Jungs sind keine Hamster. Auch wenn sie manchmal am Rad drehen - Frank Schmeißer - E-Book

Jungs sind keine Hamster. Auch wenn sie manchmal am Rad drehen E-Book

Frank Schmeißer

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Beschreibung

Jungs nagen nicht am Küchentisch. (Die meisten zumindest.) Sie schlafen nicht im Stroh. Sie haben kein weiches Fell. Doch nun die wirklich schlechte Nachricht: Jungs sind viel komplizierter als Hamster. Trotzdem gibt es einen Haufen Ratgeber über Hamsterpflege. Gute Ratgeber zum Thema Jungs? Fehlanzeige! Aber damit ist Schluss. Denn jetzt schreibt Hannah! Voller Situationskomik schreibt Frank Schmeißer, Autor der erfolgreichen Schurken-Reihe, über den ganz normalen Teenagerwahnsinn: Wie ticken Jungs? Wie halte ich nervige Stiefschwestern im Zaum? Und vor allem: Wer ist dieser süße Gorilla von der Halloweenparty neulich? Ein lustiger Roman für Mädchen, die sich über die rätselhafte Spezies Jungs auch nur wundern können.

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Seitenzahl: 190

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Inhalt

Impressum

Alles wird anders

Mein erster Junge – Anschaffung, Pflege und Tipps, um ihn stubenrein zu kriegen

Jungs brauchen ein schönes Plätzchen

Ist es Liebe – wenn oben manchmal unten ist?

Welcher Junge passt zu dir?

Blind Date

Bist du bereit für einen Jungen?

Wie ähnlich sollte man sich sein?

Vor dem ersten Date

Das erste Date

Das erste Date und wie man Störungen verhindert

Können heimliche Beziehungen funktionieren?

Das erste Ende

Autoreninformation

Als Ravensburger E-Book erschienen 2012 Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH © 2012 Ravensburger Verlag GmbH Innenillustrationen: formlabor/Ute Kleim Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbHISBN 978-473-38490-7www.ravensburger.de

Alles wird anders

Bom! Bom! Bom! Jemand schlug gegen meine Tür.

„Was ist denn das für ein Lärm da oben?“ Die Stimme meiner Mutter schallte durch das Treppenhaus.

„Die hat sich eingeschlossen und lässt mich nicht in mein Zimmer!“

Die da behauptete, dieses, mein Zimmer, wäre ihres, war unsere putzige Jette. Ich nannte sie nur Barbie.

„Quatsch. Ich hab ihr doch den Schlüssel abgenommen“, erwiderte meine Mutter und kam die Treppen hoch. Selbst wenn eine Horde Marathonläufer sie dabei begleitet hätte, hätte ich die Schritte meiner Mutter rausgehört. Das war auch nötig. Denn Mutter gehörte zu den Menschen, die sehr gerne ungefragt und ungebeten überall reinplatzten. Da war es von Vorteil, sie rechtzeitig zu hören. Um sich schlafend zu stellen zum Beispiel oder um so zu tun, als würde man fleißig lernen. Man kann ja schließlich nicht immer sein Zimmer abschließen.

„Dann hat sie irgendwas vor die Tür geschoben. Auf alle Fälle macht sie nicht auf!“, empörte sich Barbie.

Barbie oder auch Jette war meine neue, angeblich engelsgleiche Stiefschwester. Blondes Haar. Blaue Kulleraugen. Weiße Zähne wie aus einem Hollywoodfilm. Zu schön, um echt zu sein. Zu schön, um nett zu sein. Barbie war fies. Saufies. Besonders zu mir. Sie behandelte mich, als hätte ich die Pest, Cholera oder ihre Schminkutensilien gefressen. In ihren Augen war ich ein hässlicher Troll, der eigentlich unter dem Haus wohnen müsste.

„Lass mich mal.“ Mutter war angekommen und klopfte genervt gegen die Tür. Dreimal. Und zwar schnell. Klopf! Klopf! Klopf!

„Herein, die Tür ist offen!“, flötete ich so fröhlich wie möglich.

„Sag ich doch“, sagte Mutter und lief gegen die verrammelte Tür. Ich lachte laut.

„Hannah Eislage! Öffne sofort die Tür!“, befahl sie.

Dann rüttelte sie heftig an der Klinke. Ich grinste.

„Hannah, mach die Tür auf!“ Bom! Bom! Bom!

