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»Seit jener Nacht behaupteten sie in den Bergdörfern, es donnere noch heute, wenn man genau hinhöre, sei da ein dunkler Puls in den Felsen.«
Schon immer hat Stubber, der wortkarge Einzelgänger, mit seinem Heimatort in den Bergen gehadert. Doch seit er sein Kind dort oben zurückließ und für Jahre verschwand, hadert der Ort auch mit ihm. Ein »kaltes Mensch« sei dieser Mann, dieser rätselhafte Sprengmeister. Als bei einer nächtlichen Explosion in einer Hütte elf Männer zu Tode kommen, gibt man ihm die Schuld – eine Schuld, die ihn nun durch die Bergwelt treibt. Während man im Tal nach dem wahren Täter sucht, wächst in Stubber mit jedem Schritt über Almen und Hänge die Sehnsucht nach »Alaska«, der Frau mit den seltsam wässrig-blauen Augen.
In seinem so atmosphärischen wie spannenden Debüt erzählt Wolfgang Maria Bauer von der Liebe zweier Außenseiter und der zermürbenden Kraft eines kleinen Ortes in den Bergen. Ein mitreißendes literarisches Leseerlebnis voller Wucht und lakonischer Schönheit.
»Ein Roman wie ein Lichtblitz: aufwühlend, umwerfend und mit leuchtender Kraft.« Moritz Rinke
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Seitenzahl: 191
Veröffentlichungsjahr: 2025
»Seit jener Nacht behaupteten sie in den Bergdörfern, es donnere noch heute, wenn man genau hinhöre, sei da ein dunkler Puls in den Felsen.«
Schon immer hat Stubber, der wortkarge Einzelgänger, mit seinem Heimatort in den Bergen gehadert. Doch seit er sein Kind dort oben zurückließ und für Jahre verschwand, hadert der Ort auch mit ihm. Ein »kaltes Mensch« sei dieser Mann, dieser rätselhafte Sprengmeister. Als bei einer nächtlichen Explosion in einer Hütte elf Männer zu Tode kommen, gibt man ihm die Schuld – eine Schuld, die ihn nun durch die Bergwelt treibt. Während man im Tal nach dem wahren Täter sucht, wächst in Stubber mit jedem Schritt über Almen und Hänge die Sehnsucht nach »Alaska«, der Frau mit den seltsam wässrig-blauen Augen.
In seinem so atmosphärischen wie spannenden Debüt erzählt Wolfgang Maria Bauer von der Liebe zweier Außenseiter und der zermürbenden Kraft eines kleinen Ortes in den Bergen. Ein mitreißendes literarisches Leseerlebnis voller Wucht und lakonischer Schönheit.
www.cbertelsmann.de
Wolfgang Maria Bauer
KALTBLUT
Roman
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
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Umschlagabbildungen: © plainpicture/Andreas Schier
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-32538-1V003
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1.
Ein Lichtblitz durchzuckte das nächtliche Bergmassiv, gleich war es wieder dunkel.
Wetterleuchten, dachten die wenigen Seelen im Tal, die die Explosion aus dem Schlaf gerissen hatte. In diesem Moment waren die elf Männer in der Weiberer-Hütte bereits tot. Die Druckwelle hatte ihnen die Lungen zerfetzt.
Der Donner ließ ein paar Sekunden auf sich warten, dann lief er in die Berge, wurde von den schroffen Felsen zurückgeworfen und rannte in den gegenüberliegenden Grat. Er hetzte von Wand zu Wand und musste am Ende zurückkehren. Die Detonation hallte wider und wider.
Seit jener Nacht behaupteten sie in den Bergdörfern, es donnere noch immer. Wenn man genau hinhöre, sei da ein dunkler Puls in den Felsen.
