Jürgen Habermas - Walter Reese-Schäfer - E-Book

Jürgen Habermas E-Book

Walter Reese-Schäfer

4,2

Beschreibung

Jürgen Habermas ist der international bedeutendste lebende Philosoph Deutschlands, der mit seiner Diskurstheorie einen der wichtigsten Beiträge zur Gegenwartsphilosophie geleistet hat. Er verkörpert darüber hinaus die Figur des kritischen Intellektuellen, der engagiert in gesellschaftliche Debatten eingreift, wenn er sie nicht - wie etwa den "Historikerstreit" der achtziger Jahre - selbst auslöst. In seinen Analysen zum philosophischen Diskurs der Moderne und in seiner kritischen Gesellschaftstheorie zeigt er, worin der normative Gehalt der Moderne besteht.

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Jürgen Habermas
Reese-Schäfer, Walter
Campus Verlag
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
9783593400204
Copyright © 2001. Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
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|7|Siglen

Die am häufigsten zitierten Schriften von Habermas werden mit Siglen belegt und im Text mit Siglen und Seitenangabe zitiert. Wo nicht anders vermerkt, ist der Erscheinungsort Frankfurt/M. (Suhrkamp Verlag). Wenn veränderte Neuausgaben vorlagen, wurden jeweils diese benutzt.

AS

Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften VI, 1987

BES

Bestialität und Humanität. Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral, in: Reinhard Merkel (Hg.), Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, 2000, S.51–65

EA

Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, 1996

FG

Faktizität und Geltung, 1992 (4.Aufl. 1994)

JN

Jenseits des Nationalstaats? Bemerkungen zu Folgeproblemen der wirtschaftlichen Globalisierung, in: Ulrich Beck (Hg.), Politik der Globalisierung, 1998, S.67–84

KPS

Kleine Politische Schriften I-IV, 1981

MkH

Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 1983 (2., veränderte Ausgabe 1984)

MS

Moralität und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwände |8|gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: W. Kuhlmann (Hg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, 1986, S. 16–37

NB

Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine Politische Schriften VIII, 1995

ND

Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, 1988

NU

Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, 1985

PDM

Der philosophische Diskurs der Moderne, 1985

PK

Die postnationale Konstellation. Politische Essays, 1998

PPP

Philosophisch-politische Profile, 1971 (erweiterte Ausgabe 1981)

SI

Staatsbürgerschaft und nationale Identität. Überlegungen zur europäischen Zukunft, St. Gallen 1991

ST

Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchung zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990.

TkH

Theorie des kommunikativen Handelns, 1981 (Bde. 1 und 2)

VE

Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, 1984

WR

Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, 1999

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|9|Einleitung

»Ich bin kein Weltanschauungsproduzent,

ich möchte tatsächlich ein paar kleine

Wahrheiten produzieren, nicht die eine

große Wahrheit.« (NU 207)

Habermas ist im Laufe der Jahre in die Rolle des repräsentativen Philosophen der Bundesrepublik Deutschland hineingewachsen. Er ist so etwas wie ein praeceptor germaniae, ein Lehrer Deutschlands, geworden, weil er die Reflexion über die Vergangenheitsbewältigung mit seinen Initiativen und Interventionen wesentlich bestimmt hat. Andere haben ihm deshalb den Ehrentitel eines »Philosophen der re-education« verliehen, der eine auf den universalistischen Prämissen der Aufklärung basierende Erziehungsfunktion in Deutschland übernommen hat und schon früh für die Westbindung eingetreten ist.1 Für sich selbst hätte er gern in Anspruch genommen, dass Philosophen nicht die Lehrer der Nation seien.2 Das ist eine chancenlose Bescheidenheit in den frei fließenden öffentlichen Diskussionen einer institutionenarmen Zivilgesellschaft, die als einzige Orientierungs- und Kontrollmöglichkeit im Meinungsmarkt der Beiträge über die Prominenz ihrer Urheber verfügt. |10|Der Meinungskonsument greift gern wieder auf die vertraute Markenqualität zurück.

Hinter diesem politisch eingreifenden Habermas steht ein Soziologie und Philosoph, dessen Bücher in den Universitätsbuchhandlungen von Paris bis Boston, von London bis Rio de Janeiro nicht irgendwo in den Regalen stehen, sondern auf den Präsentationstischen ausliegen und in den Seminaren behandelt werden. Vor allem sind es der frühe brillante Entwurf über den Strukturwandel der Öffentlichkeit (seitdem redet man an englischsprachigen Universitäten von der public sphere) und die Theorie des kommunikativen Handelns, die die Phantasie von Nachwuchswissenschaftlern und Studentengenerationen seit dreißig Jahren bewegt haben. Seine Grundbegriffe wie Öffentlichkeit, Diskurs, kommunikatives Handeln, Lebenswelt, deliberative Politik und Zivilgesellschaft haben allesamt eine umfangreiche Diskussion erfahren. Seine Diskursethik ist in einer angeblich postmoralischen Zeit ein neuer Anstoß zu Moralbegründungsversuchen gewesen, seine Zeitdiagnose von der Kolonialisierung der Lebenswelt ist zum argumentativen Rüstzeug sozialer Bewegungen geworden. Und vor allem: Er hat nicht nur wissenschaftlich über die Öffentlichkeit geschrieben, sondern gleich selbst deren Rolle übernommen und zu den verschiedensten politischen Fragen entschieden Stellung bezogen.

