Kafkas Verwandlung - Volker Drüke - E-Book

Kafkas Verwandlung E-Book

Volker Drüke

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Beschreibung

Ein Schriftsteller dürfe sich eigentlich »niemals vom Schreibtisch entfernen«, »mit den Zähnen« müsse »er sich festhalten«. Dies ist nur eines von vielen extremen Bildern, mit denen Franz Kafka klarmachte, wie eng verwoben Leben und Schreiben für ihn waren. Seit der berühmten September-Nacht, in der er »Das Urteil« schrieb, fühlte sich Kafka verwandelt, er war ein anderer Mensch geworden - jemand, dessen Lebensqualität ab sofort von der literarischen Kreativität abhing. Die im vorliegenden Buch angewandte Deutungsmethode ähnelt einer analytischen Begleitung: Es wird gleichsam am Text entlanggeschritten, bis die entscheidende Bruchstelle das Werk in eine Schieflage bringt, es zu kippen droht und dem Leser einen neuen Blickwinkel auf das Erzählte ermöglicht. Neben den drei berühmten Geschichten aus dem Jahr 1912 (»Das Urteil«, »Der Heizer« und »Die Verwandlung«) werden auch später entstandene Erzählungen in schärferem Licht als bisher betrachtet - und es wirkt so, als läsen wir diese Texte zum ersten Mal.

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Volker Drüke

Kafkas Verwandlung

Das Urteil, Der Heizer, Die Verwandlung und weitere Erzählungen in neuem Licht

ATHENA

Beiträge zur Kulturwissenschaft

Band 37

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

E-Book-Ausgabe 2016

Copyright der Printausgabe © 2016 by ATHENA-Verlag, Copyright der E-Book-Ausgabe © 2016 by ATHENA-Verlag, Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen www.athena-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagabbildung: © william87

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Print) 978-3-89896-625-2 ISBN (ePUB) 978-3-89896-875-1

Einführung

Wenn in der Literatur auf traditionelle Weise erzählt wird, geht es um exakt das, was auf dem Deckel des Buchs geschrieben steht. Wenn dort etwa David Copperfield oder Eugénie Grandet zu lesen ist, dreht sich die Handlung in den Büchern um Figuren mit diesem Namen. Das hat eine lange Tradition. Bereits Homers Odyssee folgt dem namensgebenden Odysseus auf dessen Heimreise nach dem Trojanischen Krieg, und Vergils Aeneis ist der römische Gründungsmythos, in dem der Held und Gründer Roms Aeneas heißt. Es gibt also die Regel, dass Autoren ihre Werke leserichtungsweisend benennen.

Eine andere Konvention besagt, dass der Erzähler den Protagonist am Anfang einführt, Daten nennt, etwa zum Geburtsdatum, zum Geburtsort, zu zeitgeschichtlichen Umständen.

Dies sind nur zwei der zahlreichen traditionellen Schreib- und Lesarten, die Franz Kafka mit seinen Texten unterläuft und so Rezipienten regelmäßig auf eine »falsche Fährte« führte. So entspricht es dem Lese-Kanon auf der ganzen Welt, dass Die Verwandlung die traurige Transformation des Gregor Samsa meint, dass der Autor also von den Qualen eines immer weiter Ausgestoßenen erzählt, der schließlich zugrundegeht. Dieser war ja gleich im ersten Satz eingeführt worden, und aus seiner Perspektive wird lange erzählt. Er muss der Protagonist sein. Völlig einsichtig ist für die gleichen Literaturbetrachter, dass die Erzählung Der Heizer Machtstrukturen beleuchtet, aus denen der namenlos bleibende Heizer ausbrechen will und mit der Hilfe des Karl Roßmann auch ausbricht. Und klar scheint vielen auch, dass Das Urteil im Sinne des Vaters vollzogen wird, dass Georg Bendemann also ertrinkt – so wie es das väterliche Verdikt vorsah.

Vielen Literaturbetrachtern reichte es bislang also, in Kafkas Werk soziale Machtphantasien in den Mittelpunkt zu stellen, die im Familienrahmen einen bedeutenden Ausdruck fanden. Andere betonten die in der deutschen Literatur typischen Generationsprobleme am Ende der Kaiserzeit, bei denen die Söhne gegen die Väter aufbegehren – wie in der Wirklichkeit die Bürger gegen die Aristokraten. Die 1970er-Jahre verstärkten diese Tendenz. Die auf allen Kulturzweigen sichtbare Blüte der generationalen Konflikte zeigte sich eben auch auf dem der Literatur-Interpretation. Der wissenschaftliche Standard verließ sich damals auf Untersuchungen zu Befehls- und Gehorsamsstrukturen, auf Darstellungen gesellschaftlicher Macht- und Unterlegenheitskonstellationen – die es in Kafkas Werk ja tatsächlich zuhauf gibt – oder auf tiefenpsychologische Deutungen, die ihrerseits immerhin wichtige Impulse gaben, um interpersonelle Konflikte genauer zu verstehen. Doch auch diese Methode ist alleine ungeeignet, um der komplexen Erzähltechnik des Franz Kafka gerecht zu werden.

Die folgenden Seiten werden zeigen, dass die allgemein gültigen Interpretationsrichtungen zu früh eingeschlagen wurden. Es werden Denk- und Deutungsalternativen vorgestellt, die nach der Überzeugung des Autors sehr viel stimmiger sind und näher am Werk Kafkas bleiben. Selbstverständlich spielen hier Autoritäten, Vater-Sohn-Konflikte und existenzielle Ängste ihre Rollen. Doch bieten diese Allgemeinplätze der Kafka-Deutungswelt tatsächlich genügend Stoff für ausreichende Textanalysen dieser einzigartigen Erzählungen?

