Kafir - Amed Sherwan - E-Book

Kafir E-Book

Amed Sherwan

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Beschreibung

Amed Sherwan wird in Irakisch-Kurdistan in eine gläubige muslimische Familie hineingeboren. Als impulsives, unkonzentriertes Kind fühlt er sich schon früh anders als Gleichaltrige und sucht Halt in seinem Glauben – bis er mit vierzehn Jahren durch Zufall auf einen religionskritischen Text stößt. Was ihn zunächst als Gotteslästerung erschreckt, erscheint ihm wenig später viel einleuchtender als alles, was er bisher gelernt hat. Amed löst sich vom Islam. Doch als er sich seinem Vater gegenüber offenbart, wird das zu seinem Verhängnis: Der zeigt seinen eigenen Sohn an, Amed wird verhaftet und gefoltert. Aufgrund seines jungen Alters wird der Fall zu einem großen Medienereignis, Amed ist öffentlich bekannt und gerät in Lebensgefahr. Es bleibt ihm nur die Flucht nach Europa. In seiner neuen Heimat Deutschland kämpft Amed für "Oriental Diversity" und das Recht auf Meinungs- und Glaubensfreiheit in muslimischen Communitys. Seine provokanten Aktionen bringen ihm Anfeindungen von verschiedensten Seiten ein, aber auch große Solidarität. Mit Humor und erstaunlichem Optimismus erzählt er die Geschichte seiner Kindheit und Jugend – und von seinem Leben als "Flüchtlingsgesicht" in Deutschland.

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Amed Sherwan, geboren 1998, ist der jüngste Mensch, der in Irakisch-Kurdistan wegen Gotteslästerung inhaftiert und gefoltert worden ist. Er lebt seit 2014 in einer norddeutschen Kleinstadt und betätigt sich heute als Blogger und Aktivist.

Katrine Hoop ist Kriminologin, Kommunikationsreferentin und Kulturschaffende. Sie ist zweisprachig aufgewachsen und gehört zur dänisch-friesischen Minderheit in Schleswig-Holstein.

Amed Sherwanmit Katrine Hoop

KĀFIR

Allah sei Dank bin ich Atheist

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus 2020

Originalveröffentlichung

Erstausgabe September 2020

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

Titelfoto: Gönna Ketels

Porträts Seite 2:

Florian Chefai, Amed Sherwan

ePub ISBN 978-3-96054-239-1

»Warum ist eine Propaganda, die an den Hass appelliert, so ungleich erfolgreicher als irgendein Versuch, freundschaftliche Gefühle zu erwecken?«

Bertrand Russell in Eroberung des Glücks

Dieses Buch ist den vielen Menschen auf meinem Weg gewidmet: Denen, die mir geholfen und mich ausgehalten haben, ebenso wie jenen, die mich verletzt haben oder an mir verzweifelt sind.

Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und realen Handlungen sind beabsichtigt und keinesfalls zufällig. Vieles ist verändert, aber nichts erfunden.

Inhalt

DER ANFANG

AHMED

DAS GEMÄLDE

DIE SCHILDKRÖTE

DER STAUB

DER KRIEG

DER KREISLAUF

DIE KATZE

DER TOD

DIE PRÜFUNG

DER URIN

DIE BERGE

DAS KIND

DIE PINGELIGKEIT

DAS GRAUEN

DAS LEBEN

DAS GESCHÄFT

DER KOPFSCHMERZ

DIE LIEBENDEN

DER DJINN

DIE ALBTRÄUME

DER IMAM

DIE DIAGNOSE

DIE FRATZE

DIE INTEGRATION

DER COUSIN

DIE JUNGFRÄULICHKEIT

DIE ERKENNTNIS

DER HUMOR

DIE BESTIMMUNG

DER KORAN

DAS GESPRÄCH

DAS DRAMA

DER TANZ

DER FRIEDHOF

DIE PISTOLE

DIE PARTY

DER MURTADD

DIE TRENNUNG

DIE BESUCHE

DIE WÖRTER

AMED

DER RÜCKBLICK

DER KAMPF

DAS LIED

DER ABSCHIED

DER PHILOSOPH

DIE FLUCHT

DAS REISEN

DIE ANKUNFT

DIE KOPFHÖRER

DIE WOHNGRUPPE

DER KÖDER

DAS KINDERHEIM

DER BETREUER

DIE EINSAMKEIT

DER FOTOGRAF

DIE STRASSE

DIE ZIELE

ACHIM

DER ALIEN

DIE ANNÄHERUNG

DER REICHTUM

DIE GRENZE

DER FLUCHTGRUND

DIE FAHNDUNG

DER DAESH

DAS INTERVIEW

DIE ANERKENNUNG

DIE PERSPEKTIVE

DIE FRAGE

DIE ASYMMETRIE

DIE KULTURTASCHE

DIE SACHBEARBEITERIN

DIE HANDSCHELLEN

DER ARTIKEL

DER AKTIVIST

DIE IRONIE

DER FLÜCHTENDE

DIE ISLAMKRITIKERIN

DER QUOTENKANAKE

DER BALANCEAKT

DER DOLMETSCHER

DIE ÜBERRASCHUNG

DAS T-SHIRT

DER VATER

DIE HEIMAT

DER HINTERN

DIE ARCHAISIERUNG

DIE VIELFALT

DIE GENERATIONEN

DIE POLIZEI

DIE GOTTESKRIEGER

DIE HABIBIS

DAS ACHSELZUCKEN

DER ZWILLING

DER ISLAM

DIE BÜCHER

DER SPASS

TAQĪYA

DAS FLÜCHTLINGSGESICHT

DIE SPERREN

DIE KOPFTUCHMÄDCHEN

DIE MEINUNGSFREIHEIT

DER TERROR

DIE ELTERN

DER VERHÖRER

DIE LIEBE

DER FRISEUR

DER RAT

DAS HEIMWEH

DER AUFPRALL

DAS GLÜCK

DAS SCHLUSSWORT

Danksagung

DER ANFANG

»Kopfsteinpflaster«, schießt es mir durch den Kopf, als eben dieser mit voller Wucht auf die Straße knallt. Ich habe meine Freundin mal gefragt, warum das so heißt, sie hat die Antwort nachschlagen müssen.

