Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen - Erik Kirschbaum - E-Book

Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen E-Book

Erik Kirschbaum

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Beschreibung

Jürgen Klinsmann ist seit 2011 Trainer der US-Nationalmannschaft und hat mit seinen weitreichenden Reformen die Amerikaner zu Achtungserfolgen bei der WM 2014 als Zweiter der "Todesgruppe" nur knapp hinter Deutschland und dann zwei Jahre später zum Halbfinale der Copa América Centenario 2016 geführt. Klinsmann, der als Trainer 2004–2006 die deutsche Nationalmannschaft mit tiefgreifenden Innovationen auf einen neuen Erfolgskurs gebracht hat, verfolgt mit dem gleichen Hunger und der Wissbegier, die ihn während seiner groß gefeierten Karriere als Spieler in Stuttgart, Italien, Monaco und England angetrieben haben, unermüdlich sein ehrgeiziges Ziel, die USA als Fußballnation auf- und auszubauen. Dabei hat er schon historische Erfolge gefeiert – aber mit seinen mutigen und unbequemen Erneuerungen nicht nur Freunde gewonnen. Klinsmann war als Stürmer zweimal Fußballer des Jahres in Deutschland, einmal in England, Weltmeister mit der deutschen Nationalmannschaft 1990 sowie Kapitän der Europameister-Mannschaft 1996. Er nahm zwischen 1988 und 1990 an 108 Länderspielen teil und erzielte dabei 47 Tore.

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Erik Kirsch­baum

Jür­gen Klins­mann

Fuß­ball ohne Gren­zen

Inhalt

An­mer­kun­gen des Au­tors

Teil I: Klins­mann – die frü­hen Jah­re

Wie al­les be­gann

Der An­fang: die deut­sche Ein­stel­lung

Der Auf­stieg

Stutt­gar­ter Kickers

Schu­le oder Fuß­ball?

Die „Jung­fern­fahrt“ nach Ame­ri­ka

Teil II: Deutsch­land, Ita­li­en, Mo­naco und Eng­land

Der Durch­bruch in der Bun­des­lie­ga

Fünf Tore

Das Tor, das ihn be­kannt mach­te

Das De­büt ge­gen Bra­si­li­en

Der Um­zug nach Ita­li­en

Ge­winn des Welt­meis­ter­ti­tels 1990

Stark in Schwe­den

Von Mai­land nach Mo­naco

Die Welt­meis­ter­schaft in den USA

An­de­res Kli­ma in Lon­don

Zu­rück in Deutsch­land

Ge­winn der Eu­ro­pa­meis­ter­schaft in Eng­land

Die letz­te Welt­meis­ter­schaft

Teil III: Die deut­sche Re­vo­lu­ti­on

Ein Job, den an­de­re nicht an­fas­sen woll­ten

Ein Gril­l­abend mit Fol­gen

Kei­ne Zeit zu ver­lie­ren

Der neue Stil

„Made in USA“ für Deutsch­land

Der Con­fed Cup

Kri­tik wird laut

Pa­trio­tis­mus ame­ri­ka­ni­scher Art

Zeit für et­was Neu­es

Zur rich­ti­gen Zeit am rich­ti­gen Ort

Teil IV: Bay­ern Mün­chen

Bay­ernMün­chenausan­de­rerPer­spek­ti­ve

Teil V: Der Auf­stieg des Fuß­balls in den USA

Eine Vi­si­on für den Fuß­ball in Ame­ri­ka

Die Lage der Din­ge

Das Puzz­le wird zu­sam­men­ge­fügt

Die In­ten­si­tät des Wett­be­werbs

Der bes­te Col­le­ge-Fuß­ball der Welt

Die Be­geis­te­rung für Col­le­ge-Sport

Lan­don Do­no­van

Er­fah­run­gen in Eu­ro­pa

Warum gibt es in Eu­ro­pa so we­ni­ge ame­ri­ka­ni­sche Fuß­ball­spie­ler?

Wie die ame­ri­ka­ni­schen Ski­fah­rer da­durch ge­wan­nen, dass sie nach Eu­ro­pa gin­gen

Be­schuss aus den ei­ge­nen Rei­hen

Ame­ri­ka­ni­sche An­oma­li­tä­ten

Zehn-Punk­te-Plan

Nach­wort

Glän­zen­de Zu­kunft

Li­te­ra­tur­hin­wei­se

Bü­cher

In­ter­views mit dem Au­tor

Im­pres­s­um

Danksagung

Manch­mal lohnt es sich, gleich­sam ge­dul­dig und hart­nä­ckig zu sein. Seit fast zehn Jah­ren heg­te ich den Wunsch, die­ses Buch mit und über Jür­gen Klins­mann zu schrei­ben, und ich hät­te es ohne die vie­le Hil­fe, die mir zu­teil wur­de, nicht ge­schafft. Ich möch­te zu­al­ler­erst Jür­gen Klins­mann dan­ken, dass er schließ­lich da­mit ein­ver­stan­den war, mich die­se Ge­schich­te auf­schrei­ben zu las­sen, für sei­ne Of­fen­heit in un­se­ren Ge­sprä­chen und für sei­ne Hil­fe bei den un­be­que­men Fra­gen. Ich dan­ke fer­ner War­ren Mer­se­reau für all sei­ne Fuß­ball­weis­hei­ten und sei­ne Un­ter­stüt­zung so­wie Ber­ti Vogts und Ro­land Ei­tel da­für, dass sie mir zahl­rei­che fas­zi­nie­ren­de De­tails ver­ra­ten ha­ben.

Dank ge­bührt au­ßer­dem Lind­sey Vonn, Phil Mc­Ni­chol, Fa­bi­an John­son, De­Mar­cus Be­as­ley und Phil­ipp Kö­s­ter für ihre Zeit und Ein­bli­cke. Dank an Det­lef Kess­ler und Axel Müt­ze vom AMA Ver­lag für ihre kräf­ti­ge Un­ter­stüt­zung so wie auch an Mi­cha­el Kam­mar­man bei U.S. Soc­cer für sei­ne Ide­en. So sehr ich es auch mag, un­ter dem Druck ei­ner Dead­li­ne zu ar­bei­ten, war die­ses die Frist, die mich bis­her am meis­ten ge­for­dert hat. Dank auch an Dr. Mai­ke Kess­ler und Bri­git­te Win­dolph, die das Buch ins Deut­sche ge­bracht ha­ben. Und Dank auch an alle Freun­de und Ver­wand­te, die die­ses Buch al­truis­tisch ge­le­sen und kri­ti­siert  ha­ben und gan­ze Ka­pi­tel und Ab­schnit­te in­fra­ge ge­stellt ha­ben: Tom Wag­ner, Ka­ro­los Groh­mann, Scott Reid, Iain Ro­gers, Mike Col­lett, Si­mon Evans, Jo­seph Nasr, Da­vid Cross­land, Ju­lie Kirsch­baum, Mar­tin Si­mon, Mar­kus Bütt­ner, Mi­riam Die­ter, In­grid Kirsch­baum, Ka­rin Scan­del­la, Don Grant, Lisa Lu­e­ra, Tom He­neghan, Mi­chel­le Mar­tin, Ste­ven Kirsch­baum, Rick Ostrow, Nick Fel­lows, Dean Grant, Tho­mas Kru­men­acker, Her­bert Ross­ler, Mar­kus Lep­per, John Blau, Alex Mlecz­ko, René Wag­ner, Dey­an Sa­bou­ri­an, Ge­org Mer­zi­ger, Udo Grel­zik, Ra­mo­na Bött­cher, Rü­di­ger Jae­ger, Or­rey Dean Ken­ne­dy und Chris­ti­an Ei­sen­barth.

Erik Kirsch­baum

Ber­lin, Au­gust 2016

An­mer­kun­gen des Au­tors

Ge­mein­sam mit Mil­lio­nen ame­ri­ka­ni­scher Baby-Boo­mer wuchs ich, was Fuß­ball be­trifft, in den USA im Dun­keln auf. Zu­nächst lei­der ziem­lich un­fä­hig, die At­trak­ti­vi­tät die­ses Spiels zu schät­zen und zu ver­ste­hen, in dem so we­ni­ge Tore fal­len, das so an­ders und un­ame­ri­ka­nisch schi­en, von dem es kaum Fern­seh­über­tra­gun­gen gab, das so fremd­län­disch an­mu­te­te, blie­ben die Fein­hei­ten und der Reiz des Fuß­balls über Jahr­zehn­te für mich ein Buch mit sie­ben Sie­geln. Ich konn­te die Be­geis­te­rung für eine Sport­art, bei der für so we­ni­ge Tore so viel he­r­um­ge­rannt wird, ein­fach nicht be­grei­fen.

Wie Mil­lio­nen un­ein­ge­weih­ter Ame­ri­ka­ner be­hielt ich die Scheu­klap­pen auf, in un­be­küm­mer­ter Un­kennt­nis der Fi­nes­sen die­ses Spiels, das dem Rest der Welt schon lan­ge ganz ein­fach als „the be­au­ti­ful game“ be­kannt war. Welt­meis­ter­schaftss­pie­le wur­den in den USA bis 1982 nicht ein­mal im Fern­se­hen über­tra­gen und erst seit der WM 1998 in Frank­reich wer­den alle Spie­le live über­tra­gen, wie dies in den meis­ten Län­dern der Welt schon lan­ge der Fall war.

Dem­nach war es für mich als Tee­na­ger 1976, un­ter­wegs zu mei­nem ers­ten Fuß­ball­spiel im Sta­di­on – ein New-York-Cos­mos-Play-off-Spiel –, ein Schock, als ein Freund ver­such­te mir klarzu­ma­chen, dass Fuß­ball tat­säch­lich die welt­weit be­lieb­tes­te Sport­art sei. Was? Nie­mals! Der Rest der Welt muss da kom­plett falsch­lie­gen, war un­se­re eth­no­zen­tri­sche Denk­wei­se im Bus auf dem Weg zum Shea-Sta­di­on, um das Spiel zu se­hen. Aus­län­der wa­ren ver­mut­lich nicht in der Lage, die Fein­hei­ten von ame­ri­ka­ni­schen Sport­ar­ten wie Fuß­ball, Bas­ket­ball und Ba­se­ball zu ver­ste­hen. Be­hal­tet nur eu­ren Fuß­ball zu­sam­men mit eu­rem selt­sa­men me­tri­schen Sys­tem! Ab­ge­se­hen da­von mach­te die Er­kennt­nis, dass die Welt den Fuß­ball Sport­ar­ten wie Ame­ri­can Foot­ball vor­zog, das Spiel für mich umso rät­sel­haf­ter. Wie bi­zarr, dass so vie­le Leu­te einen Sport spiel­ten und ver­folg­ten, in dem es nicht ein­mal er­laubt war, die Hän­de zu be­nut­zen – die ge­schick­tes­ten Kör­per­tei­le!

So­gar vie­le Jah­re spä­ter, nach­dem ich 1982 zum ers­ten Mal in das fuß­ball­ver­rück­te Deutsch­land um­ge­zo­gen war, schenk­te ich der Sport­art kaum Be­ach­tung. Statt­des­sen blieb ich bis weit nach Mit­ter­nacht eu­ro­päi­scher Zeit auf, um ver­wa­ckel­te NFL- oder NBA-Über­tra­gun­gen auf dem Ame­ri­can Forces Net­work (AFN) zu ver­fol­gen, ein Ka­nal ohne Wer­be­un­ter­bre­chun­gen, der für die ame­ri­ka­ni­schen Streit­kräf­te ein­ge­rich­tet wor­den war, die in West­deutsch­land sta­tio­niert wa­ren. Ich spiel­te in der Frei­zeit Touch Foot­ball (sanf­te­re Art des Ame­ri­can Foot­ball, bei dem der Geg­ner be­rührt wird, statt zu Fall ge­bracht zu wer­den) mit an­de­ren ame­ri­ka­ni­schen Ex­pa­tria­tes, und  wir wa­ren die Exo­ten in den Park­an­la­gen, wo es über­all sonst von spon­ta­nen Fuß­ball­spie­len wim­mel­te. Und ich er­in­ne­re mich dar­an, wie ich in Dis­kus­sio­nen mit deut­schen Freun­den und Ar­beits­kol­le­gen stur dar­auf be­harr­te, dass die Na­tio­nal Foot­ball League (NFL), Na­tio­nal Bas­ket­ball League (NBA) und Ma­jor League Ba­se­ball (MLB) alle weit in­ter­essan­ter sei­en als die Fuß­ball-Bun­des­li­ga in West­deutsch­land und so­gar als die Fuß­ball-Welt­meis­ter­schaft – aber all die­se Ar­gu­men­te ent­stamm­ten mei­ner Igno­ranz und wa­ren auf be­dau­er­li­che Wei­se engstir­nig.