Literatur ist weit mehr als eine Quelle für wissenschaftliche Studien, soziologische oder psychoanalytische oder gar theologische. Literatur ist die Kunst des Erzählens, und die Kunst des Franz Kafka exakter zu betrachten, als es bislang geschah, ist das Ziel der nächsten Kapitel. Deutlich wird auf dem Weg dorthin, dass jene literatur- oder kulturwissenschaftlichen Mittel, mit denen üblicherweise etwa ein Dickens- oder ein Balzac-Roman analysiert wird, bei der Beschäftigung mit Kafkas Werken schlicht nicht ausreichen.

Die auf den nächsten Seiten angewandte Deutungsmethode ähnelt einer analytischen Begleitung: Es wird gleichsam am Text entlanggeschritten, bis die entscheidende Bruchstelle das Werk in eine Schieflage bringt, es zu kippen droht und dem Leser einen neuen Blickwinkel ermöglicht, eine andere Perspektive auf das Erzählte. Diese Bruchstellen sind immer in Szenen einer individuellen Wendung zu lesen, einer Weggabelung, eines Umbruchs, eines Schnitts, der in der Regel subtextuell vermittelt wird. Wir lesen dann von dramatischen Ereignissen, die von Franz Kafka häufig wie Theaterszenen gestaltet werden. (Der Theatereinfluss auf Kafka ist immens.) Es sind dies Situationen, die ungeheuer konkret beschrieben und emotional aufgeladen sind. Kafka ist ein Meister in der Darstellung emotionaler Zustände. Wenige Worte für große Gefühle. Häufig reicht das – wenn man die richtigen Worte findet. Und das gelang Kafka.

Wir werden auch erforschen, worin jene »geheime Verbindung« zwischen den Texten Das Urteil, Der Heizer und Die Verwandlung besteht, die er gegenüber seinem Verleger ansprach und die wohl zu seiner Idee führte, sie in einem Band veröffentlicht zu sehen.

»Der Heizer«, »die Verwandlung« (die 1½ mal so groß wie der Heizer ist) und das »Urteil« gehören äußerlich und innerlich zusammen, es besteht zwischen ihnen eine offenbare und noch mehr eine geheime Verbindung, auf deren Darstellung durch Zusammenfassung in einem etwa »Die Söhne« betitelten Buch ich nicht verzichten möchte. (Brief an Kurt Wolff, 11. April 1913)

Dass daraus nichts wurde, ist aus literaturhistorischer Sicht schade und hat Kafka damals sehr getroffen. Das ist umso verständlicher, wenn man sich klarmacht, welch ungeheure Bedeutung das Schreiben für diesen Mann hatte. So fanden Kafkas emotional wohl intensivsten Beziehungen zu anderen Menschen vor allem in Briefen einen Ausdruck, nicht etwa in intimen Momenten. Solche ergaben sich höchstens auf der Basis des Geschriebenen. Dass dies nicht gerade eine verlässliche Grundlage für zwischenmenschliche Beziehungen ist, hat Kafka dann auch erlebt.

Kafkas Briefe an Freundinnen – insbesondere die an Felice Bauer – sind teilweise so bewegend, dass nicht wenige sie in einen literarischen Rang hieven. Dies widerspricht allerdings Kafkas Selbstverständnis als Autor. Wer weiß, wie er mit Korrekturfahnen umging, wie wichtig ihm jedes Zeichen, jedes Detail war, ist weit davon entfernt, seine Briefe für Literatur zu halten. Zur Literatur werden Kafkas Texte erst dann, wenn sie tatsächlich in Druck gingen oder zumindest noch einmal abgetippt wurden und so eine Korrektur erfuhren. Kafkas Haltung gegenüber jenen eigenen Texten, die veröffentlicht werden sollten, war von einem hohen Präzisionsanspruch geprägt. Hier musste einfach alles stimmen, das galt auch für formale Details, wie ein Ausschnitt aus der Umbruchfahne des Bandes Ein Landarzt belegt (vgl. folgende Seite).

Weil es sinnvoll ist, zwischen den Textsorten Tagebuch, Brief und literarischer Text zu unterscheiden, betrachten wir in diesem Buch Erzählungen Kafkas, die – bis auf eine Ausnahme – fertig und somit vom Autor zu Kunstwerken erklärt wurden. Bei den anderen muss die entsprechende Deutung selbst Fragment bleiben. (So ist auch die Beleuchtung von Der Jäger Gracchus zu verstehen.) Hinzu kommt der Brief an den Vater aus dem Jahr 1919, ein literarisches Werk, das – als Brief getarnt – ein Selbstbeschreibungs- und Loslösungstext ist. Hier vollzieht sich Kafkas innere Trennung vom Vater, und diese findet auf dem Weg des Schreibens statt – wie alles Wesentliche in seinem Leben. Jedenfalls wurde der Brief an den Vater gleich zweimal geschrieben: handschriftlich und getippt. Abtippen ließ Kafka nur Texte, die auch veröffentlicht werden sollten. Und bezeichnenderweise gibt es zwischen der handgeschriebenen und der getippten Version ein paar Unterschiede – es gab also auch eine Korrekturphase. All dies weist darauf hin, dass dieser Text seinen Autor sehr zufriedenstellte. Und tatsächlich bot er ihn seiner späteren Freundin Milena zur Lektüre an – damit sie ihn, ihren Freund, besser versteht.

Setzer und Hersteller hatten es mit Kafka sicher nicht leicht. Wenn man sich dieses kleine Beispiel aus dem Januar 1918 ansieht, lässt sich erahnen, was in der Korrekturphase auf Textseiten noch so zu tun war.