»Das sind die Toten«, wusste ein Schäfer, »es wird erst aufhören, wenn das Unglück geklärt und ein Schuldiger gefunden ist.«
In den drei Wochen, da die Leichname von der Staatsanwaltschaft noch nicht freigegeben waren, hatten sich die Witwen mit dem Pfarrer besprochen und trotz kleiner Unstimmigkeiten auf ein Sammelbegräbnis geeinigt.
Heute, im ersten Licht des Tages, hatte die gemeinsame Trauerfeier stattgefunden, am Vormittag bereits war mit den Grablegungen begonnen worden. Angesichts der großen Zahl der Opfer werde er alphabetisch bestatten, hatte Pfarrer Georg vorausgeschickt, eine Reihenfolge brauche es nun mal. Vor Gott sei das aber gewiss ohne Bedeutung, der Herr kenne keine Anfangsbuchstaben, an der Himmelspforte jedenfalls müsse niemand warten. Mit elf Schweigeminuten und einem gemeinsamen Vaterunser war das Leichenbegängnis beendet worden.
Inzwischen war es später Nachmittag. Über den Bergspitzen hing eine trübe Herbstsonne. Der Nacken der Hohen Echse schob seinen Schatten bereits ins Tal hinab. Bald würde es dämmern.
Stubber stand auf der kleinen Anhöhe, die man hier seit Generationen Zigeunerhügel nannte, und sah auf das Kirchengelände hinab. Die Trauergemeinde löste sich zögernd und in verschiedene Richtungen auf. Offensichtlich fand kein gemeinsamer Leichenschmaus statt. Nur wenige Angehörige blieben noch zurück, vereinzelt oder in kleinen Gruppen standen sie dort, schwarz gekleidet und gebückt, wie abgebrannte Schwefelhölzer.
Sein Blick wanderte weiter, hinüber zu dem kleinen Spielplatz, der rückseitig an die Kirchenmauern grenzte und von dem er wusste, dass der Pfarrer ihn vor einigen Jahren eigens für seinen Sohn hatte bauen lassen.
Luka, dachte er, Luka. Hier spielt mein Kind. Für einen Moment stach es in seiner Brust.
Inständig hatte er gehofft, seinen Jungen auf der Trauerfeier zu sehen, aber sosehr er auch nach ihm gesucht hatte, sooft er auch zu den Fenstern im ersten Stock der Pfarrei hinaufgeblickt hatte, hinter denen er die Wohnräume des Pfarrers und seiner Hauswirtschafterin vermutete, er war nirgends zu entdecken gewesen, wie ohnehin sämtliche Kinder dem Kirchhof ferngeblieben waren. Es war üblich, dass sie an solchen Ereignissen teilnahmen, Leben und Tod waren Geschwister, das konnten sie nicht früh genug lernen. Aber elf Bestattungen nacheinander, das wäre für die kleinen Seelen doch zu viel gewesen, und man hatte sie für diese Stunden vermutlich in ein Nachbardorf oder ins Tal gebracht. Vielleicht besser so, dachte er und spürte zugleich, dass er sich belog.
Ein leichter Wind hob an, kühl und schneidend wehte er vom Kirchhof herauf. Stubber knöpfte seinen Mantel zu. Zur Beerdigung der Eltern hatte er ihn zuletzt aus dem Schrank genommen. Für gewöhnlich trug er die grellfarbigen Strickjacken, die ihm einst seine Mutter Weihnacht für Weihnacht geschenkt hatte. Mochte man ihn dafür belächeln, es war ihm einerlei.
Er sah hinunter zum Friedhof, in Richtung der frischen Gräber: Reihe zwei, ganz außen bei der Friedhofsmauer: Dort lag nun Josef Zornacher. Sein Sepp mochte die Dunkelheit nicht und nicht die Kälte, doch jetzt verschwand das Licht allmählich, die Temperaturen sanken gegen null.
Er überlegte, ob er umkehren und seinen Mantel auf das Grab legen sollte.
Da bemerkte er drei Frauen.