Nun liegt mein Kopf auf dem harten Pflasterstein, während Schläge und Tritte auf mich einprasseln, und ich habe keine Ahnung, ob mich ein Islamist deswegen von hinten umgetreten hat, weil ich seinen Gott beleidigt habe, oder ein Rassist sich an meinem Flüchtlingsgesicht gestört hat.

Als eine Polizistin mich wenige Minuten später fragt, wie es zu diesem Vorfall gekommen ist, ist meine Sicht zwar noch leicht vernebelt, die Situation aber inzwischen klar. Und so fasse ich die relevanten Lebensereignisse routiniert zusammen.

Manchmal wirken meine Erinnerungen auf mich so fremd, als seien sie gar nicht meine. Ich habe Teile meiner Geschichte schon so oft erzählt, dass sie sich anfühlen wie Textdateien in meinem Kopf, die ich rausholen und vortragen kann, wenn mich jemand danach fragt.

Fragmente meiner Kindheitserlebnisse erzähle ich wie unterhaltsame Anekdoten, die ich irgendwo aufgeschnappt habe. Berichte aus einer anderen Welt. Und trotzdem gibt es keinen Tag, an dem ich nicht daran erinnert werde, wie alles damals vor 21 Jahren in Kurdistan angefangen hat.

AHMED

»Allahu akbar, Gott ist groß.« Meine Mutter wurde nicht müde zu betonen, dass es ein Wunder Gottes sei, dass ich das Licht der Welt überhaupt erblickt hatte.

Während die Geburten meiner Geschwister völlig unkompliziert verliefen, ging bei mir alles schief. Schon die Schwangerschaft war anstrengend und die Geburt schmerzhaft. Und als mein Körper dann endlich rauskam, war er leblos. Die Ärzte erklärten mich zum Entsetzen meiner Mutter für tot. Doch entgegen der ersten Prognosen war es nach langen, bangen Minuten gelungen, mich wieder zum Leben zu erwecken. Nach einigen Tagen konnte sie mich mit nach Hause nehmen, Ahmed, das dritte Kind der Familie.

»Alhamdulillah, gelobt sei Gott«, erklärte sie und schaute mich mit ihren ernsten braunen Augen besorgt an.

Möglicherweise hatte dieses Wunder des wiedergeborenen Sohnes ihre Religiosität erst wirklich entfacht. Denn wenn ich die Schachtel mit den Familienbildern rauskramte, entdeckte ich auf den Fotos eine Frau, die keine Ähnlichkeit hatte mit der strenggläubigen Muslimin, die ich als meine Mutter kannte.

Auf den Fotos sah ich eine lachende junge Frau ohne Kopftuch. Sie hatte meinen Vater ganz dreist aus Liebe und ohne Einwilligung ihrer Eltern geheiratet, hatte sie mir mal mit schelmischem Blick erzählt.

Rebellisch kam mir meine Mutter überhaupt nicht vor. Ich sah sie den ganzen Tag im Haushalt arbeiten, während die Fernsehprediger von Makkah Live vom Bildschirm auf sie einredeten. Sie ließ kein Gebet ausfallen, verhüllte ihre Haare in Anwesenheit aller anderen Männer außer meinem Vater und ging nie ohne den langen Mantel aus dem Haus. Und Irakisch-Kurdistan hatte sie bisher nur für die Haddsch verlassen.

Bei Entscheidungen ordnete sie sich meinem Vater fast immer unter. Nur wenn er uns Kindern gegenüber zu streng auftrat, blitzte Trotz in ihren Augen auf. Niemand sollte ihren Kindern etwas zuleide tun. Sie nahm mich immer in Schutz und ich dankte es ihr, indem ich ihr im Haushalt zur Hand ging.

»Du musst das nicht tun, Kúřim, mein Sohn, das kann deine Schwester machen«, sagte meine Mutter oft, wenn ich ihr das Gemüse klein schnitt oder beim Putzen half.

»Daya, ich mache das gern«, antwortete ich dann immer, und es stimmte.

Ich hatte keine Geduld, stundenlang für die Schule zu lernen wie mein älterer Bruder und verlor schnell den Spaß an den Spielen meiner großen Schwester und meines kleinen Bruders. Ich war am liebsten in Bewegung und fragte meine Eltern ständig nach Aufgaben.

Ich putzte gern und ich genoss es, meiner Mutter beim Kochen zuzugucken. Meine Mutter machte die besten Dolma der Stadt. Wir höhlten das Gemüse aus, schnitten das Fruchtfleisch klein und mischten es mit Reis, um die Mischung anschließend in die ausgehöhlten Teile oder Weinblätter zu füllen.

»Ist es so genug oder soll ich noch mehr Reis einfüllen?«, fragte ich und zeigte meiner Mutter mein Werk.

»Das sieht gut aus. Aber du musst es nicht lernen. Deine Frau wird später für dich kochen«, sagte meine Mutter, während sie die befüllten Gemüseteile und Weinblätter mit routinierten Handgriffen zum Garen in den Topf legte. Viele Jahre später war ich froh darüber, dass ich mir meine Leibgerichte selber kochen konnte.

DAS GEMÄLDE

»Ich war letztens bei zwei Syrern zum Essen eingeladen und die haben mir tatsächlich Spaghetti mit Tomatensoße gemacht«, erzählt mir meine Nachbarin, die Studentin, entsetzt. »Ich dachte, die orientalische Küche sei so besonders.«

»Das Kochen ist den Arabern genauso wenig in die Wiege gelegt wie den Franzosen. Die beiden haben vermutlich kein einziges Mal eine Küche von innen gesehen, bevor sie flüchten mussten.«

»Aber du kochst gut!«, sagt sie und nimmt sich noch etwas. Wir essen europäisch, am Tisch mit Besteck und strikt getrennten Tellern. Und ich bezweifle, dass ihr ein echtes orientalisches Essen gefallen würde, wo jemand sich einfach etwas von ihrem Essen nehmen oder ihr etwas hinzupacken könnte.