Mein dicker Sessel zitterte, aber bewegte sich keinen Millimeter. Damit und mit meinem circa ein Kilo schweren Nachttisch aus Plastik hatte ich die Tür verbarrikadiert.

„Nie im Leben! Das ist mein Zimmer!“, schrie ich und dachte darüber nach, was wohl so ein Türsteher verdiente und wie viele Zeitungen ich austragen müsste, um mir einen leisten zu können. So einen muskelbepackten, humorlosen Du-kommst-hier-nicht-rein-Riesen, der rund um die Uhr vor meiner Tür Wache hielt. Aber da ich keinen Türsteher hatte, musste ich meine Haltung zu meinem Zimmer schriftlich festhalten.

„Außerdem habe ich meine Forderungen an die Tür geklebt. Lies sie!“, forderte ich meine Ma auf.

So wie Martin Luther, dachte ich. Den hatten wir letztens in Reli durchgenommen. Nachdem er einen Wisch mit seinen Thesen ans Kirchentor gehämmert hatte, musste er fliehen und irgendwo im Verborgenen leben. Mir schien das eine prima Alternative zu sein. Ich hörte, wie Mutter den Briefumschlag von der Tür abriss und laut vorlas.

Ich liebe Listen. Keine Ahnung, warum. Wahrscheinlich weil einem Listen helfen, sich auszudrücken oder sein eigenes und das chaotische Leben im Allgemeinen besser zu verstehen und zu meistern. Und den Irrsinn zu sortieren. Irgend so etwas.

„Hör auf, mich Barbie zu nennen, du blöde Ziege!“, brüllte Jette sauer.

„Na, na, lass mal gut sein, Jette. Das führt doch zu nichts“, versuchte Hannes seine Tochter zu beruhigen. Hannes ist der neue Freund meiner Mutter. Und der war heute mit Sack und Pack, hässlichen Möbeln, nerviger Tochter und coolem Sohn bei uns eingezogen. Und deshalb flogen überall in unserem alten Haus fremde Klamotten, Bücher und unnützer Krempel rum. In unserem Flur hatten sie mit Umzugskisten und Kartons sogar die Alpen nachgebaut. Da war an Drüberkommen ohne Sauerstoffmaske und Rettungsseil nicht zu denken. Furchtbar. Als ob die alte Bruchbude nicht schon dank unserer hässlichen Sachen schäbig genug aussah. Jetzt müllten auch noch Fremde das Haus voll. Ganz grausam fand ich das. Und gefragt hatte mich natürlich auch niemand, ob die bei uns einziehen durften. Das hatte meine Mutter ganz alleine entschieden. Genauso wie sie mit der Aushilfsbarbie Jette heimlich ausgekungelt hatte, dass sie mein Zimmer kriegen sollte. Angeblich, weil nur mein Zimmer groß genug für Jette und ihre hochtrabenden Pläne war. Jette wollte Model werden und dafür benötigte sie natürlich ein Zimmer, das genug Platz bot, um affig Rumstolzieren zu üben. Daher sollte ich, der Modemuffel und Zwerg, in ein Loch ziehen. Direkt unter dem Dach. Wo es im Sommer knallheiß und im Winter prima zugig war, um wirklich das ganze Jahr über unglücklich zu sein.

„Kompromisse gehören in einer Familie dazu!“, redete Mutter ihren Verrat schön. Dabei war ich mir sicher, dass sie sich nur Jettes Freundschaft erschleichen wollte. Die hatte nämlich genauso wenig Lust dazu, mit uns zusammenzuziehen, wie ich mit ihnen.

Mein Zimmer abzugeben fand ich schlimm, aber noch mehr schockierte mich, dass meine Mutter dieses furchtbare Gebilde aus uns und irgendwelchen Leuten „Familie“ nannte. Das bedeutete nämlich nichts anderes, als dass wir nun wirklich und auch ganz offiziell, wie man so schön sagt, eine Patchworkfamilie waren. Patchworkfamilie. Blödes Wort. Ich fand, Hottentotten, Gefängnisinsassen oder Irrenhaus beschrieb uns besser. Aber die Behauptung, wir wären jetzt eine ganz moderne, coole Patchworkfamilie, brachte meine Mutter ganz aus dem Häuschen. Die fand alles irgendwie toll, was englisch klang.

„Mach auf, du blöde Kuh!“, schrie Jakob. Bom! Bom! Bom!

