K.o. nach zwölf Runden - Christine Rocchigiani - E-Book

K.o. nach zwölf Runden E-Book

Christine Rocchigiani

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  • Herausgeber: BEBUG
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Sie war Ehefrau, Managerin und noch vieles mehr: Christine Rocchigiani lebte zwölf Jahre lang das Leben ihres Mannes - Boxweltmeister Graciano "Rocky" Rocchigiani. Dabei gab sie alles und zerbrach am Ende daran. In ihrer berührenden Autobiographie beschreibt sie erstmals, wie es ist, sich in einen Promi zu verlieben, was hinter den Kulissen der großen Boxkämpfe ablief, welche Rolle Drogen und Alkohol im Show-Business spielen, und warum sie trotz seiner Eskapaden so lange an der Seite ihres Mannes blieb. Ehrlich, selbstbewußt und lebensklug teilt Christine Rocchigiani ihre Erfahrungen und gibt Denkanstöße, die dabei helfen, auch Niederlagen positiv zu sehen und das Beste daraus zu machen: aufzustehen und weiterzugehen. Jetzt erst recht!

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Seitenzahl: 305

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Christine Rocchigiani   K.O. NACH ZWÖLF RUNDEN

Christine Rocchigiani

K.O. NACHZWÖLF RUNDEN

Meine Autobiographie

Unter Mitarbeit von Claudia Weingärtner

eISBN 978-3-86789-601-6

1. Auflage© 2013 by BEBUG mbH / vip Verlag, BerlinUmschlaggestaltung: Jana Krumbholz, ACDMUmschlagabbildung: André Kowalski

INHALT

Prolog

Runde 1: Wie alles begann

Runde 2: Frisch verliebt

Runde 3: Hinter Gittern

Runde 4: Streit, Streit, Streit

Runde 5: Christine macht das schon

Runde 6: Die Schattenseiten der großen Boxwelt

Runde 7: Der erste Bruch – die Hochzeit

Runde 8: Mein Mann gegen Maske

Runde 9: Dicke Enttäuschung, Klappe die zweite

Runde 10: Der Zusammenbruch

Runde 11: Der letzte Versuch

Runde 12: Das Ende

Epilog

Danksagung

PROLOG

Das Ratschen des Reißverschlusses reißt mich aus dem Schlaf. Es war kein lautes Geräusch, eher ein unerwartetes, außerdem hatte ich vermutlich nur gedöst, nachdem ich mal wieder den ganzen Abend auf ihn gewartet hatte.

Es ist dunkel im Schlafzimmer, aber nicht stockfinster. Die hellen Seidenvorhänge halten das Licht des Mondes und den Schein der Straßenlaternen nicht vollkommen ab, haben sie noch nie. Seit einem Jahr wohnen wir in dem freistehenden Einfamilienhaus in einem kleinen Ort nahe Timmendorf. Und seit elf Monaten will ich mich um neue, dunklere Gardinen kümmern, denke ich. Weiß Gott, warum ich es noch immer nicht getan habe.

Ich erkenne die Umrisse des Mannes, der vor dem Bett steht. Die Umrisse des Mannes, den ich vor zwölf Jahren kennen- und lieben lernte, die Umrisse meines Mannes, meines Ehemannes: Graciano Rocchigiani.

Boxer. Weltmeister. Promi.

Macho. Häftling. Draufgänger.

Frauenschwarm. Samariter. Gutmensch.

Dieser Mann, der all das in einer Person ist, steht schnaufend vor dem Bett – und ist kurz davor, auf seine Hälfte der Doppelmatratze zu pinkeln.

»Graciano«, zische ich und erschrecke über meinen eigenen Ton, der dem einer alten Hexe gleicht. Was ist aus mir geworden?

»Graciano«, sage ich, dieses Mal ein kleines bisschen milder, schlage die Bettdecke zur Seite, setze erst den linken, dann den rechten Fuß auf den dunkelblauen Teppichboden, den der Eigentümer vor unserem Einzug extra für uns hatte verlegen lassen, und taste mich zu ihm hinüber. »Das hier ist nicht die Toilette.«

Mein Mann kam schon oft betrunken nach Hause. Er roch dann meistens so wie jetzt: saurer Geruch von aufgestoßenem Bier. Beißende Schweißnote. Marlboro-Mief. Ich kenne diese müffelnde Mischung nur zu Genüge. Oft habe ich sie ignoriert, oft darüber geschimpft. Heute aber spüre ich: Ich kann nicht mehr. Will nicht mehr. Es ist zu anstrengend.

Ich versuche, die Gedanken zu verdrängen, aber ich schaffe es nicht. Mein Körper sträubt sich. Ich erschaudere förmlich. Spüre die Gänsehaut unter meinem dünnen Nachthemd, als ich mich ihm langsam nähere.

Graciano weicht aus, torkelt zur Tür – offensichtlich fest davon überzeugt, dort das wahre Örtchen gefunden zu haben. Wieder greift er sich in den Schritt. Wieder ist er kurz davor, Wasser zu lassen.

Ich packe ihn am Arm, führe ihn hinaus in den Flur. Links das Treppengeländer, rechts die alte Truhe vor der Wand, die ich selbst in einem schicken Beigeton gestrichen hatte. Für was eigentlich?, frage ich mich und komme nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu führen: Gracianos Hand donnert mit voller Wucht in mein Gesicht.

»Du dreckige Hure«, fährt er mich an, und ich starre hoch, in eiskalte Augen. Was ist aus ihm geworden?

Eine warme Flüssigkeit läuft mir aus der Nase, und erst als ein roter Tropfen mein weißes Nachthemd trifft, sehe ich, dass es Blut ist. Komisch, denke ich, es tut gar nicht weh.

Nicht die Nase schmerzt, nicht mein Kopf, nicht mal mein Herz, das so oft geschmerzt hatte in den letzten Monaten und Jahren. Ich spüre nichts, rein gar nichts. Mein Sprachzentrum scheint tot. Ich kann nichts sagen, kein Wort bringe ich heraus. Es ist, als sei mein Körper aus Gummi. Eine Figur ohne Seele, ferngesteuert von irgendwo.