»Danke, aber das Tofugericht, das du gerade isst, ist kein kurdisches Nationalgericht«, entgegne ich leicht schnippisch. Ich bin es gewohnt, dass Leute mit mir über orientalische Kultur reden wollen. Dabei bin ich kein wirklich repräsentatives Exemplar meiner Art.

»Das kurdische Essen ist in Syrien viel besser als im Irak«, wirft mein Freund, der Künstler, ein. Er hat halblanges braunes Haar und einen Bart und sieht aus wie ein kubanischer Freiheitskämpfer. Er trägt indische Hemden, schwärmt für tschechische Literatur und italienische Filme. Aber wenn es um Kurdistan geht, ist er sehr heimatverbunden.

»Mach doch mal Musik an«, fordert er mich auf. Wir sitzen zu dritt in meiner Wohnung. Während viele meiner Freunde noch in Mehrbettzimmern in Unterkünften wohnen, habe ich eine eigene Wohnung. Eine wirklich schöne sogar, mit einer kleinen Küche und einem schönen Balkon. Ganz anders als die Bruchbuden, die einige Freunde angemietet haben. Sie haben viel Geld für die Vermittlung von Wohnungen bezahlt, in denen einem der Schimmelgeruch schon beim Betreten der Wohnung entgegenschlägt. Mit Verzweiflung lässt sich offenbar gut Geld machen.

Ich verbinde mein Telefon mit einer Bluetoothbox und wähle einen zufälligen Mix mit Popmusik auf YouTube. »Warum hörst du nie Musik aus Kurdistan?«, fragt der Künstler. »Es gibt so schöne kurdische Musik.«

Ich stöhne. »Ganz ehrlich? Ich bin nicht geflüchtet, um mir das Gedudel auch hier noch anhören zu müssen. Ich habe schon als Kind lieber koreanische Popmusik gehört«, sage ich und räume die Teller vom Tisch, während ich Oppa Gangnam Style singe.

»Na, ob das besser ist?«, kichert die Studentin.

Ich verschwinde schnell mit den Tellern in die Küche, schneide ein paar Limetten und mache drei Gläser mit Minz-Limetten-Limo und gehe wieder in das Wohnzimmer, wo die beiden sich unterhalten.

»Hast du die Revolution in Rojava miterlebt?«, fragt die Studentin. »Ist sie wirklich so toll?«

»Natürlich ist nach der Revolution nicht alles sofort gut gewesen, aber alles besser. Es hat uns wirklich Mut gemacht. Aber nun habe ich keine Hoffnung mehr. Wir haben die Welt vor dem Daesh geschützt und als Dank hat sie tatenlos zugeschaut, wie die Türkei mit deutschen Panzern in meine Stadt eingefallen ist und einen Großteil der Bevölkerung vertrieben hat. In meinem Haus wohnt nun ein arabischer Islamist, der ein kurdisches Mädchen mit Gewaltandrohung zu seiner Frau gemacht hat.«

»Hast du noch Familie in Syrien?«

»Ja, meine Oma lebt noch dort. Sie ist alt und möchte in ihrer Heimat sterben«, der Künstler holt seinen Tabak raus und dreht sich eine Zigarette. »Aber eigentlich gibt es diese Heimat gar nicht mehr. Ich bin heimatlos.«

»Erdoğan nennt seinen Einmarsch übrigens einen Erfolg gegen die Ungläubigen«, sage ich. »Genau wie Saddam seinen Genozid an den Kurden im Irak einen Krieg gegen die Ungläubigen genannt hat.«

»Tja, die Unterwerfung unter den Islam hat Kurdistan keine Sicherheit gebracht«, meint der Künstler.

Der Künstler ist sehr schlau und sehr traurig. Vermutlich macht die Welt einen umso trauriger, je besser man sie versteht. Er steht auf, geht auf den Balkon und raucht seine Zigarette. Wir schauen ihm nach. Der Wind bläst seine braunen Haare aus dem Gesicht. Durch das Fenster betrachtet sieht er aus wie eins seiner eigenen Gemälde, voller Trauer und Verzweiflung, genau wie die Musik, die er so mag.

»Und wie ist die Situation in deiner Heimat, im irakischen Teil?«, fragt die Studentin mich.

»Da ist es ganz anders. Der kurdische Teil Iraks hat seit Saddams Niederlage weitgehende Selbstständigkeit. Ich komme aus Hewlêr, also Erbil, der Hauptstadt der Autonomieregion. Meine ganze Familie lebt noch da.«

DIE SCHILDKRÖTE

Die Erinnerungen an meine frühe Kindheit sind bruchstückhaft. Aber ich weiß noch, dass wir an einer Straßenecke wohnten, ganz nahe beim alten Basar und der uralten Zitadelle.

»Die älteste Stadt der Welt«, erzählte mein Vater mir stolz, wenn er mit mir durch die alte Festung im Stadtkern spazierte.

Wenige Schritte von unserem Zuhause lag der Salon des Friseurs, der meinem Vater, meinen Brüdern und mir die Haare schnitt und Neuigkeiten aus der Stadt erzählte. Ein paar Meter in die andere Richtung befand sich ein kleiner Laden, in dem wir Kinder uns manchmal Eis holten. Und an Freitagen mussten wir nicht weit gehen, um zu dem großen Tiermarkt der Stadt zu kommen. Da gab es Hühner, Puten und Gänse zu kaufen, aber auch wunderschöne bunte Vögel in Käfigen und Raubvögel, die auf Stangen angebunden waren. Manchmal konnte ich da auch Eichhörnchen, Füchse und sogar Affen bewundern. Und es gab Becken mit glitzernden Goldfischen, die man im Beutel oder Glas mit nach Hause nehmen konnte.

Ich liebte die Tiere und bettelte so lange, bis mein Vater mir eines Tages erlaubte, mir eine kleine Schildkröte auszusuchen, die ich den ganzen Weg zurück nach Hause stolz in meinen Händen trug.