Bis Ende der siebziger Jahre hat Habermas als Philosoph seine »Ausbildung vor dem Publikum« absolviert. Noch 1974 stand er »erst am Anfang der eigentlichen Theorie«.3 Erst mit der zweibändigen Theorie des kommunikativen Handelns |11|(1981) liegt eine ausgearbeitete Gestalt seines Werkes vor. Einst so zentrale Arbeiten, die vorübergehend sogar als »Hauptwerk« galten, wie Erkenntnis und Interesse (1968), verblassen vor dem heutigen Stand seiner Theorie zu Frühschriften. Die in den siebziger Jahren in hundertfachen Kopien zirkulierenden Aufsätze zur »Universalpragmatik« und zur »kommunikativen Kompetenz« sind heute als das erkennbar, was sie von Anfang an waren: als Vorstudien. Diese Arbeiten wurden denn auch später (1984) als Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns abgedruckt.

Meine Einschätzung und Behandlung seiner Frühschriften entspricht Habermas’ Selbstdeutung. Für Erkenntnis und Interesse hat er nie mehr als den Stellenwert eines Prolegomenons beansprucht. Ursprünglich sollten zwei Bände zur Entwicklung der analytischen Philosophie folgen. Diesen Plan gab er auf, denn erstens setzte damals eine Kritik und Selbstkritik des szientistischen Denkens ein, die Habermas’ Intentionen weitgehend entsprach; zweitens ergab die unerwartete intensive und breite Diskussion von Erkenntnis und Interesse, dass er seinen Grundansatz revidieren musste. Seit Anfang der achtziger Jahre hat er die Wendung zur Sprachphilosophie, den linguistic turn nachvollzogen, der das philosophische Denken der letzten Jahrzehnte revolutioniert hat. Welt- und politikferne Sprachimmanenz, wie sie aus den engen Diskussionszirkeln der Universität Cambridge sich entwickelt hat, ist Habermas allerdings fremd: Er ist politischer Philosoph geblieben.

|12|Philosophisch geschulte Leser haben die sprachphilosophische Wende sofort erkannt, z. B. Herbert Schnädelbach in seiner Arbeit »Transformation der kritischen Theorie«.4 Für die meisten fachlichen wie außerfachlichen, studentischen wie professoralen Leser behielten die beiden in der Erstausgabe dunkelblauen und ziegelsteingroßen Bände der Theorie des kommunikativen Handelns jedoch die Aura eines »Buchs mit sieben Siegeln«. Dazu mag beigetragen haben, dass es mehr noch als die übrigen Werke von Habermas ein »work in progress« ist. Seine eigene Theorie bildet sich erst in und während der Auseinandersetzung mit seinen Quellen, von denen George Herbert Mead, Emile Durkheim und Talcott Parsons im Wesentlichen nur der soziologischen Fachöffentlichkeit vertraut waren. Ein weiterer Punkt kommt hinzu: »Was sich in den Schwierigkeiten meiner Texte spiegelt, sind selbstverständlich auch eigene Unklarheiten. Das ist gar keine Frage.« (KPS 526) Obwohl er sich in kürzeren Texten oft als mitunter glänzender Stilist erwiesen hat, erschweren in diesen Bänden auch Umständlichkeiten seiner Fachprosa den Zugang. Er selbst rechtfertigt diese Barriere damit, dass er das Buch ausdrücklich für ein Fachpublikum geschrieben habe (TkH I 10). Es ist selbstverständlich Aufgabe einer Einführung, hier vermittelnd zu wirken.