Sie liefen über das Gelände unterhalb der Anhöhe, kamen direkt auf den Zigeunerhügel zu. Drei Witwen, vermutete er, wegen der Trauertücher, die sie vor der Brust gegen die Kälte zusammenhielten. Sie hatten viele Stunden ausgeharrt, an den Särgen ihrer Liebsten stehend, bis endlich der Ihrige an der Reihe war. Gewiss hatten sie sich dabei das Gestell steif gestanden, da war es nicht verwunderlich, dass sie jetzt noch ein paar Schritte taten, um das Leid zumindest aus den Beinen zu bekommen.
Zufälligerweise nahmen sie denselben Weg wie er. Daran war eigentlich nichts ungewöhnlich. Es erstaunte ihn nur, mit welcher Entschlossenheit die Frauen einen Fuß vor den anderen setzten. Sie liefen nebeneinanderher auf dem brachen Feld, über das er selbst vor wenigen Minuten gegangen war. Der Boden dort war morastig, zerfurcht und stellenweise bereits gefroren. Immer wieder hatte er sich vertreten und war ins Straucheln geraten. Der Schritt der Frauen dagegen schien sicher, war seltsam unbeirrt.
Warum nur gingen sie vom Dorf weg, fragte er sich, wollten sie etwa nach oben, in Richtung der Klamm, zu jenem Plateau, wo die Weiberer-Hütte gestanden hatte? Es ist der Schmerz, der sie treibt, gab er sich zur Antwort, in ihrer Trauer laufen sie wie blind und ohne Ziel. Bald werden sie umkehren.
Stubber selbst hatte ein Ziel. Das Hochgebirge. Zunächst die Alm, auf der sein Sepp mit den Kühen gelebt hatte. Falls das Wetter es zuließ, wollte er ihm dort ein letztes Lebewohl zurufen.
Und dann, so hoffte er, würde er noch höher steigen, bis vor die Gipfelwand der Hohen Echse, bis zu jener Felsspalte, von der niemand hätte sagen können, wie tief sie war. Sooft er nur konnte, wanderte er hinauf, setzte sich an den Rand oder in die kleine Einbuchtung knapp darunter und sprach zu seiner Liebe, erzählte ihr, was ihm gerade durch den Kopf und das Herz ging.
In den drei Wochen seit der Explosion hatte er es nicht geschafft. Der Weg hinauf zu den Almen, vorbei an der eingezäunten Weide seines Freundes, wäre zu schmerzhaft gewesen.
2.
Von Alois Anrainer bis Josef Zornacher. Elf Grablegungen, elfmal letzte Worte, das dauernde Auf-der-Stelle-Stehen, erschöpft saßen die Bestatter auf einer Bank hinter dem Gotteshaus. Der Pfarrer stand daneben, lehnte mit dem Rücken am Gemäuer und blickte in Richtung des Plateaus, auf dem sich die Weiberer-Hütte befunden hatte, schüttelte dabei unablässig den Kopf.
»Sarg drei und sieben«, sagte ein Bestatter und atmete tief durch, »richtige Brocken waren das.«
»Eine arge Schinderei«, pflichtete ihm ein anderer bei, »besonders die Nummer drei, ein mittlerer Elefant. … Verzeihung, Herr Pfarrer, nichts für ungut.«
Die Entschuldigung des Bestatters schien der Geistliche nicht gehört zu haben, mit verkniffenem Gesicht blickte er in die sinkende Sonne, schüttelte weiter den Kopf.
»Ist was mit Ihnen?«, erkundigte sich der erste.
»Nichts.«
»Na dann.«
»Nach nichts schauen Sie mir aber nicht aus«, sagte nun der zweite, »sondern schlecht. Vielleicht brauchen Sie wen zum Reden.«
»Er braucht niemanden zum Reden«, meinte der erste wieder, »dafür hat er seinen Gott.«
»Der spricht nicht mit mir«, entgegnete der Pfarrer, »der tut, was Er will, greift ein, verändert oder beendet, alles, wie der liebe Herr Gott es will.«
Die Bestatter sahen den Geistlichen erstaunt an. So kannten sie ihn nicht, er war zynisch gewesen.