Von der Straße vor unserem Zuhause ging es in den kleinen quadratischen Innenhof. Rechts vom Eingang war ein kleiner Garten. Weiter hinten lag ein Toilettenschuppen mit einer Stehtoilette voller Kakerlaken und einer kleinen Kanne mit Wasser zum Waschen und Spülen. Ich versuchte immer ein paar der vielen Schaben mit wegzuspülen. Aber sie krochen ständig wieder aus dem Loch hervor. Ich ekelte mich vor ihnen und weigerte mich, nachts im Dunkeln auf die Toilette zu gehen. Deswegen bekam ich von meiner Mutter eine Flasche ans Bett, in die ich stattdessen pinkeln konnte.

Unser Wohnhaus lag in der linken Ecke des Innenhofs. Ich erinnere mich an die sandfarbenen Mauersteine an den Außenwänden und daran, wie der Putz daraus bröckelte. Auf der einen Seite des Hauses rankte eine Grünpflanze und davor schwirrten immer Bienen, die manchmal so träge waren, dass ich sie mit einem Glas einfangen und darin untersuchen konnte, bevor ich sie wieder freiließ.

Im Haus gab es einen Waschraum und zwei Zimmer. In dem einen schliefen meine Eltern, in dem anderen wir Kinder. Abends holte meine Mutter die Unterlagen, Kissen und Bettdecken aus dem Schrank und richtete unsere Schlafstätten für uns ein.

Vor dem Haus war die Kochecke unter einer Überdachung. Außen am Haus führte eine Treppe auf das Dach. Oben befanden sich ein großer Wassertank und eine kleine Dachterrasse, von der ich die Welt überblicken konnte, in der sich fast meine ganze frühe Kindheit abspielte.

Nur manchmal nahm mein Vater mich den langen Weg in die Werkstatt mit, in der er damals arbeitete. Ich liebte es, war meinem Vater aber oft mehr im Weg als zur Hilfe. Ich ließ mich zu leicht ablenken, um ihm sein Werkzeug zuverlässig zu reichen, hatte keinen Spaß daran, ihm nur beim Schrauben zuzugucken, und stellte mich zu ungeschickt an, um selber mit an den Autos zu hantieren.

»Willst du dir nicht Falafel holen gehen«, schickte mein Vater mich meistens nach kurzer Zeit weg. Dann spazierte ich stolz die wenigen Schritte zum Imbiss, schaute zu, wie der Händler den Teig zu kleinen Bällen formte und frittierte, nahm die fertige Brotrolle entgegen und stapfte damit zurück. Ich aß meine Mahlzeit in einer Ecke der Werkstatt und bemühte mich, ruhig zu warten, sprang aber meistens schnell wieder auf und hampelte rastlos um meinen Vater herum, bis er mich nach Hause bringen konnte.

Meiner Mutter machte es nichts aus, wenn ich versehentlich etwas umstieß, laut jauchzte oder mitten in einem Arbeitsschritt plötzlich vergaß, was ich machen wollte, weil ein Schmetterling vorbeiflog oder ein Vogel auf dem Strauch im Garten landete. Das Arbeiten im Haushalt wurde deshalb zu meinem liebsten Hobby. Ich goss Pflanzen im Garten, fegte den Innenhof und half beim Waschen und Trocknen der Wäsche auf dem Dach unseres Wohnhauses.

Eines Tages kam mein älterer Cousin vorbei, als ich gerade einen Teppich auf dem Dach bearbeitete, und bot mir seine Hilfe an. Wir kippten gemeinsam Seifenwasser über den Teppich, schrubbten die Fasern und spülten die Lauge mit einem Gartenschlauch ab. Mein Cousin war gewissenhaft am Schrubben, während ich den Schlauch führte. Ich nahm ihn hoch, um meinen Cousin nasszuspritzen, und rutschte dabei so heftig auf der Seifenlauge aus, dass ich kopfüber auf das Dach knallte. Was genau danach passierte, weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich noch an meine aufgeplatzte Lippe und daran, dass ich ein paar Tage eine Bandage um den Kopf tragen musste und mein Cousin sich darüber lustig machte.

Ich tröstete mich im Garten mit meiner Schildkröte und strich ihr fasziniert über ihren harten Panzer. Dabei verlor ich sie kurz aus den Augen und fand sie nie wieder, doch die Beule über meiner rechten Augenbraue blieb.

DER STAUB

Der Künstler sieht noch immer traurig aus, als er die Balkontür aufmacht und sich wieder setzt.

»Ich mag Irakisch-Kurdistan sehr«, sagt er. »Aber ich hätte mir nie vorgestellt, dass Kurden so altmodisch sein können. Für uns in Syrien war die Autonomieregion immer das Gelobte Land. Aber als wir dahin flüchten mussten, war es wie eine Reise in die Vergangenheit. Das war fast wie im Mittelalter gegen das Leben in den Städten Syriens.«

»Ja, zumindest in Hewlêr«, stimme ich ihm zu.

»In Silêmanî ist es etwas moderner, studentischer, da gibt es viel Kunst und Kultur. Und es ist die Stadt der Eselpartei«, erinnert der Künstler.

Wir lachen beide laut auf. »Oh, die hatte ich fast vergessen«, sage ich.

»Die Partei hat sich für Esel eingesetzt, weil Esel die einzigen waren, die den kurdischen Freiheitskampf aktiv und uneigennützig unterstützt haben. Das Manifest der Partei war sehr lustig. Bei Parteitagen durfte man die Türen nur mit einem Eselstritt öffnen und das Parteilied lautete ›Ihhh-Ahhh‹.«

»Eigentlich erstaunlich, dass die sich so viel Satire erlauben konnten«, werfe ich ein.

