Jung, rassistisch, identitär - Annika Krahn - E-Book

Jung, rassistisch, identitär E-Book

Annika Krahn

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Beschreibung

Die Ablehnung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, das Misstrauen gegenüber der Presse und die Hinwendung zu Verschwörungserzählungen: Solche Positionen von Einzelnen oder Gruppen erregen in den letzten Jahren immer mehr Aufmerksamkeit. Dabei wechseln die Themen, an denen sich der Widerspruch entzündet – von Migration über die Coronapandemie bis hin zum Krieg Russlands gegen die Ukraine. Eine Analyse der jeweils beteiligten Gruppen und Akteure und ihrer – oftmals gewaltbereiten – Einstellungen und Ideologien ist komplex. Einige Aspekte treten jedoch immer wieder zu Tage und sind vielen dieser Gruppen gemein – so etwa die Ablehnung von vermeintlichen Eliten (»Die da oben«), von Liberalismus, Pluralismus und Demokratie, oft zugunsten völkisch-nationalistischer Ideale, die mit rassistischen und antisemitischen Haltungen einhergehen. Am Beispiel der sogenannten »Identitären Bewegung« zeigen die Autorinnen, woraus sich diese Ideologie speist, welche Ziele ihre Vertreterinnen und Vertreter mit welchen Strategien verfolgen und wie ihre Wirkung auf die Gesellschaft einzuschätzen ist. Nicht zuletzt der vereitelte Anschlag auf eine Essener Schule im Mai 2022 zeigt, wie sehr unsere Gesellschaft gefordert ist, eine Antwort auf diese Entwicklungen zu finden.

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Annika Krahn und Recha Allgaier-Honal

Jung, rassistisch, identitär

Bedrohungspotentialefür unsere Gesellschaft

© Dittrich Verlag ist ein Imprint

der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2022

Printed in Germany

ISBN 978-3-947373-90-1

eISBN 978-3-947373-95-6

www.dittrich-verlag.de

Satz: Gaja Busch, Berlin

Covergestaltung: Katharina Jüssen, Weilerswist

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

INHALT

Einleitung

Und noch ein Wort vorab

Kapitel 1: Wer oder was sind die Identitären?

Kapitel 2: Wie neu ist die Neue Rechte? – Eine historische Einordnung

Die konservative Revolution

Kapitel 3: Zur Ideologie der Identitären

Identität, Menschenbild, Konzeption von Staat und Gesellschaft

Ethnopluralismus

Die Verschwörungserzählung des großen Bevölkerungsaustausches

Islamfeindlichkeit

Geschlechterbilder

Antisemitismus und Umgang mit der deutschen Vergangenheit

Weitere politische Positionen

Kapitel 4: Was wollen die Identitären? – Ihre Ziele / Strategie

Kapitel 5: Wie sind die Identitären strukturiert? – Ein Vergleich

A) Die Identitären in Frankreich

B) Die Identitären in Deutschland

C) Die Identitären in Österreich

D) Die Identitären in weiteren europäischen Ländern

E) Die Identitären außerhalb Europas

Kapitel 6: Wie gehen sie an die Öffentlichkeit

»Phalanx Europa«

Kulturrevolution von rechts und »Kontrakultur Halle«

Rechte Popkultur in Reinform?

Kapitel 7: Auswirkungen

Kapitel 8: Mögliche Begegnungsstrategien

Kapitel 9: Was jetzt? Ein Ausblick

Nachwort

Literatur

EINLEITUNG

Auch wenn der Begriff der Neuen Rechten in diversen Features, Reportagen und Berichten in den »Offline-Medien« Verwendung findet, ist der Rechtsextremismus in den letzten Jahren zunehmend zu einem Internetphänomen geworden, wie u.a. auch die Publikation »Die rechte Mobilmachung« von Stegemann und Musyal aufzeigt. Das 2020 erschienene Buch skizziert, wie die (rechtsextremistische) Radikalisierung im Internet bzw. den sozialen Netzwerken ihren nahezu unkontrollierbaren Verlauf nimmt. Auch wenn es ein »Online-Phänomen« ist – direkte Auswirkungen hat dieses auf die greifbare Welt offline. Neben dem Tod von Walter Lübcke am 1. Juni 2019 forderte der rechtsextremistische Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019 zwei Todesopfer. Neun Menschen verloren am 19. Februar 2020 in Hanau aufgrund eines rechtsterroristischen Attentats ihr Leben. Untersuchungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz (www.verfassungsschutz.de) verraten, dass die Gesamtzahl der rechtsextremistischen Gewalt- und Straftaten 2021 im Vergleich zum Vorjahr um weitere 10 % anstieg. Die Zahlen werden von den Opferinitiativen rechtsextremer Gewalt jedoch häufig deutlich höher eingeschätzt als vom Verfassungsschutz (vgl. www.opferperspektive.de).