Wie in Trance greife ich zum Treppengeländer, umklammere es, als würde es mir davonlaufen. Ich taumele die Stufen hinunter, wie eine Marionette, Hauptsache weg. Weg von Graciano.

Ins Gäste-WC. Hände waschen. Abtrocknen.

Im Spiegel sehe ich eine Frau, die einen Handabdruck auf der linken Gesichtshälfte hat. Bin ich das?

Augen schließen. Weitergehen.

Zur Couch im Wohnzimmer. Ich verkrieche mich unter einer Wolldecke.

Oben plätschert es, Graciano hat die Toilette offensichtlich endlich gefunden. Die richtige dieses Mal? Zumindest höre ich erst die Spülung, dann seine schweren Schritte und einen halbherzigen Rülpser, schließlich die Schlafzimmertür.

Normalerweise denke ich eher zu viel als zu wenig nach, oft stundenlang, tagelang, nächtelang. Jetzt schießt mir nur ein Satz durch den Kopf: Das war’s.

Meine Augenlider klappen herunter wie die einer Porzellanpuppe. Einfach zumachen. Alles dunkel. Besser. Ich will nichts mehr sehen, und schaffe es. Ein traumloser Schlaf übermannt mich.

Das war’s. Als hätte der Satz sich im Schlaf in mein Gehirn gebrannt, wache ich drei Stunden später mit exakt demselben Gedanken auf: Das war’s.

Das war’s.

Das war’s.

Das war’s.

Draußen dämmert es, ein eigentlich schöner Tag bricht an. Für mich wird er nicht schön. Er wird der Anfang vom Ende. Der Tag, an dem ich endlich durchziehe, was längst fällig ist. Der Tag, an dem ich gehe.

Zwölf Jahre lang stand ich an seiner Seite.

Ich war Ehefrau. Beste Freundin. Geliebte.

Managerin. Beraterin. Anwältin.

Haushälterin. Mutterersatz. Spielkameradin.

Zwölf Jahre lang hatte ich sein Leben gelebt. Zwölf Jahre lang hatte ich mein eigenes Leben vernachlässigt. Es vergessen. Mich verloren.

Ich liege auf der Wohnzimmercouch, auf der ich die Nacht verbrachte, und fühle mich, als läge ich im Ring. Zusammengeschlagen. Platt. Am Ende. Ich bin fertig, nein: fix und fertig.

Ich bin K.o. nach zwölf Runden.

RUNDE

WIE ALLES BEGANN

An einem sonnigen Herbsttag im Oktober 1988 sehe ich Graciano Rocchigiani zum ersten Mal. Ich bin 21 Jahre alt und mit meinem Freund Manfred in der Deutschlandhalle am Messedamm in Berlin-Charlottenburg.

Da unten, im Ring, verteidigt Graciano »Rocky« Rocchigiani seinen Weltmeistertitel im Supermittelgewicht gegen den US-Amerikaner Chris Reid. Hier oben, im Außenring, verteidigt Manfred die billigen Plätze, die er uns Wochen vor der groß angekündigten Veranstaltung besorgt hat.

»Das ist wie im Kino«, sagt er, während er sich das letzte Stück seiner Currywurst in den Mund schiebt und darauf herumkaut, als müsse er gerade ein halbes Schwein mit seinen Zähnen zerkleinern, »die Plätze hinten sind die besten. Glaub mir, hier hat man die beste Übersicht.«

Seit drei Jahren ist Manfred mein Freund. Drei Jahre, 36 Monate – mindestens 35 Monate zu lang. Er ist 22 Jahre älter als ich, hat zu viel Bauch, zu wenig Haare und viel zu wenig Selbstbewusstsein. Seinem Geschäftspartner, mit dem er einen kleinen Club am Mehringdamm führt, folgt er blind, und wenn wir mal nicht einer Meinung sind, rutscht ihm vor lauter Unsicherheit gern mal die Hand aus – vermutlich, weil er nicht weiß, wie er sich sonst wehren soll.

Anfangs mochte ich das Gefühl, mit einem so viel älteren Mann zusammen zu sein. Ich schaute zu ihm auf, liebte es, wenn er mir die Welt erklärte, und hatte Spaß daran, ihn ab und zu mit seinem Alter zu necken, ihn auf Touren zu bringen. Doch das ließ nach, schnell, schon nach Wochen und dann täglich ein Stückchen mehr. Geschätzte hundert Mal wollte ich unsere Beziehung bereits beenden, und jetzt, in der Deutschlandhalle, ist er schon wieder da, der Trennungsgedanke.

Ich sollte es ihm endlich sagen, denke ich. Nach dem Kampf. Noch heute Abend. Es passt einfach nicht.

Manfred springt auf und reißt mich aus meinen Gedanken. Er ist nicht der einzige, der auf einmal steht, ganz im Gegenteil: Ich bin die einzige, die noch sitzt. Um mich herum tobt die Menge. Graciano Rocchigiani muss da unten irgendeine Heldentat vollbracht haben, denn seine Fans sind völlig außer sich. »RO-CKY«, brüllen sie, »Gib alles«, und wieder, immer wieder: »RO-CKY«!

Wie durch Zauberhand vertreiben die Schreie das, was mein Hirn gerade noch so intensiv beschäftigt hat. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, und plötzlich bin ich dabei. Eine der elftausend Zuschauer, die so abgehen. Ich brülle mit, schwitze mit, klatsche mit, fiebere mit.

Durch die Ränge fließt eine Energie, der man sich kaum entziehen kann. Selbst hier im Außenring.