Franz Kafka schrieb innerhalb von etwa zehn Wochen drei der bedeutendsten Erzählungen in deutscher Sprache. Zwischen Ende September und Anfang Dezember des Jahres 1912 kamen Das Urteil, Der Heizer und Die Verwandlung zu Papier – ein ungeheures Tempo für drei unerhörte Geschichten. Kafka ahnte nicht nur, er wusste, was er hier geschaffen hatte, und erklärte sich danach sofort zum Schriftsteller. Im Frühjahr 1913 schreibt er seiner Freundin Felice wörtlich von seiner eigenen »Verwandlung« – er sei nun »ein anderer Mensch« (Brief an Felice vom 3. auf den 4. März 1913).

Bis zum Oktober 1914 schreibt er allerdings keine weiteren größeren Werke. Das sind fast zwei Jahre. Dann jedoch erschafft Kafka wiederum erstaunliche Geschichten und teils skurrile Figuren, die wir in diesem Buch in einem neuen Licht betrachten: Ein Landarzt ist dabei, auch Odradek aus Die Sorge des Hausvaters und ein Hungerkünstler, ein Trapezkünstler (der in Erstes Leid) und einige andere. Diese Figuren stehen in einer ganz spezifischen Beziehung zu ihrem Autor. Wir werden sehen, worin diese besteht – und warum sie besteht.

Auf den nächsten Seiten werden die Textanalysen begleitet von biographischen Notizen und Zitaten aus Kafkas Briefen und Tagebüchern, die bekanntlich sehr ausdrucksstarke Passagen enthalten. Dieses Verfahren bietet sich an bei einem Autor, dessen stärkste Texte immer auch mit dem eigenen Leben verbunden sind. Es ist erstaunlich, wie stark und häufig sich Lebensphasen des Franz Kafka innerhalb seiner Schaffensphasen spiegeln. Selbst die existenziellsten Beziehungen, d. h. Kafkas Liebesbeziehungen, werden weitgehend in Briefen entwickelt, in seinen Texten an die Geliebte. Wir werden im Folgenden deutlich sehen, dass auch seine prägendste Liebesbeziehung innerhalb von Texten scheinbar dicht und fest wurde – und auch, dass diese Eigenschaften der so genannten Realität nicht standhielten.

Literarische Texte wurzeln im Leben, oder sie wurzeln gar nicht, sagte Peter Rühmkorf einmal, und sein Schriftstellerkollege Urs Widmer verwendete die gleiche Metapher, als er schrieb, dass »jedes Erinnern, auch das genaueste, ein Erfinden ist« und dieses stets »in etwas Erlebtem wurzelt« (Widmer 2013, S. 7). In Kafkas ab dem Herbst des Jahres 1912 entstandenen Erzählungen ist das beim Lesen quasi spürbar. Hier schreibt jemand von seinem Leben und verfasst doch nichts anderes als große Kunst.

In diesem Buch ist viel von Verwandlungen die Rede, und Peter von Matt erinnerte einmal daran, dass ein Autor erst zu einem solchen wird – unverkennbar, unverwechselbar in Sprache und Stil –, wenn er auch die Welt um sich herum in ein Kunstwerk verwandelt. »Erst wenn diese Verwandlung sich ereignet, gewinnt die Sprache den Klang, an dem man den Autor vom ersten Satz an erkennt.« (Matt 2003, S. 18) Exakt das ist zwischen September und Dezember 1912 geschehen. Franz Kafka verwandelte seine Umwelt in Kunst und dadurch sich selbst in einen Künstler. Ab sofort hatte er seinen ganz eigenen Stil gefunden, und seine berühmtesten ersten Sätze aus Die Verwandlung oder Der Prozeß kennen noch heute viele im Schlaf.

Kafka gilt als phänomenaler Schriftsteller, und das zurecht. Auf welche Weise er zu diesem Ruf und lange anvisierten Ziel gelangte, wie Franz Kafka also der Kafka wurde, dessen Texte so viele Menschen auf der Welt kennen, werden wir im Folgenden sehen. Die drei Erzählungen aus dem Jahr 1912 sind gewissermaßen Zeugnisse der Transformation ihres Autors, Textzeugnisse, in denen konsequent das beschrieben wird, was ihr Autor auf dem Weg der Kreativität erfährt: existenzielle Verwandlungs- und Übergangsprozesse, an deren Ende eine Art neuer Mensch steht, ein Mensch, der – an Autonomie gewonnen – ab sofort seinen ganz eigenen Weg geht. Ob dieser der richtige ist, bleibt in diesen Erzählungen, die die Grundlage aller weiteren sind, jeweils offen.

In der Wirklichkeit gab es für Franz Kafka kein Zurück mehr. Ab dem Herbst 1912 zählte nur noch der Weg des Schreibens.

Wien, Paris, Prag 1913

Als Kafka seine bedeutendsten Erzählungen veröffentlichte, tobten die Musiksäle in Wien und Paris. Was Arnold Schönberg und Igor Strawinsky dort aufführten, hatte die Welt noch nicht gesehen und vor allem: noch nicht gehört. Eine Musikrevolution war im Gange, und die wenigsten waren sich dessen bewusst.