Während also sowohl das rechtsextreme Personenpotential als auch die rechtsextreme Gewaltbereitschaft in den letzten Jahren nach und nach zugenommen hat, ist ein Ereignis beispielhaft dafür und Grund genug, um ein Buch zu diesem Thema zu verfassen: Die Autorin Jasmina Kuhnke (@quattromilf) sagte im Rahmen der Frankfurter Buchmesse ihren Auftritt am 18. Oktober 2021 ab. Vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Bedrohungssituation – so wurde ihre private Adresse mit konkreten Morddrohungen im Internet veröffentlicht – war es für Kuhnke insofern unvorstellbar, als Gast der ARD-Radiokulturnacht der Bücher ihren Debütroman »Schwarzes Herz« vorzustellen, als dass der Jungeuropa Verlag von Philip Stein in unmittelbarer Nähe zum ZDF-Stand ausstellte. Von Philip Stein wird in den folgenden Seiten noch die Rede sein. An dieser Stelle sei nur so viel gesagt, dass er u.a. das neurechte Crowdfunding-Projekt »Ein Prozent« verwaltet, dessen Facebook-, Instagram- und YouTube-Accounts mittlerweile gesperrt worden sind und das vom Verfassungsschutz immerhin mittlerweile als Beobachtungsfall eingestuft worden ist. Stein selbst hat Anfang 2021 auf Twitter u.a. die »Abschiebung« von Kuhnke gefordert (was völlig absurd ist, da Kuhnke deutsche Staatsbürgerin ist). Jasmina Kuhnkes Erfahrung ist mitnichten ein Einzelfall. Drei von vier gemeldeten Hassbeiträgen im Internet schreibt die Markt- und Sozialforschungsgruppe g/d/p der politisch motivierten Kriminalität von rechts zu. Dies vorausgesetzt, kann Kuhnke ihre Absage folgendermaßen auf Twitter zusammenfassen: »Ich rede mit Nazis nicht, ich höre Nazis nicht zu, ich lese keine Bücher von Nazis.«

Ob Kuhnkes Rücktritt auf der Frankfurter Buchmesse angemessen war, haben diverse Feuilletons bundesweit erörtert. Wenn also der Messechef Jürgen Boos auf dem Meinungsaustausch beharrt und betont, der Meinungsfreiheit verpflichtet zu sein, dann könnte man Kuhnkes Haltung als Cancel Culture bezeichnen. Die Frage, die allerdings auch in den Mittelpunkt gerückt werden könnte, umreißt die möglichen Grenzen einer diskussionswürdigen Meinung. Jasmina Kuhnke selbst schreibt auf ihrem Twitteraccount, das Argument der Meinungsfreiheit sei obsolet, da der Jungeuropa Verlag rassistische und antisemitische Anschauungen transportiere, selbst also die Freiheit der anderen eingrenzt. Die Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank (www.bs-anne-frank.de) solidarisiert sich in einer Pressemitteilung mit Kuhnke und ihrer Haltung. Gerade die Morde der letzten Jahre machten deutlich, dass eine akute Bedrohungslage bestehe. Die Möglichkeit für rechtsnationale Verlage, auf der Frankfurter Buchmesse auszustellen, trage zur weiteren Normalisierung und Verbreitung von Menschenhass bei, schreibt Meron Mendel, der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank.

Insgesamt gibt es keine eindeutige und anerkannte Handlungsmaxime in Bezug auf den Umgang mit extremen Meinungsmachern. Diese scheinbare Aporie existiert bereits seit der Gründung der AfD im Jahr 2013. Waren sich Politikwissenschaftler wie Eckhard Jesse in den 2000er Jahren auch vor dem Hintergrund des kruden Verbotsverfahrens gegen die Nationaldemokratische Partei Deutschlands noch einig, dass die NPD bei allen tragenden gesellschaftlichen Gruppen isoliert und geächtet sei, so gelang es der AfD, anders als beispielsweise der NPD, in rasender Geschwindigkeit in allen Landesparlamenten und sogar in den Bundestag sowie das Europäische Parlament einzuziehen. Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag 2017 kam auch auf den Buchmessen in Frankfurt und Leipzig die Frage nach dem Umgang mit Verlagen auf, die neo-nationalistische bzw. neurechte Positionen vertreten. In den letzten Jahren ließ man auch nationalistisch-völkische Verlage an ihren Messeständen ausstellen (2018 auch aufgrund einer Verlags-Scharade von Götz Kubitschek) und nicht immer wurde die Option wahrgenommen, Verlage mit völkischen und antidemokratischen Inhalten in eine schlecht besuchte Sackgasse zu verlegen. 2021 hat dies ebenfalls nicht funktioniert und so durfte sich der Jungeuropa Verlag um Philip Stein neben der großen Bühne des ZDF präsentieren.

Insgesamt also, so scheint es, gibt es nur zwei brauchbare Handlungsoptionen im Umgang mit rechtsextremen und neurechten Institutionen: Entweder man lädt sie ein oder man grenzt sie aus – beides mit berechenbaren Konsequenzen. Einerseits ist Ausgrenzung keine demokratische Option und zudem verschwindet eine Idee nicht aufgrund eines Verbots. Auf der anderen Seite zeigt sich, dass die Taktik, mit einer Einladung die neo-nationalistische Argumentation zu demaskieren und dadurch eine bürgerliche Ächtung dieser Institutionen hervorzurufen, in den 2020er Jahren nicht mehr greift. Zu stark scheint das Opfer-Narrativ und zu groß die Menge an Fehlinformationen und Verschwörungstheorien (von denen noch zu lesen sein wird) aus den sozialen Netzwerken, dem sogenannten »Dark Social«, zu sein. Das Netz spielt eine immense Rolle bei der Verbreitung von Fehlinformationen und der damit in Zusammenhang stehenden Radikalisierung. »Was im Netz beginnt, setzt sich auf der Straße fort«, so schrieb die Süddeutsche Zeitung am 10. Dezember 2021. Diese traurige Wahrheit wurde bereits mit der Ermordung eines 20-jährigen Studenten im September 2021 Gewissheit, der allein deswegen erschossen wurde, weil er einen Kunden auf die Maskenpflicht aufmerksam gemacht hatte.