Jürgen Habermas ist also kein »leichter« Autor. Ein ehemaliger Philosophiestudent erzählt dazu folgende Anekdote:

»1966 in Frankfurt: Ich entsinne mich, wie einer der Kommilitonen im überfüllten größten Hörsaal der Universität Jürgen Habermas’ Vorlesung unterbrach mit der Bitte, ob er nicht doch etwas unkomplizierter sprechen könne, es sei so schwer, ihn zu begreifen. Eine Hälfte des Auditoriums applaudierte. Er verspreche, sein Bestes zu tun, erwiderte Habermas, um verstanden zu werden. Daraufhin buhte die andere |13|Hälfte. Denjenigen, die jetzt gebuht hätten, könne er versichern, meinte der junge Habermas weiter, seine guten Absichten würden ganz gewiß scheitern.«5

Sprachlich den Anschluss zu schaffen zwischen den entwickeltsten und durchdachtesten Formen der gegenwärtigen Sozialwissenschaften und philosophischen Denkansätzen – das ist es, worauf Habermas hinauswill. Seine Methode geht darauf aus, verschiedene Theoriesprachen kompatibel zu machen. In diesen sprachlichen Umformungsprozessen der Theoriemassen geht ihm der rote Faden nie verloren – wohl aber vielen Lesern. Der Mangel vieler Bücher, Aufsätze und Vorträge zu Habermas besteht darin, dass sie für seine Vorgehensweise kein Verständnis entwickeln und sich zufrieden geben mit dem bloßen Nacherzählen von Theorieversatzstücken, die dadurch nicht zugänglicher werden. Solche Veröffentlichungen verlangen dann entweder eine gewisse Gläubigkeit, oder sie üben eine nur scheinbar überlegene, in Wirklichkeit aber dogmatische Kritik an Habermas. Vor allem die erste Rezeption seiner Werke war durch solche Arbeiten gekennzeichnet.

Mittlerweile ist der Zeitpunkt günstig, eine Gesamtdarstellung seiner verschiedenen Theorieansätze zu wagen, nachdem er sein neues Paradigma des kommunikativen Handelns zwanzig Jahre lang verschiedenen Bewährungsproben und argumentativen Tests hat aussetzen können. Und vor allen Dingen: In Faktizität und Geltung sowie in Die Einbeziehung des Anderen hat Habermas nun auch eine Theorie der Grundrechte, des politischen Handelns und der Menschenrechte vorgelegt, wie sie von seinen Anhängern so lange vermisst worden war. Jenen Habermas-Lesern, die sich vor allem an früheren Veröffentlichungen orientiert haben und die sein heutiges Denken befremdet, hoffe ich auf zweierlei Weise helfen zu können: einmal |14|durch den Aufweis, warum der Paradigmenwechsel erforderlich war, und zweitens durch den Hinweis auf die Grundintentionen und Motive seines Denkens, die nach der linguistischen Wende (wenn auch umformuliert) erhalten geblieben sind – seine Vorstellung, mit soziologischen Mitteln philosophische Probleme auflösen zu können, seine emanzipatorisch-demokratischen politischen Ziele und seine Orientierung an einem sehr westlich gedachten Marxismus. Hatten viele nach der Veröffentlichung der Theorie des kommunikativen Handelns gedacht, nun würde Habermas ein umfassendes eigenes Theoriesystem vorlegen, so ist heute klar: Es ist bei einem beeindruckend vielfältigen, aber letztlich nicht systematisch geschlossenen Werk geblieben. Habermas selbst war sich als Hegel-Kenner ohnehin immer bewusst, dass jedes philosophische System zum Scheitern verurteilt sein würde. Bis zum Schluss bleibt alles revisionsoffen. Noch in seinem neuesten Buch Wahrheit und Rechtfertigung hat Habermas ein Kernstück seines bisherigen Diskursdenkens, nämlich die Konsenstheorie der Wahrheit, erneut durchdacht und knüpft nun wieder stärker an den überschießenden Gehalt der klassischen radikalen Wahrheitstheorie an.

Habermas’ Bezug auf Karl Marx wurde in den sechziger und siebziger Jahren (außer von seinen konservativen Gegnern) meist deshalb unterschätzt, weil im Gefolge der Studentenbewegung – auch in deren nach eigenem Anspruch undogmatischen Teilen – striktere marxistische Theorieversionen kursierten, vor deren Hintergrund er eher als bürgerlicher Sozialphilosoph erschien. Die heutige Theoriemode hat Marx soweit eliminiert, dass man geneigt ist, die häufigen Bezüge auf ihn leichthin zu überlesen. Um Habermas wirklich zu verstehen, muss man dieses Moment aber im Auge behalten. In der Folgezeit hat er Schritt für Schritt weitere Theorieelemente aufgenommen und kritisch verarbeitet: vor allem die Soziologie Max Webers und Talcott Parsons, die sprachanalytische Philosophie, den amerikanischen |15|Pragmatismus und deren Verbindung zur Sprachpragmatik. Aber auch von zunächst »gegnerischen« Lehren wie der Wissenschaftstheorie Karl Poppers, der Systemtheorie, Richard Rorty und der Postmoderne hat er wesentliche Argumente aufgenommen, wenn sie denn in sein Denken zu integrieren waren. Gerade der Verzicht auf ein eigenes System hat diese Rezeptions- und Anschlussleistung ermöglicht und zugleich auch die Ausstrahlung seines Denkens bis hin zur Pädagogik und Theologie ermöglicht.