Die Of­fen­ba­rung kam spät in mei­nem Le­ben, näm­lich 2004, als ich schon weit über 40 war und ins­ge­samt fast zwei Jahr­zehn­te in Deutsch­land, Ös­ter­reich und Eng­land ver­bracht hat­te. Es däm­mer­te mir plötz­lich, warum Fuß­ball in Län­dern wie Deutsch­land und Eng­land so viel mehr als ein Sport ist und warum sei­ne Be­liebt­heit Kul­tu­ren, Gren­zen, Re­li­gi­on und Po­li­tik über­schrei­tet. 2004 fei­er­te Deutsch­land das 50-jäh­ri­ge Ju­bi­lä­um sei­nes ers­ten Welt­meis­ter­ti­tels von 1954 und der Deutsch­land­funk sen­de­te eine Wie­der­ho­lung der Rund­funk­über­tra­gung des End­spiels von 1954, in dem West­deutsch­land Un­garn schlug. Die Über­tra­gung wur­de kom­plett wie­der­holt, und zwar zu der glei­chen Uhr­zeit wie die Ori­gi­nal­über­tra­gung am 4. Juli 1954. Es war ein ma­gi­sches Er­leb­nis für mich, ein hal­bes Jahr­hun­dert zu­rück­ver­setzt zu wer­den und die Kraft die­ses wun­der­ba­ren Mo­men­tes deut­scher Fuß­ball­ge­schich­te nach­zu­füh­len – die Ur­sprün­ge der Lie­bes­af­fä­re die­ses Lan­des mit dem Fuß­ball zu ver­ste­hen und plötz­lich den tie­fen Ein­fluss zu be­grei­fen, den die­ses Spiel auf die Kul­tur die­ses Lan­des, sei­ne Psy­che, Iden­ti­tät und sei­ne ge­sam­te Nach­kriegs­ge­schich­te aus­übt.

Zur sel­ben Zeit 2004 war es für einen Jour­na­lis­ten ver­wun­der­lich, Deutsch­lands mo­na­te­lan­ge, müh­sa­me Su­che nach ei­nem neu­en Fuß­ball­trai­ner zu ver­fol­gen, nach­dem das Team bei der Eu­ro­pa­meis­ter­schaft un­er­war­tet in der ers­ten Run­de aus­ge­schie­den war, ohne ein ein­zi­ges sei­ner Grup­pen­spie­le zu ge­win­nen. Zeit­wei­se schi­en für die meis­ten Deut­schen die Su­che nach ei­nem neu­en Fuß­ball­trai­ner so­gar wich­ti­ger zu sein als ein neu­er Bun­des­kanz­ler, und alle an­de­ren Nach­rich­ten in Deutsch­land ver­schwan­den für fast einen Mo­nat von den Ti­tel­sei­ten, wäh­rend der DFB sich wo­chen­lang ab­müh­te, einen Trai­ner zu fin­den, der un­er­schro­cken ge­nug war, die­sen schwie­ri­gen Job an­zu­neh­men – und das nur zwei Jah­re, be­vor Deutsch­land Gast­ge­ber der WM 2006 sein wür­de. Was als ein Pro­blem be­gann, wur­de zur kom­plet­ten Far­ce. Aber letzt­end­lich ent­wi­ckel­te sich die Kri­se zu ei­ner fan­tas­ti­schen Ge­le­gen­heit zur Ver­än­de­rung, als die vom DFB ins Le­ben ge­ru­fe­ne „Trai­ner­fin­dungs­kom­mi­si­on“ (TFK) das Zep­ter an Jür­gen Klins­mann über­reich­te.

Es war fas­zi­nie­rend, Klins­mann dann von ei­nem Platz in der ers­ten Rei­he aus zu se­hen: ein Ex-Spie­ler ohne Er­fah­rung als Trai­ner, wie er dem ehr­wür­di­gen DFB selbst­be­wusst sei­ne re­vo­lu­tio­nären Re­for­men mit sei­nen weit­rei­chen­den Kon­se­quen­zen vor­stell­te. Er voll­brach­te bei der deut­schen Na­tio­nal­mann­schaft wah­re Wun­der mit sei­nen Ide­en, die er zum Teil in den USA ge­sam­melt hat­te. Dass Klins­mann es schaff­te, aus fast 10.000 Ki­lo­me­ter Ent­fer­nung von sei­ner Wahl­hei­mat Ka­li­for­ni­en aus den DFB zu mo­der­ni­sie­ren und qua­si ei­ner Ge­ne­ral­über­ho­lung zu un­ter­zie­hen, macht die gan­ze Ge­schich­te umso span­nen­der. Es war, wie Klins­mann selbst ger­ne sagt, eine die­ser un­glaub­li­chen Ge­schich­ten, die nur der Fuß­ball schreibt.

Mit sei­ner uni­ver­sel­len Po­pu­la­ri­tät hat Fuß­ball die Kraft, die Welt­ge­schich­te zu be­ein­flus­sen. Gan­ze Län­der fei­ern ver­eint in der Hoff­nung auf einen Sieg oder kol­la­bie­ren ge­mein­sam bei ei­ner Nie­der­la­ge. Es ist fes­selnd, das Schick­sal, Wohl­be­fin­den und Glücks­ge­fühl ei­ner gan­zen Na­ti­on da­von ab­hän­gig zu se­hen, wie sich ihre Na­tio­nal­mann­schaft bei ei­nem großen Tur­nier wie ei­ner Welt­meis­ter­schaft oder ei­ner Eu­ro­pa­meis­ter­schaft an­stellt.

Es gibt vie­le Zuta­ten, die die­sen Sport be­son­ders ma­chen, und er ist zu­ge­ge­be­ner­ma­ßen et­was für Ken­ner. Für einen Ame­ri­ka­ner, der wie ich ohne Fuß­ball im Fern­se­hen zu se­hen auf­wuchs und statt­des­sen ak­tiv und pas­siv mit ei­ner Fül­le an an­de­ren Sport­ar­ten groß­ge­wor­den ist, kann es eine Wei­le dau­ern, bis man die Schnel­lig­keit, das Kön­nen, die Kunst­fer­tig­keit, das Durch­hal­te­ver­mö­gen, die Ge­nia­li­tät und die un­glaub­li­che Ath­le­tik wert­schät­zen kann, wel­che die welt­bes­ten Fuß­bal­ler auf­zei­gen. Foot­ball, Ba­se­ball und Bas­ket­ball er­schei­nen mir in­zwi­schen viel we­ni­ger in­ter­essant, ja fast lang­wei­lig mit all ih­ren stän­di­gen Un­ter­bre­chun­gen und Wie­der­an­fän­gen, trotz der ho­hen Tor­fre­quenz. Ich habe schon lan­ge auf­ge­hört, in Eu­ro­pa bis spät in die Nacht auf­zu­blei­ben um ir­gend­wel­che ame­ri­ka­ni­schen Sport­ar­ten im Fern­se­hen zu ver­fol­gen und kann mich nicht ein­mal dazu auf­raf­fen, wenn ich in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten bin. Statt­des­sen herr­schen bei mir in­zwi­schen um­ge­kehr­te Ver­hält­nis­se, was so weit geht, dass ich ex­tra früh auf­ste­he, um den eu­ro­päi­schen Fuß­ball zu ver­fol­gen, wenn ich in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten bin und in Über­see die Er­geb­nis­se nach­schaue.

Im Fuß­ball gibt es kei­ne Wer­be­un­ter­bre­chun­gen und kei­ne Ver­let­zungs­aus­zei­ten – es ist wie im wah­ren Le­ben, wo es kei­ne Mög­lich­keit gibt, die Uhr an­zu­hal­ten. Es ist ein Sport, des­sen Spie­le seit sei­ner Er­fin­dung vor mehr als ei­nem Jahr­hun­dert 90 Mi­nu­ten dau­ern, die le­dig­lich durch eine kur­ze Halb­zeit­pau­se un­ter­bro­chen wer­den. Es gibt nur we­ni­ge Sport­mo­men­te, die so fes­selnd sind wie die un­un­ter­bro­che­ne und un­auf­halt­sa­me Dra­ma­tik der letz­ten zwei oder drei Mi­nu­ten ei­nes en­gen Fuß­ball­spiels, in dem ein Team ver­zwei­felt dar­um kämpft, ein Tor zu schie­ßen, um das Spiel zu ge­win­nen oder ein Un­ent­schie­den zu er­zie­len – oder al­les dar­an­setzt, dies zu ver­hin­dern. Und es gibt nichts, was an die Freu­de he­r­an­kommt, die in fast je­dem Sta­di­on auf der gan­zen Welt aus­bricht, wenn eine Mann­schaft in ei­nem wich­ti­gen Spiel end­lich ein Tor schießt. „Über Fuß­ball macht man sich oft lus­tig, weil so we­ni­ge Tore fal­len, aber eben weil Tore so rar sind, ist die Freu­de dar­über grö­ßer als in je­dem an­de­ren Sport“, ar­gu­men­tier­ten Si­mon Ku­per und Ste­fan Szy­man­ski in ih­rem 2009 er­schie­ne­nen Buch Soc­cer­no­mics.

Fuß­ball kann so star­ke Emo­tio­nen aus­lö­sen, dass da­durch so­gar ein­mal ein Krieg zwi­schen Hon­du­ras und El Sal­va­dor wur­de. Die­ser so­ge­nann­te „Fuß­ball­krieg“ er­eig­ne­te sich 1969 und dau­er­te 100 Stun­den. Sei­ne Ur­sa­chen gin­gen über den Fuß­ball hi­n­aus, aber er ent­brann­te un­glaub­li­cher­wei­se, nach­dem El Sal­va­dor Hon­du­ras mit 2:1 Spie­len in der Qua­li­fi­ka­ti­on für die Welt­meis­ter­schaft 1970 ge­schla­gen hat­te. Bei der Welt­meis­ter­schaft 1994 schied Ko­lum­bi­en aus, nach­dem die USA die Süd­ame­ri­ka­ner da­durch 2:1 be­siegt hat­ten, dass Ko­lum­biens Ver­tei­di­ger An­drés Es­co­bar durch ein Ei­gen­tor den Sie­ges­tref­fer für die Ver­ei­nig­ten Staa­ten er­zielt hat­te. Es­co­bar hat­te ver­sucht, den Pass von Ame­ri­kas Mit­tel­feld­spie­ler John Har­kes ab­zu­fan­gen, da­bei den Ball aber ver­se­hent­lich ins ei­ge­ne Tor ge­lenkt. Zehn Tage spä­ter wur­de er mit sechs Schüs­sen er­mor­det – der Tä­ter schrie beim Schie­ßen „Tor!“.

Fuß­ball ist ein Sport, den Men­schen ei­nes je­den Al­ters auf sechs Kon­ti­nen­ten spie­len. Es ver­eint die Welt wie kei­ne an­de­re Sport­art, be­son­ders wäh­rend der alle vier Jah­re aus­ge­tra­ge­nen Welt­meis­ter­schaf­ten. In­ter­essan­ter­wei­se ist es ein Spiel, mit dem sich die Ver­ei­nig­ten Staa­ten in der in­ter­na­tio­na­len Are­na, wo Fuß­ball mit so viel Lei­den­schaft ge­spielt wird, aus ver­schie­dens­ten Grün­den im­mer noch in der Lern­pha­se be­fin­den. Aber es ist auch ein Sport, in wel­chem die USA ei­nes Ta­ges zu den Welt­bes­ten ge­hö­ren könn­ten; vor­aus­ge­setzt, die Ame­ri­ka­ner wä­ren in der Lage, Fuß­ball als et­was ganz an­de­res  wert­zu­schät­zen und zu ak­zep­tie­ren, dass es ein Sport mit in­ter­na­tio­na­len Stan­dards und Ab­läu­fen ist und kein Spiel, des­sen Re­geln und Richt­li­ni­en die Ver­ei­nig­ten Staa­ten be­stim­men kön­nen.