„Don’t say blöde Kuh!“, maßregelte Mutter meinen kleinen Bruder.

„Sag ich wohl!“, schrie der zurück. „Wegen der gibt es kein Abendbrot. Und ich will Abendbrot, weil du mir Würstchen und Pommes versprochen hast!“

„You will get your Würstchen soon!“ Mutter klang genervt. Dass Mutter mit meinem Bruder ein fürchterliches Englisch sprach, begründete sie übrigens mit Frühförderung. Sie wollte ihn zweisprachig großziehen. Zwar konnte der kleine Blödmann Förderung gebrauchen, aber den Versuch, ihm als Nicht-Muttersprachlerin Englisch beizubiegen, hielt ich für peinlichen Unsinn. Peinlich für uns alle! Schließlich stammelte sie ihn auch in der Öffentlichkeit lautstark auf Englisch an. So wie letztens in der total überfüllten Fußgängerzone: „No, Jakob. First we must go to the Shoppingcenter because Hannah needs a new … äh … Unterhose!“ Jedes Mal würde ich dann am liebsten sofort vor Scham und auf Nimmerwiedersehen im Boden versinken.

„Und wann kriege ich meine Würstchen?“ Mein Bruder begann die Verhandlungen.

„Soon.“

„Ich will die nicht bald. Ich will die jetzt!“

Ich will. Ich will. Ich will. Mein Bruder war die fleischgewordene Trotzphase. In der Regel durchleben Kinder ja verschiedene davon. Die normalerweise kommen und dann wieder gehen. Zum Luftschnappen für die Eltern, bevor die nächste Wutwelle anrauscht. Anders bei meinem Bruder. Der kam schon bockig auf die Welt und blieb so. Ein echter Stinkstiefel. Eine Dauertrotzphase mit Rotznase sozusagen. Frisch aus der Hölle geliefert.

Die Tür schepperte gegen meinen Sessel. Der begann zu schwanken. Sofort drückte ich meinen Rücken fest gegen die Lehne.

„Mach …“ Bom! „… endlich die …“ Bom! „… verdammte Tür auf!“ Bom! „Ich will …“ Bom! „… in mein Zimmer!“

„Hör auf, Jette. Du machst noch die Tür kaputt!“, hörte ich Hannes.

Papa ist vor knapp einem Jahr ausgezogen. Die Trennung meiner Eltern werfe ich Hannes nicht vor. Die waren im Grunde schon seit Ewigkeiten getrennt gewesen, ohne es zu merken.

Und außerdem war Hannes eigentlich ganz okay, fand ich. Etwas schweigsam vielleicht und etwas zu nachgiebig, was seine Tochter anging. Er war Wachs in Jettes Händen.

„Daddy, die Nervensäge blockiert nun mal die Tür. Was soll ich denn sonst tun, um in mein Zimmer zu kommen?“

„Ja, Schätzchen, das verstehe ich natürlich. Aber das geht bestimmt auch anders.“

„Ja, Schätzchen, das verstehe ich natürlich“, äffte ich ihn leise nach und stellte mir Jette vor, wie sie mit Augenklimpern und Hundeblick ihren Vater um den Finger wickelte, als wäre er eine Haarsträhne, ein Pflaster oder eine weich gekochte Nudel.

„Lasst sie doch einfach in Ruhe. Schließlich ist das ihr Zimmer“, sagte David ruhig. David war der große Bruder von Jette und mindestens die coolste Sau des Universums. Der trug Schlabberklamotten, spielte in einer Rockband, sah teuflisch gut aus und war, seitdem wir uns kannten, nett zu mir. David hatte bereits Mutters ehemaliges Büro bezogen. Es war zwar eher klein, aber das machte David nichts aus. Er hatte eh nur ein Bett, eine Lampe, eine große Truhe, einen Sack voll Wäsche und seine Gitarre inklusive Verstärker reingewuchtet und war fertig. Sein Zimmer lag direkt neben meinem.

„Das ist nicht ihr Zimmer, sondern meins!“, protestierte Jette und Mutter sagte nur: „Lassen wir ihr einfach noch etwas Zeit und gehen runter essen. Come on, Jakob. Let’s go downstairs eating Würstchen and Pommes.“

Und mir wurde mal wieder klar, dass die zukünftigen Englischlehrer meines Bruders Jahre brauchen würden, um dieses Kauderwelsch aus seiner Birne zu hämmern. Viel Spaß dabei. Schritte entfernten sich und meine Belagerer polterten die alten, knarrenden Stufen runter.