Schönberg hatte neben einem Zemlinsky-Stück ein eigenes Werk (die »Kammersinfonie Nr. 1, op. 9«) sowie Stücke von Webern und Berg aufgeführt. Dessen Musik und auch die Texte von Peter Altenberg, die mit Bergs Musik verschmolzen, sorgten für einen nie dagewesenen Skandal. Die Kompositionen provozierten das Publikum, das bald zischt und lacht und mit den Schlüsseln klappert. Dann springt »Webern auf und schreit, die ganze Bagage solle nach Hause gehen, worauf die Bagage schreit, wer solche Musik möge, gehöre nach Steinhof« (Illies 2012, S. 96). So heißt die Psychiatrische Anstalt, in der der Dichter Peter Altenberg lebt. Die Lage ist für das Publikum also klar: »Verrückte Musik zu den Texten eines Verrückten.« (ebd.) Schönberg, der Dirigent, wird zum Duell gefordert und vom Operetten-Komponisten Oscar Straus geohrfeigt. Gewalt im Musiksaal, die Szenerie bei diesem so genannten Watschenkonzert muss absurd gewirkt haben.

Watschenkonzert-Karikatur in »Die Zeit« (6. April 1913)

Der Wiener Skandal ereignete sich am 31. März 1913. Zwei Monate später führt Igor Strawinsky sein Werk »Le Sacre du Printemps« in Paris auf. Und hier kommt es zu einem Konzertgeschehen, das jenes in Wien noch übertraf.

Nach dem Erfolg des »Feuervogel« hatte Strawinsky den Auftrag erhalten, eine Ballettmusik zu komponieren. Nun gilt das Ballett nicht gerade als Kunstform für »anspruchsvolle Komponisten, trotz Tschaikowsky« (Hagedorn 2013, S. 2), doch tatsächlich setzte erst die »Aufforderung zum Tanz« Strawinskys großes Talent frei. In Rekordzeit arbeitete er an dem Werk, dem eine einfache Grundidee zugrunde lag, die ihrerseits aus heidnischen Ritualen stammte: Weise alte Männer sollten in einem Kreis sitzen und dem Todestanz eines jungen Mädchens, das geopfert wird, zuschauen. Und so geschah es auch auf der Pariser Bühne:

Als das Frühlingsopfer beginnt, lacht man schon, ehe – nach 75 Takten Einleitung – der Vorhang hochgeht und sich vor stilisierter Berglandschaft Tänzer zeigen, die in folkloristischen Kostümen jede dekorative Eleganz verweigern, dafür aber jeden Ton zu Bewegung machen. (Ebd.)

Die Unruhe im Publikum steigt. Es sollen mitten im Saal Duellforderungen ausgesprochen worden sein. Später las man, dass der Tumult seinen Höhepunkt fand, als im Kunststück der finale Todestanz stattfand – andere wiederum berichteten, dass es nur in diesem Teil ruhig war. Viele Details sind also unklar, sicher ist aber, dass dies ein absoluter Skandal war – ein Skandal, der für den Komponisten Strawinsky und den Dramaturgen Djagilew alles andere als überraschend kam: Denn er war geplant oder zumindest einkalkuliert. Ein typisches Merkmal jener Kunstjahre. Und das Kalkül ging auf:

Der Tumult wurde so groß, dass es nach ganz kurzer Zeit nicht mehr möglich war, auch nur eine Sechzehntelnote zu erfassen, und das Handgemenge, das zwischen den Vertretern des Für und Wider entstand, verwandelte das Theater der Champs Elysées, das seine erste Saison erlebte, im Nu in den Ring eines Sportpalastes. Strawinsky brauchte seinen Rivalen Schönberg durchaus nicht mehr zu beneiden: der Pariser Skandal war das würdige Gegenstück zu dem Wiener (…) und glich auch dem Zetergeschrei, das im Bereich der bildenden Kunst Picasso vor sechs Jahren mit seinen »Demoiselles d’Avignon« geerntet hatte. (Siohan 1960, S. 51)

Schönberg, Berg, Strawinsky, Picasso – überall provozierten Künstler Skandale. Musiker arbeiten atonal oder polytonal, kubistische Maler verlassen den perspektivischen Standpunkt, andere (wie Macke und Kandinsky) gründen Künstlergemeinschaften. Berühmt geworden ist die Gruppe »Der Blaue Reiter«, die ab 1912 ein Jahrbuch herausgab und in der bald auch Alban Berg und Arnold Schönberg mitarbeiteten.

Die Kulturszenen Europas arbeiteten in revolutionärem Geist und an vielen Orten interdisziplinär.

Die 10er-Jahre des 20. Jahrhunderts sind eine tatsächlich außergewöhnliche Zeit, die auf vielen künstlerischen Gebieten von Sprüngen in völlig neue Ausdrucksweisen geprägt ist. Und immerhin eines der skandalösen musikalischen Werke Weberns, Bergs und Strawinskys wurde ein Riesenerfolg: »Le Sacre du Printemps« von Igor Strawinsky (das heute meist nur noch in einer konzertanten Version gespielt wird).

Doch in diesen Jahren wurde nicht nur die Musikwelt, es wurde die gesamte Kunstwelt revolutioniert: So zeigte etwa Marcel Duchamp 1913 sein erstes Ready made (die »Fahrradfelge«), und auch die ersten Filmproduktionsfirmen entstanden (Babelsberg, Paramount). Hinzu kam, dass die europäische Kolonialherrschaft das Interesse an der Kunst indigener Völker weckte und auch Sigmund Freud über »Wilde«, wie sie damals hießen, forschte und in seinen Texten deren Ähnlichkeit zu Stadtneurotikern herausarbeitete.

So sah es damals aus in Europa: Auf der einen Seite ein ungeheuer aufgeschlossenes, ja nach Neuem gleichsam lechzendes Publikum – auf der anderen eine konservative Fraktion, die man im Rückblick nicht unterschätzen darf. Und die Kunstrevolution fand in den Zentren statt, und zwar nur hier. In Paris wirkten neben Strawinsky u. a. Picasso, Matisse, Renoir, bald Proust, in Wien insbesondere Kokoschka, Klimt und Schiele. In so einer Stadt wie Prag war man weit entfernt vom revolutionären Geschehen, und doch spürte auch Franz Kafka, dass die Städte kulturell wie aufgeheizt und überdreht wirkten, dass viele Menschen in eine Art Ekstase gerieten, wenn die neuartigen Werke die Bühnen der Kunstwelt zum Zittern und Schwanken brachten.