Auch der ehemalige Bundesbeauftragte für Ostdeutschland, Marco Wanderwitz, könnte die genannte Schlussfolgerung bestätigen. Dieser behauptete im Rahmen eines Interviews mit dem TV-Format Panorama im Herbst 2021, dass es mit einem offenen Diskurs mit Corona-Leugnern und Impfgegnern, sofern sie dem neurechten Spektrum angehörten, nichts zu gewinnen gäbe. Im Zentrum der aktuellen Diskurse stehe nämlich stets die Ablehnung des Staates. Wenn es nicht seit der Corona-Pandemie die Ablehnung der Corona-Maßnahmen ist, so war es um 2015 die Ablehnung der Flüchtlingspolitik und wiederum davor, um 2010, die Ablehnung des Eurorettungsschirmes während der Finanzkrise. Eine nationalistisch-völkische Grundhaltung sorge dafür, dass man sich immer an einem neuen Thema abarbeiten könne, solange man grundsätzlich die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Staates ablehne. Wanderwitz machte vor der Bundestagswahl 2021 deutlich, welche Maßnahme für ihn allein gangbar im Umgang mit nationalistisch-völkischen Meinungen sei: Ausgrenzung! »Wer eine rechtsradikale Partei wählt, ist für mich kein Demokrat – das macht ein anständiger Demokrat nicht – gerade nicht in Deutschland«, führt der 45-Jährige im TV-Interview seine Position aus und erläutert weiter: »Wir müssen aufpassen, dass wir nicht bei diesem ständigen Hinterherlaufen dieser lauten, lärmenden, rechtsradikal wählenden Minderheit vergessen, Politik für die zu machen, die die Mehrheit sind und die mit uns gemeinsam am guten Zukunftskonzept dieses Landes weiterbauen wollen.«

Wenn Wanderwitz sich für die »Ausgrenzung« bzw. die »Konfrontation« entschieden hat und »Rechtsradikale« auch als solche bezeichnet wissen will, setzt er damit nicht nur seine politische Karriere aufs Spiel (er verlor sein Direktmandat an einen AfD-Abgeordneten in Sachsen und wurde auch nicht mehr als Ostbeauftragter aufgestellt), sondern macht sich zeitgleich auch zur Zielscheibe weiterer Radikalisierung: In der Silvesternacht 2020/21 wurde auf Wanderwitz’ Wahlkreisbüro in Zwönitz ein Anschlag mit Pyrotechnik verübt.

Von Corona-Leugnung und Verschwörungstheorien über Telegram zu dem Jungeuropa Verlag von Philip Stein scheint es manchmal bloß ein (Corona-)Spaziergang zu sein. Allein dies macht die bis ins Unermessliche steigende Komplexität des Themas rund um Gruppen deutlich, die den Staat delegitimieren – und erfordert unbedingt eine Systematisierung. Wir wollen diese auf den folgenden Seiten anbieten, sodass abschließend auch eine Begegnungsstrategie sichtbar wird.

Am besten gelingt uns das, wenn wir die sogenannte Identitäre Bewegung als Beispiel für eine neurechte Gruppe herausstellen, da sie zugleich ein Phänomen des Internets ist und u.E. am Anfang der Entwicklung aller weiteren sich radikalisierenden nationalistisch-völkischen Gruppen steht. Aufgrund ihrer Anfänge, ihrer Reichweite und ihres möglichen Niedergangs bzw. eher Amorphisierung kann man quasi wie in einer Petrischale die Entwicklung einer Gruppe beobachten, die einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ablehnend gegenübersteht. An den Identitären führt kein Weg zurück und auch nicht mehr vorbei, sodass diese selbst ernannte Bewegung als Vorbild jeder weiteren online vernetzten Gruppierung angesehen werden kann, die verfassungsfeindlich denkt und agiert.

Zunächst werden wir der Frage nachgehen, wer oder was die Identitären überhaupt sind. Die Beantwortung dieser Frage führt direkt zu der nächsten, wie neu diese Neuen Rechten sind und welche historischen Hintergründe für die Einordnung ihres Gedankenguts wichtig sind. Nachdem wir uns im dritten und vierten Kapitel damit beschäftigt haben, welche Ideologie die sogenannte Identitäre Bewegung vertritt und welche Ziele sie verfolgt, beleuchten wir im fünften Kapitel, welche Struktur dieser Gruppe zugrunde liegt und stellen einen primär europäischen Vergleich an. Die Vorgehensweise der Identitären, an die Öffentlichkeit zu treten, ist Teil des sechsten Kapitels. Vor dem Hintergrund der Auswirkungen ihrer politischen Gesinnung, die wir im siebten Kapitel beschreiben, bemühen wir uns im achten Kapitel, Strategien zu entwickeln, mit denen einer Gruppierung wie der sogenannten Identitären Bewegung begegnet werden kann. Am Ende eines jeden Kapitels finden sich die wichtigsten Punkte in einer stichwortartigen Zusammenfassung.

Das vorliegende Buch möchte eine Orientierungshilfe sein und diese selbsternannte Bewegung historisch und politisch einordnen, ihren spezifischen Aktivismus analysieren sowie Möglichkeiten der Enttarnung aufzeigen. Der Umgang mit nationalistisch-völkischem Gedankengut und der Ablehnung freiheitlich-demokratischer Prinzipien wird gerade in den kommenden Jahren vor dem Hintergrund unterschiedlicher Krisensituationen (Coronakrise, Inflation, Klimakrise, Ukraine-Krieg u.v.m.) eine immer größere Rolle spielen. Wir hoffen mit einer gründlichen Betrachtung der Identitären und einer Beantwortung der Fragen: Woher kommen sie? Was wollen sie? Wie agieren sie?, Teil des Krisenmanagements und des Lösungsprozesses zu sein.

UND NOCH EIN WORT VORAB

Diese gründliche Betrachtung ist auch bei der Verwendung des Begriffs Rechtsextremismus vonnöten. Bereits Konstantin Kuhle (MdB, der innenpolitische Sprecher der FDP) konstatiert in einem WebTalk der Friedrich-Naumann-Stiftung am 15. Mai 2020, dass es Unsinn sei, den Linksextremismus dem Rechtsextremismus gegenüberzustellen, da diese beiden Termini unterschiedliche Phänomene beschreiben. Es bringe außerdem nichts, die These in den Raum zu stellen, dass beispielsweise der Islamismus eine größere Bedrohung als der Rechtsextremismus sei. Jedes dieser heterogenen Phänomene muss gesondert betrachtet werden und jedem dieser Probleme muss auch auf eine zugeschnittene Art und Weise begegnet werden.