Habermas’ Denken lässt sich auch als Abfolge von großen Debatten verstehen: vom Positivismusstreit (1961–1968) über die Linksfaschismusdiskussion mit Rudi Dutschke und dem SDS (1967/68), die Habermas-Luhmann-Kontroverse (1971), die Kritik der Postmoderne (1980–85) bis hin zum Historikerstreit (1986/87), seiner Kritik am D-Mark-Nationalismus (1989/90)6 und der Auseinandersetzung über die Gentechnologie mit Peter Sloterdijk (1999). All diese Debatten wurden in Seminaren, Symposien, Kolloquien und Arbeitsgruppen nachvollzogen. Mit einem »Vive le Streit!« hat ihm Pierre Bourdieu deshalb zum siebzigsten Geburtstag gratuliert.7 Im Rückblick stellen sie sich zum Teil durchaus anders dar als aus der Perspektive des engagierten Zeitgenossen. Erlebte man damals den Kampf des überlegenen kritischen Theoretikers gegen den Technizisten Luhmann, so erscheint diese Debatte heute eher als Lernprozess von Habermas, der durch die präzisen Einwände Luhmanns erst auf den Weg gebracht wurde, die Prämissen seiner Gesellschaftstheorie nochmals zu überdenken, |16|seine geschichtsphilosophischen Glaubensreste endgültig aufzugeben und den entscheidenden Schritt zur Theorie des kommunikativen Handelns zu tun. Luhmann dagegen hatte nach dieser Debatte an seiner Theorie nichts zu verändern. Das mag an seinem Starrsinn liegen, möglicherweise aber auch daran, dass sein Konzept den damaligen Einwänden hatte standhalten können. Habermas dagegen hat sich den Systembegriff auf ebenso interessante wie produktive Weise zu eigen gemacht. Er hat diesen Begriff für seine eigenen Zwecke umgekrempelt und immer die kritische Distanz zu systemischen Elementen bewahrt, aber er hat sie in sein eigenes Denken intergriert. Diese Debatte endete nicht mit der Ausgrenzung eines der beiden Kontrahenten, sondern in der Nebeneinanderordnung von System und Lebenswelt. Und auch die Debatte über den DM-Nationalismus ist ganz anders ausgegangen, als man hätte erwarten können, den inzwischen reflektiert Habermas über die Frage, wie man die demokratischen und sozialen Elemente des Nationalstaats im Europäisierungs- und Globalisierungsprozess retten könnte. Immer wieder betont er die besonderen Leistungen des europäischen Nationalstaats gerade auch aus einer Perspektive der kritischen Linken, die nicht einfach aufgegeben werden dürfe (EA 128ff.).

Peter Sloterdijk ist sogar so weit gegangen, das Ende der kritischen Theorie zu verkünden, weil er hinter den vielen Debatten das elementare Bedürfnis nach Denunziation zu erkennen meint, einen ideologiekritischen Denkstil, der niemals nach dem möglichen Wahrheitsgehalt der Argumente des Gegners fragt, sondern allein nach den diesem zu unterstellenden bösen Absichten. Sloterdijk entstammt der Generation der Studentenbewegung von 1968 und war nicht bereit, das, was er als Denunziation empfand, einfach zu akzeptieren. Sloterdijk stellte sich in seiner Gegenpolemik gegen Habermas in die Tradition Heinrich Heines und seiner Schrift über jenen Denunzianten Wolfgang Menzel, der das Junge Deutschland wegen umstürzlerischer |17|Absichten bei der Obrigkeit angeschwärzt hatte. Er bestand darauf, dass nicht nur über ihn geredet werden dürfe, sondern dass man ihn selbst anhören müsse. Sein Anspruch war: Über Dinge kann man vielleicht reden, mit konkreten Personen aber muss man sprechen. Andernfalls kommt es zu dem, was in Adornos Seminaren gelegentlich »die Rache der Dinge« genannt wurde: Das Ding beginnt zu sprechen und sich zu wehren.8 Zwar hatte Sloterdijk sich durchaus angreifbar zum Thema Gentechnologie geäußert, aber bei vielen Beobachtern und auch linken Leitartiklern zeigte sich eine gewisse Sympathie mit ihm – wohl aufgrund einer antiautoritären Grundhaltung, die sich nunmehr auch gegen die überlegenen und ein wenig herrisch wirkenden Gesten des Repräsentativphilosophen richtete.9 Ob sich hier schon ein Niedergang der vorherrschenden Rolle von Habermas in der deutschen intellektuellen Öffentlichkeit abzeichnet, bezweifle ich. Es handelt sich wohl eher um die Rebellion gegen eine übermächtig gewordene Autorität, die gerade dann, wenn der Gegner selbst kein Großintellektueller wie Luhmann oder Martin Walser ist, sondern eher die Rolle eines David gegen Goliath spielen kann, diesem einige Sympathien einträgt.