Die USA ha­ben ein enor­mes bis­her un­ge­nutz­tes Po­ten­zi­al, was den Fuß­ball an­geht. Au­ßer­dem sind sie in der glück­li­chen Lage, einen der welt­bes­ten Trai­ner zu ha­ben mit ei­nem rei­chen Er­fah­rungs­schatz so­wohl in Eu­ro­pa als auch in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten – Jür­gen Klins­mann.

Er ge­wann als Stür­mer für Deutsch­land die Welt­meis­ter­schaft 1990, in­dem er drei Tore schoss, und ist ei­ner der er­folg­reichs­ten WM-Tor­schüt­zen al­ler Zei­ten mit elf To­ren in drei Tur­nie­ren. Nach sei­nem Rück­tritt als Spie­ler zog er 1998 in die USA und er­reich­te spä­ter als Trai­ner der deut­schen Na­tio­nal­mann­schaft den drit­ten Platz bei der WM 2006, wäh­rend sein Haupt­wohn­sitz in Ka­li­for­ni­en blieb und er nach Deutsch­land pen­del­te: 42 Lang­stre­cken­flü­ge im Lau­fe je­ner zwei Jah­re. 2011 wur­de er als Trai­ner der ame­ri­ka­ni­schen Na­tio­nal­mann­schaft en­ga­giert – nach ei­ner re­kord­ver­däch­ti­gen An­wer­be­pha­se, die mit vie­lem Hin und Her ins­ge­samt fünf Jah­re dau­er­te. Er brach­te durch­grei­fen­de, teils um­strit­te­ne Re­for­men auf den Weg, die der ame­ri­ka­ni­schen Na­tio­nal­mann­schaft 2013 zu ei­nem  Re­kord-Er­folgs­jahr ver­hal­fen. Die Mann­schaft hat­te zwölf Sie­ge in Fol­ge, qua­li­fi­zier­te sich zum sieb­ten Mal für die Welt­meis­ter­schaft und über­traf mit dem Er­rei­chen der Run­de der letz­ten 16 Mann­schaf­ten alle Er­war­tun­gen, nach­dem das Team in der so­ge­nann­ten „To­des­grup­pe“, der schwie­rigs­ten Vie­rer­grup­pe des Tur­niers, Zwei­ter hin­ter Deutsch­land ge­wor­den war. Hier­für wur­de Jür­gen Klins­mann von der FIFA als ei­ner von zehn Trai­nern für die Wahl zum welt­bes­ten Trai­ner des Jah­res no­mi­niert. Klins­mann ist ein furcht­lo­ser, re­for­m­ori­en­tier­ter Trai­ner und tech­ni­scher Lei­ter mit un­er­schüt­ter­li­chen Über­zeu­gun­gen, der in­ner­halb des wich­ti­gen west­eu­ro­päi­schen Fuß­ball­netz­wer­kes, Wie­ge des Sports, des­sen Ur­sprungs­län­der bis­her die Welt­meis­ter­schaf­ten do­mi­nier­ten,  über gute Ver­bin­dun­gen ver­fügt. Klins­mann weiß, was nö­tig ist, um eine der welt­bes­ten Fuß­ball­na­tio­nen zu for­men, und die He­r­aus­for­de­run­gen die­ser lan­gen Rei­se fas­zi­nie­ren ihn.

Fuß­ball ist an­ders. Sei­ne Re­geln, Bräu­che, Tra­di­tio­nen und sein Erbe un­ter­schei­den sich kom­plett von an­de­ren ame­ri­ka­ni­schen Sport­ar­ten, ob­wohl es in den 20er-Jah­ren vor dem Zu­sam­men­bruch der Ak­ti­en­märk­te und der fol­gen­den Welt­wirt­schafts­kri­se eine be­mer­kens­wert „gol­de­ne Ära“ gab, als Fuß­ball, dank der ho­hen An­zahl neu an­ge­kom­me­ner Im­mi­gran­ten aus Eu­ro­pa, in ei­ni­gen Ge­gen­den der USA für eine kur­ze Zeit tat­säch­lich po­pu­lä­rer als Foot­ball war. Aber ri­va­li­sie­ren­de Li­gen und die stei­gen­de Po­pu­la­ri­tät des Col­le­ge Foot­balls tru­gen zu­sam­men mit dem Bör­sen­crash zu ei­nem frü­hen Nie­der­gang des Pro­fi­fuß­balls bei.

Den­noch ist Fuß­ball kein Spiel, das leicht in das ame­ri­ka­ni­sche Spor­tras­ter hi­n­ein­passt mit sei­ner Vor­lie­be für Fern­seh-Aus­zei­ten, mit Aus­schei­dungs­spie­len nach der Sai­son (post-sea­son play-offs), mit  der Pa­ri­tät der Li­gen und ame­ri­ka­ni­scher Vor­herr­schaft. Es ist ein Spiel der Ge­duld und des Ge­nus­ses, so­wohl sub­til als auch spek­ta­ku­lär. Es ist ein Spiel, in dem die Spie­ler auf dem Feld den Groß­teil der Ent­schei­dun­gen tref­fen. Es ist ein Spiel mit etwa 400 oder mehr Päs­sen pro Mann­schaft und ei­nes, in dem der ein­zel­ne Spie­ler den Ball im Durch­schnitt nur un­ge­fähr 50 Se­kun­den hat, was be­deu­tet, dass er die ver­blei­ben­den 89 Mi­nu­ten da­mit ver­bringt, zu lau­fen und zu ver­su­chen, den Ball in die rich­ti­ge Po­si­ti­on zu brin­gen, um ein Tor zu schie­ßen oder zu ver­hin­dern. Fuß­ball­spie­le kön­nen durch Ent­schei­dun­gen ge­dreht wer­den, die im Bruch­teil ei­ner Se­kun­de ge­fällt wer­den. So kann so­gar eine über­le­ge­ne Mann­schaft in­ner­halb ei­nes win­zi­gen Mo­ments von ei­nem un­ter­le­ge­nen Geg­ner, ei­nem Au­ßen­sei­ter, ge­schla­gen wer­den, wenn er es schafft, einen „Glücks­tref­fer“ zu er­zie­len, so wie ein de­klas­sier­ter Bo­xer, der al­len Wet­ten zum Trotz mit ei­nem „lucky punch“  einen Knock-out-Sieg er­langt. Und es ist ein un­ge­wöhn­lich un­vor­her­seh­ba­res Spiel, in dem un­ter­le­ge­ne Mann­schaf­ten über­le­ge­ne Teams durch An­griffs­lust, Wil­lens­kraft und den wort­wört­li­chen „Schuss ins Blaue hi­n­ein“ so aus dem Kon­zept brin­gen kön­nen, dass der hohe Fa­vo­rit letzt­lich als Ver­lie­rer vom Platz geht.

Auch über Fuß­ball zu schrei­ben ist an­ders als bei an­de­ren Sport­ar­ten. Wenn 50 Sport­jour­na­lis­ten zu­sam­men auf der Pres­se­tri­bü­ne sit­zen, um über ein Fuß­ball­spiel zu be­rich­ten, ist die Wahr­schein­lich­keit groß, dass hin­ter­her 50 ver­schie­de­ne In­ter­pre­ta­tio­nen des Spiel­ver­laufs da­bei he­r­aus­kom­men. Fuß­ball ist wie eine wei­ße Lein­wand mit 22 Künst­lern auf dem Feld, die sich ab­ra­ckern, nach­den­ken, sprin­ten, an­grei­fen und kämp­fen und da­bei ein Meis­ter­werk er­schaf­fen mit Spiel­zü­gen und Be­we­gun­gen, die nie­mals wie­der­holt wer­den kön­nen. Einen eben­so wich­ti­gen Be­stand­teil der Fuß­ball­kul­tur bil­den die end­lo­sen Dis­kus­sio­nen nach den Spie­len dar­über, wer gut oder wer schlecht ge­spielt hat, wer das Spiel für sei­ne Mann­schaft ent­schie­den oder rui­niert hat, wel­ches Team ver­dient  hat zu ge­win­nen oder nicht, war es ein Tor oder war es keins? Fuß­ball­spie­le las­sen viel mehr Raum für In­ter­pre­ta­tio­nen als an­de­re gän­gi­ge ame­ri­ka­ni­sche Sport­ar­ten, weil es so we­nig mess­ba­re „Sta­tis­ti­ken“ oder „Re­sul­ta­te“ aus den 90 Mi­nu­ten gibt, ab­ge­se­hen na­tür­lich von den er­ziel­ten To­ren, Eck­stö­ßen, Gel­ben oder Ro­ten Kar­ten oder ge­lau­fe­nen Ki­lo­me­tern. Es gibt au­ßer­dem nur drei Schieds­rich­ter, um die 22 Spie­ler zu be­auf­sich­ti­gen, was noch mehr Raum für Irr­tü­mer, In­ter­pre­ta­tio­nen und Dis­kus­sio­nen schafft. Vie­le Deut­sche bei­spiel­wei­se be­har­ren heu­te noch dar­auf, dass Geoff Hursts Tor für Eng­land, in der Nach­spiel­zeit des Welt­meis­ter­schafts­fi­na­les im Lon­do­ner Wem­bley-Sta­di­on im Jah­re 1966, also vor ei­nem hal­ben Jahr­hun­dert, nicht über der Li­nie war und da­her nicht hät­te ge­zählt wer­den dür­fen. Es ging als neu­es Wort so­gar in die deut­sche Spra­che ein, in­dem das „Wem­bley­tor“ zum  Syn­onym für un­ver­dien­te oder un­recht­mä­ßi­ge Ge­win­ne wur­de.

Es mag sein, dass es in je­dem Spiel be­son­de­re Wen­de­punk­te gibt wie bei an­de­ren Sport­ar­ten, auf die sich Sport­jour­na­lis­ten fo­kus­sie­ren. Aber Fuß­ball ist we­ni­ger die Sum­me der Er­geb­nis­se aus je­dem Spiel, wie dies beim Foot­ball, Ba­se­ball oder Bas­ket­ball der Fall ist. Statt­des­sen ist es ein Spiel vol­ler Über­ra­schun­gen, Im­puls­än­de­run­gen, blitz­ar­ti­ger Ge­gen­an­grif­fe, bril­lan­ter Ret­tungs­ak­tio­nen von den Au­ßen­sei­tern, die plötz­lich „ent­ge­gen dem Spiel­ver­lauf“ ein fa­bel­haf­tes Ge­gen­tor schie­ßen, aus­ge­führt von ei­ner Mann­schaft, die zu­vor kom­plett an die Wand ge­spielt schi­en. Und dann sind da die wirk­lich ma­gi­schen Spie­le, in de­nen bei­de Mann­schaf­ten plötz­lich ge­ra­de­zu über sich hi­n­aus­zu­wach­sen schei­nen und die Men­ge mit krea­ti­ven An­grif­fen und ner­ven­kit­zeln­den Tor­chan­cen oder To­ren mit­rei­ßen.

Manch­mal kann man ge­ra­de­zu füh­len, wie sich die Kraft der ju­beln­den Zu­schau­er­men­ge von den Rän­gen hi­n­un­ter auf das Spiel­feld über­tragt, ein Ener­gie­stoß, der die Spie­ler an­zu­trei­ben scheint, schnel­ler zu ren­nen und al­les zu ge­ben.

Egal ob man auf dem Flug­ha­fen in Athen, in ei­nem Bus in Ber­lin, in ei­nem Café in Kai­ro, in ei­ner Fan-Bar in Flo­renz, in ei­nem Ho­tel in Hel­sin­ki, auf ei­nem Markt in Mos­kau, in ei­nem Nacht­club in Ni­ge­ria, in ei­nem Pub in Pre­to­ria, in ei­nem Re­stau­rant in Rio, in ei­nem Taxi in To­kyo, in ei­ner Sau­na in Schwe­den oder so­gar in ei­nem Zoo in Zaire sitzt – die Chan­cen ste­hen gut, dass man es schafft, mit egal wem ins Ge­spräch zu kom­men, wenn man an­fängt, von Fuß­ball zu spre­chen, von dem letz­ten Cham­pi­ons-League-Spiel, der letz­ten Welt­meis­ter­schaft oder der nächs­ten Welt­meis­ter­schafts­qua­li­fi­ka­ti­on.