Bevor aber mit der Begegnung begonnen werden kann, zurück zu der auch noch im Bundesamt für Verfassungsschutz üblichen Gegenüberstellung von Links- und Rechtsextremismus: Diese beiden Termini bezeichnen eine Position, die jeweils an den äußersten Rändern des politischen Meinungsbildes zu finden ist. Mit der Verwendung des Begriffes Rechts- oder Linksextremismus wird dementsprechend ein Hufeisenprinzip suggeriert, das die politische Realität relativ eindimensional zeichnet und der Komplexität der Gesellschaft nicht gerecht wird. Vor dem Hintergrund dieses Hufeisenprinzips gelte die politische Mitte als harmlos oder nicht gefährlich. Dass die derzeitige Bedrohungslage u.a. auch auf die sogenannte Mitte der Gesellschaft zurückzuführen ist, macht die Querdenker-Bewegung 2020 deutlich. Auch die Tumulte vor dem Berliner Reichstag und die Überwindung von Absperrgittern durch Teilnehmende der Corona-Proteste am 29. August 2020 veranschaulichen die Gefahr, die von der sogenannten Mitte der Gesellschaft ausgehen kann. In der wissenschaftlichen Debatte ist der Begriff Rechtsextremismus aus den genannten Gründen umstritten. Selbst sprachlogisch weise der Begriff nach Klärner und Kohlstruck (2006) auf ein Komplement hin: Extremismus steht der Normalität gegenüber. Der Rand kann nur in Beziehung zur Mitte sinnvoll verstanden werden. Dass aber radikale Denkstrukturen nicht nur eine Randerscheinung sind, zeigt auch die sogenannte Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung 2018/2019.

Um nicht wie Seymour Martin Lipset vom paradoxen »Extremismus der Mitte« (1959) sprechen zu müssen, möchten wir auf den folgenden Seiten die ideologischen Sichtweisen benennen, um das u.a. rassistische, antidemokratische, antisemitische und Verschwörungserzählungen affine Verhalten zu definieren. So wird der Begriff »Rechtsextremismus« weniger häufig zu finden sein, sondern die im Zentrum dieses Buches stehende Denkstruktur ist mit »nationalistisch-völkisch« am besten greifbar. Auch wenn der renommierte Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer u.a. in seinem 2020 erschienenen Werk »Rechte Bedrohungsallianzen« den ebenso geeigneten Begriff des autoritären Nationalradikalismus ins Feld führt, um die Ideologie und die Agitation einer Partei wie der AfD oder einer Gruppe wie der Identitären zu erfassen, ist uns zufolge der Terminus des völkischen Nationalismus eindeutiger auf die ideologische Haltung bezogen, sodass es auch möglich sein wird, vielfältige Verbindungslinien zu u.a. der 2021 gegründeten Sammlungsbewegung »Freie Sachsen« und ihrem Vorsitzenden, Martin Kohlmann, zu ziehen. Abgesehen davon, dass nationalistisch-völkisch denkende Köpfe wie Ellen Kositza, Martin Sellner oder Götz Kubitschek sich selbst mit nicht wenig Stolz in ihren eigenen Veröffentlichungen oder in Interviews als »rechts« bezeichnen, um sich von dem »Anderen«, dem vermeintlich »Linken« scharf abzugrenzen, suggerieren Begriffe wie die extreme Rechte oder autoritärer Nationalradikalismus, dass wir es lediglich mit einer Besonderheit im gesellschaftlich-politischen Spektrum zu tun haben. Dass es sich allerdings nicht nur um ein randständiges Phänomen handelt, zeigen die folgenden Seiten.

KAPITEL 1:WER ODER WAS SIND DIE IDENTITÄREN?

Nazis in den 2020ern – das sind doch die Menschen, die Springerstiefel (vorzugsweise mit weißen Schnürsenkeln), eine Glatze und eine Bomberjacke tragen. Am besten sind sie mit einem Baseballschläger unterwegs, damit man sie auch direkt als Nazis identifizieren kann. Zwar spielt der Dokumentarfilm von Christian Jentzsch, »Die Kirche und die Rechten – der Kampf um das christliche Weltbild«, auch 2019 noch mit diesem Klischee, doch war das zu Beginn der 90er Jahre mit der entfesselten Gewalt gegen Zugewanderte in Hoyerswerda, Solingen, Rostock-Lichtenhagen und Mölln vielleicht noch passgenauer als heutzutage.

Seit Anfang der 2010er Jahre sorgen immer wieder junge Menschen mit medienwirksamen Aktionen für Aufsehen, die sich selbst der »Identitären Bewegung« (im Folgenden abgekürzt als IB) zurechnen. Die jungen Aktivistinnen und Aktivisten könnten ihrem Aussehen nach auch Mitglied bei Greenpeace oder Amnesty International sein. Ihren Botschaften zufolge jedoch schützen allein sichere Grenzen die Zukunft Deutschlands oder soll die Erinnerung an die Opfer insbesondere des islamistischen Terrors lebendig bleiben. Ihre Aktionen zielen eindeutig auf öffentliche und mediale Aufmerksamkeit ab. Auch für politisch und gesellschaftlich interessierte Beobachter wird nicht auf den ersten Blick deutlich, welche ideologische Überzeugung die Aktivistinnen und Aktivisten tragen, was ihre Ziele sind und wo sie im Spektrum politisch aktiver Gruppierungen zu verorten sind. Dementsprechend wagen wir einen zweiten Blick.