»Ekstase« – ein wichtiges, populäres Wort in diesen Jahren. Wie auch »Fieber« oder »Traumwelten«. Überall in den Zentren Europas fanden Kunstrevolutionen statt, die das Publikum in Ekstase, in eine Art Fieber oder eben in Traumwelten ver- und entführten. So war die Wiener Kunstszenerie in Bewegung wie lange nicht mehr.

Begleitet und angefacht wurde die neue Kunst von der modernen Biologie und insbesondere den psychoanalytischen Erkenntnissen des Sigmund Freud. Im Jahr 1899, zum Ärgernis des Autors noch im alten Jahrhundert, hatte Freuds Verleger das bahnbrechende Buch »Die Traumdeutung« veröffentlicht: ein Paukenschlag für all jene, die sich mit Psychologie, Philosophie, Literatur und eben auch Bildender Kunst beschäftigten. Für manche Künstler, vor allem Schriftsteller, war es wie ein Schock, da nun jemand begann, mit neuen Methoden in ihren Gewässern zu fischen, andere empfanden Freuds Theorie und seine Sprache als fruchtbarmachend, assoziationserweiternd und befreiend. Das waren sie ja auch. Keine bürgerliche Scham blieb im Laufe der Freud-Publikationsjahre unberührt – gerade diese war einer der Mittelpunkte seiner Bücher. Schuld, Scham, verdrängte Sexualität – Ängste, Wünsche, verborgene Wahrheiten; hier war so vieles enthalten, was zuvor nicht oder nur marginal angesprochen worden war. Mit Ödipus und seiner unbewussten Mord- und Inzestphantasie, mit Narziss und der ihm zugeschriebenen Bindungsunfähigkeit, mit diesen und all den anderen antiken Namen, die Freud in seine Schriften einband, kehrte auch eine mythologische Welt zurück in die aufgeklärte, sicher etwas zu stark an Rationalität orientierte Gesellschaft. Zu rational war sie zweifellos für Künstler wie Schiele und Kokoschka.

Sicher ist, dass die Werke der österreichischen Moderne undenkbar und nie entstanden wären ohne die publizierten Erkenntnisse ihres immer bekannter werdenden Wiener Mitbürgers, der ursprünglich Neurologe war. »Die Traumdeutung«, dieses Jahrhundertwerk, entfaltete einen ungeheuren Einfluss auf Künstler aller Couleur. Das Buch wurde zu einer Art sprudelnder Quelle für moderne Künstler – für Schiele, Klimt und Kokoschka, aber auch für Surrealisten wie André Breton und seine Gefolgsleute.

Nun stammt auch eine für die Kunst- und Literaturbetrachtung äußerst wichtige Erkenntnis aus der »Traumdeutung«. Sie besagt, dass es immer zwei Ebenen gibt, die Deuter des Traums beachten müssen: die manifeste Ebene, auf der das Offensichtliche »erzählt« wird, und die latente Ebene, auf welcher Verborgenes liegt, das man erkennt, wenn man eben ein guter Deuter ist oder wenn man schlicht, wie Freuds Kollege Otto Rank einmal sagte, über »das dritte Auge« verfügt. Es ist jenes Auge, das hinter das Offensichtliche oder unter die Oberfläche blickt, das dem Betrachter die verborgene Bedeutung des Traums (bzw. des Kunstwerks) offenbart. Auch das ist eine Kunst.

Der Anführer der Wiener Künstler-Bewegung war Gustav Klimt. Er gilt als »Symbolfigur des Übergangs zwischen dem Impressionismus und den explosiven Linien des Wiener Expressionismus« (Kandel 2012, S. 120). Er ist ein Maler, der sinnliches Erleben in den Vordergrund stellte, sexuelles Empfinden inklusive. Berühmt natürlich das Werk »Der Kuss« (1907/08). Es wirkt eher romantisch, voller liebevoller Zuneigung zweier Menschen. Sexuelle Bildsymbole werden hier mit graphischen verknüpft. »Die aufrecht stehenden, länglichen Rechtecke auf dem Umhang des Mannes, die Spermien symbolisieren, werden durch die eiförmigen und floralen Symbole für weibliche Fruchtbarkeit auf dem Kleid ergänzt«, schreibt der Nobelpreisträger Eric Kandel (2012, S. 149) und beschreibt hier sehr klar die Verschmelzung von Symbolismus, Biologie und Sexualität. Das eine verweist auf das andere – eine typische Kunstmischung in den frühen Wiener Jahren des 20. Jahrhunderts.

Auf Klimts Bild »Danae« vereinen sich antike Themen auf der einen Seite und moderne biologische Erkenntnisse auf der anderen. Die aus der Antike bekannte Danae war vom allmächtigen Obergott Zeus begattet worden, was auf dem Bild durch eine Art Schauer goldener Tropfen dargestellt wird, die in sie bzw. ihren Körper einzudringen scheinen. Sie symbolisieren Zeus’ Spermien. Auf der rechten Seite des Bildes sind embryonale Formen erkennbar – hier wird also eine Empfängnis angedeutet (vgl. Kandel 2012).

Gustav Klimt, »Danae« (1907–1908). Eine sehr intime Szene, die eine ganz ursprüngliche Verwandlung zeigt: die Entstehung von menschlichem Leben im lebendigen Medium Frau.