»Naja, Spaß ist auch in Irakisch-Kurdistan erlaubt.«

»Jaja, solange man Familie, Glaube und Sexualmoral ausklammert«, sage ich zynisch. »Ein falscher Witz und du bist tot.«

»Was willst du damit auch erreichen? Als ich so jung war wie du, dachte ich auch, dass Provokationen wirken. Aber nun bin ich erwachsen und sehe es realistischer.«

»Na, wohl eher fatalistischer. Willst du die Ewiggestrigen einfach duldsam aushalten? In Kurdistan hat sich die erste Hochkultur der Menschheitsgeschichte entwickelt. Und seither geht es gefühlt stetig bergab. Vielleicht sollte man die Leute da sogar eher Neugestrige nennen? Gibt es so ein Wort?«

»Nein, das gibt es bisher nicht, glaube ich. Aber es passt gerade auch zu vielen Menschen in Deutschland«, sagt die Studentin.

»Im Moment ist Irakisch-Kurdistan ja zumindest ziemlich sicher, nur etwas altmodisch«, sagt der Künstler.

»Hewlêr ist ja auch eine der am längsten durchgehend bewohnten Städte der Welt, da haftet halt der Staub alter Zeiten an den Gemäuern.«

»Ja, staubig ist es da auf jeden Fall in mehrfacher Hinsicht.«

DER KRIEG

Der staubige, schmale Bürgersteig entlang der Straße vor unserem Haus war wie ein Treppenabsatz, auf dem wir Kinder oft saßen, mit Steinen oder Murmeln spielten oder einfach die Straße beobachteten.

Einmal konnten wir sehen, wie der Präsident mit seinem Gefolge durch unsere Stadt kam. Schwerbewaffnete Truppen begleiteten seinen Zug durch die Straßen und die Luft war von Helikopterlärm erfüllt. Wir standen auf, staunend und ehrfurchtsvoll vor dem mächtigsten Mann unserer Region.

Manchmal fuhren amerikanische Soldaten auf einem Pickup auf der großen Straße am Haus vorbei. Vorne zwei Menschen in der Fahrerkabine und hinten jemand mit Waffe an einem Stand. Manchmal gingen sie auch zu Fuß, und wenn sie an unserer Ecke in die Straße einbogen, sprangen mein kleiner Bruder und ich aufgeregt auf und rannten ihnen hinterher. Manchmal drehten sie sich dann zu uns um, lächelten und sagten etwas auf Amerikanisch. Mein Bruder und ich bewunderten diese großen Männer. Einige hatten ganz helle Haare, andere ganz dunkle Haut. Sie waren die Guten und hatten uns von Saddam und seinem Vetter Ali Chemie befreit. Sie erschienen mir wie Helden aus einem Märchen.

Auf dem Weg zurück imitierten wir die amerikanischen Worte, begrüßten uns mit »Hello«, kicherten und fragten uns, wie es wohl in Amerika war. Und dann hockten wir uns wieder an den Straßenrand, spielten mit Murmeln und warteten darauf, dass unser Vater von der Arbeit kam. Er lächelte immer breit, wenn er uns beide sitzen sah. Wir rannten dann auf ihn zu und hüpften an ihm hoch. Manchmal packte er einen von uns und wirbelte uns einmal durch die Luft.

Mein Vater war auch ein Held. Er hatte dichtes schwarzes Haar, dunkle Augenbrauen und einen Schnauzer, so wie jeder Mann mit Autorität. Ich war stolz auf meinen Vater. Er hatte sein Leben und seine Familie im Griff. Er war gottesfürchtig, schreckte aber sonst vor nichts zurück und war jederzeit bereit, zu den Waffen zu greifen, um die Ehre seiner Familie oder seines Volkes zu verteidigen.

Manchmal holte er seine alten Waffen aus dem Schrank und zeigte sie uns. Wir durften sie anfassen und er erzählte uns dann von der Zeit, als er gegen die Araber gekämpft hatte. Er war in den Bergen gewesen. Wie er wohl da gelebt hatte? Hatte er morgens zu Hause gegessen und danach in den Bergen gekämpft? Die Erwachsenen redeten oft von der Zeit, als die Kurden keine anderen Freunde hatten als die Berge. Und ich stellte mir gerne vor, dass die Berge riesige, freundliche Wesen waren, die meinen Vater versteckt und beschützt hatten im letzten großen Krieg.

Der Krieg war vorbei, aber allgegenwärtig. Auf den Mahntafeln für die Verstorbenen, in den Körpern der Männer und den Augen der Frauen. Unser Nachbar sprach nicht mehr, sein Körper war aus dem Gefängnis in Silêmanî befreit worden, seine Seele war aber noch dort gefangen. Er verrichtete seinen Alltag nur noch mechanisch und starrte dabei vor sich hin. Und wenn man in seine Augen sah, war da nichts mehr, nur Leere.

Südlich der Autonomieregion tobte der Krieg noch, und Besuche bei meiner Tante in Kerkûk waren immer bedrohlich. Ständig jagte sich da jemand mit dem Auto in die Luft. Wir durften ihr Haus nie allein verlassen und waren alle froh, wenn wir wieder heil zu Hause angekommen waren.

Unsere Bekannten in der Stadt Helebçe besuchten wir Kinder nie, weil meine Mutter Angst hatte, wir könnten uns dort noch vergiften an dem Giftgas, mit dem das irakische Regime zehn Jahre vor meiner Geburt fast die ganze Stadt ausgelöscht hatte.

Die Freundin meiner Mutter war eine Hałâtin, eine Vertriebene. Eines Abends saß sie bei uns zu Hause auf dem Boden und erzählte vom Giftgasangriff. »Plötzlich roch die Luft ganz süß und lecker wie frischer Apfel, und kurz danach fing das Sterben an.«

Tausende waren innerhalb weniger Minuten tot. Und in dem Chaos des Massensterbens wurden viele Familien auseinandergerissen. Die Säuglinge, die danach von den Rettungskräften alleine aufgefunden wurden, wurden adoptiert und lebten nun in neuen Familien. Ich konnte danach nie wieder einen Apfel essen, ohne an die Kinder von Helebçe zu denken.