In Deutschland ist die IB seit 2012 aktiv und zeichnet sich von Anfang an durch eine Reihe von Merkmalen aus, die sie von anderen rechten Gruppierungen unterscheiden: So geben sich ihre Vertreter betont jung, modern und intellektuell – passend zu ihrer Zielgruppe, die hauptsächlich aus Schülerinnen und Schülern und jungen Erwachsenen (wie etwa Studierenden) besteht. Hinzu kommt eine professionelle Nutzung der neuen Medien, insbesondere der sozialen Netzwerke – mittlerweile auch des sogenannten Dark Social, um politische Inhalte zielgruppengerecht attraktiv zu vermitteln. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, sind die Inhalte selbst nicht sonderlich innovativ, sondern gehören zum Kernbestand rechten bzw. nationalistisch-völkischen Gedankenguts und haben ihre Wurzeln in der sogenannten Konservativen Revolution der 1920er Jahre; sie blicken somit auf eine etwa hundertjährige Geschichte zurück. Die Aktivisten der IB sind daher wohl umso mehr bemüht, den modernen Anstrich aufrechtzuerhalten und insbesondere – zumindest nach außen hin – einen gewissen Mindestabstand zu Teilen rechter Ideologie sowie zu Personen und geschichtlichen Phänomenen zu halten, die ihnen für ihre Zwecke abträglich erscheinen. Gleichzeitig sind identitäre Gruppen eindeutig Teil des neurechten Spektrums und damit auch in die entsprechenden Netzwerke eingebunden. Das führt mitunter dazu, dass Identitäre einerseits aufgrund ihrer inhaltlichen Nähe den Austausch mit anderen nationalistisch-völkischen – sowohl rechtsextremen als auch rechtspopulistischen – Gruppen pflegen und die Kooperation suchen, sich jedoch andererseits immer wieder gezwungen sehen, sich von einigen dieser Akteure abzugrenzen und zu distanzieren, um das eigene Ansehen nicht zu beschädigen und für möglichst große Teile der Gesellschaft interessant zu bleiben. Beispielsweise geschah dies im März 2019. Kurz nach dem Attentat in Christchurch veröffentlichte Martin Sellner, einer der führenden Köpfe der IB in Deutschland und Österreich, ein YouTube-Video, in dem er behauptete, nichts mit dieser Gewalt zu tun zu haben.

Die IB wird seit 2016 vom Verfassungsschutz beobachtet und im Verfassungsschutzbericht als »gesichert rechtsextremistisch« eingestuft, da zentrale Punkte ihrer Ideologie im Widerspruch zum Grundgesetz stehen. Diese Einstufung ist durch ein Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin im Juni 2020 bestätigt worden, nachdem die Identitären dagegen geklagt hatten. Ausschlaggebend für die Einschätzung des Verfassungsschutzes ist das Bekenntnis der Identitären zum sogenannten Ethnopluralismus, einer modernisierten Form des Rassismus: Leitidee des Ethnopluralismus ist, dass verschiedene Ethnien sich nicht miteinander vermischen, sondern unvermischt in möglichst homogenen Völkern nebeneinander leben sollen. Und diese ethnokulturelle Identität (IB-intern auch EKI genannt) muss verteidigt werden. Auch die Selbstbezeichnung »identitär« verweist auf diesen Kerngedanken der IB-Ideologie: Ihrem Selbstverständnis zufolge geht es ihnen um ihre »kulturelle Identität«, die sie durch die Migration von Menschen mit anderen kulturellen Identitäten bedroht sehen. Zum Erhalt der kulturellen Identität müsste aus Sicht der IB Migration eingeschränkt, am besten sogar rückgängig gemacht werden, um eine größere ethnische Homogenität in der Bevölkerung herzustellen. Wie weit der Begriff der Kultur dabei gefasst wird, ist unterschiedlich – teils wird er regional oder national, teils supranational verstanden, d.h. identitäre Gruppen können sich sowohl als Verfechter der deutschen wie auch der europäischen Kultur verstehen. Das spiegelt sich auch in der Kooperation identitärer Gruppen aus verschiedenen europäischen Ländern wider. Gleichzeitig besteht genau darin aber auch ein Unterschied: Während unter nordeuropäischen Identitären beispielsweise ein panskandinavistisches Ideal vorherrscht, machen Identitäre in Frankreich und Italien ihre Identität teils an Regionen, teils an Europa fest, aber nicht unbedingt an ihrer Nation. Das bringt sie mitunter sogar in Konflikt mit den jeweiligen nationalistischen Parteien ihrer Herkunftsländer (vgl. Kapitel 5).

Klar ist dagegen, wer aus Sicht der Identitären nicht zur eigenen Kultur gehört: Menschen afrikanischer oder asiatischer Herkunft etwa und in besonderem Maße Muslime. »Der Islam« wird dabei für die IB zum Feindbild par excellence und als das Fremde und Bedrohliche schlechthin dargestellt. Aus muslimischen Flüchtlingen macht die identitäre Propaganda die Vorhut einer islamischen Invasion, die es abzuwehren gilt; die realen Ursachen von Flucht und Migration oder eine differenziertere Sicht des Islam finden dabei keine Beachtung. Sich selbst stilisieren die identitären Aktivisten dabei einerseits zu Opfern, deren »Identität« durch die Zuwanderung bedroht wird und die von Politik und Medien betrogen werden, andererseits zu mutigen Kämpfern, die es wagen, angebliche Tabus zu benennen. Sie bedienen sich dabei einer Rhetorik der Angst und suggerieren, sie seien die letzte Generation, die den Untergang der europäischen Identität noch abwehren könne, bevor es dafür unwiderruflich zu spät sei. Dazu bedienen sie sich der Verschwörungstheorie vom sogenannten »Großen Austausch« – d.h., sie geben vor, angebliche geheime Pläne zu enthüllen, die darin bestünden, die ursprüngliche Bevölkerung europäischer Staaten durch eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung zu ersetzen und damit zu zerstören. Diese Überzeugung wird indes nicht nur von der IB vertreten, sondern geht auf die Arbeiten des Franzosen Renaud Camus zurück und gehört zum Kern der Ideologie der Neuen Rechten.