Zur Biographie – Habermas (geb. 1929) ist im rheinländischen Gummersbach aufgewachsen. Sein Vater war Leiter der Industrie- und Handelskammer, sein Großvater war dort Seminardirektor und protestantischer Geistlicher gewesen. Das bürgerlich-protestantische Milieu innerhalb einer ansonsten vorwiegend katholischen Gegend hat ihn bis heute geformt: Seine Bereitschaft zum Konflikt, zur Stellungnahme und Parteilichkeit |18|entspricht dieser Herkunft sehr genau. Eine marxistische Buchhandlung am Ort hat ihn früh mit entsprechender Literatur versorgt, sodass eine seiner ersten umfangreichen Arbeiten aus dem Jahre 1957 ein Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus war, der später in der Studentenbewegung vielfach als Einstig in die anfangs schwer zu beschaffende marxistische Literatur gelesen wurde.10 Von Anfang an war es ein westlicher Marxismus, der ihn prägte. Die Pariser Manuskripte von Marx mit ihrer Theorie der Entfremdung, also dessen noch unorthodoxe Frühschriften, der sozialdemokratisch-antitotalitäre Marxismus eines Iring Fetscher, und natürlich das marxistische Ketzertum von Ernst Bloch stellte er gegen die fragwürdigen parteioffiziellen Doktrinen, die seinen intellektuellen Ansprüchen nicht genügen konnten. Nachdem er einige Polemiken gegen Heidegger in der FAZ und einige eher soziologische Artikel im Merkur veröffentlicht hatte, wurde Theodor W. Adorno auf ihn aufmerksam und stellte ihn 1956 als Assistenten ein. Sein erstes Projekt war das theoretische Vorwort zu dem empirischen Projekt Student und Politik.11

Danach kam es zu einem massiven Konflikt mit Max Horkheimer, dessen Gründe wir erst heute, nach der Veröffentlichung des Briefwechsels von Horkheimer mit Adorno, besser verstehen können. Horkheimer schrieb am 27. September 1958 einen Brief an Adorno, der eine schwer wiegende Kritik an Habermas enthielt und dazu führte, dass dieser nicht in Frankfurt habilitieren konnte, sondern zu dem Marxisten Wolfgang Abendroth nach Marburg gehen musste. Horkheimers Charakterisierungen |19|sind gerade in ihrer kritischen Negativität sowohl aufschlussreich für den Geist des Frankfurter Instituts für Sozialforschung als auch in ihrer – aus heutiger Sicht – haarsträubenden Ungerechtigkeit ein Beleg dafür, welch positive Entwicklung Habermas anschließend genommen haben muss. Für Horkheimer ist er »ein begabter, unablässig auf geistige Überlegenheit sich verweisender Mensch«. Er »trägt bei aller Gescheitheit Scheuklappen, es gebricht ihm an bon sens und an geistigem Takt«. Unverständlich sei es, dass Habermas, »der so viel von Empirie redet, heute zu Schriften sich bekennt, die auf der Ansicht beruhten, die Bourgeoisie sei unfähig, ›noch lange die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben‹«, und die die proletarische Revolution in den Industrieländern noch für möglich hielten. In der Sicht von Horkheimer hat diese Revolutionstheorie den Sozialismus in einem Land nur in die Verwandtschaft zum Nationalsozialismus geführt. Nicht die Revolution ist zu verteidigen, sondern vielmehr die Reste der bürgerlichen Zivilisation und die europäische Zivilgesellschaft. Wenn Habermas’ Denken den Geist des Frankfurter Instituts bestimmen sollte, dann »erziehen wir keine freien Geister, keine Menschen, die zu eigenem Urteil fähig sind, sondern Anhänger, die auf Schriften schwören, heute auf die, morgen vielleicht auf jene«. Abschließend schlug Horkheimer dann vor, sich von Habermas zu trennen, weil er zwar eine glänzende Karriere vor sich habe, dem Institut aber großen Schaden bringen würde. »Lassen Sie uns zur Aufhebung der bestehenden Lage schreiten und ihn in Güte dazu bewegen, seine Philosophie irgendwo anders aufzuheben und zu verwirklichen.«12