DER KREISLAUF

Ich gehe mit meinem Freund, dem Trainer, am Hafen entlang, die ersten warmen Sonnenstrahlen des Jahres fallen auf unsere Gesichter. Die ganze Stadt ist draußen. Eltern mit Kinderwagen, Pärchen eng umschlungen, Kinder auf dem Spielplatz. Vor den Restaurants sitzen Grüppchen bei Bier und Fischgerichten. Wir setzen uns auf eine Holztreppe am Wasser und teilen uns meinen letzten Tabak. Es ist Monatsende und wir sind beide pleite.

Der Trainer ist groß und muskulös. Er hat schwarze Haare, einen Zopf und ein strahlendes Lachen. Ich reiche ihm nur knapp über die Schulter und watschele ungelenk neben ihm her, während er sich geschmeidig durch die Straßen bewegt und dabei aussieht wie ein Krieger. Doch der Schein trügt, während ich aufbrausend und kämpferisch bin, ist er besonnen und sanftmütig.

Er ist behütet in Syrien aufgewachsen und liebt seine Familie. Er hat sein Abitur gemacht und sorglos in die Zukunft geschaut. In seiner Freizeit hat er Fußball gespielt oder im Betrieb seiner Familie mitgearbeitet. Und er hat keine Sekunde gedacht, jemals in ein anderes Land flüchten zu müssen.

»Bei Sonne ist es schön hier«, er schaut über das Meer. »Doch leider scheint sie fast nie.«

»Ja, ich verstehe inzwischen auch, warum hier alle hektisch rausrennen, sobald die Sonne scheint«, sage ich. »Sie könnten den einzigen Sommertag des Jahres verpassen.«

»Ich vermisse Syrien. Vor dem Krieg war es so ein schönes Land. Ich habe mir über Politik wenig Gedanken gemacht und einfach nur mein Leben genossen und das gute Wetter. Wobei ich erst jetzt weiß, wie schön es war.«

Der Trainer lernt fleißig Deutsch. »Danke, bitte, Entschuldigung«, perfektioniert er das Auftreten, das von einem guten Flüchtling erwartet wird, engagiert sich ehrenamtlich als Trainer und nimmt jede Arbeitsgelegenheit wahr.

»Ich werde mich vielleicht bald bei einem Sicherheitsdienst bewerben«, sagt er.

»Vielleicht solltest du lieber eine Ausbildung machen«, schlage ich vor. »Möglicherweise könntest du sogar studieren.«

»Aber das dauert doch ewig«, wehrt er ab und drückt die Zigarette aus. Er will unabhängig sein und sich selbst versorgen. »Mein Deutsch ist auch gar nicht gut genug.«

»Kennst du den Übersetzer, der in Syrien Deutsch studiert hat?«, frage ich ihn.

»Ja, der spricht fließend Deutsch und hat einen guten Job«, sagt der Trainer. »Der hat Glück im Unglück gehabt. Ich muss halt sehen, was ich ohne Ausbildung kriegen kann«, sagt er.

»Nicht, dass du Deutschland noch Geld wegnimmst, so wie ich«, grinse ich provokativ. Er guckt mich fragend an.

»Naja, einen Großteil meines Geldes vom Jobcenter kriegt mein Vermieter, dann kriegt mein Stromanbieter noch was und den Rest gebe ich fast komplett für Lebensmittel aus. Ich war im Kinderheim, in der Schule, im Krankenhaus, beim Arzt und in Gewahrsam der Grenzschutzpolizei. Das hat Steuergeld gekostet, das in diese Jobs geflossen ist. Ich habe bisher nur ein Mal so viel Geld gespart, dass ich ein kleines Paket mit Geschenken an meine Geschwister schicken konnte. Sonst habe ich persönlich noch nie Geld außer Landes gebracht. Ich kenne mich damit nicht wirklich aus. Aber glaubst du, dass ich Deutschland ärmer mache?«

»Aber willst du ewig vom Geld des Staates abhängig sein?«

»Nein, natürlich nicht«, sage ich. »Wer will das schon? Ich finde das genauso furchtbar wie du.«

»Ich bin aber auch sehr dankbar, dass ich hier nie verhungern muss.«

»Natürlich, das bin ich auch«. Ich drehe uns aus den allerletzten Tabakkrümeln zwei Zigaretten. »Mein Kühlschrank ist allerdings gerade genauso leer wie mein Tabakbeutel.«

DIE KATZE

Wenn meine Geschwister und ich mit den Kindern aus der Nachbarschaft spielten, fragte ich mich oft, ob ich genau wie die Kinder aus Helebçe in einer fremden Familie lebte. Vielleicht hatte meine Mutter die Geschichte von meiner Geburt nur erfunden, um mich zu beruhigen?

In den Spielen stand meistens ein Kind in der Mitte, musste zwischen den Beinen der anderen Kinder entweichen, einen Ball rauswerfen oder blitzschnell versuchen, einen Platz zu erwischen, wenn die anderen Kinder ihre Positionen tauschten. Meine Geschwister waren dabei schnell und geschickt. Ich stand immer in der Mitte. Und wenn es mir endlich gelang, aus der Mitte rauszukommen, war es für das neue Kind in der Mitte ein Leichtes, meinen Platz zurückzuergattern.

Wenn mich die Spiele traurig machten, kletterte ich aufs Dach und guckte über meine Welt. Und wenn ich mich unbeobachtet fühlte, kletterte ich von unserem Dach auf das Nachbardach und von da auf das nächste. Mitunter musste ich nur eine Umrandung übersteigen, manchmal über einen schmalen Spalt springen. Gelegentlich traf ich Katzen, die genau wie ich über die Dächer turnten. Die meisten liefen ängstlich weg, aber eine kleine schwarze Katze ließ sich manchmal streicheln. Dann setzte ich mich neben sie, spürte ihren weichen Körper und das leise Schnurren unter der Kehle. Ich schaute zu, wie ihr die Augen vor Wohlbehagen zu kleinen Schlitzen zufielen.

Nach den Streifzügen kletterte ich über unser Dach zurück in den Innenhof und guckte, ob mein Vater schon zurück war. Oft saß er vor dem Fernseher und guckte Fußball. Manchmal setzte ich mich eine Weile dazu, obwohl es mich nicht interessierte.