Ich ließ meinen Blick über das Chaos in meinem Zimmer wandern. Es sah aus, als wäre auch ich gerade erst hier eingezogen und hätte noch keine Zeit dazu gefunden, meinen Krempel in den Schrank oder die Regale zu räumen. Die waren nämlich leer. Was man vom Fußboden oder von meinem Bett nicht behaupten konnte. Aber wozu sollte ich jetzt noch aufräumen? Irgendwann würde ich die Barrikade vor der Tür ja doch abbauen müssen.

Mein Zimmer lag im ersten Stock. Die nächsten Jahre Tag für Tag aus dem Fenster raus- und reinzuklettern, war kaum zu machen. Vor allem nicht vor dem Urlaub mit dicken Koffern und so. Da käme ich nie heil runter und vor allem nicht wieder hoch. Und bescheuert sähe das mit Sicherheit auch aus. So mit Koffern im Baum. Aber zumindest wollte ich Barbie noch so lange nerven, wie es nur eben ging. Und zwar aus Prinzip. Nicht weil ich sie nicht leiden konnte.

Entfernt hörte ich dumpfes Geschnatter. Vorsichtig stand ich auf. Mein Zimmer lag direkt über der Küche und der alte Holzfußboden knarzte, wenn man auf die falschen Dielen trat. Ich wollte aber kein Lebenszeichen von mir geben. Sonst hätte ich die Bagage gleich wieder am Hals gehabt. Ich schlich zu meinem Schreibtisch, der gleich vor dem Fenster stand, damit ich den Himmel und den Garten sehen und mich beim Hausaufgabenmachen leichter ablenken und träumen konnte. Ich nahm meinen Schreibtischstuhl und trug ihn zur Tür. Dann schob ich so leise wie möglich meinen dicken Sessel ein wenig zur Seite und verkeilte die Tür zusätzlich mit dem Stuhl, indem ich die Lehne unter die Klinke klemmte. Mein Zimmer war damit verriegelt. Dann sah ich auf meine Armbanduhr. Kurz nach halb sieben. Die Sonne war längst untergegangen. Regentropfen liefen wie dicke Tränen die Fensterscheiben hinunter. Der alte Pflaumenbaum im Garten bog sich ächzend im Wind. Das Wetter draußen passte zum Trauerspiel drinnen.

Ich wartete noch locker eine Stunde. Zwischendurch bollerte immer mal wieder jemand gegen die Tür. Mal heftiger (Jette), mal vorsichtiger (Mutter). Aber ich blieb stumm. Rührte mich nicht. Ich hatte mich auf mein großes Bett zurückgezogen und hörte Musik über Kopfhörer.

In gut einer halben Stunde musste ich bei Lore sein, meiner besten Freundin. „Notfall!“, hatte sie heute Nachmittag in ihr Handy gebrüllt. „Um acht bei mir!“ Dann hatte sie aufgelegt. Was war schon wieder passiert? Bestimmt irgendwas mit Thomas. Thomas ist Lores Freund. Und die beiden führten die chaotischste Beziehung aller Zeiten. Die funktionierte wie ein Lichtschalter. Licht an. Licht aus. Beziehung an. Beziehung aus. Ein Chaos. Bevor man sie live vor sich sah, wusste man nie, ob die beiden gerade glücklich verliebt aneinanderklebten oder ob sie sich hassten wie Fußballer Ballett oder Topflappen häkeln. Zwar wollte Mutter nicht, dass ich so spät noch aus dem Haus ging, ohne ihr Bescheid zu sagen, aber das war mir egal. Daher zog ich mir leise meine ausgelatschten Chucks an und schlüpfte in meinen Parka. Ich schnappte mir einen Rucksack, warf mein Handy rein, öffnete das Fenster und setzte mich aufs Fensterbrett. Sofort kam mir etwas entgegengeflogen. Vor Schreck wäre ich um ein Haar rückwärts ins Zimmer gekippt. Ich ruderte mit den Armen, bis ich das Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Sanft landete meine Katze neben mir auf dem Fensterbrett.

„Mensch, Rhea! Hast du mich erschreckt.“ Sie sah mich an und schnurrte.