Nach einer Pause fragte der erste vorsichtig nach: »Sie haben keinen Kontakt, keinen Draht nach oben, wirklich?«
»Doch. Einmal.«
»Ja?«
»Vor drei Wochen. Der 12. Oktober 1985. 1.32 Uhr.«
»Die Explosion?«
»Da hat er laut zu mir gesprochen. ›Georg, du bist ein schlechter Hirte.‹«
»Nein, das sind Sie nicht, Herr Pfarrer.«
»Doch. Ich habe den Wolf nicht kommen sehen.«
Es war der fünfzigste Geburtstag von Franz Brugger gewesen. Seine Frau Rachel hatte die Feier organisiert und sämtliche Männer des Bergdorfs eingeladen. Nach reiflicher Überlegung hatte sie auch den Herrn Pfarrer dazugebeten. Ein Geistlicher war der Stimmung nicht unbedingt zuträglich, andererseits gehörte er biologisch nun einmal dazu.
Dieser hatte dankend abgelehnt. »Das ist sehr nett von dir, Rachel, ich komme gern, im nächsten Leben.«
»Aber«, war sie hartnäckig geblieben, »es gibt Brotzeit und Bier, Musik und eine kleine Überraschung … die wird auch Sie freuen.«
»Danke, wirklich nein.«
»Und wenn Sie im nächsten Leben eine Frau werden, Herr Pfarrer, was dann?«
»Was meinen Sie?«
»Dann sind Sie nicht wieder eingeladen. Ein reines Männerfest wird das.«
Die Polizei und die Staatsanwaltschaft hatten bis heute nur dürftige Erkenntnisse. Zeugen gab es keine, kaum gesicherte Informationen. Die lokale Zeitung druckte jede Vermutung, jede Annahme, und das gesamte Tal, die Bergdörfer, die Almen, alle spekulierten mit, nicht zuletzt die Angehörigen, auch die Witwen.
Nur Pfarrer Georg nicht, er kannte den Schuldigen: Der Herr Sprengmeister hatte in der Hütte übernachten wollen, um am darauffolgenden Morgen eine Sprengung vorzunehmen. Er hatte von dieser Feier nichts gewusst, war nur zufälligerweise unter die Männer geraten. Kurz nach Mitternacht hatte es eine Schlägerei gegeben, an der auch Frauen beteiligt gewesen waren, das zumindest hatte die Presse berichtet. Der Sprengmeister hatte die Hütte blutüberströmt und überstürzt verlassen, hatte dabei die Tasche mit dem sprengfertigen Dynamit schlichtweg vergessen. Zum Zeitpunkt der Explosion hatte er sich nachweislich längst wieder im Tal befunden. Wer also hatte gesprengt?
Ein Reporter im Radio hatte die Frage so beantwortet: »Es fällt schwer, das zu glauben, doch der Täter ist wohl unter den Toten.«
Seine Toten, wusste Pfarrer Georg, seine Schafe: Zwar kamen auch die Bewohner der Hochtäler infrage, der vielen kleinen Höfe, jeder Almbauer, jeder Schäfer, vielleicht hatte der Sprengmeister jemandem von der geplanten Sprengung erzählt, vielleicht hatte man ihn von ferne beobachtet. Doch für Pfarrer Georg waren solche Überlegungen ohne Belang. Er kannte jede Seele dort oben in den Bergen, die meisten aus dem Gottesdienst, manche aus weltlichen Begegnungen. Es war seine Gemeinde, somit seine Verantwortung. Nicht die Tat, aber die Schuld war die seine.
3.