Die Trennung wurde vollzogen, Habermas in Marburg habilitiert, in Heidelberg neben Hans-Georg Gadamer und Karl |20|Löwith Professor und schon im Jahre 1964 der Nachfolger von Max Horkheimer als Professor für Philosophie und Soziologie in Frankfurt. Seine Schüler wie Axel Honneth erwiesen sich sehr bald als recht freie Geister. Mit der Studentenbewegung jener Jahre stand er durchaus in einem Spannungsverhältnis, und war deshalb wohl auch ganz froh, als er von 1971 bis 1981 zusammen mit Carl-Friedrich von Weizsäcker Direktor des »Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen in der wissenschaftlich-technischen Welt« in Starnberg werden konnte. Nach dem Ausscheiden Weizsäckers wurde das Institut aufgegeben. Habermas hatte noch einige Zeit erwogen, die Leitung zu übernehmen, hätte aber gern zugleich an der Münchner Universität gelehrt. Diese verweigerte ihm ausdrücklich eine Honorarprofessur. So kehrte er 1982 nach Frankfurt zurück, diesmal auf eine Professur für Philosophie, und blieb dort bis zu seiner Emeritierung 1994. Seine internationale Wirkung hatte schon lange vorher eingesetzt.

Zum Aufbau dieses Bandes – Die ersten Schwierigkeiten mit Habermas-Texten beginnen sich aufzulösen, wenn man sich mit der Konsenstheorie vertraut macht. Sie ist deshalb zur Exposition seiner philosophischen Grundthemen besonders geeignet. Im 2. Kapitel wird der Strukturwandel der Öffentlichkeit dargestellt. Das 3. Kapitel entfaltet die Zentralbegriffe der Theorie des kommunikativen Handelns. Kapitel 4 bildet das gleichgewichtige Gegenstück in der praktischen Philosophie: die Diskursethik und ihre Schwierigkeiten. Im 5. Kapitel wird seine Theorie der deliberativen Demokratie anhand von Faktizität und Geltung dargestellt. In Kapitel 6 werden Habermas’ politische Interventionen und zeitkritische Stellungnahmen analysiert. Das 7. Kapitel behandelt die Kritik an der Postmoderne. Wegen der engen Verwandtschaft der Vernunftkritik Adornos mit Positionen von Foucault, Derrida und Lyotard ging diese Kritik für Habermas einher mit einer Rückbesinnung |21|auf sein Verhältnis zur klassischen Frankfurter Schule, vor allem zur Dialektik der Aufklärung. Kapitel 8 behandelt die Konsequenzen der Metaphysikkritik. Dabei zeigen sich auch einige theologische Elemente der habermasianischen Theorie.

Ich versuche in diesem Band, die vier großen Theorieentwürfe, also den Strukturwandel der Öffentlichkeit, die Theorie des kommunikativen Handelns, die Diskursethik sowie die Theorie der deliberativen zivilgesellschaftlich grundierten Demokratie (FG) nicht in episch-narrativer Breite, sondern aus den entscheidenden Begriffen heraus zu entwickeln, um so eine größere Konzentration der Darstellung zu erreichen. Das ist deshalb vertretbar, weil Habermas dort handwerklich-umständlich wie ein Maurerpolier alle Fertigteile der Theorie nacheinander aufbaut und inspiziert, als seien die Steine noch unbehauen und der Zement noch nicht fertig angeliefert. Es ist zu hoffen, dass die immense intellektuelle Energie von Habermas’ Denken durch diese Konzentration nachvollziehbar wird und sich auf die dafür offenen Leserinnen und Leser überträgt.

Die Darstellungsweise dieses Bandes soll eine doppelte Lektüre ermöglichen: eine zügige, auf den Überblick über den gegenwärtigen Stand von Habermas’ Denken gerichtete, und eine sehr minutiöse, die sich um das Nach-Denken jedes einzelnen Arguments bemüht. Außerdem soll der Aufbau des Bandes jederzeit das Nachschlagen ermöglichen.

1

Hans Ulrich Gumbrecht, »Reeducation«, FAZ, Nr. 138 vom 18. 6. 1999, S. 52. Habermas selbst hat solche Ehrentitel selbstverständlich immer in Bescheidenheit zurückgewiesen. Vgl. das Kapitel in diesem Band über »Habermas und die praktische Politik«.

2

Habermas, »Life-forms, Morality and the Task of the Philosopher (Interview)«, in: ders., Autonomy and Solidarity. Interviews (Peter Dews, Hg.), London 1986, S. 204.

3

Dieter Henrich, »Kritik der Verständigungsverhältnisse. Laudatio für Jürgen Habermas«, in: Habermas/Henrich, Zwei Reden. Aus Anlaß der Verleihung des Hegel-Preises 1973 der Stadt Stuttgart an Jürgen Habermas am 19. Januar 1974, Frankfurt/M. 1974; bes. S. 19, wo die »Ausbildung vor dem Publikum« als Äußerung von Hegel über Schelling eingeführt wird, und S. 21.