Rhea hatten wir aus einem Italienurlaub mitgebracht. Sie ist dreifarbig, was bedeutet, dass sie eine Glückskatze ist. Und Glück konnte ich nun wirklich brauchen. Rhea hüpfte vom Fensterbrett ins Zimmer und machte es sich auf dem Bett gemütlich.

Aus dem Küchenfenster unter mir drangen Stimmen. Ich konnte eindeutig Jakob maulen hören, der laut einen Nachtischnachschlag einforderte. Das Licht aus der Küche ließ die nassen Äste des Pflaumenbaums funkeln. Vorsichtig schubste ich den Rucksack vom Fensterbrett. Er plumpste auf den nassen Rasen.

Meine Beine baumelten über dem Abgrund. Obwohl ich schon oft so aus meinem Zimmer geflohen war, kribbelte es wieder in meinem Magen. Ich bin absolut kein Feigling und in Sport bin ich auch ziemlich gut, aber im Dunkeln aus dem Fenster zu hechten und einen der glitschigen Äste zu packen, war nicht ohne. Vor allem weil unser Pflaumenbaum echt in die Jahre gekommen war. Langsam rutschte ich auf dem Fensterbrett noch ein paar Zentimeter nach vorne, bis ich mich mit den Füßen von der Hauswand abstoßen konnte. Ich visierte einen Ast an und sprang. Zwei, drei kleine Zweige schlugen mir ins Gesicht. Ich musste die Augen schließen, verfehlte mein Ziel und griff ins Leere. Krachend sauste ich nach unten und nahm ein paar Zweige mit. Dann erwischte ich einen dicken Ast und fing mich ab. Das war knapp gewesen. Ich schnaufte und lauschte. Die Gespräche in der Küche waren verstummt. Hastig angelte ich mit den Füßen nach einem Halt und kletterte um den Baum herum. Ich presste mich gegen den Stamm und sah, wie das Küchenfenster geöffnet wurde.

„Das war mit Sicherheit nur Hannahs Katze“, hörte ich die Stimme meiner Mutter. Dann schloss sie das Fenster wieder und ich wagte den Abstieg.

Unten angekommen zog ich mir meine Kapuze über. Der Regen wurde stärker. Vorsichtig warf ich noch einen Blick durchs Küchenfenster. Weil die eine Seite von Kartons blockiert wurde, drängte sich die neue „Traumfamilie“ an einer Seite des langen Tischs. Ein bisschen sah es so aus, als wollten sie das letzte Abendmahl nachstellen. Mit Blondchen Jette als Jesus in der Mitte. Die alte Küchenlampe ließ ihr Haar glänzen, als trüge sie einen Heiligenschein. Sie plauderten, futterten Nachtisch und sahen tatsächlich wie eine richtige Familie aus. Jette stocherte im Pudding rum, als wollte sie die Kalorien darin erstechen.

Ich schnappte mir meinen Rucksack und machte mich auf den Weg zu meinem Fahrrad – einem alten, schwarzen, tonnenschweren Hollandrad, das meiner Oma gehört hatte. Es war schon ziemlich kaputt. Die Schutzbleche klapperten, der Lenker war locker und einen Ständer hatte es auch nicht mehr. Aber das alte rostige Biest gefiel mir. Es hatte Charme. Und außerdem musste ich es nicht abschließen. Das Ding klaute keiner. Und wenn doch, dann kam der Dieb nicht weit, weil alle paar Minuten die Kette absprang. Man musste ganz sanft und langsam treten. Rasen ging damit nicht.

Lore wohnte nur ein paar Straßen weiter. „Ich wohne im Fuck-you-Haus“, behauptete Lore immer, wenn man sie fragte, woher sie komme. Dann lachte sie sich kaputt. Lore lebte mit ihrer Familie in einem großen Hochhaus, das umringt war von vier weniger hohen, sodass Lores Haus tatsächlich aussah wie ein ausgestreckter Stinkefinger. Wie einer, der bis in die Wolken reichte. Ein kilometerweit sichtbares Fuck you.

Was aber eigentlich gar nicht zu Lores Familie passte. Denn Familie Ley war extrem gastfreundlich und großzügig. Obwohl sie insgesamt zu acht waren und kaum Geld hatten, freuten sie sich immer über Besuch. Da war wirklich jeder Tag ein Tag der offenen Tür. Manchmal knubbelten sich bis zu zwanzig Leute in ihrer Bude. Dann wurde gespielt, gequatscht und selbst gebackener Kuchen gefuttert.