Kafkas künstlerische Initiation

Manches Buch wirkt wie ein Schlüssel zu fremden Sälen des eigenen Schlosses. (Brief an Oskar Pollak, 6. November 1903)

Das Urteil

In der Nacht vom 22. auf den 23. September 1912 erfährt Kafka, was für ein Gefühl sich in ihm beim Schreiben einstellen kann. Offenbar war er von der Intensität selbst überrascht. »Nur so« könne »geschrieben werden«, notiert er später, »nur mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele« (Tagebucheintrag vom 23. September 1912). Geschrieben hatte er in der Nacht Das Urteil.

Die Erzählung fasziniert seit vielen Jahrzehnten ungeheuer viele Menschen auf der ganzen Welt. Und doch wird sie häufig abgetan auf damals Übliches, etwa mit dem Hinweis auf Sigmund Freud, den Kafka selbst gab, d. h. mit dem Urteil eines autoritären Vaters über den Sohn, mit der Strafe, die der eine über den anderen verfügt und der sich der Sohn zu beugen scheint, dem Strafbefehl also folgt. Folgt er diesem tatsächlich?

Es gibt in dieser Geschichte eine Rahmenhandlung, in der Georg Bendemann, von dem hier die Rede ist, alleine an seinem Schreibtisch sitzt, nachdem er einen Brief an einen Freund geschrieben hatte. Er denkt nach, scheint zu reflektieren, schaut aus dem Fenster, auf das gegenüberliegende Ufer und den Fluss, der ihn von diesem Ufer trennt.

Den gesamten Mittelteil, die Binnenhandlung, bildet das Gespräch, in dem der Vater seinem Sohn Georg unentwegt Vorwürfe macht und deutlich anzeigt, das Gefühl zu haben, belogen zu werden. Zentrum der Auseinandersetzung ist der Brief an den Freund. »Es ist eine Kleinigkeit, es ist nicht des Atems wert, also täusche mich nicht. Hast du wirklich diesen Freund in Petersburg?« (28) Der Vater wirkt auf den Sohn – wie dieser sich selbst sagt – zu Beginn noch immer wie »ein Riese«, und dieser nennt ihn »Spaßmacher«. Dieser Mittelteil hat etwas von einem modernen Kammerstück. Der Dialog ist von meist knappen Äußerungen bestimmt. Und die Rollen sind klar verteilt, anfangs auch die Redeanteile. Dann wird es deftiger.

»Bin ich gut zugedeckt?«, fragte der Vater noch einmal und schien auf die Antwort besonders aufzupassen. »Sei nur ruhig, du bist gut zugedeckt.« »Nein!« rief der Vater, dass die Antwort an die Frage stieß, warf die Decke zurück mit einer Kraft, dass sie einen Augenblick im Fluge sich ganz entfaltete, und stand aufrecht im Bett. (…) »Du wolltest mich zudecken, das weiß ich, mein Früchtchen, aber zugedeckt bin ich noch nicht. Und ist es auch die letzte Kraft, genug für dich, zuviel für dich.« (29)

Hier spürt offenbar der Vater, dass sich der Sohn zu lösen beginnt, ihn – den Vater – sich vielleicht sogar tot wünscht, zugedeckt halt und ganz ruhig. Jedenfalls setzt an dieser Gesprächsstelle in Georg ein Prozess ein, der den Widerstand schwächer und die Loslösung immer stärker werden lässt. Seine Redeanteile werden kleiner, der Vater selbst wirkt jetzt wie ein »Schreckbild« (30). Auch der Anlass des Briefs an den Freund, Georgs geplante Hochzeit, wird vom Vater aggressiv angegangen: »Da hat sich mein Herr Sohn zum Heiraten entschlossen!« Und warum wohl? Dem Vater ist das völlig klar:

»Weil sie die Röcke gehoben hat«, fing der Vater zu flöten an, »weil sie die Röcke gehoben hat, die widerliche Gans«, und er hob, um das darzustellen, sein Hemd so hoch, dass man auf seinem Oberschenkel die Narbe aus seinen Kriegsjahren sah, »weil sie die Röcke so und so und so gehoben hat, hast du dich an sie herangemacht, und damit du an ihr ohne Störung dich befriedigen kannst, hast du unserer Mutter Andenken geschändet, den Freund verraten und deinen Vater ins Bett gesteckt, damit er sich nicht rühren kann. Aber kann er sich rühren oder nicht?« (30)

Hier wird die Braut diskriminiert, sie wird heruntergemacht. Auf den Sohn muss es zugleich verletzend und skurril wirken, wenn der väterliche Ankläger sein Schlafhemd hochreißt, die wiederum Verwirrung stiftende Kriegsverletzung offenbart und dabei von einer Frau spricht, bei der er – der Vater – ganz andersgeartete Reize annimmt, sexuell wirksame Reize, und diese dann wieder in Beziehung setzt zu der verstorbenen Mutter. Bei Kafka haben es die Söhne wirklich nicht leicht.

Georg antwortet zunächst nicht, und der Dialog-Kommentator, der Erzähler, macht auch ganz klar, warum das so ist. Georg steht nämlich »möglichst weit weg vom Vater«, er hatte sich bewusst distanziert, um »alles vollkommen genau zu beobachten«. Ist er schon nicht mehr aktiv im Streit? Nur noch so etwas wie ein teilnehmender Beobachter? Jedenfalls werden seine Antworten immer knapper, dafür aber bezeichnender.

»Komödiant!« konnte sich Georg zu rufen nicht enthalten, erkannte sofort den Schaden und biss, nur zu spät, – die Augen erstarrt – in seine Zunge, dass er vor Schmerz einknickte. (Ebd.)