Damals, nach der Schulzeit, hatte Stubber für ein paar Jahre die Großstadt versucht, ein Leben fern der Heimat, doch der plötzliche Tod von Mutter und Vater hatte alles verändert. Die Tage waren mit einem Mal nicht mehr leicht, nicht mehr von unsichtbarer Hand geschirmt, als wäre die Wand in seinem Rücken weggebrochen. Kurz entschlossen war er in das Tal zurückgekehrt, in das Haus der Eltern, und nur wenig später hatte er sich um die Nachfolge seines Vaters, den Posten des Bezirkssprengmeisters beworben.
Von amtlicher Seite war zunächst ein ablehnender Bescheid ergangen. Die Stelle werde nicht mehr besetzt, die Zeiten hätten sich geändert, Aufträge würden zukünftig nur nach Angebot vergeben, auch Fachkräfte von weit her müssten berücksichtigt werden.
Schön, dass du wieder da bist, hatte der Amtmann handschriftlich hinzugefügt, Vorschriften hin oder her, natürlich wirst du bevorzugt behandelt. Liebe Grüße, Tommi Grübl. Und in Klammern stand darunter: (vor zwanzig Jahren, in der zweiten Klasse, hast du mir auf dem Schulhof gegen die Großen geholfen).
Stubber erinnerte sich nicht.
Einige Tage danach hatte er dann tatsächlich einen Anruf erhalten. Der Leiter des Amts für Straßenbau war am Apparat.
»Der Junior, ich fasse es nicht«, hatte der scherzend das Gespräch begonnen und gleich mit ernster Stimme hinterhergeschoben: »mein Beileid wegen deiner Eltern, so kurz hintereinander die beiden, schon hart.«
»Danke.«
»Studium, dachte ich, große, weite Welt, dachte ich. Jetzt also doch Sprengmeister und Kleinstadt und Kessellage?«
Nein, hätte Stubber antworten können, ihm hatten schlicht die Berge gefehlt, die Luft und das Draußensein. Nein, das Massiv, die Gipfel und Schluchten, Felswände ringsum, sie boten ihm Halt und Schutz, es war ein steinernes Nest, Heim und Heimat zugleich. Mit seiner Entscheidung, die Großstadt, das Studium und ein paar Träume aufzugeben, hatte er keine Sekunde gehadert. Er war mit den Menschen dort nicht warm geworden. Laut und wichtigtuerisch waren sie gewesen, ruhelos und nicht sorgsam, keiner wahrhaftig, als wären sie eine eigene, sonderbare Spezies. In diesem Tal kaum anders. Hier aber konnte er ihnen ausweichen oder zumindest an ihnen vorbeisehen, dann nämlich standen im Hintergrund die Berge, nicht Häuserschluchten.
»Hm«, antwortete er.
»Na dann«, gab der Amtmann scherzend zurück. »Jetzt zur Sache: Ich hätte da einen Auftrag für dich, Junior.«
»Ah.«
»Thomas Grübl hat dich empfohlen.«
»Ah.«
»Mit deinem Vater waren wir auch immer zufrieden.«
»Ah.«
»Du sagst ständig nur ›ah‹«, meinte der Amtmann und lachte laut auf, »wie dein Vater.«
Stubber redete nicht viel und nicht gern. Mitunter brach er ein Gespräch unvermittelt ab. Nicht dass er unhöflich sein wollte, er dachte nur sorgfältig.
»Sauber denken, Bub, Punkt für Punkt«, hatten ihm seine Eltern einst beigebracht, und er hatte es beherzigt.
So war er heute oft der Geschwindigkeit nicht gewachsen, mit der die Leute Satz um Satz ausstießen, Behauptung um Behauptung, vage Vermutungen, halb gare Erkenntnisse oder bloßes Gerede. Besonders das Getratsche war es, das ihn überforderte. Nicht selten hätte er gerne »Halt« gerufen, war stattdessen gegangen, grußlos. Einfach gegangen.