Es ist nicht so, als hätte ich mich je ernsthaft fürs Boxen interessiert. Heute sehe ich den ersten Kampf live, und das auch nur, weil Manfred mich mitgenommen hat. Früher, als kleines Mädchen, hat mich dieser Sport zwar fasziniert – aber bloß, weil unsere Eltern so ein Bohei darum machten. Wenn sie mitten in der Nacht aufstanden, um die Muhammad-Ali-Kämpfe zu verfolgen, krochen ich und meine großen Schwestern Beate und Marion heimlich aus den Betten. Wir schlichen uns zur angelehnten Wohnzimmertür, schielten durch den winzigen Spalt auf die Mattscheibe – und fanden das furchtbar aufregend, obwohl wir am Ende nie so richtig kapierten, wieso diese Männer sich gegenseitig hauen dürfen, ohne dass jemand dazwischengeht, so wie unsere Lehrerin Frau Grätschel auf dem Pausenhof, wenn die Jungs aus der Schule sich rauften.

Da verkloppen sich zwei, und Tausende rasten aus, weil sie dabei zusehen dürfen, denke ich jetzt, 15 Jahre später. Und am Ende liegt einer am Boden, und die Masse tobt noch mehr. Ob es das innere Teufelchen in uns ist, das da so einen Spaß dran hat?

Eigentlich doch verrückt. Ich streiche das »eigentlich«: verrückt. Ich mag verrückt. Und brülle weiter mit. »RO-CKY«, schreie ich einmal mehr, während Chris Reid zu Boden geht. Technischer Knock-out nach der 11. Runde. Graciano Rocchigiani steht in Siegerpose im Scheinwerferlicht, die Fäuste geballt, die Arme hochgerissen, und verzieht kaum eine Miene. Cooler Typ, denke ich, während er in den Katakomben verschwindet.

Neben Manfred trotte ich nach Hause, noch immer ein bisschen aufgekratzt. Meine Stimme ist heiser vom ganzen Gebrülle. Siehe da: die nächste Ausrede, die Klappe zu halten. Zu Hause angekommen fallen wir ins Bett, und ich sage – welche Überraschung – zum 101. Mal nichts. Trennung: wieder mal vertagt.

Tage vergehen, Wochen, Monate – und gefühlte hundert weitere »Christine-verdrängt-die-Trennungsgedanken«-Momente. Allerdings ist es jetzt ein bisschen leichter, mit Manfred zusammen zu sein, denn räumlich sind wir bereits getrennt: Manfred ist nach Mallorca gegangen, um dort Autos zu verkaufen. Ich bin anfangs dabei, kehre aber im Sommer 1989 nach einem großen Streit, bei dem ich mich sogar mit Pfefferspray zur Wehr setzen musste, zurück nach Berlin. Hier lebe ich nun allein in unserer alten Wohnung.

Ich arbeite im Café Journal an der Grolman-, Ecke Savignystraße, im Westen der Stadt – und zwar als Kellnerin. Kein Job für ewig, aber ich bin gern hier und verdiene gut. Mit Trinkgeld komme ich auf 3.000 Mark im Monat – mehr, als ich ausgeben kann. Die Kollegen sind nett, mein Chef Manfred »Manne« Friedrich entspannt, und ab und zu bediene ich sogar Berliner Promis, Dieter Hallervorden zum Beispiel.

Und dann, an einem Tag im Frühling 1989, auch Graciano Rocchigiani. Plötzlich steht er vor mir, der Mann, den ich ein Jahr zuvor in der Deutschlandhalle angefeuert hatte. Damals im Ring war er meterweit entfernt, unerreichbar. Jetzt gucken seine knallblauen Augen direkt in meine.

»Können wir zwei Kaffee haben?«, fragt er und geht mit dem Mann, der ihm ziemlich ähnlich sieht, zu einem Tisch ganz am Rand. »Das sind die Rocchigiani-Brüder«, nuschelt Manne, nickt wissend zu den Männern rüber, füllt zwei Tassen bis zum Füllstrich mit Kaffee und zwinkert mir zu, »denen sollten wir besser jeden Wunsch erfüllen.«

Ich weiß, worauf er anspielt: Graciano und Ralf Rocchigiani haben nicht nur mit ihren sportlichen Leistungen für Schlagzeilen gesorgt. Sondern auch mit Zwischenfällen, bei denen ihnen wohl kurz entfallen war, dass sie nicht im Ring sind, sondern auf der Straße – und dass ihnen kein Boxer gegenübersteht, sondern jemand, der ihre Schlagkraft nicht gewöhnt ist. »Box-Profis vermöbeln acht Polizisten am Kudamm« hatte erst kürzlich irgendeine Zeitung getitelt. Im riesengroßen Aufmachertext hieß es, die Brüder seien durch das Berliner Nachtleben gezogen und hätten sich mit einem Taxifahrer angelegt. Die zunächst harmlose Auseinandersetzung endete mit einem spektakulären Finale auf dem Berliner Prachtboulevard, weil insbesondere Ralf offenbar ausrastete. Folge: 30 Polizisten umstellten die Box-Brüder, überwältigten sie mit Pfefferspray – Festnahme.

Passt gar nicht zu denen, denke ich, als ich den Kaffee auf den Tisch stelle und Graciano mich anlächelt, sich höflich bedankt.

Normalerweise bin ich entspannt, wenn ich Promis bediene, und halte mich an einen Trick, wenn der Rest um mich herum nervös wird: Die müssen genauso aufs Klo wie wir, denke ich einfach immer, und stelle mir Hallervorden & Co. mit heruntergelassenen Hosen auf dem stillen Örtchen vor. Das gibt mir in der Regel Gelassenheit und zaubert mir ein süffisantes Lächeln aufs Gesicht, wenn ich ihnen Kaffee, Bier oder »Kurze« serviere.

Bei den Rocchigiani-Brüdern ist es zum ersten Mal anders. Ich bin angespannt, fast steif, hochkonzentriert. Jetzt bloß nichts falsch machen. Ist das Angst? Respekt? Neugierde? Dieses Erscheinungsbild? Oder etwas ganz anderes?!