Warum dieser Zungenbiss? Ist das ein Ausdruck eines Gewissensbisses? Nein, hier beißt sich jemand auf die Zunge, weil er diese eigentlich halten wollte, so wie die Distanz zum Vater. Der Ausruf war lediglich eine affektive Spontanhandlung, die Georg denn auch gleich bereut. Es geht hier nicht darum, dass er seinen Vater beleidigt und dies bereut. Nein, es geht um die Wahrung der eingenommenen Distanzhaltung. Daher sein Ärger.

Es ist schlicht großartige Erzählkunst, wie Franz Kafka in diesem Text eine persönliche Entwicklung darzustellen vermag, ohne diese über den Erzähler zu reflektieren. So wird die Spannung aufrechterhalten, sie steigt sogar unentwegt, die Sprache wird metaphorischer, die Verben ausdrucksstärker, teils expressionistisch – dem Erstleser schwirrt fast der Kopf. Und er hat keine Ahnung, wo das alles nur enden soll. Als der Vater den Sohn anklagt, ihn sowohl persönlich als auch geschäftlich betrogen zu haben, und dann beteuert, den Betrüger aber immer geliebt zu haben, bewirkt dies im Leser natürlich auch Mitleid mit dem alten Mann. Der Sohn empfindet aber deutlich anders:

»Jetzt wird er sich vorbeugen«, dachte Georg, »wenn er fiele und zerschmetterte!« Dieses Wort durchzischte seinen Kopf. (31)

Hier kommt nichts Geringeres als der Wunsch zum Ausdruck, dass der Vater stirbt, und zwar auf brutale Weise.

Georg reagiert nun nur noch gedanklich, redet mit sich selbst. Die Distanz ist wiedergewonnen – und mit ihr so etwas wie ein Überlegenheitsgefühl. Als der Vater Gewalt gegenüber der Braut androht (»Ich fege sie dir von der Seite weg, du weißt nicht wie!«), schneidet Georg Grimassen. Als der Vater dem Sohn ironisch-anklagend vorhält, »alles tausendmal besser« zu wissen, sagt dieser trocken und in der Ironie auf- und den Vater übertrumpfend: »Zehntausendmal!«. Ironie hat in einem Zweiergespräch immer eine Distanzierungsfunktion – eine größere Distanznahme ist kaum mehr vorstellbar.

Dann ist plötzlich von Reife die Rede, von Georgs Reifung:

»Wie lange hast du gezögert, ehe du reif geworden bist! Die Mutter musste sterben, sie konnte den Freudentag nicht erleben, der Freund geht zugrunde in seinem Russland, schon vor drei Jahren war er gelb zum Wegwerfen, und ich, du siehst ja, wie es mit mir steht. Dafür hast du doch Augen!«

»Du hast mir also aufgelauert!« rief Georg. (31)

Dies ist Georgs erste Äußerung in Satzform seit langem – zugleich ist es die emotionalste, auch die letzte gegenüber dem Vater. Und: Es ist eine Vorhaltung. Wer dem anderen auflauert, ihn ausspioniert, misstraut dem Objekt.

Alles Vertrauen scheint verspielt. Der nun ganz deutliche Abstand zwischen den beiden, die klare Positionierung weit weg vom anderen, mündet in einem Urteil, das der Erzählung ihren Titel gab. Das »unschuldige Kind«, das Georg »eigentlich« gewesen sei, schreit der Vater, dieses Kind sei »noch eigentlicher (…) ein teuflischer Mensch!«. »Und darum wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!« (32)

Das liest sich erschreckend, in der so genannten literarischen Moderne war so eine an antike Strukturen erinnernde Verurteilung eigentlich nicht mehr denkbar. »Noch eigentlicher« wird klar, dass das väterliche Verdikt dem Sohn den Loslösungsweg weg vom Elternhaus bahnt. Hier, in diesem Moment, der einer Bruchstelle gleicht, verändert sich die Perspektive auf die Geschichte. Ab nun weist alles nur noch in eine Richtung: die des Abschieds, der Loslösung. Die weitere Erzählung enthält denn auch etliche Symbole und Zeichen des Übergangs, des Neubeginns, einer Wiedergeburt:

Georg eilt aus dem Zimmer, scheint sich verjagt zu fühlen, der Vater stürzt auf das Bett, was der Sohn nur noch hört. Und nun beginnt eine Art Kaskade von Metaphern, Symbolen und Zeichen, die alle in dieselbe Richtung weisen: Hier löst ein neues Leben ein altes ab.

Auf der Treppe, über deren Stufen er wie über eine schiefe Fläche eilte, überrumpelte er seine Bedienerin, die im Begriffe war heraufzugehen, um die Wohnung nach der Nacht aufzuräumen. »Jesus!« rief sie und verdeckte mit der Schürze das Gesicht, aber er war schon davon. Aus dem Tor sprang er, über die Fahrbahn zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das Geländer fest, wie ein Hungriger die Nahrung. (32)

Was für eine Geschwindigkeit hier suggeriert wird, was für ein Lesetempo wir vorlegen müssen! Und was für eine Symboldichte sich der Dichter Kafka hier erlaubt! Das Tempo können wir nicht beibehalten, doch wir wollen in etwa im Takt bleiben: Die Treppe ist ein sehr starkes Übergangssymbol, das gewissermaßen für sich spricht. Hier findet ein Übergang statt, sie ist dafür gebaut, und Georg eilt zielbewusst dorthin, er hat es so eilig wie jemand, der diese Aktion, exakt diese, schon lange vor- und geplant hatte.

Doch warum verdeckt die »Jesus« schreiende Bedienerin eigentlich ihr Gesicht? Will sie sich schützen? Ist sie erschrocken über das Tempo, das Georg hier vorlegt? Oder sieht er anders aus als zuvor? Ist er schon äußerlich sichtbar verwandelt? All dies ist möglich in dieser Szene.

Und dann verlässt Georg das Haus der Familie, was dem Ethnologen Arnold Van Gennep (1909) zufolge in diversen Übergangsgeschichten typisch ist für »Trennungsriten«. Die Tür stellt bei einem normalen Wohnhaus »die Grenze zwischen der fremden und der häuslichen Welt« dar (ebd., S. 29).

Der nächste Begriff ist Tor, ein bei Kafka beliebtes Wort. Aus einem solchen springt Georg, wie es heißt, die Eile hält an, hier kann jemand kaum erwarten, das Ziel zu erreichen, sein Ziel. Über die Fahrbahn treibt es ihn, er hält das Geländer (ein Hinderungs- und Begrenzungssymbol), »wie ein Hungriger die Nahrung«, gierig also, ungeduldig, das Ersehnte zu erreichen. Er schwingt sich offenbar lässig über das letzte Hindernis, »als der ausgezeichnete Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war«. Hier – mitten in der Übergangsmetaphern-Reihung – kommen also noch einmal die Eltern zur Sprache. Und das aus gutem Grunde. Der Erzähler macht darauf aufmerksam, dass Georgs »Jugendjahre« wohl vorbei sind, und erinnert noch einmal daran, von wem sich Georg löst, von wo aus er startet in seine Welt, sein Leben. Noch deutlicher wird dies im Erzählfinale, das unübertroffen bleibt:

Noch hielt er sich mit schwächer werdenden Händen fest, erspähte zwischen den Geländerstangen einen Autoomnibus, der mit Leichtigkeit seinen Fall übertönen würde, rief leise: »Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt«, und ließ sich hinfallen. (32)

Georg hat die Geländergrenze überwunden, samt ihrer früher gültigen Schutzfunktion. Und von dort aus, seine Perspektive liegt schon hinter dem Geländer, sieht er den Bus, ein Vehikel also, das Menschen von hier nach dort bringt, kurz: ein Übergangsvehikel, ein Übergangsmedium, wie die Treppe, die Fahrbahn und – die Brücke, auf der ja all dies stattfindet. Alle Hürden sind überwunden: Jetzt kann der Absprung gelingen.

Sämtliche beschriebenen Übergangszeichen werden erzähltechnisch gekoppelt an das zentrale, seit mythischen Zeiten und antiker Literatur wirksame Fruchtbarkeits- und Verwandlungssymbol: an den Fluss.

Nun gilt das Wasser, insbesondere fließendes Wasser, seit Jahrtausenden als Verwandlungsort. Bekannt sind Wasserkulte, Reinigungsriten und natürlich Initiationsbräuche, die auch in der christlichen Religion weiter praktiziert wurden und wir noch heute als Taufe kennen. Mythische Gewässer tauchen im Gilgamesch-Epos auf, im Isis-Osiris-Mythos und in der Sintflut-Erzählung, die es sowohl im Alten Testament als auch bei Ovid gibt. Nil, Euphrat und Tigris, Brahmaputra, Indus, Lethe, Styx, Acheron, Kokytos – all die Geschichten, die sich um diese teils existierenden, teils fiktiven Flüsse drehen, sind voll von Wandlungssymbolik. Bei Homer ist der die Welt umgebende Fluss Okeanos der Ursprung von allem.

Der Fluss wirkt schöpferisch, heilend, libidinös, gefährlich, mütterlich-nährend und fruchtbar. Und er enthält symbolisch immer zwei einander widerstrebende Richtungen: Untergehen und Auftauchen, Tod und Geburt, Sterben und Wiedergeburt (Niederland 1956; Eliade 2008). Auch heute sind sowohl Seebegräbnisse als auch Wassergeburten geläufig.

Die wesentlichen Elemente im erzählerischen Wasser-Gebrauch – ob nun im Mythos oder in der Literatur – waren und sind Bewegung und Trennung. Subjektiv ganz wesentliche Lebensaspekte werden in mythologischen und literarischen Erzählungen seit Jahrtausenden am Fluss abgespalten – was folgt, ist ein neues Leben.

Das »Eintauchen in fließendes oder stehendes Wasser« steht für das »Bad der Wiedergeburt«, wie Walter Burkert (1994, S. 86) es nennt, für eine neue Taufe. Der Fluss fungiert in Geschichten seit der Antike also als Medium für den Neubeginn und einen tiefgreifenden Wandel im individuellen Leben. Das zeigt sich auch an den traditionell so beliebten Hochzeitsreisen in das »meergeborene« Venedig oder im hinduistischen Glauben, dem zufolge noch heute ein Bad im Ganges von Sünden reinigen und den Übergang in ein neues Leben nach dem irdischen Tod erleichtern soll.

Zurück in Kafkas Erzählung: Gedeutet wurde ihre letzte Szene gewissermaßen buchstäblich, eigentlich – ganz im Sinne der väterlichen Rede. Doch ist eine solche Deutung sinnvoll? Zur Erinnerung: Ausgangspunkt der ganzen Geschichte und des Streits war Georgs geplante Hochzeit, und zwar mit »einem Mädchen aus einer wohlhabenden Familie« (26), wie er seinem Freund schreibt. Georgs schönste Zeit soll noch kommen, und der soziale Aufstieg ist ja offenbar gleich inbegriffen.

Warum sollte sich dieser junge Mann, der sich in dem Brief an den Freund als »glücklich« bezeichnet, von dem alten, gebrechlichen Vater die verheißungsvolle Zukunft an der Seite der geliebten Frau verderben lassen?