Als ich bei Lore ankam, war ich klitschnass und fror. Ich ließ das Fahrrad ins Gebüsch fallen, rannte zum Eingang und klingelte Sturm.

„Ja?“, blecherte eine sehr junge Jungenstimme durch die Gegensprechanlage.

„Ich bin’s, Hannah. Mach auf!“

„Hannah? Kenn ich nicht.“ Es wurde gekichert. Dann hörte ich Lores Stimme: „Hey, Charly“, sagte Lore zu ihrem kleinen Bruder, „drück die Tür auf. Sofort.“

Jungs sind sowieso behämmert, aber was ihren Humor angeht, sind sie echt auf dem Stand von Neandertalern. Und zwar egal, wie alt sie sind.

Charly war meiner Schätzung nach etwa fünf Jahre alt und hatte noch zwei ältere und zwei jüngere Brüder. Alfons, Bert, Dirk und Emil. Lores Eltern hatten ihre Söhne nach der Reihenfolge ihrer Produktion benannt. Und zwar streng nach Alphabet. Was bedeutete, dass Alfons der älteste, Bert der zweitälteste und Emil der jüngste von Lores Brüdern war. Eigentlich hätte man sie aber auch einfach nur durchnummerieren brauchen. 1, 2, 3, 4, 5. Die waren nämlich ein bisschen wie meine Katze. Die hörten eh nie und auf ihren Namen schon mal gar nicht. Also konnte man sich den eigentlich auch sparen.

Der Türöffner summte und ich drückte die Tür auf. Der Flur war leer. Verschiedene Fernseher plärrten durch das Treppenhaus. Von oben hörte ich jemanden wütend schreien. Ich hoffte sehr, er schrie den Fernseher an.

Immer wenn ich dieses riesige Haus betrat, das schon seit Ewigkeiten eine Renovierung gebrauchen konnte, gruselte es mich. Das Licht war grell und kalt. Der Putz bröckelte von der Decke und die Wände waren mit hässlichen Graffiti versaut. Ich mag Graffiti, aber nur gut gemachte. Es roch irgendwie komisch – nach alten Tennissocken, Keller und Kohl. Vielleicht kochte jemand einen Tennissocken-Kohleintopf im Keller? Ich meine, in diesem Haus lebten locker mehrere Hundert Familien. Dieses Haus war eine Stadt mit über tausend Einwohnern. Und alle hatten sicherlich einen anderen Geschmack.

Ich lief zu den Fahrstühlen. Es gab drei Stück und Gott sei Dank war einer von ihnen da und leer. Ich huschte hinein und drückte auf den Knopf mit der Nummer 20. Als die beiden Türhälften zusammenknallten und der Fahrstuhl sich ruckelnd in Bewegung setzte, atmete ich erleichtert aus. Ich hasste es, mit irgendwelchen komischen Typen allein im Fahrstuhl rumzustehen. Da wusste ich immer gar nicht, wo ich hinschauen sollte und ob die nicht vielleicht total verrückte Mörder waren. Im Fuck-you-Haus jedenfalls lebten definitiv ein paar ganz schräge Typen mit heftigen Problemen.

Quietschend zuckelte der Fahrstuhl im Schneckentempo aufwärts. Vor jeder Etage hielt ich den Atem an und pustete erleichtert aus, wenn der Fahrstuhl weiterfuhr und nicht anhielt, um meinen Mörder reinzulassen.

Ich wusste schon, dass das total übertrieben war. Normalerweise bin ich kein Feigling. Wirklich nicht. Aber dieser Fahrstuhl sah aus wie aus einem Horrorfilm. Und zwar aus so einem, in dem man die blöden Schauspieler die ganze Zeit anbrüllen will: „Geht nicht in den Fahrstuhl, ihr Idioten! Ihr werdet alle draufgehen!“ Fahrstuhl des Grauens. Wäre ein Eins-a-Titel.

Ping! Angekommen. Puh. Scheppernd öffnete sich die Tür und ich huschte aus dem Blechgefängnis. Das Licht im Gang war aus. Nur ein Notausgangschild tauchte den hinteren Bereich des Flurs in ein schwach grünes Licht. Ich ging um die Ecke und sah Lore in der geöffneten Wohnungstür stehen. Emil und Dirk quetschten sich neben sie und grinsten.