Fuß­ball ist das Spiel, das die Welt mehr zu­sam­men­führt als die Ver­ein­ten Na­tio­nen. „Große Fuß­bal­ler­eig­nis­se lie­fern et­was von dem Ge­mein­sinn, für den frü­her Ge­werk­schaf­ten, Kir­chen und roya­le Hoch­zei­ten zu­stän­dig wa­ren“, schrie­ben Si­mon Ku­per und Ste­fan Szy­man­ski in Soc­cer­no­mics. Wich­ti­ge Fuß­ball­spie­le ha­ben in fast al­len eu­ro­päi­schen Län­dern die­se einen­de Rol­le ... Es gibt nichts, was eine Ge­sell­schaft in der Wei­se zu­sam­menschweißt wie eine Welt­meis­ter­schaft, wenn die ei­ge­ne Mann­schaft da­bei ist. Aus­nahms­wei­se schaut fast je­der im Land plötz­lich das­sel­be Fern­seh­pro­gramm und spricht am nächs­ten Tag bei der Ar­beit dar­über.

Be­zeich­nen­der­wei­se neh­men die ame­ri­ka­ni­schen Sol­da­ten Fuß­bäl­le, kei­ne Foot­ball- oder Ba­se­ball­bäl­le, wenn sie in der Nähe ih­rer Mi­li­tär­sta­tio­nen im Irak, in Af­gha­nis­tan oder La­tein­ame­ri­ka ver­su­chen, Kon­takt zu den ein­hei­mi­schen Kin­dern auf­zu­bau­en. Mehr als Eng­lisch ist Fuß­ball die Lin­gua fran­ca des 21. Jahr­hun­derts. Es ist das Spiel, das die Welt spielt. Warum ein Buch über Jür­gen Klins­mann? Ich hat­te das Glück, Jür­gen Klins­mann wäh­rend der zwei Jah­re bis zur Welt­meis­ter­schaft 2006 ken­nen­zu­ler­nen, in de­nen er Trai­ner der deut­schen Na­tio­nal­mann­schaft war.

An­fangs war ich nur ei­ner der vie­len ner­vi­gen Jour­na­lis­ten, die bei den Pres­se­kon­fe­ren­zen in Deutsch­land un­be­que­me Fra­gen stell­ten. Zu mei­ner an­ge­neh­men Über­ra­schung be­ant­wor­te­te Klins­mann die Fra­gen mit kla­ren, ehr­li­chen und in­tel­li­gen­ten Ant­wor­ten, an­statt mit den üb­li­chen Kli­schees oder „cle­ve­ren“ Aus­weich­ma­nö­vern zu re­agie­ren. So et­was hat­te ich noch nie zu­vor er­lebt. Ich hat­te wäh­rend die­ser zwei Jah­re auch meh­re­re Ge­le­gen­hei­ten, Klins­mann zu in­ter­view­en, zum Teil in sei­ner Wahl­hei­mat in Süd­ka­li­for­ni­en, wo er je­den Mo­nat ei­ni­ge Wo­chen zwi­schen den Spie­len und Trai­nings­ein­hei­ten in Deutsch­land ver­brach­te. Ich lern­te ihn als in­ter­essan­ten, un­kom­pli­zier­ten, un­prä­ten­ti­ösen, ehr­li­chen und un­glaub­lich sym­pa­thi­schen Ge­sprächs­part­ner ken­nen. Als Jour­na­list be­wun­de­re ich seit je­her Per­sön­lich­kei­ten, die kei­ne Angst ha­ben, an­ge­stamm­te Weis­hei­ten be­zie­hungs­wei­se den Sta­tus quo an­zu­zwei­feln und Klins­mann war ei­ner der mu­tigs­ten, der sich ohne Angst ge­traut hat, das Sys­tem auf­zu­rüt­teln und Din­ge ins Rol­len zu brin­gen. Wir setz­ten un­se­re Ge­sprä­che fort, nach­dem Klins­mann auf­ge­hört hat­te, die deut­sche Na­tio­nal­mann­schaft zu trai­nie­ren. Wir tra­fen uns teils in Deutsch­land, teils in den USA und die Ge­sprä­che dreh­ten sich nicht not­wen­di­ger­wei­se nur um Fuß­ball, aber egal wor­über wir uns un­ter­hiel­ten, wa­ren sie glei­cher­ma­ßen auf­schluss­reich, in­spi­rie­rend und zu­tiefst er­freu­lich.

Die In­ter­views mit Jür­gen Klins­mann zäh­len zu den denk­wür­digs­ten, die ich in 40 Be­rufs­jah­ren als Jour­na­list hat­te. Er war nicht nur en­thu­sias­tisch be­züg­lich sei­nes Jobs und sei­ner Zie­le, son­dern sprüh­te auch vor Ide­en. Er war neu­gie­rig und die­se Neu­gier­de be­schränk­te sich nicht nur auf den Sport. Ein paar Mal freu­te er sich zwar, mich zu tref­fen, woll­te aber ei­gent­lich kein In­ter­view ge­ben. Manch­mal brach­te ich mei­ne Toch­ter oder mei­nen Sohn mit; ein­mal war auch sei­ne Toch­ter da­bei. Manch­mal un­ter­hiel­ten wir uns auf Deutsch, manch­mal auf Eng­lisch. Da­bei wa­ren mei­ne Deutsch­kennt­nis­se ähn­lich sei­nen Eng­lisch­kennt­nis­sen: ei­gent­lich ganz gut, aber mit un­über­hör­ba­rem Ak­zent. Manch­mal stell­te er mir fast ge­nau­so vie­le Fra­gen dar­über, wor­an ich ge­ra­de ar­bei­te und wie es mir ging, wie ich ihm stell­te. Oft spra­chen wir über die Vor- und Nach­tei­le des Le­bens in den USA im Ver­gleich zu Deutsch­land. Wir ha­ben uns auch über Spra­chen un­ter­hal­ten und dar­über, dass da­bei war Spa­nisch zu ler­nen, un­ter an­de­rem, um die vie­len spa­nisch­spra­chi­gen Fern­seh­über­tra­gun­gen von Fuß­ball­spie­len in den USA zu ver­ste­hen und um mit den aus La­tein­ame­ri­ka stam­men­den Spie­lern bes­ser kom­mu­ni­zie­ren zu kön­nen; aber auch ganz ein­fach, weil er gern Fremd­spra­chen lernt. Ge­le­gent­lich un­ter­hiel­ten wir uns auch dar­über, was er bei sei­nen mehr­wö­chi­gen Hos­pi­tan­zen bei den Los An­ge­les La­kers oder dem USC-Foot­ball-Team ge­ra­de ge­lernt hat­te. Jür­gen Klins­mann zeich­net eine un­still­ba­re Neu­gier­de aus, und ob­wohl er zu der Zeit nicht als Trai­ner tä­tig war, lös­te es bei mir den Wunsch aus, sei­ne Ide­en und sei­ne Art, den Sta­tus quo in­fra­ge zu stel­len und im­mer nach ei­nem Weg zu su­chen, wie man die Din­ge noch bes­ser ma­chen kann, in  Ruhe und in der Tie­fe in ei­nem Buch nach­le­sen zu kön­nen. Aber ich muss­te fest­stel­len, dass es ein sol­ches Buch über Klins­mann nicht gab.

Also frag­te ich ihn vor etwa acht Jah­ren, warum es kei­ne eng­lisch­spra­chi­gen Bio­gra­fi­en oder Bü­cher über sei­ne Ide­en gäbe und ob er sich vor­stel­len kön­ne, dass ich ein Buch über sein Le­ben und sei­ne Trai­nings­phi­lo­so­phie schrei­ben wür­de. Ich fand den Ge­dan­ken span­nend, Klins­manns Wis­sen, Neu­gier und Tat­kraft so­wie sei­ne Ide­en be­züg­lich Fuß­ball und Trai­ning im All­ge­mei­nen auch in den USA ei­nem brei­te­ren Pu­bli­kum zu­gäng­lich zu ma­chen. Aber Klins­manns Ant­wort lau­te­te im­mer höf­lich, aber be­stimmt: „Nein dan­ke!“

Er war ein­fach nicht in­ter­es­siert zu­rück­zu­schau­en. Klins­mann ge­noss es sicht­lich, in Ka­li­for­ni­en in re­la­ti­ver An­ony­mi­tät le­ben zu kön­nen. Er ge­noss die­se Frei­heit und zeigt kei­ne Spur von Ei­tel­keit. Über sich selbst zu spre­chen, be­rei­tet ihm ir­gend­wie ein ge­wis­ses Un­be­ha­gen. Klins­mann wech­selt in die­sem Fall ent­we­der zü­gig das The­ma oder nutzt statt des „Ichs“ das un­per­sön­li­che „Man“. Eine rück­bli­cken­de Bio­gra­fie war das Al­ler­letz­te, was ihm wich­tig war. Wo­mög­lich könn­te ir­gend­ei­ne Zei­tung so­gar auf die Idee kom­men, ein­zel­ne Aus­sa­gen aus dem Zu­sam­men­hang zu neh­men, um sie für eine rei­ße­ri­sche Schlag­zei­le zu miss­brau­chen. Jür­gen Klins­mann hat­te kei­ne al­ten Rech­nun­gen zu be­glei­chen und war  mit sich im Rei­nen. Er sah über­haupt kei­ne Not­wen­dig­keit, in die Ver­gan­gen­heit zu­rück­zu­bli­cken. Das war eben nicht sein Ding.

Kurz nach der Welt­meis­ter­schaft 2014, in­mit­ten ei­ner wei­te­ren span­nen­den Dis­kus­si­on dar­über, wie un­ter­schied­lich Ame­ri­ka­ner be­zie­hungs­wei­se bes­ser und Deut­sche die Be­grif­fe Ge­duld und „Lang­zeit­per­spek­ti­ve“ be­trach­ten, wag­te ich einen letz­ten Ver­such, ihn doch noch um­zu­stim­men: „Hey Jür­gen, ich bin ein Ame­ri­ka­ner, der sein hal­bes Le­ben in Deutsch­land ver­bracht hat und du bist ein Deut­scher, der be­reits fast die Hälf­te sei­nes Le­bens in den USA ge­lebt hat. Wer also könn­te bes­ser als ich in ei­nem Buch für die Ame­ri­ka­ner dar­über schrei­ben, wo­her du kommst und was du in den USA mit dem Fuß­ball ver­wirk­li­chen möch­test?“ Er lä­chel­te und ant­wor­te­te die­ses Mal plötz­lich an­ders:  „Okay, ich den­ke mal dar­über nach.“ Viel­leicht ge­fiel ihm die Hart­nä­ckig­keit? Oder dach­te er, dass je­mand, der die Din­ge von au­ßen be­trach­tet, viel­leicht doch in­ter­essan­te Per­spek­ti­ven auf­zei­gen könn­te? Oder woll­te er nur end­lich sei­ne Ruhe vor mir ha­ben? Ei­ni­ge Wo­chen spä­ter rief er mich an und sag­te mir, dass er auf kei­nen Fall eine Au­to­bio­gra­fie wol­le, dass er aber nichts da­ge­gen habe, wenn ich un­se­re Ge­sprä­che und un­se­re In­ter­views in Form ei­nes Bu­ches ver­öf­fent­li­che.

Zu un­se­ren früh­mor­gend­li­chen Tref­fen, oft bei bes­tem Kaf­fee in der Son­ne Ka­li­for­ni­ens oder vor Freund­schaftss­pie­len der ame­ri­ka­ni­schen Na­tio­nal­mann­schaft in Eu­ro­pa, hat­te ich im­mer eine Men­ge Fra­gen im Ge­päck. Manch­mal schaff­ten wir es nur, ein oder zwei oder drei die­ser Fra­gen zu be­spre­chen, weil sei­ne Be­geis­te­rung über Fuß­ball an sich und die Rol­le des Fuß­balls in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten der­art mit ihm „durch­ging“, dass wir stun­den­lang nur dar­über spra­chen. Jür­gen Klins­mann be­ant­wor­te­te ge­dul­dig Fra­gen zu sei­ner Ver­gan­gen­heit, aber war ein­deu­tig mehr an der Zu­kunft in­ter­es­siert. Ich hat­te mich im­mer ge­fragt, warum er in frü­he­ren In­ter­views Fra­gen zu sei­ner Ver­gan­gen­heit als Spie­ler nur un­gern be­ant­wor­tet hat­te. Jetzt ver­stand ich ihn: „Den Spie­ler Klins­mann gibt es nicht mehr“, sag­te er.