Mit so einem wollten sie hier nichts zu tun haben. Unverschämt fanden sie den, ungezogen. Was bitte bildete sich der ein, dieser überhebliche Kerl, dieser ungehobelte. Der brauchte sich weiß Gott nicht zu wundern, wenn er nirgendwo gelitten war. Ganz zu schweigen von seiner Erscheinung. Dieser Riese von Mann, die schwarzen Haare, die tief liegenden Augen, der war keinem geheuer.
Der junge Sprengmeister, ein undurchsichtiger Charakter wie sein Vater.
Dergleichen wurde gezischelt, hinter vorgehaltenen Händen, bald war es die einhellige Meinung. Und da-rauf war man stolz, schließlich war es ein enges Tal, keine Großstadt, hier redete man noch miteinander.
»Jetzt also der Junior vom Senior«, setzte der Mann vom Straßenbauamt lachend wieder ein und brachte endlich sein Anliegen vor. »Wir hätten da, unterhalb vom Narrenstein, die kurvige Straße zum Dorf hinauf, da haben wir einen gewaltigen Felssturz, ein paar anständige Brocken. Die müssen weg, schnell, sofort, das heißt viele kleine Sprengungen. Schweres Gerät, Abtransport, Sprengung, schweres Gerät, Abtransport, Sprengung und so weiter. Mit anderen Worten: geschätzt fünf Tage.«
»Ah.«
»In diesem Dorf steht ein Gotteshaus, zuständig für die Menschen ringsum. Du kennst es sicher, ich nicht. Ich war da noch nie. Es gibt zwei Dinge, die ich auf den Tod nicht ausstehen kann: Kirchen und Bergaufgehen.« Er lachte in den Hörer. »Das wäre nicht schlimm, aber ich bin Beamter, mit anderen Worten, ich habe seit Beginn meiner Anstellung dreißig Kilo zugelegt. Ich werde von Tag zu Tag attraktiver, sagt meine Frau.
Also, ich habe dort oben nachgefragt wegen einer Unterkunft. Nicht ganz leicht übrigens, der Pfarrer hat kein Telefon. Über den Nachbarshof habe ich schließlich seine Haushälterin, Anna Anzengruber, erreicht. ›Na ja‹, meinte die erst mal ablehnend, ›wir haben eine Schlafstatt, aber nur zur Not, für erschöpfte Wanderer, Verletzte oder Hilfesuchende.‹ Ich habe ihr dann einen anständigen Obolus angeboten, meine Behörde finanziert euch ein paar goldene Kerzenständer, habe ich ihr gesagt. Da hat sie gelacht und, klar, zugestimmt. Also Junior, was meinst du?
Du musst dich heute noch entscheiden. Morgen geht es los!«
Stubber blieb stumm. Er kannte das Dorf. Und er wusste auch, wer Anna Anzengruber war. »Die sieht nur schlank aus«, hatte ihn der alte Zornacher einmal gewarnt, »aber sie ist eine Litfaßsäule.«
»Ich höre ein Zögern?«
»Nein …«
»Du fragst dich, warum wir dich, einen Anfänger, nehmen und nicht jemand von außerhalb«, sagte der Mann wieder lachend. »Weil wir nicht wochenlang anfragen und anfragen, um dann Reisekosten und Spesen zu zahlen. Deshalb nehmen wir dich. Gesetz hin oder her. Da machen wir nicht groß herum.«
»Schon, aber …«
»Was denn noch?«
»Ich habe nur eine Sprengberechtigung Klasse B.«
»Reicht fürs Erste.«
»Sie ist abgelaufen.«
»Dann verlängerst du sie eben«, antwortete der Amtmann scherzend, »irgendwann.«
»Wenn Sie meinen.«
»Meine ich.«
Stubber legte auf, blickte nachdenklich vor sich hin.
Jetzt also der Beruf des Vaters. Und das kleine Haus mit Kessellage.