»Kann ich dein Mobiltelefon leihen, Baba?«, fragte ich ihn dann. Sein Telefon war von Nokia, hellblau, ganz klein und modern. Wenn man es anschaltete, lief ein kleiner Film mit zwei Händen, die sich einen Handschlag gaben. Ich spielte immer ein Spiel, bei dem man eine kleine Schlange mit den Tasten über den kleinen Bildschirm bewegen konnte. Wenn ich davon genug hatte, lief ich raus zu meiner Mutter, um zu sehen, ob ich helfen konnte.

Oft saß sie zusammen mit den Nachbarinnen im Innenhof und backte Nansaji, weiches Fladenbrot. Schräg rechts vor sich hatte sie dann die Teigkugeln unter einem Tuch und direkt vor sich eine kleine Holzplatte, auf der sie jeweils eine Kugel mit einer dünnen Holzrolle zu einem Fladen rollte, den sie danach auf einem großen Kissen glatt zog, bis er ganz dünn war. Dann drehte sie das Kissen mit Schwung kopfüber auf die nach oben gewölbte metallene Halbkugel, den Sac. Unter dem Sac loderte eine Gasflamme. Das Metall war heiß und meine Mutter achtete genau auf den Fladen. Sobald er anfing Blasen zu schlagen, hob sie ihn vom Metall und legte ihn auf den Stapel links von sich, wo der Teig schnell steif wurde. Wenn wir das Brot später essen wollten, mussten wir es mit etwas Wasser besprenkeln, damit es wieder weich und geschmeidig wurde.

»Pass auf«, sagte meine Mutter. Beim Brotbacken durfte ich ihr nicht zu nahe kommen, sie hatte Angst, dass ich etwas umstoßen und mich an dem Feuer verbrennen konnte. Ich ging dann raus, um den Block. Auf den großen Straßen fuhren die Autos im ständigen Strom, es gab keine Ampeln für Menschen. Wer rüber wollte, musste auf Gott vertrauen und sich todesmutig in den Verkehr stürzen. Das durfte ich noch nicht alleine. Also ging ich durch die ruhigen kleinen Seitenstraßen um unser Haus, grüßte den Friseur und schlenderte weiter.

Einmal entdeckte ich dabei ein kleines schwarzes Fellknäuel neben einem Hauseingang unweit des Friseursalons. Meine Katze lag auf der Seite, ihre Augen starrten geradeaus. Ich fasste sie vorsichtig an, ihr Körper unter dem Fell war hart wie Stein. Ich sprang auf, lief zum Friseur und erzählte ihm von meinem schrecklichen Fund.

»Wilde Tiere leben gefährlich«, sagte er, streichelte mir tröstend über den Kopf und erklärte mir, dass einige Menschen vergiftete Köder auslegten für die wilden Katzen und Hunde der Stadt. »Geh lieber schnell wieder nach Hause.«

DER TOD

»Ich habe kürzlich zum ersten Mal einen toten Menschen gesehen«, erzähle ich dem Trainer. »Ein Freund von mir ist überraschend gestorben.«

»Und du hast ihn dann tot gesehen?«, fragt der Trainer verwundert.

»Wir waren bei der Aufbahrung im Bestattungsinstitut und haben Abschied genommen.«

»Macht man das so in Deutschland? Das wusste ich nicht.«

»Es machen wohl nicht alle so«, gebe ich weiter, was mir meine Freundin erklärt hat. »Jedenfalls denke ich seitdem viel über den Tod nach. Es gibt viele Menschen, die ich wahrscheinlich nie wieder sehen werde. Aber es ist anders, wenn jemand stirbt und du es mit Sicherheit weißt. Ich habe immer Angst, dass meine Eltern sterben und ich sie nie wieder in die Arme schließen werde.«

Er nickt.

»Früher habe ich fest an ein Leben nach dem Tod geglaubt, aber seitdem mir der Glaube abhandengekommen ist, hat Sterben eine andere Bedeutung für mich«, sage ich. »Vielleicht macht der Glaube an ein Leben nach dem Tod die Leute so fahrlässig im Umgang mit Menschenleben?«

»Ich hatte meine erste Begegnung mit dem Tod als Soldat«, sagt er.

»Wie war das?«

»Na, wie war das wohl?« Er macht sich sein Haargummi ab, streicht die Haare wieder glatt nach hinten und bindet sich einen Zopf.

»Was ist denn genau passiert?«

Er wirkt plötzlich sehr angegriffen.

»Wir haben auf die Ankunft ganz junger neuer Rekruten gewartet. Als sie nicht wie geplant ankamen, haben wir uns auf den Weg gemacht. Und da lagen sie dann, alle tot, mehr als zwanzig junge Männer, einfach erschossen. Sie sind in einen Hinterhalt geraten. Wir mussten ihre Kleidung durchsuchen nach persönlichen Gegenständen. Ich fand ein Mobiltelefon und habe damit die Familie des Jungen angerufen. Es war furchtbar.«

»Und danach bist du desertiert?«

»Nein, noch nicht. Aber ich habe immer deutlicher gemerkt, dass ich das nicht kann«, seufzt er. »Ich wusste, dass der Tag kommen würde, an dem ich selber töten müsste oder sterben. Und dann bin ich geflüchtet.«

Ich hole mein Mobiltelefon raus und lese ihm einige Kommentare unter einem Post von mir vor. »Hör dir mal an, was die geschrieben haben: ›Ach, du bist nach Deutschland geflüchtet, um nicht für dein Heimatland kämpfen zu müssen? Was bist du für ein Mann? Lässt andere für deine Heimat kämpfen und lebst solange in der Fremde ein schönes Leben. Schäm dich.‹ Oder hier: ›Ja, ich würde meinen Sohn in den Kampf schicken, wenn Deutschland angegriffen würde. Ja, ich würde auch selbst zur Waffe greifen und mein Land verteidigen. Vor allem, wenn ich ein Mann wäre, würde ich mich schämen, davonzulaufen und andere für mein Land kämpfen zu lassen.‹ Die würden sich gut mit meinem Vater verstehen.«

»Die haben garantiert noch keinen Krieg erlebt«, sagt der Trainer. »Ich hatte viel weniger Angst vorm Sterben als vor dem Töten.«

»Warum bist du dann überhaupt Soldat geworden? Wurdest du zum Wehrdienst eingezogen?«

»Nein, ich habe mich freiwillig gemeldet. Und anfangs war es auch in Ordnung. Es war drei Monate nach Beginn des Bürgerkriegs und ich hatte zuerst nur ungefährliche Dienste.« Er nimmt sein Telefon. »Willst du mal sehen?« Er sucht ein bisschen und zeigt dann Fotos. Sein Gesicht mit demselben Lachen, aber mit kurzen Haaren und Sonnenbrille vor einem Panzer, im Jeep, mit Maschinengewehr, zusammen mit anderen jungen Männern, die alle so aussehen, als wäre es nur ein Spiel.

»Der Tarnanzug stand dir doch ganz gut«, grinse ich.

Er schüttelt den Kopf und wirft einen kleinen Zweig ins Wasser. Wir schauen zu, wie er dahintreibt. »Ich war naiv. Ich wusste nach dem Abitur nicht genau, was ich werden sollte, und dachte, dass ich mich beim Militär selber finde. Aber ich habe mich beinahe verloren. Und nun sitze ich hier nutzlos rum. Manchmal träume ich, dass alles nur ein Albtraum war. In meinem Traum wache ich auf und bin in meinem hellen Zimmer im Haus meiner Eltern. Ich gehe ans Fenster und schaue im Morgenlicht über die schöne Stadt. Und ich lache, weil ich alles nur geträumt habe. Und davon wache ich dann wirklich auf und starre an die dunkle Decke meiner düsteren Wohnung.« Er inhaliert und guckt traurig über das Meer.

»Bereust du deine Flucht?«, frage ich ihn.

»Nein, sonst wäre ich jetzt wahrscheinlich tot.«

»Ich bin froh, dass du geflüchtet bist«, sage ich. »Zusammen sitzt es sich viel schöner nutzlos rum als allein.«

DIE PRÜFUNG

Am Tag meiner Einschulung spiegelte ich mich in den Fenstern aller Autos, an denen wir auf dem Weg zur Schule vorbeikamen. Ich war stolz auf mein weißes Hemd und die graue Hose meiner Schuluniform. Ich entdeckte erst einige Monate später, dass die Farben sehr unpraktisch waren.

»Warum hast du Schuhabdrücke auf deiner Hose und deinem Hemd?«

Meine Mutter sah mich ernst an, als ich von der Schule kam.

»Wir haben gespielt«, antwortete ich und wollte an ihr vorbeigehen.

»Beim Spielen kriegt man doch keine Fußabdrücke auf die Kleidung.«

Im Islamunterricht war ich der Klassenbeste. Auch die Buchstaben lernte ich schnell. Ich war wissbegierig und neugierig und oft platzte mir die Antwort auf eine Frage der Lehrer einfach raus. Trotzdem war ich das Gespött der Klasse. Das Rumsitzen langweilte mich. Ich kippelte oft mit dem Stuhl, manchmal fielen meine Schulhefte dann runter. Wenn ich sie aufheben wollte, entdeckte ich etwas Interessantes unter dem Tisch. Und wenn meine Lehrer mich dann etwas fragten, wusste ich oft nicht mehr, worum es gerade ging. Dann kicherten die anderen über mich.

Und in den Pausen lauerten sie mir auf. Sie ärgerten mich damit, dass ich eine Fehlstellung der Beine hatte und wie ein Pinguin mit den Füßen zu den Seiten ging. Sie lachten, wenn sie mich über den Schulhof trieben, denn beim Laufen sah es noch lustiger aus. Sie mussten mir meistens nicht mal ein Bein stellen. Ich fiel ganz von alleine hin und dann traten sie auf mich ein, bis meine große Schwester es sah und dazwischenging.

»Es wäre einfacher, wenn ich schneller laufen könnte«, sagte ich und guckte auf meine Füße.

»Gott hat sich etwas dabei gedacht«, sagte meine Mutter. »Gott prüft dich, du musst geduldig sein. Erinnere dich an den Propheten Ayyūb, der jede Prüfung ertrug und dafür von Gott belohnt wurde.«

Ich nickte und ging ins Haus. Ja, Gott hatte mich halt so geschaffen. Aber ich konnte nicht verstehen, was sein Plan damit war.

Ich versuchte immer, mich zu konzentrieren. Aber meine Augen, Ohren und Gedanken machten, was sie wollten. Ich bemühte mich auch, die Füße geradezubiegen, bekam sie aber genauso wenig in den Griff. Manchmal ging ich abends allein raus und übte Fußballspielen, aber ich kriegte weder meine Aufmerksamkeit noch die Füße auf den Ball gerichtet. Er flog in alle Richtungen, doch nie dorthin, wo er sollte.

In meiner Freizeit ging ich daher lieber in die Moschee als zum Ballspiel. Und als wir in den Schulferien die Möglichkeit bekamen, uns für Ferienkurse anzumelden, wählte ich ganz selbstverständlich lieber die Koranschule als den Sportkurs und kam am Ende der Ferien stolz mit meinem Zertifikat nach Hause: »Zor basha, sehr gut!«

Während der Schulzeit war der schulfreie Freitag mein Lieblingstag. Ich achtete genau auf die Uhrzeit, und sobald die Abfahrtzeit sich näherte, rannte ich aufgeregt durch das Haus und erinnerte meinen Vater und meine Brüder daran, dass sie sich für das Gebet fertig machen sollten. Meine Brüder hatten oft keine Lust mitzukommen, ich aber ließ kein Freitagsgebet in der Moschee ausfallen.

Manchmal freute ich mich so sehr darauf, dass ich mich nicht zurückhalten konnte und auf dem Weg zur Moschee laut aus dem Auto rief und Leute dazu anhielt, uns zu folgen.