homeoffice zu arbeiten. Es gab bis zu diesem Punkt keine klaren Regeln dafür. Die Leidtragenden waren in der Pandemie letztlich die Teams selbst. Laut einer Studie der Forschungsinstitute IGES und forsa vermisst fast jede*r Zweite die klare Trennung zwischen Job und Privatleben, wenn der einzige große Tisch in der Wohnung zugleich Ess- und Schreibtisch ist. Bei den 18- bis 29-Jährigen bemängelt das sogar eine Mehrheit von 52 Prozent.9 Im Endeffekt werden im Homeoffice oft mehr Stunden Erwerbsarbeit geleistet als im Büro. Mittagspausen werden häufiger ausgelassen, oder es wird schnell vor dem Computer gegessen. Das führt auch zu deutlich weniger Bewegung und Zeit an der frischen Luft, wie Expert*innen warnen.