4

Herbert Schnädelbach, »Transformation der kritischen Theorie«, Philosophische Rundschau, 29. Jg. 1982, S. 161–178; wieder abgedruckt in: Honneth/Joas 1986, S. 15–34.

5

Gunter Hofmann, »Denker in der Arena«, Die Zeit, Nr. 25 vom 16.6.1989, S.60.

6

Vgl. dazu die bemerkenswerte Studie von Michael Hennes: »Vom DM-Nationalismus zum EuroPAYismus?«, in: Walter Reese-Schäfer (Hg.), Identität und Interesse. Der Diskurs der Identitätsforschung, Opladen 1999, S. 231–248. Jürgen Habermas, »Der DM-Nationalismus«, in: Die Zeit, Nr.14 vom 30.3.1990.

7

Pierre Bourdieu, »Vive le Streit! Jürgen Habermas zum Geburtstag«, Süddeutsche Zeitung, 18.6.1999, S.17.

8

Peter Sloterdijk, »Die kritische Theorie ist tot«, Die Zeit, Nr. 37 vom 9.9.1999, S.35f.

9

Vgl. Bernd Ulrich: »Die Habermas-Debatte. Deutsche Denker danken ab«, Der Tagesspiegel, vom 24.9.1999 mit der These: »Diesmal führt das nicht zur Demontage des Gegners, sondern zum Machtverlust des Systems Habermas.«

10

Abgedruckt in: Jürgen Habermas, Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt/M. 1971, S.387–464.

11

Jürgen Habermas/Ludwig von Friedeburg/Christoph Oehler/ Friedrich Weltz, Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein Frankfurter Studenten, Neuwied 1961.

12

Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Montagnola 27.9.1958, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 18, »Briefwechsel 1949–1973«, Frankfurt/M. 1996, S.437–449.

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|22|1 Diskurstheorie der Wahrheitund ideale Sprechsituation

»Ich habe, jedenfalls für mich selber, den

emphatischen philosophischen Wahrheitsanspruch

verabschiedet. Dieser elitäre Wahrheitsbegriff

der Alten ist ein letztes Stück Mythos.« (NU 207)

Jürgen Habermas hat lange Zeit, von seinem frühen Aufsatz »Wahrheitstheorien« von 1972 bis zu Faktizität und Geltung (1992) eine Konsens- bzw. Diskurstheorie der Wahrheit vertreten. Diese kann als Schlüssel zu seinem Werk gelten. Auch heute noch hält er an dieser Theorie fest. Er hat aber eine Revision vorgenommen, die sie wieder etwas stärker an klassische Wahrheitstheorien annähert, um das Moment des Unbedingten, das der Begriff Wahrheit in unserem Sprachgebrauch immer mit sich trägt, retten zu können. Ich werde darauf am Schluss dieses Kapitels eingehen. Doch zunächst einige Erläuterungen und Erklärungen zur Diskurstheorie der Wahrheit. Eine derartige Theorie widerspricht nämlich unseren unmittelbaren Intuitionen. Es kann eigentlich nicht sein, dass etwas dann wahr ist, wenn Einigkeit darüber erzielt wurde. Jedem fallen spontan Beispiele (vor allem aus der Geschichte) ein, in denen »alle« sich über etwas einig waren, z. B. über die Existenz von Göttern, was unserem heutigen Verständnis recht absurd vorkommt. Es gehört doch offenbar zur Bedeutung des Sprachspiels wahr/falsch, dass etwas wahr oder falsch sein kann unabhängig davon, was »alle« oder die meisten meinen. Wie lässt sich die Konsenstheorie gegen diese starken Einwände entfalten?

|23|Die philosophische Grundlage zum Verständnis von Habermas ist seine zweistufige Wahrheitstheorie. Er hat sie in mehreren Arbeitsschritten entwickelt. Es handelt sich um eine Konsenstheorie der Wahrheit. Allerdings reicht ein Konsens der gerade Anwesenden nicht aus. Es bedarf vielmehr eines allgemeinen Konsenses der Vernünftigen, der im Extremfall auch die in die Zukunft unbegrenzte Forschergemeinschaft einschließt. Darüber hinaus hat Habermas in seinem abschließenden Werk zur Wahrheitstheorie, Wahrheit und Rechtfertigung, selbstkritisch erkannt, dass er den Wahrheitsbegriff zu sehr auf rationale Behauptbarkeit reduziert hatte. Der Begriff enthält aber, so wie wir ihn verwenden, immer auch ein unverlierbares Hinausweisen über den gegenwärtigen Erkenntnisstand. Dieser überschießende Bedeutungsgehalt kann auch durch eine pragmatische Wahrheitstheorie letztlich nicht abgeschnitten werden. Habermas hat sich in seinem Spätwerk damit wieder stärker der klassischen philosophischen Wahrheitskonzeption angenähert.