Auf diesen Grundgedanken ihrer Ideologie beziehen sich die Identitären auch mit ihrer Symbolik: Das Logo der IB beispielsweise zeigt den griechischen Buchstaben Lambda, der wiederum dem Film »300« entlehnt ist. In diesem Film geht es um die Schlacht an den Thermopylen und damit um den Kampf der Spartaner gegen die Perser. Im Film tragen die Spartaner dabei den Buchstaben Lambda (für Lakedaimonier als Synonym für Spartaner) auf ihren Schilden; durch die Nutzung des Lambda bringen die Identitären eine Identifikation mit den kämpfenden Spartanern, so wie sie im Film dargestellt sind, zum Ausdruck. Gleichzeitig interpretieren sie damit den Konflikt zwischen Sparta und Persien anachronistisch als Analogie zum – vermeintlichen – Konflikt zwischen europäischer und islamischer Kultur. Wie später zu sehen sein wird, nutzen die Identitären in ähnlicher Weise andere historische Bezugspunkte für ihre propagandistischen Zwecke, wie beispielsweise den Sieg Karl Martells über die Araber im Jahr 732.

Bekämpft werden aber nicht nur Migranten, sondern auch all jene, die für eine offene, plurale Gesellschaft eintreten (u.a. People of Colour, die LGBTQ-Community oder Feminist:innen – wobei das eine selbstverständlich das andere nicht ausschließt). In gewisser Hinsicht betrachten sowohl die Identitären als auch die Neue Rechte als Ganzes letztlich – bei aller Ablehnung und Polemik – nicht Migranten als ihre Hauptfeinde, sondern bekämpfen in allererster Linie ein liberales, demokratisches, den Menschenrechten verpflichtetes Weltbild. Ihr übergeordnetes Ziel ist die »Kulturrevolution von rechts«, d.h. eine umfassende Umgestaltung der Gesellschaft nach ihren Vorstellungen. Um dieses Ziel zu erreichen, konzentrieren sie sich auf den Ansatz der sogenannten Metapolitik. Das bedeutet: Mehr als um Parteipolitik und Einfluss in Parlamenten geht es den Identitären und der Neuen Rechten darum, den »Kampf um die Köpfe« zu gewinnen, d.h. die öffentliche Meinung und die zentralen Werte der Gesellschaft in ihrem Sinne zu prägen.

Auch wenn die IB Slogans nutzt wie: »Nicht rechts, nicht links – identitär!«, ist sie doch mit ihrer nationalistisch-völkischen Gesinnung eindeutig – 2019 auch vom Verfassungsschutz bemerkt – ein Teil der extremen Rechten und innerhalb dieser ein Teil der – über 50 Jahre alten – Neuen Rechten. Daher soll sie im Folgenden auch immer als Beispiel für die Neue Rechte, ihre Ideologie und Vorgehensweise analysiert werden. Denn auch wenn die IB möglicherweise – wie es mitunter den Anschein hat – in dieser Form und unter diesem Namen nur ein temporäres Phänomen sein sollte, so ist klar, dass sowohl ihre Ideologie als auch ihre Vertreter nicht so schnell verschwinden werden, sondern sich allenfalls in neuem Gewand präsentieren werden: alter Wein in neuen Schläuchen.

•Neue Form des rechten Aktivismus

•Konzentration auf neue Medien und soziale Netzwerke (junge Zielgruppe)

•Feindbild: die liberale Gesellschaft

•Verschwörungstheorie vom »Großen Austausch«

•Symbol: Lambda

•Typische Vertreter der Neuen Rechten

KAPITEL 2:WIE NEU IST DIE NEUE RECHTE? – EINE HISTORISCHE EINORDNUNG

Die IB ist ein Teil der Neuen Rechten. Sie kann also nicht isoliert betrachtet werden, sondern nur im Kontext des neurechten Spektrums, sodass man sich zunächst fragen muss, was die Neue Rechte überhaupt ausmacht, was das »Neue« daran sein soll und wie sie entstanden ist. Erst dann wird deutlich, in welcher Tradition die Identitären stehen – und dass auch diese Gruppe nicht gänzlich »neu« ist. Ebenso ist dieser Kontext von Bedeutung, wenn man sich fragt, was »nach« der IB kommt – denn selbst wenn diese Organisation als solche und unter diesem Namen eines Tages wieder in der Versenkung verschwinden sollte, ist es wichtig, die fortexistierende Ideologie zu erkennen und historisch einordnen zu können.

Was also ist die Neue Rechte? Und was die »Alte Rechte«? Genau dieser Unterschied ist nämlich entscheidend für das Selbstverständnis der Neuen Rechten – ihre Vertreter bemühen sich, sich von der »Alten Rechten« abzugrenzen, d.h. von den Nationalsozialisten und jenen, die sich nach 1945 zu offensichtlich in deren Tradition gestellt und damit für breitere Kreise der (europäischen) Gesellschaft diskreditiert haben. Diese Distanz zum Dritten Reich und zu späteren Neonazis, die zumindest nach außen hin regelmäßig betont wird, geht mit einem Streben nach einem intellektuelleren, elitäreren Auftreten einher. Beides soll für höhere Zustimmungswerte sorgen. Wie weit es mit dieser Unterscheidung von alten und neuen Rechten her ist, ist allerdings fraglich; bei genauerer Betrachtung deutet jedenfalls vieles auf eine gewisse – ideologische wie personelle – Nähe hin. Zum Selbstverständnis der Neuen Rechten gehört außerdem eine Inszenierung als alternativ und revolutionär, was auch durch methodische Anleihen bei der Linken befördert wird. Beispielsweise beziehen sich Vordenker der Neuen Rechten auf linke Theoretiker wie Antonio Gramsci und übernehmen dessen Ideen zur Erlangung einer kulturellen Hegemonie für ihr Konzept eines metapolitischen Ansatzes – also das Streben danach, Diskurse zu beeinflussen und die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu prägen.