Es wur­de in un­se­ren Ge­sprä­chen klar, dass Jür­gen Klins­mann als Trai­ner der ame­ri­ka­ni­schen Na­tio­nal­mann­schaft nur ein Ziel hat und zwar, das Bes­te aus der Mann­schaft he­r­aus­zu­ho­len und sei­ner so lieb ge­won­ne­nen Wahl­hei­mat ei­nes Ta­ges viel­leicht so­gar zum Welt­meis­ter­schafts­ti­tel zu ver­hel­fen. Die Er­folgs­for­mel ist da­bei der ähn­lich, mit der er der deut­schen Na­tio­nal­mann­schaft von 2004–2006 so sehr ge­hol­fen hat, aus der Ver­sen­kung he­r­aus wie­der an die Welt­spit­ze zu kom­men und mit de­ren Hil­fe  er den FC Bay­ern Mün­chen zu ei­ner neu­en Stär­ke in der Cham­pi­ons League führ­te. Da­bei ist sich Klins­mann be­wusst, dass Wunsch­den­ken und Wün­sche al­lein nicht aus­rei­chen. He­r­aus­for­de­run­gen müs­sen ge­meis­tert wer­den und auch un­be­que­me Wahr­hei­ten zur Spra­che kom­men.

Teil I Klins­mann – die frü­hen Jah­re

Wie al­les be­gann

Jür­gen Klins­mann war ein acht­jäh­ri­ges blon­des Ener­gie­bün­del, als er das ers­te Mal in ei­nem Ver­ein Fuß­ball spiel­te. Das war 1973, und wie die meis­ten Jungs in sei­nem Al­ter nutz­te er zu­vor schon seit frü­he­s­ter Kind­heit jede Ge­le­gen­heit, um mit sei­nen Kum­pels Fuß­ball zu spie­len: auf der Stra­ße, in Parks und in den Pau­sen auf dem Schul­hof.

Be­vor Jür­gen Klins­mann mit acht Jah­ren erst­mals in ei­ner Mann­schaft spiel­te, mit Re­geln, Tri­kots und ei­nem Trai­ner, hat­te er es ein Jahr zu­vor mit Tur­nen ver­sucht, wozu ihn sein Va­ter ani­miert hat­te. Sieg­fried Klins­mann, zu der Zeit 40 Jah­re alt und von Be­ruf Bäcker­meis­ter, hat­te in sei­ner Ju­gend ge­turnt und war in sei­ner Frei­zeit Trai­ner im ört­li­chen Turn­ver­ein, dem TB Gin­gen. Er dach­te, dass Tur­nen für sei­nen Sohn eine gute He­r­aus­for­de­rung sein kön­ne und ein Ven­til, einen Teil von Jür­gens reich­lich vor­han­de­ner Ener­gie ab­zu­bau­en. Also nahm er sei­nen zwei­t­äl­tes­ten Sohn mit in den Turn­ver­ein, als die­ser sie­ben war. Aber das Bo­den­tur­nen, der Grätsch­sprung und der Ba­lan­cier­bal­ken hin­ter­lie­ßen bei Jür­gen kei­nen blei­ben­den Ein­druck. Es fehl­ten ihm Span­nung und „Ac­tion“, wie er sich er­in­nert. Ein we­nig spä­ter nah­men ihn sei­ne Kum­pels mit zum Hand­ball­trai­ning. Aber auch das konn­te ihn nicht nach­hal­tig über­zeu­gen.

Im Win­ter 1973, ei­ni­ge Mo­na­te nach­dem Deutsch­land 1972 die ers­te von drei Eu­ro­pa­meis­ter­schaf­ten ge­won­nen hat­te, nah­men Freun­de ihn mit zum Trai­ning der Fuß­ball­mann­schaft des Tur­ner­bund Gin­gen. Er war da­mals acht­ein­halb Jah­re alt und lieb­te das Spiel in sei­ner or­ga­ni­sier­ten Form so­fort ge­nau­so, wie er zu­vor das Ki­cken mit Freun­den ge­liebt hat­te. Die Schnel­lig­keit, Be­we­gung, die Ener­gie des Sports fas­zi­nier­ten ihn und ganz be­son­ders das Freu­den­ge­fühl, wenn es ihm ge­lang, ein Tor zu schie­ßen.

„Ich habe es ein­fach ge­liebt, viel zu lau­fen, alle Ener­gie auf dem Feld he­r­aus­las­sen zu kön­nen, und ich lieb­te das groß­ar­ti­ge Ge­fühl da­nach“, er­zählt Klins­mann in der Er­in­ne­rung an sei­ne ers­ten Trai­nings­ein­hei­ten im Ver­ein. „Fuß­ball war ein so wun­der­ba­res Ven­til für all die Ener­gie, die ich hat­te. Ich war be­ses­sen da­von, zu ren­nen und zu spie­len. Ich hat­te so viel Ener­gie, dass ich stun­den­lang Fuß­ball spie­len konn­te. Es mach­te mir ein­fach großen Spaß und ich lieb­te es von An­fang an. Es gab mir ein rich­tig gu­tes Ge­fühl.“

Er wur­de Mit­glied im Fuß­ball­ver­ein und trug die rot-wei­ßen Tri­kots des TB Gin­gen. Ver­gleicht man die Hier­ar­chie des Fuß­balls mit ei­ner Py­ra­mi­de, so be­fand sich der TB Gin­gen ganz am Fuße der­sel­ben, auf der Ein­gangs­stu­fe des or­ga­ni­sier­ten Fuß­balls. Aber für Jür­gen führ­te der Weg von der brei­ten Py­ra­mi­den­ba­sis in den dar­auf­fol­gen­den Jah­ren ste­tig nach oben bis zur Spit­ze. Tau­sen­de Jun­gen in sei­nem Al­ter be­gan­nen 1973 in ei­nem Ver­ein Fuß­ball zu spie­len, aber nur we­ni­ge er­reich­ten die obe­re Stu­fe der Py­ra­mi­de, die Bun­des­li­ga, und noch we­ni­ger schaff­ten es wie er bis zur Spit­ze, in die Na­tio­nal­mann­schaft.

In den USA feh­len die­se kla­ren Struk­tu­ren in der Fuß­ball­py­ra­mi­de noch im­mer, und es ist eine nicht un­wich­ti­ge Sa­che, die Klins­mann zu än­dern ver­sucht, seit er 2011 Trai­ner und 2013 Tech­ni­scher Di­rek­tor der ame­ri­ka­ni­schen Na­tio­nal­mann­schaft wur­de.

Als Kind hat­te Klins­mann kei­ne Vor­stel­lung da­von, wie weit er es im Fuß­ball brin­gen wür­de. Er lieb­te es ein­fach, Fuß­ball zu spie­len und ge­mein­sam mit sei­nen Mann­schafts­ka­me­ra­den  und Freun­den sei­ne Fä­hig­kei­ten wei­ter­zu­ent­wi­ckeln. Sein Ziel da­mals war es, in die ers­te Mann­schaft des TB Gin­gen zu kom­men, ei­nem Ver­ein, der 1870 als Turn­ver­ein ge­grün­det wur­de. Im Lau­fe der Zeit ka­men eine Hand­ball-, eine Leicht­ath­le­tik- und eine Fuß­ball­ab­tei­lung dazu. Vie­le Turn­ver­ei­ne wur­den in Deutsch­land als Teil der na­tio­na­len Be­we­gung des 19. Jahr­hun­derts ge­grün­det, lan­ge be­vor im Jah­re 1874 der Fuß­ball aus Eng­land im­por­tiert wur­de. Aus die­sem Grund tra­gen auch heu­te noch vie­le deut­sche Spit­zen­clubs den Zu­satz „Tur­nen“ im Ver­eins­na­men.

Jür­gen Klins­mann ge­noss es, in ei­ner Mann­schaft Fuß­ball zu spie­len und merk­te, wie sich sei­ne Fä­hig­kei­ten durch das stun­den­lan­ge Üben im Ver­ein und zu Hau­se rasch und wie von selbst ver­bes­ser­ten. Im Ge­gen­satz zu den USA gibt es in Deutsch­land kei­ne Sport­clubs als Teil der schu­li­schen Ak­ti­vi­tä­ten, so dass die Kin­der und Ju­gend­li­chen für die­se Wett­kampf­ak­ti­vi­tä­ten Mit­glied in ei­nem Sport­ver­ein wer­den müs­sen. Klins­manns tie­fe lang­jäh­ri­ge Ver­bun­den­heit mit dem Fuß­ball­sport geht also ganz klar auf sei­ne Zeit im TB Gin­gen zu­rück.

Es gibt zwi­schen den Städ­ten in den USA und in Deutsch­land vie­le klei­ne­re und grö­ße­re kul­tu­rel­le Un­ter­schie­de. Ein wich­ti­ger Un­ter­schied be­steht dar­in, dass in ei­nem Dorf wie Gin­gen, ei­ner ver­schla­fe­nen 4.000-See­len-Ort­schaft am Ufer des Flus­ses Fils, die vor mehr als 1.000 Jah­ren ge­grün­det wur­de,  Zeit und Fort­schritt mit ei­nem an­de­ren Maß­stab ge­mes­sen wer­den als in den USA. Wenn die Be­woh­ner ei­nes Städt­chens mit mehr als 1.000-jäh­ri­ger Ge­schich­te von ei­ner Lang­zeit­per­spek­ti­ve spre­chen, so mei­nen sie da­mit nicht Wo­chen oder Mo­na­te. Ge­duld ist ein Be­stand­teil ih­res Le­bens. Wenn Jür­gen Klins­mann von ei­ner Lang­zeit­per­spek­ti­ve für den US-ame­ri­ka­ni­schen Fuß­ball spricht, dann tut er dies vor dem Hin­ter­grund sei­ner deut­schen Wur­zeln und denkt da­bei in Zeiträu­men von Jah­ren oder De­ka­den oder even­tu­ell so­gar Ge­ne­ra­tio­nen an­statt von Mo­na­ten oder ein bis zwei Jah­ren.

Die Wo­chen­end-Spie­le des TB Gin­gen zo­gen dut­zen­de von Zu­schau­ern aus dem Ort an und zwar nicht nur El­tern und Freun­de, son­dern zahl­rei­che Bür­ger, die Freu­de dar­an fan­den, den Kin­dern bei der Aus­übung des be­lieb­tes­ten deut­schen Sports zu­zu­schau­en. Klins­manns Va­ter kam re­gel­mä­ßig auf den Platz und schau­te, wenn ir­gend mög­lich, bei je­dem Spiel zu, nach­dem die Ar­beit in der Bä­cke­rei für den Tag ge­tan war.

Der or­ga­ni­sier­te Fuß­ball ist be­kann­ter­ma­ßen eine ernst­haf­te An­ge­le­gen­heit in ganz Deutsch­land. Der DFB, der Deut­sche Fuß­ball Bund, ist mit 6,9 Mil­lio­nen Mit­glie­dern die größ­te Or­ga­ni­sa­ti­on die­ser Art welt­weit. Als sich Klins­mann beim TB Gin­gen ein­schrieb, war er da­mit ei­nes von 112.858 Kin­dern in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, die 1973 Mit­glied ei­nes Fuß­ball­ver­eins wur­den. Die Mit­glieds­ge­büh­ren wa­ren mit un­ge­fähr 30 DM im Jahr be­zahl­bar, so wie sie es auch heu­te noch sind. Trai­ner wa­ren da­mals wie heu­te meist ehe­ma­li­ge Ver­einss­pie­ler, wel­che die Trai­ne­r­auf­ga­be in der Re­gel eh­ren­amt­lich über­nah­men. Dies steht in ei­nem wei­te­ren Ge­gen­satz zur Si­tua­ti­on in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten, wo Trai­ner meis­tens haupt­amt­lich tä­tig sind, da­für aber nicht un­be­dingt über ei­ge­ne Er­fah­run­gen als Spie­ler ver­fü­gen. Da­durch, dass Fuß­ball in Deutsch­land seit je­her eine re­la­tiv preis­wer­te Sport­art war, war und ist er bei Kin­dern aus al­len ge­sell­schaft­li­chen Schich­ten be­liebt, vor al­lem in Fa­mi­li­en mit ein­ge­schränk­ten fi­nan­zi­el­len Mit­teln. „Wir ka­men alle aus Fa­mi­li­en mit ei­nem be­schei­de­nen Ein­kom­men und ha­ben uns durch­ge­kämpft“, er­zählt Klins­mann. „In­ter­na­tio­nal be­trach­tet, ist Fuß­ball ein Sport, den haupt­säch­lich Kin­der aus Fa­mi­li­en der Un­ter- und Mit­tel­schicht aus­üben. In den USA ist dies an­ders.“

Es gab 1973 ins­ge­samt 98.911 Mann­schaf­ten in den 15.980 Clubs, die da­mals beim DFB re­gis­triert wa­ren. Von 1972 bis 1973, dem Jahr, in dem Klins­mann Ver­eins­mit­glied wur­de, stieg die Mit­glie­der­zahl der beim DFB ein­ge­schrie­be­nen Spie­ler von 3.084.901 auf 3.197.759 an. In den nächs­ten vier Jahr­zehn­ten ver­dop­pel­te der DFB sei­ne Mit­glie­der­zahl auf 6.889.115 im Jahr 2015. An­ders aus­ge­drückt, spiel­ten 2015 in Deutsch­land mehr Men­schen Fuß­ball, als Dä­ne­mark, Finn­land oder Jor­da­ni­en Ein­woh­ner ha­ben.

Die Punkt­spie­le der Kin­der und Ju­gend­li­chen wa­ren in vie­len klei­nen und grö­ße­ren Städ­ten in ganz Deutsch­land wich­ti­ge Er­eig­nis­se, die nicht nur den Kin­dern ein Ven­til bo­ten, son­dern gleich­zei­tig eine wich­ti­ge ge­sell­schaft­li­che Funk­ti­on in den Ge­mein­den ein­nah­men, die sport­be­geis­ter­te Kin­der und Ju­gend­li­che mit ih­ren El­tern und in­ner­halb der Ge­mein­den ver­bin­den. Die Zahl der neu­en Ver­eins­mit­glie­der steigt nor­ma­ler­wei­se in den auf einen EM- oder WM-Sieg der deut­schen Na­tio­nal­mann­schaft fol­gen­den Jah­ren si­gni­fi­kant an, nach­dem prak­tisch die ge­sam­te Na­ti­on das Tur­nier im Fern­se­hen ver­folgt hat mit Re­korde­in­schalt­quo­ten von bis zu 86 %. Das Jahr 1973, ein Jahr, nach­dem die Bun­des­re­pu­blik die So­w­jet­u­ni­on mit 3:0 ge­schla­gen hat und da­mit bei der EM in Bel­gi­en erst­mals den Eu­ro­pa­meis­ter­ti­tel ge­wann, stell­te hier­bei kei­ne Aus­nah­me dar. Tau­sen­de Kin­der im gan­zen Land wur­den wie Klins­mann da­durch mo­ti­viert, Mit­glied in ei­nem Fuß­ball­ver­ein zu wer­den.

Die klas­si­sche ame­ri­ka­ni­sche „soc­cer mom“ gibt es in Deutsch­land in die­ser Form nicht und er­for­dert in Deutsch­land und in vie­len an­de­ren Län­dern der Welt großen Er­klä­rungs­be­darf. Denn Fuß­ball ist in Deutsch­land ein Sport, der Men­schen al­ler ge­sell­schaft­li­chen Schich­ten und Al­ters­grup­pen glei­cher­ma­ßen be­geis­tert und ist nicht auf die Haus­frau­en aus den bes­ser ge­stell­ten Vor­or­ten be­schränkt, die ihre Kin­der zu di­ver­sen au­ßer­schu­li­schen Ak­ti­vi­tä­ten kut­schie­ren. In Deutsch­land schau­en bei den Spie­len Müt­ter, Vä­ter, Ge­schwis­ter, Tan­ten und On­kel, Oma und Opa zu und fah­ren und be­glei­ten ihre Kin­der, Ge­schwis­ter oder an­de­re Fa­mi­li­en­mit­glie­der freu­dig zum Trai­ning und zu Punkt­spie­len. „Als Kind wird man von sei­ner Um­ge­bung ge­prägt, und mei­ne Um­ge­bung war halt ein klei­ner Ver­ein in mei­nem Hei­mat­ort, der ver­schie­de­ne Sport­ar­ten an­bot – Tur­nen, Hand­ball und Fuß­ball“, er­zählt Klins­mann, der in den USA ver­sucht, eine ähn­lich breit­ba­si­ge Struk­tur für den Fuß­ball­sport auf­zu­bau­en, die Spie­ler aus den Ju­gend­mann­schaf­ten bis ganz an die Spit­ze führt. „Mei­ne Fa­mi­lie war dem Tur­nen ver­bun­den, da­her pro­bier­te man das zu­erst aus. Dann nimmt ein Freund dich mit zum Hand­ball­trai­ning, und du ver­suchst es da­mit. Der nächs­te Freund nimmt dich dann zum Fuß­ball­trai­ning mit, und dort stellst du fest, dass dir das am meis­ten Spaß macht. So funk­tio­nier­te es da­mals in Deutsch­land. Das ist das Schö­ne an dem dor­ti­gen Ver­eins­sys­tem. Du kannst ganz ein­fach ver­schie­de­ne Din­ge aus­pro­bie­ren, um he­r­aus­zu­fin­den, was das Rich­ti­ge für dich ist. Es hängt au­ßer­dem viel da­von ab, was dei­ne bes­ten Freun­de ma­chen und das wird in Deutsch­land in 90 % der Fäl­le Fuß­ball sein.“

Klins­mann wur­de am 30. Juli 1964 in Göp­pin­gen ge­bo­ren, in der Nähe von Gin­gen. Die­ses Jahr mar­kier­te den Gip­fel des Ba­by­booms in Deutsch­land mit der Re­kord­ge­bur­ten­ra­te von 1.357.304 Kin­dern in West- und Ost­deutsch­land zu­sam­men­ge­nom­men. Nie­mals da­vor oder da­nach wur­den in Deutsch­land in ei­nem ein­zi­gen Jahr so vie­le Kin­der ge­bo­ren.

Klins­mann war von den Wett­be­werbs­be­din­gun­gen in­ner­halb der Ju­gend­mann­schaft des TB Gin­gen fas­zi­niert und gleich­zei­tig durch sei­ne sich stän­dig ver­bes­sern­den Leis­tun­gen an­ge­spornt. Schon im zar­ten Al­ter von acht Jah­ren war er hoch mo­ti­viert und be­saß den un­still­ba­ren Wunsch, sich zu ver­bes­sern. Er woll­te der bes­te Spie­ler auf dem Platz sein und in den Spie­len so viel wie mög­lich ein­ge­setzt wer­den. Na­tür­lich woll­te er au­ßer­dem ge­win­nen und mög­lichst vie­le Tore schie­ßen – ein Ehr­geiz, der ihn das nächs­te Vier­tel­jahr­hun­dert über an­trei­ben und bis ganz nach oben brin­gen soll­te.

Klins­mann ver­mei­det es im Großen und Gan­zen, in der Ver­gan­gen­heit zu schwel­gen. Den­noch huscht ein Lä­cheln über sein Ge­sicht, wenn er an sei­ne Fuß­ball­be­geis­te­rung als Kind zu­rück­denkt. „In die­ser klei­nen Ge­mein­schaft war man ein­fach da­von be­ses­sen, Fuß­ball zu spie­len. Also machst du das mit dei­nen Kum­pels auf der Stra­ße, und ir­gend­wann pro­bierst du es im ört­li­chen Fuß­ball­ver­ein. So habe ich an­ge­fan­gen. Da­mals war acht Jah­re in etwa das frü­he­s­te Ein­stiegsal­ter, um im Ver­ein zu spie­len. Für jün­ge­re Kin­der gab es da­mals noch kei­ne Struk­tu­ren. Das hat sich heu­te kom­plett ge­än­dert. Heut­zu­ta­ge fan­gen vie­le Kin­der be­reits mit fünf Jah­ren an, im Ver­ein zu spie­len!“

Fuß­ball war ein Jahr­zehnt vor Klins­manns Ge­burt ein wich­ti­ger Bau­stein der na­tio­na­len Iden­ti­tät ge­wor­den. Dies re­sul­tier­te zum Teil aus der Eu­pho­rie, die aus­brach, als das Land 1954 durch den Sieg über Un­garn die Welt­meis­ter­schaft ge­wann und aus den Nach­wir­kun­gen die­ses his­to­ri­schen Tri­um­phes. Der un­er­war­te­te Er­folg des Teams der jun­gen Bun­des­re­pu­blik war ei­ner der aus­lö­sen­den Fak­to­ren des deut­schen „Wirt­schafts­wun­ders“ und der un­er­war­te­te Auf­stieg aus den Rui­nen des 2. Welt­krie­ges. Der star­ke Ein­fluss, den der Fuß­ball auf die deut­sche Psy­che aus­üb­te, kann zu ei­nem er­heb­li­chen An­teil auf die­sen le­gen­dären Welt­meis­ter­schafts­sieg zu­rück­ge­führt wer­den. Der Ge­winn der Welt­meis­ter­schaft nach und in so schwie­ri­gen Zei­ten leis­te­te einen wich­ti­gen Bei­trag zu ei­ner so­zia­len, kul­tu­rel­len, po­li­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Ket­ten­re­ak­ti­on, von der Volks­wirt­schaft­ler be­haup­ten, dass sie ge­hol­fen habe, das le­gen­däre Wirt­schafts­wun­der, den Boom der 50er-Jah­re aus­zu­lö­sen. Nach ei­nem Jahr­zehnt der Nach­kriegs­de­pres­si­on und Ver­zweif­lung hell­te sich die Stim­mung schlag­ar­tig auf. Der Fuß­ball half mehr als al­les an­de­re, das Land aus sei­ner Nach­kriegs­le­thar­gie zu be­frei­en. Der Ti­tel­ge­winn 1954 ver­bes­ser­te die Grund­stim­mung und half Mil­lio­nen von Deut­schen, sich nach Jahr­zehn­ten der Äch­tung und Iso­la­ti­on als Fol­ge der Nazi-Ver­gan­gen­heit wie­der als Teil der Welt­ge­mein­schaft füh­len zu kön­nen. Ver­ständ­li­cher­wei­se war und ist Fuß­ball seit­dem mehr als nur ein Spiel für die Deut­schen.

Klins­manns zwei­ter Ge­burts­tag hät­te ein Freu­den­tag für ganz Deutsch­land wer­den kön­nen, wur­de statt­des­sen aber ein Tag der Trau­er. Das Land war we­der 1958 noch 1962 in der Lage, den Er­folg des Welt­meis­ter­schafts­sie­ges von 1954 zu wie­der­ho­len. 1958 ver­lo­ren sie das Halb­fi­na­le ge­gen den Gast­ge­ber Schwe­den 3:1 und 1962 schie­den sie durch eine 1:0-Nie­der­la­ge ge­gen Ju­go­sla­wi­en im Vier­tel­fi­na­le aus. Aber 1966 wa­ren sie nahe dran, nach zwölf Jah­ren wie­der eine Welt­meis­ter­schaft zu ge­win­nen. Sie er­reich­ten das Fi­na­le ge­gen Gast­ge­ber Eng­land. Aber sie ver­lo­ren, als Eng­lands Geoff Hurst in der elf­ten Mi­nu­te der 30-mi­nü­ti­gen Nach­spiel­zeit ein um­strit­te­nes Tor zu­ge­spro­chen wur­de und der Spiel­stand dann 3:2 lau­te­te. Hursts Schuss war ge­gen die Lat­te ge­prallt und auf, aber even­tu­ell nicht ganz über die Li­nie ge­sprun­gen, be­vor ein deut­scher Ver­tei­di­ger den Ball aus dem Tor­be­reich klä­ren konn­te. War es wirk­lich ein Tor oder nicht? Es ist eine der ganz großen Kon­tro­ver­sen des Fuß­balls und wird ver­mut­lich nie ab­schlie­ßend ge­löst wer­den. Eng­land schoss eine Mi­nu­te vor Ab­pfiff ein vier­tes Tor, als Deutsch­land nach vor­ne stürm­te in dem ver­zwei­fel­ten Ver­such, ein Aus­gleich­stor zu schie­ßen.

Eine Wo­che, nach­dem Jür­gen Klins­mann 1973 in die Ju­gend­mann­schaft des TB Gin­gen ein­ge­tre­ten war und einen ers­ten Ein­druck vom Fuß­ball mit fes­ten Re­geln be­kom­men hat­te, wur­de er in den letz­ten zehn Mi­nu­ten ei­nes Punkt­spiels ge­gen einen Ver­ein na­mens FTSV Ku­chen als Er­satz­spie­ler ein­ge­setzt. Er wur­de aufs Feld ge­schickt, nach­dem man ihm noch eine kur­ze Ein­wei­sung in eine Re­gel ge­ge­ben hat­te, um die sich beim Spie­len mit sei­nen Kum­pels bis­her nie­mand Ge­dan­ken ge­macht hat­te. „Hei, was isch ei­gent­lich Ab­seits?“, frag­te Klins­mann, be­vor er aufs Feld lief. So be­schreibt Ro­land Ei­tel Klins­manns An­fän­ge beim TB Gin­gen in sei­ner Bio­gra­fie Jür­gen Klins­mann – Der Weg nach oben. Beim nächs­ten Spiel, eine Wo­che spä­ter ge­gen den SV Al­ten­stadt, schoss Klins­mann bei ei­nem 5:1-Sieg für sei­ne Mann­schaft sein ers­tes Tor. In der E-Ju­gend, in der die Acht- bis Zehn­jäh­ri­gen spie­len, wur­de Klins­mann für sein Ta­lent als Tor­jä­ger bald be­kannt.

Wie man weiß, sind die Deut­schen in den meis­ten Din­gen sehr gut or­ga­ni­siert, und das trifft ganz be­son­ders auf den Fuß­ball zu. Ob­wohl er in sei­ner of­fi­zi­el­len Form we­nig an Schu­len und Uni­ver­si­tä­ten ge­spielt wird – im Ge­gen­satz zu den USA –, gibt es das ein­gangs be­schrie­be­ne py­ra­mi­den­för­mi­ge Sys­tem mit sei­ner kla­ren Hier­ar­chie, in der Spie­ler nach Al­ter und nach Leis­tung Stu­fe für Stu­fe er­klim­men kön­nen.

Als Klins­mann an­fing Ver­eins­fuß­ball zu spie­len, be­gann die nach Al­ter struk­tu­rier­te Ein­tei­lung mit der E-Ju­gend, in der im Ge­gen­satz zu den Ju­gend- und Er­wach­senen­teams nur sie­ben statt elf Spie­ler auf dem Feld sind. Im Ju­gend­be­reich folg­ten auf die E-Ju­gend vier wei­te­re Al­ter­s­stu­fen, D (11 bis 13 Jah­re), C (14 bis 15 Jah­re), B (16 bis 17 Jah­re) und A (18 bis 19 Jah­re), be­vor die Ju­gend­li­chen in die Er­wach­se­nen­mann­schaft auf­ge­nom­men wer­den konn­ten. Wo­bei spä­tes­tens nach dem Durch­lau­fen der A-Ju­gend vie­le Spie­ler den Ver­eins­fuß­ball zu­nächst ver­lie­ßen, da sie ent­we­der leis­tungs­mä­ßig nicht mit­hal­ten konn­ten oder woll­ten be­zie­hungs­wei­se oft durch Be­ruf oder Stu­di­um an­der­wei­tig ein­ge­bun­den wa­ren.

Dies hat sich bis heu­te kaum ge­än­dert. Der Un­ter­schied be­steht vor al­lem dar­in, dass die Kin­der heut­zu­ta­ge we­sent­lich frü­her an­fan­gen, in ei­ner Mann­schaft zu spie­len, so­dass es be­reits eine G-Ju­gend für die un­ter Sie­ben­jäh­ri­gen gibt und eine F-Ju­gend für die Sie­ben- bis Acht­jäh­ri­gen. „Durch die­se or­gan­sier­te Form des Fuß­ball­sports wer­den auch für die Jün­ge­ren die Er­geb­nis­se auf­ge­schrie­ben, man hat sei­ne fes­te Mann­schaft in ei­ner vor­ge­ge­be­nen Liga und man trägt Mann­schaft­stri­kots“, sagt Klins­mann. „Dies ist der Mo­ment, in dem man das, was man beim Spie­len auf der Stra­ße ge­lernt hat, auf den or­ga­ni­sier­ten Fuß­ball über­trägt und wei­ter­ent­wi­ckelt.“

Un­ter­schwel­lig ver­brei­tet die­ses strik­te Ein­tei­lungs­sys­tem eine sub­ti­le Bot­schaft, in­dem es den Kin­dern und Ju­gend­li­chen einen stän­di­gen An­reiz bie­tet, die nächst­hö­he­re Stu­fe zu er­rei­chen. Es weckt ab ei­nem frü­hen Al­ter bei den Kin­dern den Wunsch, bes­ser zu wer­den. Die sub­ti­len Druck­mit­tel und Be­loh­nun­gen, die in die­sem Sys­tem ver­steckt sind, sol­len die Spie­ler be­stän­dig dar­in be­stär­ken, die nächs­te Stu­fe der Py­ra­mi­de er­klim­men zu wol­len und ih­nen gleich­zei­tig das Ge­fühl ge­ben, dies sei die na­tür­lichs­te Sa­che der Welt.

Klins­mann hat­te als Acht­jäh­ri­ger eine un­be­grenz­te Ener­gie und An­trieb, aber nicht die lei­ses­te Ah­nung, dass er ei­nes Ta­ges sei­nen Le­bens­un­ter­halt durch Fuß­ball spie­len ver­die­nen wür­de und noch viel we­ni­ger, dass er mit elf To­ren bei drei Welt­meis­ter­schaf­ten ei­ner der pro­fi­lier­tes­ten Tor­schüt­zen sei­nes Lan­des wer­den wür­de. Wie die meis­ten sei­ner Freun­de beim TB Gin­gen über­stieg es sei­ne Vor­stel­lungs­kraft, dass er im Fuß­ball weit ge­nug kom­men wür­de, um dies be­ruf­lich aus­zu­ü­ben. Er lieb­te es ein­fach, zu spie­len und ge­noss von An­fang an den da­mit ein­her­ge­hen­den Leis­tungs­druck. „Zu dem Zeit­punkt hast du kei­ne Ah­nung, wie sich dein Le­ben ent­wi­ckeln wird“, sagt er. „Du spielst Fuß­ball, weil es dir Spaß macht und weil es das ist, was dei­ne Freun­de tun.“

Klins­mann be­wahr­te sich die­se kind­li­che und an­ste­cken­de Be­geis­te­rung auf dem Spiel­feld, wäh­rend er Stu­fe um Stu­fe die Py­ra­mi­de des Fuß­balls hö­her­stieg. Auch in spä­te­ren Jah­ren war es für Klins­mann-Fans eine Freu­de zu se­hen, dass er sich die­se ju­gend­li­che Be­geis­te­rung be­wahrt hat­te, die sich vor al­lem in sei­nen un­ge­brems­ten Freu­den­stür­men bei To­ren für sein Land oder sei­ne je­wei­li­gen Ver­ei­ne in Deutsch­land, Ita­li­en, Frank­reich und Eng­land zeig­te. Die­se sorg­lo­se Un­schuld schi­en im Wi­der­spruch zu ste­hen zu sei­nem Al­ter, sei­ner jah­re­lan­gen Er­fah­rung und sei­nem Sta­tus als Pro­fi. Der Ju­bel, wenn er ein Tor schoss, schi­en sich nicht von dem zu un­ter­schei­den, wie der zehn­jäh­ri­ge Jür­gen Klins­mann sei­ne Tore für den TB Gin­gen ge­fei­ert hat­te. So­gar vier Jahr­zehn­te spä­ter muss sich je­der, der be­ob­ach­tet, wie Klins­mann sich beim Trai­ning auf dem Platz mit den Spie­lern der ame­ri­ka­ni­schen Na­tio­nal­mann­schaft in „5 ge­gen 2“-Fuß­ball-drills stürzt, über die ju­gend­li­che Be­geis­te­rung die­ses über 50-jäh­ri­gen Trai­ners wun­dern.

In ei­nem auf Fuß­ball fi­xier­ten Land wie Deutsch­land lag eine mög­li­che Kar­rie­re als Pro­fi für die meis­ten Ju­gend­li­chen au­ßer­halb ih­rer Vor­stel­lungs­kraft. Die Bun­des­li­ga und gar der Pro­fi­be­reich schie­nen Licht­jah­re ent­fernt. Die Bun­des­li­ga­spie­le wur­den da­mals nicht ein­mal live im Fern­se­hen über­tra­gen. Statt­des­sen gab es die Sport­schau, in der die Hö­he­punk­te der ein­zel­nen Spie­le oft in kur­zen Film­bei­trä­gen zu­sam­men­ge­fasst und dis­ku­tiert wur­den. Zu der Zeit hat­te Klins­mann ganz an­de­re Zu­kunfts­plä­ne. Er er­zähl­te je­dem, der ihn da­nach frag­te, dass er Pi­lot wer­den wol­le, wenn er groß sei. Fuß­ball spiel­te er nur zum Spaß. „In die­sem Um­feld ei­ner Fuß­ball­na­ti­on hat­te je­des Kind, das mit ein biss­chen Ta­lent ge­seg­net war, zu­nächst ein ein­zi­ges Ziel, und zwar je­nes, das sich di­rekt vor ih­nen in Sicht- und Reich­wei­te be­fand“, er­zählt Klins­mann. Er be­wun­dert das küh­ne Selbst­be­wusst­sein der Kin­der des 21. Jahr­hun­derts in den USA, wo die Träu­me groß sind und die Kin­der sich ohne zu zö­gern vor­stel­len, dass sie spä­ter selbst ein­mal die Stars in ei­nem NBA-Fi­na­le, ei­nem Su­per Bowl oder ei­nem Welt­cup sein könn­ten. „Als ich ein Kind war, dach­te man eher: Du wirst nie­mals gleich ein Ziel er­rei­chen, das hun­der­te von Ki­lo­me­tern ent­fernt liegt. Das war al­les so weit weg“, er­zählt er mit nicht we­nig Ver­wun­de­rung über die Fä­hig­keit jun­ger Ame­ri­ka­ner, ihre Zie­le so hoch zu ste­cken.

Er war im Juli 1973 ge­ra­de neun Jah­re alt ge­wor­den und hat­te hart trai­niert, so­wohl im Ver­ein beim TB Gin­gen als auch zu Hau­se mit Freun­den, wo sie stun­den­lang ge­gen Wän­de und Ga­r­agen­to­re spiel­ten. Ei­nes Ta­ges spiel­te er für Gin­gen ge­gen einen Fuß­ball­club aus Ai­chel­berg. Ob­wohl er erst seit we­ni­gen Mo­na­ten im Ver­ein spiel­te, schoss Klins­mann 16 Tore, und sei­ne Mann­schaft ge­wann 20:0. Das Er­geb­nis war umso be­ein­dru­cken­der, wenn man be­denkt, dass die Punkt­spie­le in die­ser Al­ter­sklas­se nur aus zwei Halb­zei­ten à 20 Mi­nu­ten be­ste­hen. Klins­mann fühl­te, dass sich die tau­sen­den Stun­den, die er mit sei­nen Freun­den und im Ver­ein ge­übt hat­te, aus­zu­zah­len be­gan­nen. Sei­ne Päs­se, sein Ball­ge­fühl und sei­ne Schüs­se wur­den kon­ti­nu­ier­lich bes­ser. Für Klins­mann war das eine wich­ti­ge Lek­ti­on über den Sinn und den Lohn har­ter Ar­beit, die er für sein gan­zes wei­te­res Le­ben ver­in­ner­lich­te.