Ich bin selbstsicher, eigentlich. Immer schon. Vielleicht, weil ich so früh allein zurechtkommen musste, vielleicht, weil mir das, was ich sehe, wenn ich in den Spiegel blicke, ganz gut gefällt; und wenn ich der Männerwelt Glauben schenken darf, stehe ich mit dieser Meinung nicht ganz allein da. Ich bin nicht zu klein, nicht zu groß, meine Taille ist etwas schlanker als das perfekte Modelmaß von 90, mein Bauch flach. Na gut, meine Brüste könnten etwas größer sein, aber sie sind nun mal, wie sie sind. Es gibt Schlimmeres, als einen kleinen Busen zu haben – der besteht wenigstens länger den »Bleistifttest«, außerdem komme ich mit ein bisschen Schummeln auch auf ein Dekolleté, das nach einer guten »Handvoll« aussieht. Beim Kellnern verzichte ich allerdings auf den Push-Up, auch schminke ich mich eher unauffällig. Meine braunen schulterlangen Haare, denen ich erst vor kurzem eine Dauerwelle für 135 Mark verpasst habe, trage ich meist erst nach Feierabend offen. Doch mit meinen engen Stretch-Jeans, die mein Hinterteil betonen, sacke ich auch so ordentliches Trinkgeld ein.

Auch von den Rocchigiani-Brüdern, als sie ein Stündchen später den Laden wieder verlassen. Sympathisch, großzügig, nett, denke ich, und ergänze: so herrlich normal.

In den nächsten Wochen kommt Graciano Rocchigiani öfter ins Café Journal, mal mit seinem Bruder, mal mit seinem Trainer, mal mit Freunden, und immer wieder ist er das: herrlich normal. Er will keine Sonderbehandlung, nutzt seinen Promistatus nicht aus und wirkt in vielen Situationen eher schüchtern, zurückhaltend. Manchmal treffen sich unsere Blicke, manchmal grinsen wir uns zu, manchmal plaudern wir – Wetter, Nachrichten; Smalltalk halt. Zwischendurch geht’s auch mal um seinen »Job«, Graciano erzählt mir zum Beispiel, dass er aus Gewichtsgründen seinen Weltmeistertitel niedergelegt hat.

Ich fühle mich geehrt, dass er mir so etwas sagt. Will aber keinen falschen Eindruck erwecken. »Ich himmele den nicht an«, betone ich gegenüber Manne ab und zu. »Für mich ist er gar nicht so der Held.« Tatsächlich vergesse ich im Gespräch mit ihm oft, dass ihn als jüngsten deutschen Profi-Boxweltmeister aller Zeiten zumindest in der Sportbranche so ziemlich jeder kennt. Graciano Rocchigiani ist ein Gast wie jeder andere, erinnere ich mich zwischendurch selbst. Und deshalb bin ich zu ihm auch so nett wie zu allen anderen. Nicht mehr und nicht weniger.

Bis er mir plötzlich eine ungewöhnliche Frage stellt.

»Willst du mit mir nach Amerika gehen?«, haut Graciano raus, während er Kaffee an der Bar trinkt und ich gerade Weingläser für den Abend poliere. »Was?!«, frage ich, vielleicht etwas zu laut, und merke, wie meine Hände unter dem rotweiß-karierten Küchentuch feucht werden. »Meinst du das ernst?«

»Ja«, sagt Graciano. »Ich soll ins Trainingslager und will nicht alleine fliegen. Also?«

In meinem Kopf rattert es.

Mein Englisch ist okay, in der Gastronomie findet man immer und überall was.

Der Kerl, der mir gegenüber sitzt, ist mir sympathisch.

Umziehen will ich sowieso, denn die Wohnung ist das einzige, das Manfred und mich noch verbindet. Und USA, Mann! »Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten« …

»Klar«, antworte ich, »warum eigentlich nicht?«

Graciano guckt, als hätte ich ihm gerade einen Millionen-Gewinn im Lotto bestätigt. »Echt jetzt?«, fragt er ungläubig und strahlt übers ganze Gesicht.

Wow, denke ich, was für ein Lachen.

Mein Kopfkino spult ab: Ich und Graciano, mit großen Koffern am Flughafen. Wir, in einer Limousine, die uns vom Flieger abholt. Er, der im Ring trainiert. Ich, die ihn am Rand anfeuert. Erst als gute Freundin, Kameradin, Wegbegleiterin. Und dann vielleicht irgendwann …

Ist klar, Christine, muss ich mir in den Tagen darauf eingestehen. So wär’s vielleicht im Fernsehen gelaufen. Oder im Märchen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Die Realität ist das Café Journal. Und hier sitze ich nun und warte. Graciano Rocchigiani lässt sich seit seiner ungewöhnlichen Anfrage nicht mehr blicken. Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Eine Woche, zwei Wochen, drei Wochen, mehr Wochen. Die Rocky-USA-Seifenblase ist zerplatzt.

Wenn ich eines gut kann, dann ist das positiv denken. Und das mache ich jetzt: Wie gut, dass ich hier und nicht in den USA bin, beschließe ich, als die Mauer fällt. Am 8. November sehe ich im Fernsehen die drängelnden Massen an der Grenze – und am 9. November bediene ich zum ersten Mal »Ossis« im Journal. Es ist bumsvoll, und die Stimmung ist der Wahnsinn. Ohne es mit Chef Manne abzusprechen, schmeiße ich eine Runde Amaretto, dann noch eine und noch eine. Jeder neue Gast bekommt ein Pinnchen mit dem süßen Mandellikör. Ich drehe die Musik auf. Die Leute feiern, tanzen. Berlin hat plötzlich ein anderes Gesicht. Alles ist anders als in den ersten 22 Jahren meines Lebens. Schön anders. Anders schön.

Gut vier Wochen nach dem Mauerfall feiere ich meinen 23. Geburtstag im Café Journal. Ich muss arbeiten, habe aber ein paar Häppchen vorbereitet, Freunden und Stammgästen Bescheid gesagt, dass sie vorbeikommen sollen. Alle gratulieren mir, stoßen mit mir an, und so ist diese Schicht ein bisschen wie eine kleine Privatparty.

Es ist schon spät, als plötzlich Graciano in der Tür steht – mit einer weißen Orchidee in der Hand. Es ist ein Prachtexemplar aus dem teuren Blumenladen ums Eck, keine Supermarktware, das sehe ich aus der Ferne, obwohl ich schon etwas angeduselt bin.

Ich schwinge mich um den Tresen, bahne mir einen Weg durch die Masse, hinüber zum Eingang. »Wie schön, dass du da bist«, sage ich, strahle. Ich war nach den vergangenen Wochen fest davon ausgegangen, dass er meinen Geburtstag vergessen hat: Erst die geplatzte USA-Nummer – und in den vergangenen Tagen auch noch das Gerücht, dass Graciano nach seinem Kampf gegen den Amerikaner John Keys am 1. Dezember mit einem furchtbar aufgetakelten Nummerngirl abgestürzt ist. Der hat mich nicht mehr auf dem Schirm, dachte ich immer wieder. Jetzt platze ich fast vor Glück, dass das offensichtlich nicht der Fall ist – und drücke ihm kurzentschlossen einen Kuss auf den Mund.

Mein Gott Christine, schießt es mir durch den Kopf. Wie kannst du ihn einfach küssen, hier vor allen Leuten? Geht’s noch?!

Ich bin plötzlich ganz klar im Kopf, der Schock über mich selbst scheint die prickelnde Prosecco-Stimmung in Luft aufgelöst zu haben. Wo ist noch mal der Notausgang?!, denke ich, und merke, wie ich mich hilfesuchend umschaue.

Graciano aber lacht – da ist es wieder, dieses Strahlen – und scheint einfach nur erleichtert zu sein, dass ich ihm nicht böse bin.

Das Amerikaangebot habe er abgelehnt, erfahre ich an diesem Abend. Es sei ihm unangenehm, wenn er mir falsche Hoffnungen gemacht habe, sagt er und kündigt an, es wiedergutzumachen. Wie, darüber reden wir nicht weiter.

Stattdessen feiern wir. Die Prosecco-Laune ist schnell zurück, und deshalb interessiere ich mich nicht für Details, wie man einen so spannenden Auslandsaufenthalt einfach sausen lassen kann. Nicht für den Moment jedenfalls.

Der Alkohol zaubert mir eine rosarote Brille auf die Nase. Hach, ist das alles schön, denke ich, als ich mich nach hinten drängle und nach dem Gang für kleine Mädels in den Spiegel schaue, um meinen Kajalstrich zu checken.

Es ist mein Geburtstag. 23 – was für eine schöne Zahl. Meine Freunde sind hier, und jetzt auch noch Graciano. Mir geht es gut, sehr gut, sehr sehr gut.

Denn vermutlich bin ich nicht nur beschwipst, sondern auch ein kleines bisschen verknallt.

In den letzten drei Wochen des Jahres treffen wir uns ein paarmal. Es sind keine richtigen Dates, wir gehen bloß Billardspielen. Anschließend reden wir meist stundenlang. Er erfährt, dass ich eine echte Berliner Göre bin, Nesthäkchen unter insgesamt vier Geschwistern, Mutter Küchenhilfe, Vater Maurer. Ich erfahre, dass er eigentlich ein »Wessi« ist, in Duisburg geboren wurde, neben seinem älteren Bruder Ralf noch eine kleine Schwester hat und ein halber Südländer ist, weil seine Mutter zwar Deutsche ist, sein Vater aber, ein Eisenbieger, aus Sardinien stammt – deshalb auch der klangvolle Name. Doch nicht nur unsere Lebensgeschichten sind Thema, wir reden über Gott und die Welt. Über Tiere, die Natur, Geschichte. Über Politik, Kinofilme, Urlaubsländer. Über Sport, Musik, Religionen.

Kurz vor Weihnachten erzählt Graciano mir, dass seine Freundin Katrin ihn verlassen hat. »Ich kam nach Hause und wusste schon, als ich den Schlüssel in die Wohnungstür steckte, dass was anders ist«, sagt er. »Und dann steh ich im Flur und sehe, dass die ganze Bude leer ist. Sie hat alles mitgenommen. Alles! Sogar den Fernseher.«

Der arme Kerl, denke ich, ohne mir die Frage zu stellen, ob er genau diesen Anflug von Mitleid mit seiner Schilderung bezwecken will. Stattdessen bin ich immer überzeugter: Der wird in der Öffentlichkeit ja völlig falsch dargestellt. Graciano Rocchigiani ist nicht nur der coole, oberflächliche Boxer. Kein Ungeheuer, das unschuldigen Menschen wahllos eine reinhaut. Hinter der Fassade steckt deutlich mehr.

Ein liebenswerter Mann. Mit einem weichen Kern. Und ich bin auf dem besten Wege, die harte Schale zu knacken und genau diesen Kern zu ergründen.

Zu Weihnachten kehrt Manfred zurück nach Berlin. Zwischen uns ist eigentlich alles gesagt. Ich hatte ihm schon am Telefon erzählt, dass ich ausziehen werde und bereits auf Wohnungssuche bin. Doch das ist nicht so leicht, wie ich gehofft hatte, und so wohnen wir noch immer unter einem Dach.

An Silvester sind wir bei einem befreundeten Pärchen eingeladen, dort bleibe ich aber nur kurz, weil ich ab 21 Uhr Schicht im Journal schiebe. An Silvester zu arbeiten hat noch immer das beste Geld gebracht, ich verdiene den dreifachen Stundenlohn und habe Glück: um ein Uhr haben die meisten Gäste sich verabschiedet, ich darf Schluss machen.

Graciano hatte beim letzten Treffen gefragt, ob ich nach Feierabend noch ins Tolstefanz komme – jetzt steht er in der Tür vom Journal, um mich abzuholen.

Wir umarmen uns, wünschen uns ein frohes neues Jahr und steigen in ein Taxi.

Schon auf der Treppe in die Keller-Disco treffen wir Freunde von Graciano, und unten wartet sein Bruder Ralf. Sie alle begrüßen wir nur kurz, Graciano stellt mich denen vor, die ich noch nicht kenne. Und dann haben wir nur noch Augen für uns.

Wieder reden und reden wir. Dieses Mal aber ist es anders als sonst. Wir flirten. Es knistert. Mir ist warm, dann wieder kalt, plötzlich ganz heiß, als unsere Lippen sich nähern. Wir verschmelzen, werden eins, vergessen alles, was um uns herum passiert. Für Minuten, Stunden.

Es ist, als seien unsere Lippen wie füreinander gemacht. Sie passen perfekt aufeinander, bilden eine Einheit. Unsere Zungen spielen miteinander, als hätten sie ein Leben lang darauf gewartet.

Wenn es beim Küssen nicht passt, war bislang immer meine Devise, dann kannst du auch den Rest gleich sein lassen.

Hier aber ist tatsächlich das Gegenteil der Fall. Das Knutschen ist so schön, dass ich mir heimlich vorstelle, wie schön erst alles andere sein könnte.

Als wir die Augen wieder öffnen, ist es leer im Tolstefanz. Fast alle sind schon heimgegangen, nur wir sitzen noch immer an dem Tisch am Rand. Das Eis in den Flaschenkühlern hat sich in Wasser aufgelöst, die Weinflaschen sind leer, die Aschenbecher voll, Reste von zerrissenen Luftschlangen zieren das Chaos auf dem Tisch.

Wir gehen nach oben, die frische Winterluft tut gut, ich atme tief ein. »Guck mal, die ist noch zu«, sagt Graciano und hebt eine volle Flasche Champagner vom Bürgersteig auf. »Die köpfen wir jetzt, um auf uns zu trinken.«

Graciano lässt den Korken knallen. »Happy New Year«, schreie ich so laut ich kann in die Dunkelheit. Graciano aber schlägt eher einen leisen Ton an.

»Kommst du noch mit?«, fragt er, fast lautlos.

Wie gern ich das würde. Aber das wäre nicht ich.

Nicht so, nicht jetzt, nicht hier, nicht so schnell. Vor allem nicht, bevor ich nicht die Manfred-Sache sauber und endgültig beendet habe.

»Nein«, sage ich, lächle ihn an und klettere zwar mit ins Taxi, lasse mich aber bloß ein Stück mitnehmen. Ganz in der Nähe von Manfreds und meiner Wohnung drücke ich Graciano einen vorerst letzten Kuss auf den Mund. »Danke für den schönen Abend«, hauche ich, steige aus und verschwinde in der Dämmerung.

Das Jahr 1990 ist da, und ich freue mich auf jeden einzelnen Tag. Denn nach diesen letzten Stunden ist klar: soeben hat ein neuer Lebensabschnitt begonnen.

Liebe junge, unbedarfte Christine,

hier schreibt Dein späteres Ich, und wenn ich mir diese Szenen aus dem Jahr 1989 durch den Kopf gehen lasse, kann ich mir nur an genau diesen fassen. Mein Gott, ist das alles schon ein Vierteljahrhundert her?! Es fühlt sich an, als wäre es gerade eben erst gewesen.

Glaub mir, die kommenden 25 Jahre werden an Dir vorbeirasen. Es wird alles so furchtbar schnell gehen, deshalb solltest Du vor allem die nächsten Wochen Deines Lebens ganz bewusst genießen, es sind vielleicht die unbeschwertesten, die Du jemals erleben wirst.

Eine Sache hast Du ganz richtig erkannt: Es hat ein neuer Lebensabschnitt begonnen in dieser Silvesternacht 1989/90. Dieser Mann wird eine große Rolle in Deinem Leben spielen, die größte überhaupt vermutlich. Du wirst sehr glückliche Stunden mit ihm erleben – leider aber auch sehr viel Mist. In gewisser Weise ist Dir auch das schon klar: eine gute Intuition hast Du schon immer gehabt, und nach der USA-Geschichte und der Sache mit dem Nummerngirl hast Du ein schlechtes Bauchgefühl. Die Alarmglocken schrillen so laut, dass sie Dir Kopfschmerzen machen müssten. Doch Du schaffst es irgendwie, den Ton leiser zu drehen. Eigentlich weißt Du, dass es besser wäre, Dir selbst Zeit zu nehmen und erst einmal allein Dein Leben auf die Reihe zu kriegen. Nicht von einem ins nächste rutschen. Doch diese Gedanken und das seltsame Bauchgefühl schiebst Du zur Seite – eine Angewohnheit, die später noch häufiger zum Vorschein kommen wird.

Um es kurz zu machen: Du wirst Graciano lieben und hassen. Verwöhnen und verfluchen. Fest steht: langweilig wird es nicht werden. Versprochen!

Witzigerweise erkenne ich heute, dass sich schon in diesem Herbst 1989 dieses Bedürfnis in Dir, mir, »uns«, entwickelt hat, für Graciano zu powern. Wenn Du nach diesen teils wirklich tiefgründigen Gesprächen mit ihm am liebsten in die Welt schreien willst, dass nahezu sein gesamtes Umfeld ihn komplett falsch einschätzt, dann passiert in Dir etwas, das sich später noch sehr viel intensiver ausprägen wird, Du wirst sehen. In dieser Kennenlernphase hast Du Dich zu allererst wie eine Schwester von Graciano gefühlt, dann wie eine Seelenverwandte. In der Silvesternacht ist Dir endgültig klar, dass es viel mehr ist: Du bist Hals über Kopf verknallt.

So verknallt, wie Du es in Manfred nie warst, nicht einmal am Anfang eurer seltsamen Beziehung. Deshalb ist es auch höchste Zeit, endlich die gemeinsame Wohnung zu verlassen. Kürzlich habe ich im Internet, von dem Du noch keinen blassen Schimmer hast, diesen Satz gelesen: Manchmal gewinnt man, wenn man verliert – und manchmal verliert man, wenn man gewinnt.

Ja, Du wirst die Wohnung verlieren, die Sicherheit, den Mann, mit dem Du drei Jahre Deines Lebens verbracht hast. Doch Du wirst auch viel Neues gewinnen, und tief in Deinem Inneren weißt Du das bereits. Du hattest nur bislang nicht den Mut, die Reißleine zu ziehen. Oder warst einfach zu bequem.

Letzteres bewundere ich aus heutiger Sicht fast ein bisschen. Das Leben einfach so laufen lassen – wenn man älter wird, ist das nicht mehr so leicht wie mit Anfang 20. Das muss man später tatsächlich erst wieder lernen, und das wiederum funktioniert nur dann, wenn einem bewusst ist, dass man seine Leichtigkeit verloren hat – während man rackert und rackert, in die Rentenkasse einzahlt und vergisst, zwischendurch nach links und rechts zu schauen und die Augen offenzuhalten für das Schöne, das Spezielle.

Will sagen: Mach genau so weiter. Lebe in der Gegenwart. Denke nicht zu viel über die Vergangenheit nach und plane die Zukunft nicht zu sehr. Du findest Deinen Weg – er wird ohnehin anders verlaufen, als Du ihn Dir vorstellst. Aber daran verschwende jetzt bitte keine unnötigen Gedanken. Genieße das Leben. Es ist zu schön, um es nicht zu genießen. Und wie gesagt: die nächsten Wochen werden wunderschön.

Liebe Grüße aus der Zukunft

von Deinem inzwischen 46 Jahre alten Ich

P.S.: Graciano hatte Deinen 23. Geburtstag tatsächlich vergessen. Der Besitzer vom Nachbarcafé hat ihn erinnert. Aber immerhin hat er die Orchidee selbst besorgt. Also Schwamm drüber …

RUNDE

FRISCH VERLIEBT

Tja, so moralisch sauber, wie ich mich in der Silvesternacht gegeben hatte, bin ich schon eine Woche später nicht mehr. Eine eigene Wohnung habe ich auch nach intensiver Suche in den vergangenen Tagen noch immer nicht, aber die Sehnsucht ist einfach zu groß. Sie brennt in mir. Ich muss Graciano sehen, daran führt kein Weg vorbei.

Wir verabreden uns für’s Kino, und das hat nichts, aber auch gar nichts mehr mit den vergangenen Treffen zu tun. Dieses Mal ist es ein Date, ein echtes – ich bin aufgeregt, und zwar gewaltig.

Um 20 Uhr habe ich Feierabend im Journal, Graciano holt mich ab, und wir fahren zum altehrwürdigen Zoopalast am Bahnhof Zoo. Neun Säle gibt es und neun Filme, aber wir diskutieren an der Kasse nicht lange. Wir haben beide Lust auf etwas Lustiges und so sitzen wir Minuten später im Klamaukfilm »Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft«. Wir hätten uns auch für »Zurück in die Zukunft II« entscheiden können oder für »Batman«, völlig egal: Wir verpassen ohnehin schätzungsweise 87 der insgesamt 89 Minuten Spielzeit. Schon beim zweiten Werbespot liegt Gracianos Hand auf meinem Oberschenkel, und kurz nach Einblendung des Filmtitels wiederholen unsere Zungen das, was sie zu Jahresbeginn so fleißig im Tolstefanz geübt hatten.

In meinem Bauch macht sich ein Gefühl breit, das unfassbar ist. Das, was dort passiert, als »Schmetterlinge« oder »Flugzeuge« zu bezeichnen, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Es gleicht eher einem neuen Planeten, der ausschließlich von Flattertierchen bevölkert ist, oder dem Flughafen Heathrow an einem geschäftigen Montagmorgen.

Mannomann.

Mit hochroten Köpfen verlassen wir gegen zehn den Zoopalast, draußen glitzert das Hauptstadtleben, für einen kalten Januarabend sind noch viele Menschen unterwegs. »Magst du noch eine Kleinigkeit essen?«, fragt Graciano, »Ludwi macht phantastische Pasta.«

Ludwi, das weiß ich inzwischen, ist Gracianos bester Freund. Er hat ein Restaurant am Kottbusser Damm, im selben Haus, in dem auch Gracianos Trainingsstätte liegt – und stellt Graciano seit ein paar Wochen seine Wohnzimmercouch zur Verfügung, weil er nach Katrins überstürztem Auszug so schnell ebenfalls keine eigene Wohnung findet.

»Essen ist immer gut«, sage ich, und wir steigen in ein Taxi, das uns nach Kreuzberg bringt.

Bei Ludwi bestellen wir Penne mit Filetspitzen in scharfer Tomatensoße. Kulinarisch sind wir schon mal einer Meinung, denke ich, denn die Nudeln sind tatsächlich köstlich. Ludwi ist eigentlich Palästinenser, betreibt aber ein italienisches Restaurant mit halbwegs italienischer Karte – den halbwegs italienischen Smalltalk gibt’s bei Bedarf dazu. Ich mag ihn auf Anhieb, er ist ein niedlicher, knuddeliger, fröhlicher Mann, der offensichtlich gern Witze macht und Graciano wirklich gern zu haben scheint.

Ludwi hat uns den besten Tisch gegeben, vorn am Fenster, dort sind wir einigermaßen für uns – und trotzdem merkt vermutlich jeder der letzten Gäste, die noch hier sind, dass wir statt der Penne viel lieber uns gegenseitig verzehren würden. Immer wieder gucken wir uns tief in die Augen. Reden und reden. Lachen. Berühren auf dem Tisch die Hand des anderen, aber schüchtern und eher unauffällig.

Es ist noch nicht offiziell, warne ich mich zwischendurch selbst, aber für Gewissensbisse bleibt nicht viel Zeit, denn kurz vor Mitternacht macht Ludwi den Laden von innen dicht, stellt drei Gläser Voudini auf unseren Tisch und setzt sich zu uns.

»Feierabend«, trällert er. »Wer von euch übernimmt den Job an der Bar?«

Ich sollte nach Hause gehen, denke ich. Der Tag war lang, ich habe gearbeitet, dann das Kino, jetzt das Essen und der Wein dazu, der mich etwas müde gemacht hat.

»Ich«, sage ich, als habe meine Stimme eigenständig und selbstbewusst meine Gedanken überhört. »Was wollt ihr trinken?«

Bestimmt zwei Stunden lang bleiben wir noch und haben riesigen Spaß. Ich bediene die beiden, stehe hinter dem Tresen, kokettiere mit meinem Kellnerjob. Wir lachen lauthals, trinken Voudini; immer mehr von dem Gemisch aus Wodka und Bitter Lemon, das runtergeht wie Light-Limo.

Tut das gut, so herzhaft zu lachen. So locker, lustig, fröhlich zu sein. Das muss viel öfter so sein. Ich hatte viel zu lange nicht so einen witzigen Abend.

»Kommst du noch auf einen Absacker mit zu uns?«, fragt Graciano, als Ludwi gegen zwei Uhr nach Hause will. Ich bin so in Stimmung, so guter Laune, dass ich nicht ablehne. »Ja«, sage ich, »aber nur eine halbe Stunde.«

»Ich geh ins Bett, macht’s euch gemütlich«, sagt Ludwi, als wir im Flur seiner Wohnung stehen. Ludwi verschwindet im Schlafzimmer, wo seine Frau schon seit Stunden schläft – und wir gehen ins Wohnzimmer, Gracianos vorübergehendes »Reich«.

Zum allerersten Mal sind wir allein. Nur wir beide, in einem geschlossenen Raum. Keine Augen, die etwas beobachten könnten. Nur er und ich.

Auweia.

In meinem Bauch ist wieder die Hölle los. Flughafen Heathrow und Schmetterlings-Planet, dieses Mal beides in einem. Erst recht, als Graciano mich mit seinen muskulösen Armen an sich zieht und mich leidenschaftlich küsst.

Ich küsse zurück, und in dieser Sekunde ist klar: Dieses Mal bleibt es nicht beim Knutschen. Wir zerren uns die Klamotten vom Leib und fallen wie ausgehungerte Tiere übereinander her.

Seit der Silvesternacht hatte ich mir so oft genau das vorgestellt. Doch jetzt übertrifft die Realität alle Gedankenspiele.

Als Graciano zum ersten Mal in mich eindringt, sehe ich Sternchen. Ich fühle mich erfüllt, komplett erfüllt. Es ist, wie es mit unseren Lippen beim Küssen ist: »Topf und Deckel« ist gar kein Ausdruck. Unsere Körper passen zusammen wie zwei Puzzleteile, die ausschließlich füreinander gemacht sind. Puzzleteile, die so gut passen, dass sie eins werden. Und nicht mehr loskommen voneinander.

Nach dem Sex schlafen wir ein. Arm in Arm.

Liebe, denke ich kurz vorher, es ist Liebe.

Gegen vier Uhr früh schrecke ich hoch. »Graciano, ich muss gehen«, flüstere ich.

Eigentlich bin ich frei – eigentlich kann ich schlafen, wo ich will. Aber ich will Manfred nicht unnötig provozieren. Ich habe mich schon immer gern im Guten getrennt, das soll auch dieses Mal so sein.

Ich schreibe Graciano meine Telefonnummer auf einen Zettel, lege ihn auf den Wohnzimmertisch.

»Bis bald«, sage ich und schleiche mich aus der Wohnung.

»Wo warst du?«, ist der Satz, der mich zu Hause empfängt. Manfred liegt im Bett, mit geöffneten Augen.

Arbeiten. Ich sollte sagen, dass ich arbeiten war, denke ich. Nein, doch nicht. Vielleicht war er im Journal und hat dort nachgeguckt?!

»Mit ’ner Freundin unterwegs«, nuschele ich und krieche zu ihm ins Bett, bedacht darauf, ihn unter der gemeinsamen Decke nicht zu berühren.

»Mit welcher?«

»Kennst du nicht.«

Ich fühle mich nicht gut dabei, ihn derart zu belügen. Habe ein schlechtes Gewissen.

Mit dem einen vögeln, neben dem anderen einschlafen, denke ich. Du Schlampe. Zieh in Gottes Namen so schnell wie möglich aus. So geht es nicht.

Einmal mehr wird mir bewusst, was meinem Unterbewusstsein in den letzten Wochen längst klar war: Ich will mit Graciano zusammen sein. Nichts anderes. Mit diesem Gedanken schlafe ich – Manfreds weitere Fragen ignorierend – ein.

»Magst du was frühstücken?«

Die Stimme, die mich am nächsten Morgen weckt, ist nicht die des Mannes, von dem ich geträumt hatte – sondern Manfreds. Er packt seine liebe Seite aus. Zuckerbrot und Peitsche, so war er schon immer. Ich lasse mir ein Brot schmieren. Das Käsebrot nehme ich – aber seine Zuckerbrot-Masche wird ihm dieses Mal nicht weiterhelfen.

Kurz nach dem Frühstück klingelt das Telefon. Ich greife zum Hörer. »Hallo?«

»Christine, bist du das?«

Mein Herz macht einen Sprung. Graciano.

»Ja.«

»Alles okay?«

»Ja.«

Graciano weiß, dass es Manfred noch gibt in meinem Leben – und kapiert hoffentlich, dass ich gerade nicht sprechen kann.

»Ich will dich ganz schnell wiedersehen. Arbeitest du morgen?«

»Ja.«

»Dann komme ich dich nach Feierabend abholen.«

»Okay. Bis dann«, sage ich und lege auf.