Die Wurzeln der Neuen Rechten reichen bis in die 1960er/70er Jahre zurück; sie sind also nicht – wie bisweilen zu lesen – als eine Reaktion auf die 1968er Bewegung zu sehen, sondern gehen ihr teilweise voraus. Die Entwicklung in Deutschland ist dabei eng mit jener in Frankreich verknüpft, wo die Neue Rechte als Nouvelle Droite zuerst in den 1960ern in Erscheinung trat. Ein markantes Datum war dabei die Gründung des GRECE (Groupement de recherche et d’études pour la civilisation européenne; Forschungs- und Studiengruppe für die europäische Zivilisation) durch Alain de Benoist, Jean Mabire und Dominique Venner in Nizza im Jahr 1968, das mit der Eintragung ins Vereinsregister am 17. Januar 1969 offiziell wurde (Mabire und Venner zogen sich allerdings in den frühen 70er Jahren aus dem aktiven Vereinsleben zurück). Dabei handelt es sich um eine Art elitäre Denkfabrik und den Zusammenschluss von Theoretikern der extremen Rechten, die mit ihrer intellektuellen Vorarbeit kulturelle und ideologische Denkweisen erobern wollten. Nicht nur lautmalerisch erinnert der Vereinsname an Griechenland. Dies ist durchaus beabsichtigt, denn man versucht intellektuell die Wurzeln der europäischen Kultur aufzugreifen, die den Mitgliedern zufolge im antiken Griechenland liegen, und lehnt infolgedessen auch den Monotheismus der jüdisch-christlichen Kultur als zivilisatorischen »Fremdkörper« ab.

GRECE hat sich als sehr einflussreich für rechte Gruppierungen in ganz Europa erwiesen. Auch in Deutschland wurde versucht, vom intellektuellen Prestige des französischen Modells zur profitieren, sodass der Begriff der Neuen Rechten wenig später aufgegriffen wurde, beispielsweise von der »Aktion Neue Rechte«, die sich 1972 von der NPD abspaltete. Auch wenn inhaltlich Altbekanntes genannt wird – es soll ein wissenschaftlicher, philosophischer und kultureller Begründungszusammenhang für ein autoritatives Europa der weißen Rassen entstehen – so gelingt es GRECE, ihre nationalistisch-völkischen Spuren zu verwischen und eine »objektive« Kulturforschung im Rahmen ihrer Metapolitik-Strategie anzubieten. Der Kampf um Ideen findet de Benoist zufolge jenseits der Parteien und des politischen Parketts statt (vgl. S. 77). Zunächst wollte sich das GRECE-Projekt nicht als Nouvelle Droite, also als Neue Rechte, bezeichnet wissen, sondern favorisierte den Begriff Nouvelle Culture, neue Kultur. 1977 jedoch publizierte de Benoist eines seiner Grundsatzwerke mit dem Titel »Vu de droite« (»Von rechts aus gesehen«) und gab damit implizit seine Zustimmung zu der begrifflichen Zuschreibung.

Auch über die reine Begrifflichkeit hinaus ließ sich die deutsche Neue Rechte von der französischen Nouvelle Droite inspirieren: So wurde nach dem Vorbild von GRECE 1980 in Deutschland das Thule-Seminar gegründet, wobei französische Rechtsextremisten wie Pierre Krebs eine wichtige Rolle einnahmen. Kooperationen gab es auch im Bereich von Publikationen, indem beispielsweise französische Theoretiker wie Alain de Benoist und Guillaume Faye in der Redaktion der Zeitschrift des Thule-Seminars mitarbeiteten sowie durch Übersetzungen ihrer eigenen Schriften von der deutschen Neuen Rechten rezipiert wurden. Auch de Benoists »Vu de droite« wurde in deutscher Übersetzung 1983/84 mit dem Titel »Aus rechter Sicht. Eine kritische Anthologie zeitgenössischer Ideen« herausgegeben. Ein weiterer Text der französischen Neuen Rechten, der ins Deutsche übersetzt wurde und Einfluss auf die Herausbildung neurechten Denkens in Deutschland genommen hat, ist: »Wofür wir kämpfen. Manifest des europäischen Widerstands. Das metapolitische Hand- und Wörterbuch der kulturellen Revolution zur Neugeburt Europas« von Guillaume Faye, das 2006 vom Thule-Seminar veröffentlicht wurde und gerade auch für die IB als richtungsweisend anzusehen ist, indem es ihre Ideologie und Terminologie maßgeblich geprägt hat. Weitere Autoren der Nouvelle Droite, die für die deutsche Neue Rechte und insbesondere für die IB eine zentrale Rolle spielen, sind Renaud Camus mit seinem Werk »Revolte gegen den Großen Austausch« und Jean Raspail mit »Das Heerlager der Heiligen«; beide im nationalistisch-völkischen Verlag Antaios erschienen, der wiederum mit dem Institut für Staatpolitik zusammenhängt, einer weiteren neurechten Denkfabrik, die ihren Sitz in Schnellroda, Sachsen-Anhalt hat.

Eine eingehendere Darstellung der deutschen Neuen Rechten in ihrer Gesamtheit ist an dieser Stelle nicht möglich; Interessierte seien auf die weiterführende Literatur im Anhang verwiesen. Im Folgenden soll jedoch der Blick noch ein bisschen weiter in die Vergangenheit gerichtet werden – denn wenn es die sogenannte Neue Rechte etwa seit den 1960er Jahren gibt und wenn ihre Vertreter sich explizit nicht auf die »Alte Rechte«, d.h. den Nationalsozialismus, berufen wollen: Wo sehen sie dann ihre Wurzeln und worauf baut ihre Ideologie auf?

