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Wie ist die Geometrie der Mausewelt beschaffen? Wen oder was frisst die Katze nun eigentlich wirklich? Anke Hüper setzt sich auf skurrilen Gedankenspaziergängen mit Franz Kafkas Text "Kleine Fabel" auseinander. Biss für Biss kaut sie die Geschichte von der Maus lustvoll noch einmal durch und gelangt zu ganz eigenen Ergebnissen. Dabei kommen nicht nur Maus und Katze zu Wort, auch einzelne Wörter dürfen sich in Szene setzen. In dieses bunte Experiment fließen Schreibdrang, Meditation, bildende Kunst, Musik, Sport und Alltag ein. Mit ihrem kreativen Ansatz ermuntert die Autorin Lesende und Schreibende, Lehrende und Lernende, Nachdenkliche und Spielfreudige, den persönlichen und direkten Kontakt mit Kafkas Werk zu wagen. Dass dieser Weg nicht nur zu Kafka, sondern vor allem in die eigene Innenwelt führt, ist mehr als nur ein wichtiger Nebeneffekt.
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Seitenzahl: 46
Veröffentlichungsjahr: 2024
Anke Hüper
Kafkas
Maus
Spaziergänge
© Anke Hüper
c/o Block Services Stuttgarter Str. 106 70736 Fellbach
Cover und alle Fotos: Anke Hüper
Printausgabe bei story one publishing
Hüper, Anke: Kafkas Maus, Wien 2024
ISBN:
Hardcover: 978-3-7115-4277-9
E-Book: siehe Cover
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
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Wie ist die Geometrie der Mausewelt beschaffen?
Wen oder was frisst die Katze nun eigentlich wirklich?
Anke Hüper setzt sich auf skurrilen Gedankenspaziergängen mit Franz Kafkas Text „Kleine Fabel“ auseinander. Biss für Biss kaut sie die Geschichte von der Maus lustvoll noch einmal durch und gelangt zu ganz eigenen Ergebnissen. Dabei kommen nicht nur Maus und Katze zu Wort, auch einzelne Wörter dürfen sich in Szene setzen. In dieses bunte Experiment fließen Schreibdrang, Meditation, bildende Kunst, Musik, Sport und Alltag ein.
Mit ihrem kreativen Ansatz ermuntert die Autorin Lesende und Schreibende, Lehrende und Lernende, Nachdenkliche und Spielfreudige, den persönlichen und direkten Kontakt mit Kafkas Werk zu wagen.
Dass dieser Weg nicht nur zu Kafka, sondern vor allem in die eigene Innenwelt führt, ist mehr als nur ein wichtiger Nebeneffekt.
(Kleine Fabel)
„Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letz- ten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ – „Du mußt nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie.
Franz Kafka, 1920
Inhalt
Ach 9
sagte die Maus 11
die Welt wird enger 13
mit jedem Tag. 15
Zuerst war sie so breit, ... 17
ich lief weiter und ... 19
dass ich endlich ... 21
aber diese langen Mauern 23
eilen so schnell … 25
dass ich schon ... 27
und dort im Winkel 29
steht die Falle 31
in die ich laufe. 33
Du musst nur ... 35
sagte die Katze 36
und fraß sie. 38
Ach 40
Über die Autorin 41
Mein erster Spaziergang führt mich auf die Suche nach dem Ach.
Wie fühlt sich ein Ach an? Ich töne vor mich hin, lasse ganz verschiedene Achs ausströmen, kurze, langgezogene, hochtonige, stöhnende, abfällige. Unglaublich, was ein Ach alles ausdrücken kann: Mitleid, Verwunderung, Bedauern, Schmerz, Aufmerksamkeit, Interesse, Desinteresse, Fassungslosigkeit, Verachtung, Geringschätzung, Freude, Staunen, Betroffenheit, Mitgefühl, Unmut, Verlangen, Sehnsucht, Verstehen, Ablehnung, Ironie, Überraschung, Spott, Zweifel – eine ganze Welt voller Gefühle, geistiger Zustände und innerer Haltungen!
Bei kurzen Texten muss jedes einzelne Wort mehr leisten als bei längeren. Manchmal haben kurze Texte so viel Inhalt zu transportieren, dass auf jedem Wort ein unendlich großes Gewicht lastet. Das erste Wort trägt aber die größte Verantwortung, von ihm wird am meisten erwartet. Das ist wie beim ersten Satz in einem Roman. Im ersten Wort muss bereits alles enthalten sein, was sich danach erst entfaltet. Es ist eine Knospe, ein Knoten, ein Knäuel. Man sieht ihm noch nicht an, was daraus werden kann. Aber man ahnt Großes.
Der Dichter hat das erste Wort auf die Bühne geworfen. Nun kommt es auf die Inszenierung an. Eine falsche Handhabung kann alles verderben. Die Knospe verdorrt, der Knoten reißt, das Knäuel verfilzt.
Mach mal A, sage ich zum Spiegel und der Mund öffnet sich. Mein Blick wandert über die Unterlippe und unter der Oberlippe hindurch. Überall Speichel, Schleimhaut, eine glitschige, rutschige Angelegenheit, aber das tut nichts zur Sache. Ich bin jetzt Höhlenforscherin. Rechts und links säumen Zahnreihen das Gewölbe. Nun geht es von der Mundhöhle Richtung Rachenraum, und es wird enger. Wie ein Stalaktit hängt das Gaumenzäpfchen herab und versperrt den Blick in die nächsten Gänge und Höhlen.
Für das A muss sich der Brustkorb weiten, bis die Lunge mit Luft gefüllt ist. Dann dreht sich der Wind. Die Luft wandert zurück durch die Bronchien über die Luftröhre zum Kehlkopf und bringt hier die Stimmlippen zum Vibrieren. Ich singe das A in verschiedenen Tonhöhen und Lautstärken und experimentiere mit der Modulation.
Hätte die Maus „Ah“ gesagt, wäre ich jetzt fertig. Aber für das „Ach“ muss ich nun den Luftstrom langsam drosseln, indem ich den hinteren Zungenrücken zum Gaumensegel hinaufwölbe. So erzeuge ich den zweiten Laut des Wortes, ein zusammengequetschtes, stimmloses Fauchen: ch. Der Strom wird nicht völlig blockiert, ich kann so lange fauchen, wie der Vorrat reicht, das heißt, die Tür darf nicht ganz geschlossen werden, ein enger Spalt bleibt geöffnet, sodass ein dünner Hauch gerade noch hindurchpasst.
Wenn ich das Ach auf die Bühne bringen will, muss ich seine ganze Fülle zeigen. Da reicht es nicht, dass irgendeine Maus mal kurz „Ach“ sagt, klagend oder nichtssagend, herausfordernd oder wegwerfend. Nein: Ich lasse alle, wirklich alle Achs zu Wort kommen. Ich lasse einen Chor auftreten. Und jetzt ist jedes Ach erlaubt und gefordert, auch die härtesten und zartesten Laute in chaotischer Superpolyphonie. Darf es auch wie ein Hach oder Huch klingen? Fragt jemand. Unbedingt. Und wie ein Och? Auch.
In mir wuchert ein Dickicht aus angelesenem Halbwissen, das mich bevormundet und einengt. Ach, könnte ich doch noch einmal diese Geschichte ganz langsam, Wort für Wort, unvoreingenommen von vorne zu lesen beginnen, mit weitem, naivem Blick!