„Es war die­ser enor­me An­trieb durch das Spie­len in der Nach­bar­schaft“, er­in­nert sich Klins­mann. „Der Ver­ein war mit ei­nem Spiel und ei­ner Trai­nings­ein­heit nur eine Er­gän­zung. Das ech­te Trai­ning fand in ei­ner Um­ge­bung statt, die sich selbst an­trieb, je­den Tag. Das war mei­ne Haupt­frei­zeit­be­schäf­ti­gung in der Nach­bar­schaft da­mals. Ich ging nach drau­ßen und spiel­te täg­lich nach der Schu­le – oder wenn ich mit mei­nen Haus­auf­ga­ben fer­tig war – drei, vier oder fünf Stun­den Fuß­ball. Ich hat­te kei­ne Vor­stel­lung da­von, wie gut oder wie schlecht ich war. Ich woll­te ein­fach bes­ser wer­den – und Tore schie­ßen. Ich hat­te kei­ne Ah­nung, wie die Din­ge sich ent­wi­ckeln wür­den. Ich lieb­te ganz ein­fach das Ge­fühl, Tore zu schie­ßen, egal ob beim Punkt­spiel auf dem Feld oder zwi­schen zwei Stö­cken oder zwei Klei­der­hau­fen. Wann im­mer ich ein Tor schoss, rann­te ich in das Tor hi­n­ein, hol­te den Ball und brach­te ihn so schnell ich konn­te zu­rück zur Mit­tel­li­nie. Ich leg­te den Ball ab und sag­te zu der an­de­ren Mann­schaft: Los, wei­ter.“

Klins­manns Er­folgs­bi­lanz nach sei­ner denk­wür­di­gen ers­ten Sai­son in der Ju­gend­mann­schaft be­lief sich auf 106 Tore in 18 Spie­len. An­ders aus­ge­drückt also sechs Tore pro Spiel. Das war eine be­acht­li­che Leis­tung für einen Neu­ling in ei­ner Ge­gend, die als eine von vie­len Brut­stät­ten des Fuß­balls in Deutsch­land galt. Sei­ne To­rer­fol­ge weck­ten Klins­manns Ap­pe­tit auf mehr ...

„Kurz nach sei­nem neun­ten Ge­burts­tag wur­de er so­gar über die en­gen Gren­zen von Gin­gen hi­n­aus be­kannt“, schreibt Ei­tel über die­sen au­ßer­or­dent­li­chen Star in sei­ner Bio­gra­fie über Klins­mann. Ei­tel war Sportre­por­ter für die Stutt­gar­ter Zei­tung und wur­de spä­ter Klins­manns Freund und sein Me­dien­be­ra­ter in Deutsch­land. „Das große Ta­lent Jür­gen Klins­mann wur­de dort in Gin­gen ent­deckt. Es dau­er­te nicht lan­ge, bis er, die Sport­ta­sche tra­gend, die fast so groß war wie er selbst, nach Hau­se kam und auf Schwä­bisch ver­kün­de­te: Mir hen g’won­ne, i han a Tor g’schos­se. Mit der Zeit be­trat Jür­gen im­mer öf­ter am spä­ten Sams­tagnach­mit­tag das Haus der Klins­manns mit die­ser Kun­de.“

Der An­fang: die deut­sche Ein­stel­lung

Die mo­der­nen Fuß­ball­re­geln wur­den 1863 zu­nächst in Eng­land stan­dar­di­siert. Aber in der Fol­ge­zeit wur­de der Fuß­ball­sport un­trenn­bar mit der deut­schen Ge­schich­te ver­wo­ben. Man könn­te so­gar be­haup­ten, dass er der deut­schen Na­ti­on seit 1954 einen neu­en Le­bens­sinn ge­ge­ben hat, näm­lich in dem Jahr, in dem die Au­ßen­sei­ter aus der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land al­len Ein­schät­zun­gen zum Trotz die Welt­meis­ter­schaft ge­wan­nen. Mit ins­ge­samt vier WM-Ti­teln 1954, 1974, 1990 und 2014 so­wie dem zehn­ma­li­gen Er­rei­chen des Halb­fi­na­les bei den letz­ten 13 Welt­meis­ter­schaf­ten zählt Deutsch­land zur welt­weit er­folg­reichs­ten Fuß­ball­na­ti­on der letz­ten 60 Jah­re. Das Spiel mag in Eng­land er­fun­den wor­den sein, aber per­fek­tio­niert wur­de es in Deutsch­land. Warum? Warum ist Deutsch­land so er­folg­reich?

Zu­nächst ist die An­zahl der Deut­schen, die Fuß­ball spie­len, im in­ter­na­tio­na­len Ver­gleich er­staun­lich hoch. Es gibt welt­weit kei­ne an­de­re Fuß­ball­or­ga­ni­sa­ti­on oder eine an­de­re Spor­t­or­ga­ni­sa­ti­on mit so vie­len Mit­glie­dern wie dem deut­schen Fuß­ball­bund. Wie schon be­schrie­ben, hat­te der DFB 2015 6.822.233 Mit­glie­der, die in 165.229 Mann­schaf­ten spiel­ten. Im Jahr 1900 ge­grün­det, be­deu­tet der DFB das Rück­grat des Spiels in Deutsch­land, dem mit 82 Mil­lio­nen Men­schen ein­wohn­er­reichs­ten Land West­eu­ro­pas. Ein wich­ti­ger Grund, dass Fuß­ball ein so ho­hes An­se­hen in Deutsch­land ge­nießt, ist ein­deu­tig die Welt­meis­ter­schaft von 1954 und der Ein­fluss, den sie auf die wie­der­au­fer­stan­de­ne deut­sche Na­ti­on hat­te. Das Tur­nier wur­de erst­mals 1930 in Uru­guay als se­pa­ra­ter Wett­kampf aus­ge­tra­gen. Da­vor war es seit 1900 Teil der Olym­pi­schen Spie­le. Bei den Spie­len von 1932 in Los An­ge­les stand es al­ler­dings, welch Über­ra­schung, nicht auf dem Plan, da es in den USA als nicht be­liebt ge­nug an­ge­se­hen war.

Bei der Welt­meis­ter­schaft 1934 wur­de Deutsch­land Drit­ter; 1938 schie­den sie in der ers­ten Run­de aus. Die Welt­meis­ter­schaf­ten 1942 und 1946 fie­len we­gen des Zwei­ten Welt­krie­ges aus. 1945 wur­de Deutsch­land ge­teilt und von den Sie­ger­mäch­ten USA, Groß­bri­tan­ni­en, Frank­reich und der So­w­jet­u­ni­on be­setzt. Von der Welt­meis­ter­schaft 1950 in Bra­si­li­en wur­de Deutsch­land aus­ge­schlos­sen. Als sie 1954 wie­der ein­ge­la­den wur­de teil­zu­neh­men, galt die zu­sam­men­ge­stückel­te bun­des­deut­sche Mann­schaft bei dem Tur­nier in der Schweiz als un­ge­setz­ter si­che­rer Ver­lie­rer. Umso grö­ßer war die Über­ra­schung, als das Team in Bern bis zum Fi­na­le kam.  Die deut­sche Mann­schaft hat­te bei ih­rem zwei­ten Spiel des Tur­niers schon ein­mal 3:8 ge­gen die Un­garn, die am­tie­ren­den Olym­pia­sie­ger, ver­lo­ren. Un­garns „Gol­de­ne Elf“ („Ara­ny­cs­a­pat“ auf Un­ga­risch) hat­te auf dem Weg ins Fi­na­le ge­gen Deutsch­land seit 32 Spie­len wäh­rend der letz­ten zwei Jah­re eine be­ein­dru­cken­de Sie­ges­s­träh­ne.

Das Spiel wur­de am reg­ne­ri­schen Nach­mit­tag des 4. Juli 1954 auf ei­nem durch­ge­weich­ten Spiel­feld im Wank­dorf-Sta­di­on durch­ge­führt. In der Bun­des­re­pu­blik gab es zu der Zeit nur 4.000 Fern­seh­ge­rä­te, aber Mil­lio­nen ver­folg­ten das Spiel im Ra­dio und die Stra­ßen wa­ren wie leer­ge­fegt. Die Men­schen in Deutsch­land hock­ten dicht­ge­drängt in Knei­pen oder in den Häu­sern der Leu­te, die ein Ra­dio be­sa­ßen und lausch­ten, als die deut­sche Mann­schaft nach den ers­ten acht Mi­nu­ten schon 2:0 zu­rück­lag, be­vor sie tap­fer zu­rück­schlug, den Aus­gleich zum 2:2 er­reich­te und schließ­lich dank ei­nes spä­ten Tors von Hel­mut Rahn mit 3:2 sieg­te. Die Deut­schen wa­ren wie in Tran­ce, als der Ra­dio­re­por­ter Her­bert Zim­mer­mann die un­s­terb­li­chen Wor­te brüll­te: „Aus, aus, aus, das Spiel ist aus! Deutsch­land ist Welt­meis­ter!“

Zim­mer­manns emo­tio­na­le Be­richt­er­stat­tung treibt manch ei­nem Deut­schen, der alt ge­nug ist und das Spiel da­mals live ver­folgt hat, im­mer noch Trä­nen in die Au­gen und auch die jün­ge­ren, nach 1954 ge­bo­re­nen Deut­schen be­kom­men eine Gän­se­haut. Die­ser völ­lig un­er­war­te­te Welt­meis­ter­ti­tel gab der Bun­des­re­pu­blik von da­mals 52 Mil­lio­nen Men­schen eine neue Le­bens­zu­ver­sicht und einen Grund, ih­ren Kopf wie­der auf­recht zu tra­gen. Der Zwei­te Welt­krieg war erst seit neun Jah­ren zu Ende und die­ser Sieg im Fuß­ball half, die in­ter­na­tio­na­le Iso­lie­rung  zu über­win­den, die vie­le Deut­sche nach dem Krieg er­lebt hat­ten. Die­ser un­er­war­te­te Tri­umph bei dem Tur­nier, an dem 16 Mann­schaf­ten teil­nah­men, wur­de in der Bun­des­re­pu­blik als das „Wun­der von Bern“ be­kannt. Es gab dem ge­bro­che­nen, zer­bomb­ten, vom Krieg er­nied­rig­ten und ent­ehr­ten Land eine neue Iden­ti­tät –„Fuß­ball­welt­meis­ter“. Be­son­ders für die jün­ge­re Ge­ne­ra­ti­on, wie für Klins­manns da­mals 21-jäh­ri­gen Va­ter, be­deu­te­te der Ge­winn der Welt­meis­ter­schaft einen Wen­de­punkt in der Ge­schich­te ih­res Lan­des. „Wir sind wie­der wer“, war das Ge­fühl, das die Deut­schen emp­fan­den und aus­spra­chen. „Mein Va­ter sprach viel über 1954 und wie viel der Welt­meis­ter­schafts­sieg da­mals be­deu­te­te“, er­zählt Klins­mann, der als Trai­ner im Jahr 2004 si­cher­ging, dass auch die jün­ge­ren Spie­ler in der Mann­schaft al­les über den Zau­ber von 1954 wuss­ten, in­dem er CDs mit den Hö­he­punk­ten des Spiels von Bern ver­teil­te. „Das Land mach­te da­mals nach dem Krieg eine schwie­ri­ge Zeit durch, und Fuß­ball gab den Leu­ten Hoff­nung und et­was, an das sie wie­der glau­ben konn­ten.“

Ei­ni­ge His­to­ri­ker ha­ben den Ge­winn der Welt­meis­ter­schaft als den Au­gen­blick be­zeich­net, in dem die Na­ti­on wie­der­ge­bo­ren wur­de. Die­ses Er­eig­nis durf­te in man­cher Hin­sicht wich­ti­ger ge­we­sen sein als die neue Ver­fas­sung und die Wahl des ers­ten Nach­kriegs­par­la­men­tes 1949. Es war viel­leicht so­gar be­deut­sa­mer als Zün­dung für das „Wirt­schafts­wun­der“ als die Wäh­rungs­re­form 1948, bei der die Deut­sche Mark die Reichs­mark er­setz­te und so­gar wich­ti­ger als die „Stun­de Null“, als der Krieg in dem be­sieg­ten Land im Mai 1945 vor­über war. Der Ge­winn der Welt­meis­ter­schaft 1954 war ein Au­gen­blick des un­be­schreib­li­chen Stol­zes für die jun­ge Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Es war ein un­ver­hoff­ter Sieg, der in der Tat half, Deutsch­lands le­gen­däres öko­no­mi­sches Wun­der, das „Wirt­schafts­wun­der“, in Gang zu brin­gen. Es führ­te zu ei­ner Pha­se des schnel­len wirt­schaft­li­chen Wachs­tums und Wohl­stands, durch wel­che das Land aus der Nach­kriegs­re­zes­si­on he­r­aus­ge­lang­te. Deutsch­lands Wirt­schaft be­weg­te sich auf ei­nem atem­be­rau­ben­den Ex­pan­si­ons­kurs. Am Ende des Jahr­zehnts ge­hör­te es zu den füh­ren­den In­dus­trie­na­tio­nen der Welt.