Ich will zunächst am Bild der Wette die Zweistufigkeit des Konsensusmodells erläutern, um dann die immanenten Probleme der Konsensgemeinschaft anzusprechen. Die Wette mag angesichts eines so erhabenen Begriffs wie »Wahrheit« als ein etwas frivoles Bild erscheinen. Ich erinnere aber daran, dass Blaise Pascal in seinen Pensées sogar eine Wette auf die Existenz Gottes vorschlug. Bei einer Wette wird man das, worum es geht, so formulieren, dass über »gewonnen/verloren« mit ja oder nein entschieden werden kann. Dazu gehört zumeist, dass das, was der Fall sein soll, und der Zeitpunkt seines Eintretens festgelegt werden.

Damit wird um den Wettinhalt, der umstritten ist, durch |24|Konsens der Wettpartner ein Gerüst errichtet, das beide akzeptieren. Wenn man bei der Vereinbarung nichts Wesentliches übersehen hat, wenn das Gerüst also tragfähig ist, dann ist die Entscheidung, wer die Wette gewonnen hat, objektiv möglich – unabhängig von dem vielleicht sogar verbissenen Wunsch eines Wettgegners, doch irgendwie die Existenz des Nichtexistenten, auf das er gewettet hatte, zu behaupten. Der Konsens wird also gerade nicht erzielt über den Wettinhalt selbst, sondern über die formalen Bedingungen seines Eintretens. Es handelt sich um eine zweistufige Konstruktion, in der nur die formale Ebene Konsensgegenstand ist, nicht aber die inhaltliche. Innerhalb dieser Konstruktion lässt sich dann »objektiv« sagen, ob etwas eingetreten sei oder nicht.

Dieses Moment des »Objektiven« gehört zum Sprachspiel »wahr/falsch« und ist eine Art notwendiger Schein, der durch die Bedeutung des Begriffs produziert wird. Die Wahrheit scheint unabhängig von der Meinung der Leute zu gelten. Das gilt aber nur, wenn auf der zweiten Stufe über die Kriterien Einigkeit besteht. In unserem Beispiel sind das die formalen Bedingungen der Wette. In der Wissenschaftsgeschichte ist es meist der später erreichte Erkenntnisstand, an dem die vorigen Einsichten gemessen werden.

Damit ist die Konsenstheorie der Wahrheit aber nur zur Hälfte erklärt. Die Bedingungen der Wette werden ja nur von Fall zu Fall vereinbart (oder, wenn sie offenkundig sind, stillschweigend vorausgesetzt). Die Konsenstheoretiker der Wahrheit bringen auf der formalen Stufe jedoch wiederum ein Moment des Absoluten ins Spiel, wie es für die traditionelle Wahrheitstheorie charakteristisch war. Jegliche Übereinkunft zwischen zwei Beteiligten, unter welchen Voraussetzungen etwas der Fall ist oder nicht, würde immer nur relativ für diese Beteiligten gelten können. Wenn aber diese Vereinbarung universell, von allen getroffen würde, wäre die Relativität überwunden. Da es Beispiele für irrtümlichen consensus catholicus |25|(allgemeinen Konsens) in der Vergangenheit gibt, muss diese Universalität wenigstens der Idee nach auch in die Zukunft ausgedehnt werden. Charles Sanders Peirce (1839–1914), der Begründer des amerikanischen Pragmatismus, hat deshalb die Idee der unbegrenzten Gemeinschaft aller Verstandeswesen entwickelt, der »indefinite community«. Im Wissenschaftsprozess wäre das die »community of investigators«, die unbegrenzte Forschergemeinschaft. Wahrheit ist dann eine regulative Idee, nämlich die nie real existierende »ultimate opinion« dieser Gemeinschaft: die letzte Meinung, zu der sie jeweils kommt. Wichtig an dieser pragmatistischen Wahrheitsvorstellung ist, dass es sich bei aller Betonung der Unbegrenztheit und Allgemeinheit des Konsensus doch immer um »eine Verkörperung von Vernunft« handelt, d.h. »um eine – wie immer unendliche – Gemeinschaft von Wesen, die irgendwelche Sinne besitzen und in Zeichen kommunizieren können«.13

Wie kann nun, das wäre die entscheidende Frage, die den Wahrheitsbegriff auf die zweite, die höhere Stufe transportiert, ein wahrer von einem falschen Konsens unterschieden werden? Hierzu führt Habermas seinen Begriff der »idealen Sprechsituation« ein. Für sie gelten vier Bedingungen:

»Alle potentiellen Teilnehmer eines Diskurses müssen die gleiche Chance haben, kommunikative Sprechakte zu verwenden, so daß sie jederzeit Diskurse eröffnen sowie durch Rede und Gegenrede, Frage und Antwort perpetuieren können.