Kaum dass ich in der Wohnung stand, hatte ich die Jungs an meinen Armen hängen. Beide trugen bereits ihre Schlafanzüge. Emil einen mit Bärchen drauf und Dirk einen mit Superhelden. Den Schlafanzügen sah man an, dass Emil und Dirk nicht ihre ersten Besitzer waren. Sie waren an den Knien ausgebeult und an den Ärmeln abgewetzt.

„Liest du uns was vor?“, fragte Emil und schaute mich mit großen Augen an.

„Nix da“, sagte Lore streng. „Die Hannah brauch ich heute ganz allein für mich!“ Dann schob sie die beiden in ihr Zimmer. „Ihr müsst jetzt schlafen. Mama liest euch gleich noch was vor.“

„Guten Abend, Hannah.“ Lores Mutter lehnte in der Küchentür und leckte sich Butter von den Fingern.

„Willst du was essen?“, fragte sie mich. „Es steht noch alles auf dem Tisch.“

„Nein, danke“, antwortete ich, obwohl ich schon ein bisschen Hunger hatte. Mein Abendessen war ja leider ausgefallen. Aber ich war einfach zu gespannt, was Lore mir zu erzählen hatte. Und ich bezweifelte, dass sie mir den Notfall auch am Küchentisch erzählen würde, wenn ihre Mutter bei uns saß. Außerdem hatte ich noch ein paar Schokoriegel im Rucksack. Das würde reichen.

Lore packte mich am Arm und zog mich durch den langen Flur. Schuhe, Taschen und Spielzeug ließen nur eine kleine Schneise zum Gehen. Man musste aufpassen, nicht zu stürzen oder etwas zu zertrampeln. Wir kamen auch am Zimmer von Alfons und Bert vorbei, aus dem lautstark Musik wummerte. Lore klopfte gegen die Tür und rief: „Leiser machen! Nebenan wird geschlafen!“ Sofort verstummte die Musik. Im Wohnzimmer lag Lores Vater auf der Couch und schnarchte.

In ihrem Zimmer angekommen, schloss Lore hinter uns ab. Sie hatte als einziges Kind der Leys ein eigenes Zimmer. Weil sie ein Mädchen war. So gesehen war es toll, dass sie nicht auch noch eine Schwester hatte. Obwohl – irgendwie hatte sie ja doch eine Schwester. Mich. Denn seitdem ich denken konnte, hingen wir beide zusammen rum. Wir waren im selben Kindergarten gewesen, in dieselbe Grundschule gegangen und auch jetzt drückten wir noch Seite an Seite die Schulbank.

Da war es völlig logisch, dass wir uns nicht nur als beste Freundinnen, sondern als Schwestern bezeichneten. Lore knipste das Licht an. Ihr Zimmer war wie immer blitzblank sauber und aufgeräumt. Lore war der ordentlichste Mensch, den ich kannte. Ihr Zimmer sah immer so aus, als käme gleich die Queen von England auf eine Tasse Tee und Gebäck vorbei. Lore brauchte das. Als Gegenpart zum Chaos vor ihrer Tür. Lore setzte sich aufs Bett.

„Schwesterherz, ich hab ein Problem“, ächzte sie.

Ich setzte mich neben sie. „Lass mich raten: Es geht um Thomas?“

Sie ließ sich rücklings aufs Bett fallen. Ich verstand.

„Es geht also um Thomas. Was ist denn jetzt schon wieder passiert?“

Lore griff sich ihr Kopfkissen und knallte es sich aufs Gesicht.

Ich hob das Kissen etwas an.

„Was ist los?“

Meine Aufgabe lautete bei solchen Gesprächen grundsätzlich: Ruhe bewahren und beschwichtigen, dass alles nicht so schlimm ist. Ich sollte vielleicht erwähnen, dass Ruhe bewahren und beschwichtigen für gewöhnlich nicht meine größten Talente sind. Aber wenn es um Lore und Thomas ging, blieb mir gar nichts anderes übrig. Einmal war ich ebenfalls auf hundertachtzig und auf Vergeltung aus gewesen. Mit dem Resultat, dass wir anschließend zwei Tage mit Rauchvergiftung im Krankenhaus lagen. Zwei hysterische, komplett am Rad drehende Mädels sind kein gutes Team. Zumindest eine von beiden sollte immer auch ihren Verstand benutzen. Mädels haben ja wenigstens einen.