4.
Der Hügel, auf dem Stubber stand, hatte sich über viele Jahrhunderte durch Murgänge gebildet. Bei Schneeschmelze zwängten sich gewaltige Wassermassen aus den Hochtälern durch die enge Schlucht oberhalb der Weiberer-Hütte. Schossen sie dann aus der Mündung der Klamm heraus, seitlich am Plateau vorbei und die Abhänge hinunter, geschah das mit einer Kraft, die Gesteinsbrocken löste und metertiefe Gräben in den Boden riss. Große Rinnen, die das ganze Jahr vom Bergdorf aus sichtbar blieben. Wie Furchen in uralter Haut. Einige Hundert Meter oberhalb des Friedhofs lief sich die Lawine stets müde, und jedes Frühjahr türmten sich Schlamm und Geröll weiter auf. Alle im Dorf wussten, sicher war das nicht, und die Kinder reimten.
Wer traut sich da hinauf im März, April –
vielleicht ist innen ein Loch,
es melde sich, wer sterben will –
na los, dann soll er doch.
Der Überlieferung nach hatte dieser Hügel einstmals eine ganze Familie verschluckt. Ausländer seien das gewesen, fahrendes Volk, mit dreizehn Kindern. Die feurigen Augen, die sonnengegerbte Haut, dazu die bunten Kleider, Ohrringe und Bänder, das waren Zigeuner gewesen, mit Sicherheit, kein Zweifel, erzählte man sich bis heute: »… An einem sonnigen Herbsttag sind die mit einem Planwagen und zwei Pferden den Schotterweg vom Tal heraufgekommen. Eine befestigte Straße hat es damals noch nicht gegeben. Der Mann ritt auf einem der Tiere, während seine Frau hinter ihm auf der hölzernen Sitzbank stand und Feuer spuckte. Am Dorfbrunnen blieben die dann stehen. Sie stieg auf seine Schultern und jonglierte da oben mit Tellern und Ringen. Ihr Mann fing jetzt an, in einer unbekannten Sprache loszusingen. Geschmatzte und geschnalzte Worte waren das. Das klang wie bei den Menschenfressern. Alle bekamen es mit der Angst zu tun. … Da springt sie plötzlich von ihrem Mann herunter und in den Brunnen hinein. In voller Montur. Sie lacht, klettert auf den Rand und fängt an zu tanzen. Wie eine Wilde, wie von der Tarantel gestochen. Sie hüpft und zuckt und kugelt sich dann wieder zu dem Wagen hinüber. Dort packt sie sich einen Feuerreifen, steigt hinein und lässt ihn ein paar Sekunden lang auf der Hüfte kreisen. Plötzlich hält die inne, der Reifen fällt zu Boden, sie aber bleibt regungslos darin stehen. Eine Frau, die sich selbst verbrennen will, so sah das aus, eine feixende Hexe in einem Feuerkreis. Doch als wäre das nicht schon genug gewesen, hebt sie jetzt auch noch ihren Rock! Und zieht ihn sich über den Kopf. Was für ein dünnes, klappriges Gestell die darunter hatte, nichts als Haut und Knochen, als wäre das gar keine Frau. … Aber was war da inwendig in den Rock genäht? Ein Schädel! Der Stoff, den sie nun vor dem Gesicht trug, war eine Totenmaske. … Diese Feuerfrau, dachte jeder, die ist der Leibhaftige! … Natürlich hat in diesem Moment keiner gefragt, was sie und ihr Mann hier oben, in den Bergen verloren haben. Und natürlich hat auch keiner gemerkt, dass in diesem Moment hinten aus dem Wagen dreizehn Kinder kraxeln, sich heimlich in die Höfe schleichen. … Keine Wertgegenstände, nur Lebensmittel haben die geklaut. Außerdem einen jungen Hund, einen Welpen. Warum auch immer. Aber das war ein Fehler. Klar, dass die Mutter anschlug. Und mit ihr gleich alle Hunde im Dorf. … Sofort hat man diese Fremdlinge auf und davon gejagt, vom Brunnen weg, über die Felder und dann noch die Anhöhe hinauf. … Aber oben angekommen, verweigerten ihnen die Pferde mit einem Mal den Dienst, legten die Ohren an und blieben auf der Stelle stehen. Dabei verlief doch ein breiter Pfad seitlich vom Hügel weg. … Ein paar Momente lang standen die Tiere, als hätten sie selber den Teufel gesehen. Dann waren sie plötzlich weg. Verschwunden. Und der Wagen mit den Fremden auch. Die Feuerfrau, der Vater, die dreizehn Kinder, plötzlich weg. … Von einer Sekunde auf die andere. Einfach weg.«
Die Kalksteinbrocken aus der Klamm waren über die Zeit korrodiert und hatten dem auflastenden Gewicht nicht mehr standgehalten. Ein Erdloch hatte sich aufgetan und alles geschluckt. Und die Dorfbewohner hatten hinaufgestarrt.
»… Ohne Vorwarnung, wie Lehm«, meinte bald einer.
»Tonnenschwer, nichts mehr zu machen« darauf ein anderer.
Helfen oder zumindest nachschauen hatte keiner gewollt, lieber hatten sie die Beine unter die Arme genommen. Nichts wie zurück zu ihren Höfen. Dort wurden schleunigst sämtliche Fenster und Türen verrammelt und verriegelt und für Tage nicht wieder geöffnet.
Erst im darauffolgenden Frühjahr hatten sich ein paar Mutige wieder an den Hügel herangewagt. Das Loch aber war verschwunden gewesen. Nicht die geringste Spur von diesen Wesen, den Pferden, dem Wagen. Kein Fetzen Stoff, kein Knochen, nicht ein Haar. Nun schien es allen offensichtlich: Mit rechten Dingen war es hier nicht zugegangen. Diese Feuerfrau war der Tod gewesen.
In ihrer Furcht setzten sie am Fuß der Anhöhe ein Marterl, und noch heute stand auf dem hölzernen Bildstock zu lesen:
Mögen die Zigeuner friedlich ruhen.
5.
Als Stubber im Morgengrauen auf das Kirchengelände zugelaufen war, hatte er einen Enzian in der Hand, für Josef Zornacher. Nur seinetwegen war er hier erschienen. Er ahnte, dass er auf dem Begräbnis nicht willkommen wäre. Das Dorf zerriss sich seit Jahren das Maul über seine Person, man hielt ihn für einen Unmenschen. Doch das war ihm einerlei. Wenn sein Sepp unter die Erde gelegt würde, dann wäre er dabei, nichts und niemand konnte ihn davon abhalten.
Die anderen Männer, die heute bestattet werden sollten, bedeuteten ihm nichts. Zwar hatte er mit jedem von ihnen in der Vergangenheit zu tun gehabt, einige hatten Baumfällungen in den Steilhängen vorgenommen, während er seine Sprengungen vorbereitet hatte, andere waren bei der alljährlichen Wartung der Klamm dabei gewesen. Auch hier hatte er des Öfteren gesprengt, etwa Felsbrocken, die das Wintereis gefährlich gelockert hatte, oder einfach nur Schneemassen, die die Arbeit behinderten. Doch mehr als ein paar freundliche Worte hatte er mit keinem von ihnen gewechselt. Besonders das Beieinandersitzen nach getaner Arbeit hatte er stets gemieden. Ihre Gespräche über »Staat«, »Weiber«, »die heutige Jugend« und »die Welt überhaupt« waren ihm zuwider gewesen. Laufe einen Regenbogen, hatte er einst in einem Jugendbuch gelesen, um rückständige Menschen. Ein Satz, der ihn seither begleitete.
Doch auch ihm ging man aus dem Weg.