Die konservative Revolution

Als vermeintlich unbelastete Vordenker gelten der Neuen Rechten die Vertreter der sogenannten »Konservativen Revolution«. Indem sie sich auf deren Ideen und Werke berufen, stellen sie sich scheinbar in eine Tradition der nationalistisch-völkischen Ideologie, die nicht durch die Taten der Nationalsozialisten diskreditiert worden ist. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es mit dieser Unterscheidung zwischen »guten« und »schlechten« Nationalisten nicht weit her ist.

Zwar findet der Begriff der Konservativen Revolution auch in der Fernsehserie »Babylon Berlin« nach der Romanreihe von Volker Kutscher Verwendung, doch ist er in mancherlei Hinsicht problematisch, u.a. weil es an einer präzisen Definition fehlt und nicht immer dasselbe damit gemeint ist. Vor allem aber fehlt dem Begriff und dem damit gemeinten Konzept die wissenschaftliche Neutralität: Stattdessen bedient sich die Neue Rechte der Rede von der »Konservativen Revolution« zu propagandistischen Zwecken, um ihrer Ideologie einen gesellschaftsfähigeren Anstrich zu geben. So gelang es dem führenden Kopf der Neuen Rechten, Armin Mohler, den Begriff der Konservativen Revolution mit seiner 1950 fertiggestellten Dissertation »Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932« überhaupt salonfähig zu machen und ihn auch in der Geschichtswissenschaft zu etablieren. Für einen wissenschaftlichen Diskurs ist der Terminus allerdings nur bedingt zu gebrauchen. Im Folgenden soll deswegen kurz skizziert werden, was gemeint ist, wenn von den Vertretern der Konservativen Revolution die Rede ist. Eine erschöpfende Behandlung der Thematik ist an dieser Stelle naturgemäß nicht möglich; auch hier sei auf die weiterführende Literatur verwiesen.

Prägend für die Etablierung des Begriffs der Konservativen Revolution als Bezeichnung für eine ideologische Strömung waren wie gesagt die Schriften des Schweizers Armin Mohler (1920–2003). Nach seiner eigenen Aussage ging es ihm darum, eine Trennung zwischen dem Nationalsozialismus einerseits und einer unbelasteten rechten Ideologie andererseits vorzunehmen, auch wenn die historische Realität diesen Gegensatz in der Form gar nicht hergibt. Und so fasste Mohler alles unter den Begriff der Konservativen Revolution, was er »den guten Teil am Nationalsozialismus« nannte. Laut Mohler beruht die Strömung der Konservativen Revolution auf fünf Gruppen, von denen drei besonders zentral sind, nämlich das völkische, das jungkonservative und das nationalrevolutionäre Milieu. Zwei weitere Gruppen spielten in seinen späteren Schriften jedoch keine Rolle mehr: die Landvolkbewegung und die Bündische Jugend (deren Eingruppierung in diesem Zusammenhang ohnehin diskussionswürdig ist). Schon dieses Spektrum legt die Vermutung nahe, dass es sich nicht um eine in sich geschlossene, kohärente Ideologie handeln kann, sondern eher um ein Sammelbecken von Gruppierungen, die allenfalls einige Gemeinsamkeiten, aber auch viele Unterschiede aufweisen: Gemeinsam war den genannten Gruppen vor allem eine Ablehnung liberaler, pluralistischer Ideen, eine Prägung durch den Ersten Weltkrieg mit seinen Idealen von Heldentum und Opferbereitschaft und ein Selbstverständnis als geistige Elite. Man verstand sich als Avantgarde, d.h. trotz der völkischen, nationalistischen Ausrichtung, der Ablehnung einer parlamentarischen Demokratie und dem Wunsch nach einem autoritär geführten Staat ging es nicht um eine Wiederherstellung der kaiserlichen Monarchie. Stattdessen sollten – dem Selbstverständnis dieser Strömung zufolge – neue Werte geschaffen werden, deren Erhalt lohnenswert schien; auf diese Idee einer Avantgarde, die Neues hervorbringt, bezieht sich auch der Begriff der »Revolution«, der angesichts der wenig progressiven Werte zunächst befremdlich wirkt.

Exkurs: Die Konservative Revolution – eine kurze Begriffsgeschichte

Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts tauchte der Begriff der konservativen Revolution in Schriften u.a. von Friedrich Engels auf. Der Philosoph hat den Terminus im Rahmen seiner Beschreibung des polnischen Novemberaufstands von 1830 verwendet, denn dieser habe ihm zufolge als konservative Revolution nichts an der (inneren) Lage des Volkes geändert. Zur gleichen Zeit wurde der Begriff im englischen Sprachraum (u.a. Macaulay, Dixon) benutzt, um einen sprachlichen Gegensatz beispielsweise zur Französischen Revolution zu etablieren. Armin Mohler zählt in seiner Dissertationsschrift ferner russische Schriftsteller auf, die den Begriff im 19. Jahrhundert verwenden (u.a. Dostojewski). Mohler allerdings beschränkt sich in seiner Deutung der Konservativen Revolution allein auf das Verständnis des französischen nationalistisch-völkischen Schriftstellers Charles Maurras (1868–1952), das geprägt ist von einem elitären Anspruch, einem radikalen Monarchismus, Antisemitismus und seiner Vorstellung einer korporativen Gesellschaftsordnung.

Etwas anders verwendet Hugo von Hofmannsthal den Begriff in seiner Rede am 10. Januar 1927 an der Universität München mit dem Titel »Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation«. Diese schloss mit folgenden Worten: