Kalte Liebe - Heike Rommel - E-Book

Kalte Liebe E-Book

Heike Rommel

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Beschreibung

Bis das Herz erfriert ... "Etwas zurückgesetzt stand ein altes Industriegebäude. Wie spitze Zähne umrahmten Reste von Glas die dunklen Fenster. Der Stacheldraht endete an einem Tor, das weit offen stand. Nicht gerade der richtige Ort für ein romantisches Stelldichein." Als Kommissarin Nina Tschöke von der Entdeckung eines brutal ermordeten 15-jährigen Mädchens im Teutoburger Wald erfährt, bricht sie kurzerhand ihren Urlaub ab. Zudem ist sie gespannt auf den ehrgeizigen, neuen Kollegen, der das Bielefelder Ermittlerteam verstärken soll. Von ihren Mitschülern hatte sich die hübsche Charlotte Campmann offenbar zurückgezogen. Doch lag das wirklich nur am Cyber-Mobbing durch den arroganten Vincent und dessen Clique? Und warum besorgt sich das Ehepaar Schoppe, beide Charlottes Lehrer, ein falsches Alibi? Als die Ermittler auf Charlottes Laptop einen Chatverlauf in einem Liebeskummer-Forum untersuchen, machen sie eine schockierende Entdeckung. Derweil begibt sich die verzweifelte Marianne Campmann, die ihr einziges Kind verloren hat, selbst auf die gefährliche Suche nach dem Mörder ihrer Tochter ...

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Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Nacht aus EisDas fremde GrabZwischen Schatten und LichtZerrissene Wahrheit

Heike Rommel, geb. 1962 in Olpe, hat Psychologie und Visuelle Kommunikation studiert und lebt heute in Bielefeld. Sie arbeitet seit über zwanzig Jahren in verschiedenen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Ihre ersten Schreiberfahrungen machte sie beim Verfassen von Fantasy-Texten, bevor sie zum Krimi-Genre wechselte, das ihr als leidenschaftlicher Krimileserin und Tochter eines Kriminalbeamten und einer Polizeiangestellten naheliegt. Kalte Liebe ist bereits der fünfte Kriminalroman um die Ermittler der Bielefelder Mordkommission. www.heike-rommel.de

Heike Rommel

Kalte Liebe

Originalausgabe

© 2020 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

unter Verwendung von © claudettethebat - stock.adobe.com

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Print-ISBN 978-3-95441-540-3

E-Book-ISBN 978-3-95441-549-6

Für WillyUnd für meinen Vater

Inhalt

Über den Autor

Mittwoch, 23. Oktober 2013

Freitag, 25. Oktober

Samstag, 26. Oktober

Sonntag, 27. Oktober

Montag, 28. Oktober

Dienstag, 29. Oktober

Mittwoch, 30. Oktober

Donnerstag, 31. Oktober

Freitag, 1. November

Samstag, 2. November

Sonntag, 3. November

Montag, 4. November

Dienstag, 5. November

Danksagung

Mittwoch, 23. Oktober 2013

Vorsichtig öffnete Marianne die Tür zum Zimmer ihrer Tochter, so als fürchtete sie, dort etwas zu finden, das sie nicht entdecken wollte. Doch alles schien wie immer zu sein. Auf dem Poster über dem Sofa küsste Robert Pattison weiterhin Kristen Stewart, als wäre nichts geschehen. Ihre Tochter Charlotte hatte die Filme gefühlte hundert Mal gesehen. Twilight … oder Twilight Zone?

Ein nebeliger Morgen dämmerte herauf. Keine Spur mehr vom »goldenen Oktober«. Twilight passte, ein zwielichtiger Übergang in eine andere Welt. Von der alten Welt, in der es Gewissheiten gegeben hatte, in eine neue Welt ohne Halt. Noch hatte Marianne die Grenze nicht passiert, alles war offen – und vielleicht war es besser, noch eine Weile im Zwielicht zu verharren.

Der Teddy auf der Sofalehne trug als Mütze einen schwarzen Stringtanga mit Spitzenbesatz, auf dem Teppich unter dem Sofa lag der passende schwarze BH dazu. Charlotte, die als Kind ihre Puppen und Plüschtiere immer der Größe nach aufgereiht hatte, scherte sich seit einiger Zeit nicht mehr um Dinge wie Ordnung oder Schule.

»Aber sie hat sich doch immer gemeldet. SIE HAT SICH IMMER GEMELDET!« Marianne schlug die Hände vor den Mund, schluckte die aufkommenden Tränen hinunter und ließ sich aufs Sofa sinken. War es nicht so? Charlotte hatte angerufen, wenn es mal später geworden war, es zugelassen, dass Marianne sie abholte.

Oder hatte auch das sich geändert, so wie alles sich verändert hatte? Was wusste sie überhaupt noch über Charlotte? Wann war ihre Tochter ihr entglitten? Das sei normal, sagte ihr Lebensgefährte Eberhard. Das sei normal, sagte auch Mariannes Schwester, die zwei erwachsene Töchter hatte. Ob du es willst oder nicht, deine kleine Lotte kommt jetzt in die Pubertät. Da werden sie erst schwierig, eine Zeit lang, bevor alles wieder ins Lot kommt. Wirklich nur die Pubertät? Ihr ungutes Gefühl, die Sorgen blieben.

Auf dem Fensterbrett stand eine vertrocknete Madagaskar-Palme. Charlotte hatte ihr verboten, ihre Pflanzen zu gießen oder überhaupt ihr Zimmer zu betreten. Privatsphäre, Mama, schon mal gehört das Wort? Marianne hatte die vertrockneten Pflanzen eine nach der anderen entsorgt. Charlotte schien es nicht einmal aufzufallen. Diese war die letzte. Sie stemmte sich aus dem Sofa hoch. Wie eine alte Frau, dachte sie. Nun ja, ich bin eine alte Frau. Ihr Knie tat weh, sie humpelte zum Fenster und nahm den Topf mit der Palme vom Fensterbrett. Draußen herrschte noch immer Nebel. Graue Hochhäuser im grauen Nebel vor grauem Himmel.

Wie war es bloß so weit gekommen?

Ihr einziges Kind. Sie war schon vierundvierzig gewesen, als Charlotte geboren wurde. Ein Wunschkind, auf das sie und ihr Mann nicht mehr zu hoffen gewagt hatten. Ein Jahr später kam er bei einem schweren Autounfall ums Leben. Er war selbstständig gewesen, hatte lange eine Eckkneipe im Bielefelder Osten betrieben und erst wenige Monate vor seinem Tod viel Geld in eine Szene-Kneipe in der Altstadt investiert. Die zu wenig abwarf, wie Marianne wusste, da sie seit fünfzehn Jahren für ihn die Buchhaltung machte. Er hinterließ ihr nichts als Schulden.

Sie verkaufte das Haus in Großdornberg und zog in eine Mietwohnung in Sieker. Als Buchhalterin fand sie keine Stelle, also schulte sie zur Altenpflegerin um – und schleppte ein permanent schlechtes Gewissen mit sich herum, da sie sich wegen ihrer Schichtarbeit viel zu wenig um Charlotte kümmern konnte. Ihr blieb häufig nichts anderes übrig, als Lotte abzuschieben, zur Oma, in die Kita, zu Freundinnen.

Das Geld war knapp: Statt eines Gartens gab es nur noch einen kleinen Balkon in einem Wohnturm. An Reit- oder Ballettstunden für Charlotte hatte Marianne nicht einmal denken können. Sosehr sie es sich auch wünschte, sie konnte ihrer Tochter nichts bieten. Charlotte besuchte immerhin seit einigen Jahren das Gymnasium, aber glücklich schien sie dort nicht zu sein. Lad deine Klassenkameraden doch einfach mal ein, Charlotte. Mama, soll ich die etwa in dieses schäbige Hochhaus mit dem Gerümpel im Hof einladen? Weißt du eigentlich, wie die leben? Die halten mich doch für Asi …

Es klingelte. Das war Eberhard, genannt Hardy. Erst klingelte er pro forma, dann drehte sich der Schlüssel im Schloss.

»Marianne, mein Schatz, wo bist du denn?« Schritte, Türenklappen. »Ach hier?!« Er blieb mitten im Zimmer stehen und schaute sich um.

Marianne lächelte schief. »Ist hier eine Bombe eingeschlagen?«

»Was?« Hardy runzelte die Stirn.

»Das ist es doch, was du denkst.«

»Ach Schatz.« Er ging auf sie zu, nahm ihr den Topf aus der Hand, stellte ihn zurück aufs Fensterbrett und drückte sie. »Als ob das noch wichtig wäre.«

Marianne brach in Tränen aus. »Ihr Handy ist immer noch ausgeschaltet. Heute ist Mittwoch, und seit Freitag ist sie weg!«

Er drückte sie noch etwas fester und wiegte sie leicht hin und her. »Die Polizei …«

»Ach, die Polizei!« Sie machte sich los. »Was tun die denn schon? Eine jugendliche …«, sie deutete Anführungszeichen mit den Fingern an, »›Ausreißerin‹. Ich hätte nicht erwähnen sollen, dass sie sich einmal nicht gemeldet hat, als sie erst am nächsten Tag nach Hause kam. Da ist ihr Handy-Akku leer gewesen, aber der Sesselpupser hat gar nicht zugehört. Für die ist das jetzt der Vorwand, nichts zu tun, dabei ist sie erst fünfzehn. Fünfzehn, Hardy! Und dann diese Fragen: ›Erzählt Ihnen Ihre Tochter alles?‹« Sie äffte den Tonfall des Beamten nach. »Verdammt noch mal, nein, natürlich nicht, aber …«

»Der wollte dich nur beruhigen, Marianne. Und ich bin sicher, die machen alles, um sie zu finden.«

»Na klar. Und warum ist sie dann nicht hier?« Sie machte eine heftige Armbewegung, um das »hier« zu verdeutlichen, und stieß dabei die Palme vom Fensterbrett. Sie starrte auf den zerbrochenen Topf, auf die Blumenerde auf dem Teppich. Das Bild verschwamm.

»Nicht weinen, mein Schatz, wir wissen doch noch gar nichts.« Hardy ging in die Knie, um die Scherben aufzusammeln.

Sicher, sie befanden sich noch immer im Grau des Zwielichts. Aber wie lange wollte sie sich etwas vormachen? Sie schloss die Augen. Mit jedem Tag wurde das Grau ein wenig schwärzer.

»Marianne?«

Sie öffnete die Augen wieder.

Er war aufgestanden und zeigte ihr ein Hundehalsband aus feinem, schwarzem Leder. »Das lag ganz hinten unter dem Sofa. Hat Charlotte sich einen Hund gewünscht?«

Sie hob die Brauen. »Das hat sie nie erwähnt. Außerdem weiß sie, dass Hunde hier nicht erlaubt sind.«

Als hätte Kitty das gehört, tappte sie ins Zimmer und strich schnurrend um Mariannes Beine. Geistesabwesend kraulte sie der Katze das Nackenfell.

Hardy untersuchte das Band. »Schau mal, da sind Initialen drauf, aber nicht ihre.«

An einer Seite des Bandes waren zwei goldene, ineinander verschlungene Buchstaben angebracht. »Kennst du jemanden, zu dem diese Initialen gehören?«

Marianne überlegte. »Nein, aber ich weiß auch nicht mehr, mit wem sich Lotte trifft. Sag mal, ist das etwa echtes Gold? Das sieht nicht aus wie Messing.«

Er schürzte die Lippen. »Ziemlich edel für ein Hundehalsband. Ist das überhaupt … für einen Hund gedacht?«

»Was meinst du, Hardy? Wofür denn sonst?«

Anstelle einer Antwort nahm er sie in den Arm.

Freitag, 25. Oktober

Kommissarin Nina Tschöke lächelte der Tante ihrer Freundin Hanna mangels Ideen zur Konversation höflich zu und zupfte an der Blütendeko auf dem Tisch. Walzerklänge setzten ein.

»Ein schönes Paar, nicht? Und jetzt eröffnen sie den Tanz.« Die Tante, deren Namen Nina schon wieder vergessen hatte, richtete sich auf, um einen besseren Blick auf die Tanzfläche zu erhaschen, wo sich das Paar raumgreifend im Takt des Wiener Walzers drehte. Der zur Tante gehörende Onkel erinnerte Nina an den Kollegen Ottfried »Shanty« Weber: Wie Weber hatte er sich die wenigen Haare quer über die Halbglatze geklebt. Sein Blick war fest auf sein Handy geheftet, es ging um Fußballergebnisse, soweit Nina das erkennen konnte. Wieso unterhielt der sich nicht mit seiner Frau?

Nina nickte der Tante zu und gähnte unterdrückt. Sie hatte Hanna eine dermaßen traditionelle Hochzeit gar nicht zugetraut. Und die Miete des Bad Salzufler Kursaals musste ein Vermögen gekostet haben. Obwohl sie Hanna die Feier von Herzen gönnte, hatte sie wenig Lust verspürt herzukommen. Es begann schon mit der Wahl der Garderobe: In Ninas Kleiderschrank fanden sich fast ausschließlich Jeans und Hoodies und ähnlich Praktisches. Ihre Brille hatte sie vor Kurzem beim Tae Bo geschrottet und notdürftig mit Sekundenkleber und Tesafilm repariert, und die Neue war noch nicht fertig. Außerdem war ihre Freundin Michaela, die Einzige außer Hanna, die sie hier wirklich gut kannte, gerade unterwegs, um irgendwelche lustigen Fotos von sich schießen zu lassen und den Eintrag ins Hochzeitsbuch vorzunehmen.

»Und um Mitternacht wirft die Braut den Strauß.« Die Augen der schwergewichtigen Tante glänzten. »Da müssen sich alle unverheirateten Frauen versammeln.« Sie zwinkerte ihr zu.

Sehe ich so unverheiratet aus?, dachte Nina. »Ach wirklich?«, sagte sie, um etwas zu sagen.

»Aber ja.« Die Tante strahlte und senkte ihre Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Und ich habe aus zuverlässiger Quelle gehört, dass es nicht verabredet ist.« Sie nickte ihr auffordernd zu.

»Wie? Verabredet? Was?«

»Sonst wird doch oft verabredet, wer den Brautstrauß fangen wird. Als Wink mit dem Zaunpfahl für den Freund sozusagen. Aber dieses Mal nicht, das macht es noch viel spannender. Der Höhepunkt des Abends!«

»Ach so.« Albern. Verstohlen warf Nina einen Blick auf ihre Uhr. Vielleicht konnte sie sich noch vor Mitternacht verdrücken.

»Na, Polizeihauptkommissarin Tschöke, amüsierst du dich gut?« Zum Glück war Michaela zurück. »Was machst du überhaupt für ein Gesicht? Du hast Urlaub.«

»Ja, und ich hatte dummerweise endlich Zeit, diesen Wälzer von Eva Illouz zu lesen: Warum Liebe wehtut. Deprimierend, sag ich dir. Das Ende aller naiven Vorstellungen von der großen Liebe.«

»Seit wann liest du Herzschmerzromane?«

»Herzschmerzromane? Unsinn. Meine Liebe, es geht um die sozioökonomischen Faktoren, die dazu führen, dass Frauen in unserem Alter praktisch keine Chancen mehr auf dem Beziehungsmarkt haben.«

»In unserem Alter … Hanna ist doch auch schon vierunddreißig.«

»Ausnahmen bestätigen die Regel.«

»Ach, Nina, ich wette, du denkst immer noch an Stefan. Ich sag dir was: Ruf ihn einfach an.«

»Er wäre dran, sich zu melden – und nein, ich denke ganz sicher nicht mehr an Stefan! Er ist offensichtlich nicht der Richtige für mich.«

»Klar, und wieso hab ich überhaupt gefragt? Sieh es mal so: Du fliegt bald nach Malle, und ich komme in zwei Tagen hinterher, und dann machen wir einen drauf, besaufen uns hemmungslos und angeln uns zwei Latin Lover.«

»Du vergisst, dass ich mich da ja auch um Kai und Bine kümmern muss.«

»Erstens helfe ich dir. Zweitens finde ich, dass dein Bruder und seine Freundin für zwei Downies ziemlich selbstständig sind.«

Nina wollte gerade einwenden, dass der Schein trüge, als sich Wo de Nordseewellen trekken an den Strand … kakophonisch unter An der schönen blauen Donau mischte. Nina griff nach ihrem Handy. »Ah, das ist Stefan«, rief Michaela.

»Quatsch, das ist mein Kollege!«

Michaela nahm ihr das Handy aus der Hand und drückte das Gespräch weg. »Da gehst du doch jetzt wohl nicht ran? Du bist im Urlaub, kapier das doch endlich. Hast du nicht vor Kurzem noch gejammert, dass du zu viel arbeitest und das Leben an dir vorüberzieht?«

Nina blinzelte. »Ja, na ja …« Sie fuhr sich durch das kurze Haar.

»Was ist das überhaupt für ein blöder Klingelton?«

»Ein Kollege von mir singt im Shantychor, und er hat mir diesen Klingelton …«

»Dieser Ottfried Weber?«

Nina nickte.

»Weißt du was, vergiss jetzt mal deine Kollegen. Ich bestell uns noch Sekt, dann trinken wir uns die Männer hier schön, und dann wird getanzt.«

Der Onkel schreckte bei trinken wir uns die Männer hier schön kurz von seinem Handy hoch.

Nach dem Sekt gab es noch Tequila und Caipirinha, und die Musik wurde besser, und Nina tanzte, schwitzte ihre Bluse durch und war gerade im Flow zu Michael Telos Ai Se Eu Te Pogo, als zu ihrem Verdruss die Musik leiser gedreht wurde, Hanna ans Mikro trat und das Werfen des Brautstraußes ankündigte. Sofort erhob sich Jubel, und alle Single-Frauen wurden auf die Bühne gebeten. Nina hielt Ausschau nach Michaela, mit der sie sich ein Taxi teilen wollte, als sich plötzlich von hinten ein Arm um ihre Schultern legte. »Komm, Nina, Kneifen gilt nicht.«

»Du, Michaela, ich bin so was von müde und wollte mich jetzt eigentlich vom Acker machen. Wäre das okay, wenn ich für mich allein ein Taxi …«

»Die paar Minuten hast du doch noch Zeit.« Michaela schob sie auf die Bühne.

Unter großem Hallo wurde Hanna eine Binde umgebunden. Dann setzte die Musik wieder ein, und die Single-Frauen tanzten um die Braut herum. Nina blieb stehen. Michaela gab ihr einen Klaps. »Was stehst du so steif herum, Nina? Tanzen!«

»Ich glaub’s einfach nicht. So viele Cocktails kann ich gar nicht trinken.« Halbherzig machte Nina ein paar Tanzschritte.

Hanna drehte sich grinsend mal in die eine, dann in die andere Richtung.

»Hanna, mach’s nicht so spannend«, rief eine gebräunte, pummelige Frau mit Lockenturm und üppigem Goldschmuck. Alle lachten.

Nina suchte nach einem Ausweg. Doch die Bühne war umringt von den Zuschauern des Spektakels. Sie dachte an das Taxi, schon bald würde das hier überstanden sein, sie würde sich in die Polster des Taxis zurücklehnen und …

Plötzlich stoppte die Musik. Hanna, die ihr gerade noch den Rücken zugekehrt hatte, wandte sich mit einem Mal um und warf den Brautstrauß in ihre Richtung! Außer ihr stand niemand dort. Nina machte eine Art Hechtsprung, erwischte den Brautstrauß fast … jetzt hatte sie ihn … oder doch nicht ganz, statt ihn zu fassen, lenkte sie ihn mit ihrer Bewegung ab, sodass er im hohen Bogen in eine leere Ecke flog.

Ein enttäuschtes »Oooh« ging durch die Menge.

Michaela stöhnte. »Du bist doch nicht beim Polizeisport. Fangen sollst du ihn, nicht pritschen.«

Der Lockenturm rettete die Situation. So schnell ihre High Heels sie trugen, stöckelte sie auf den Strauß zu, schnappte ihn sich, hielt ihre Beute triumphierend hoch und strahlte in die Menge.

Eine Stunde später schloss Nina ihre Haustür auf und kickte die Pumps von den schmerzenden Füßen. Fröstelnd drehte sie die Heizung in ihrem Wohnzimmer auf und ließ sich noch im Mantel auf ihr Sofa fallen, ohne das Licht einzuschalten. Urlaub war manchmal anstrengender als Arbeit. Aber das Schlimmste lag hinter ihr: erst die Feier anlässlich der Pensionierung des Kollegen Kux und jetzt die Hochzeit. Sie gähnte. Regen pladderte gegen die Fensterscheibe, durch die Rinnsale, die die Scheibe hinunterliefen, wurde das schwache Licht einer Straßenlaterne gebrochen. Sie gähnte noch einmal und holte ihr Handy aus der Tasche. Dodo hatte angerufen und auf die Mobilbox gesprochen. Bestimmt Polizeikram. Michaela hatte recht, sie sollte besser abschalten. Im wahrsten Sinne des Wortes: Weg mit dem Handy!

Sie hörte die Mobilbox ab.

»Hey Nina, hier Dominik. Falls dir langweilig sein sollte und du die Versehrtentruppe verstärken möchtest …« Lachen. »Du erinnerst dich, dass Weber seit der Bierkistenaktion bei Kux’ Feier Rücken hat. Leider sind es die Bandscheiben, und er fällt länger aus. Frank ist auf der frisch gewischten Treppe ausgerutscht und hat sich den Knöchel gebrochen. Da wir einen neuen Mordfall haben, sitzt er schlecht gelaunt mit Unterschenkelgips im Büro und muss den Aktenführer machen. Immerhin kriegen wir einen neuen Kollegen, aber ob der gut ist, wissen wir nicht. Scheint ehrgeizig zu sein, wollte gleich zu unserer Mordkommission. Freu dich, dass du Urlaub hast, und viel Spaß auf Malle.«

Neuer Mordfall? Neuer Kollege? Interessant … Nina richtete sich auf, lehnte sich dann wieder zurück und seufzte. Wieso hatte sie die Nachricht überhaupt abgehört? Wie hatte Michaela sich ausgedrückt? Kapier es doch endlich, du hast Urlaub.

Dominik bog mit dem Dienstwagen auf den Wanderparkplatz bei Peter auf’m Berge ein. Das Licht seiner Scheinwerfer streifte einen weißen Oldtimer, der zwischen all den silbergrauen Polizei-Dienstwagen auffiel: Ein schickes Citroën-Cabriolet mit heruntergezogenem Verdeck. Der Wagen musste aus den Sechzigern oder den Siebzigern stammen. Dominik parkte daneben. Er fuhr privat selbst einen neuen Citroën, aber diese alten Modelle hatten was – sie weckten Assoziationen von einer Autotour im sonnigen Süden, hinter dem Steuer Grace Kelly mit flatterndem Seidenschal und riesiger Sonnenbrille. Ein Hauch von Glamour im neblig-düsteren Teutoburger Wald. Doch wer von den Kollegen fuhr diesen Wagen? War der dröge Mordkommissionsleiter Bent Andersen von seinem Volvo auf dieses stilvolle Gefährt umgestiegen? Dominik lächelte. Wohl kaum. Außerdem fuhr Bent, korrekt bis in die Haarspitzen, nie mit seinem Privatwagen zu einem Fundort. Dominik stieg aus.

Der Fundort der Leiche lag ein Stück entfernt in der Nähe des Hermannswegs und war schon von Weitem an dem Scheinwerferlicht der Spurensicherung zu erkennen, das zwischen den dunklen Stämmen der Bäume hindurchschimmerte. Dominik folgte dem Licht, das immer greller wurde, während er sich näherte, und auf dem Waldboden jedes vertrocknete Blatt, jede Eichel, jeden Stein deutlich hervortreten ließ. Die Leute in den weißen Overalls wischten wie Gespenster hin und her, fotografierten, gossen Gips in einen Abdruck, wühlten im Laub. Mit Absperrband hatten sie eine Bannmeile um den Fundort gezogen und einen Trampelpfad für die Ermittler markiert.

Die mächtige Gestalt des Mordkommissionsleiters ragte zwischen den wuselnden Spurensicherern wie ein Fels in der Brandung auf. Bent Andersen sprach mit einer schmalen Frau mit feuerroten Haaren in der Nähe eines Lochs im Boden. Das Scheinwerferlicht leuchtete Bents narbendurchzogenes Gesicht ebenso gnadenlos aus wie alles andere, ließ seine kurzen, aschblonden Haare fast weiß wirken. Wie hatte Frank ihn mal beschrieben, als Bent vor einem Jahr von Flensburg nach Bielefeld gewechselt war? So ’ne Mischung aus Erik, dem Roten und Puff-Türsteher. Seither hatte es mehrere Fälle gegeben, bei denen sie zusammenarbeiten mussten, doch was hinter der Stirn von Big Bent vor sich ging, war Dominik ein Rätsel geblieben.

Er machte dem Fotografen Platz, der ihm auf dem Pfad entgegenkam, und gesellte sich zu Bent und der Frau.

»Ach Dominik, hallo.« Bent lächelte verkniffen. Begeisterung sah anders aus. Der Kommissariatsleiter Ernst Meyer zu Bargholz hatte Dominik dieser Mordkommission mal wieder ohne Rücksicht auf die »Chemie« zugeteilt. Bent räusperte sich. »Mein Kollege Dominik Domeyer – die Rechtsmedizinerin Frau Hansen.«

Sie nickten sich zu, und Dominiks Blick fiel auf den wachsbleichen Körper in dem Erdloch: Die gut erhaltene, nackte Leiche einer jungen Frau, die auf dem Rücken lag. Ihre blauen Augen waren weit aufgerissen, die Lippen geöffnet, die langen, dunklen Haare lagen ausgebreitet um ihren Kopf, doch das Ganze wirkte nicht inszeniert. Es war noch immer zu erkennen, dass sie eine Schönheit gewesen sein musste.

Dominik atmete schwer. Ein anderes Bild stieg vor ihm auf: Lissa, seine siebzehnjährige Tochter, ebenso intelligent wie frech, mit dunklen Korkenzieherlocken und einer Vorliebe für Gothic. Sie verbrachte gerade ein Highschooljahr in Neuseeland. Ihre beruflichen Pläne wechselten monatlich, von der Bühnenbildnerin bis zur Meeresbiologin. Zuletzt war auch das Wort Polizei gefallen, mehrmals sogar … Trotz eines Anflugs von Freude und Stolz war er sich nicht im Klaren, was er davon halten sollte. Er hatte Lissa erst vor zwei Tagen angerufen, woraufhin sie sich über ihren schlimmen Glucken-Papa beklagte, aber er würde sie gleich anrufen, wenn er heute Nacht nach Hause kam.

Welche Ziele, welche Träume hatte wohl die junge Frau in ihrem kalten Waldgrab gehabt?

Die Stimme der Rechtsmedizinerin riss ihn aus seinen Gedanken. »Das Loch ist nicht sehr tief, aber da die Leiche im Boden gelegen hat, kann ich die Liegezeit kaum bestimmen. Auf jeden Fall liegt sie hier länger als sechsunddreißig Stunden, die Leichenflecken lassen sich nicht mehr wegdrücken. Genauer geht’s leider nicht. Wenn sie an der Luft gelegen hätte, wäre die Besiedelung mit bestimmten Insektenarten ein Anhaltspunkt gewesen, etwa Schmeißfliegen und …«

»Wer hat sie gefunden?«, unterbrach Dominik.

»Der Revierförster, der hier mit seinem Hund unterwegs war. Der Hund hat eine Stelle freigescharrt, bei der ein Fuß zum Vorschein kam«, antwortete Bent.

»Ihr Hals …«, begann Dominik.

»Das sind Würgemale«, warf Frau Hansen ein. »Und an den Handgelenken sind auch Male zu erkennen, sehen Sie diese roten, glattrandigen Einschnitte? Möglicherweise war sie gefesselt. Sieht aber nicht nach einem Strick aus. Und zwischen den Beinen …« Sie stockte. Es war offensichtlich: getrocknetes Blut und Hämatome an den Innenseiten der Oberschenkel. »Mit etwas Glück finden wir Spermaspuren. Ich werde übrigens noch heute Nacht im Städtischen Krankenhaus obduzieren. Möchte einer der Herren dabei sein?«

»Ja, ich.« Bent schlug seinen Mantelkragen hoch. Ein eisiger Wind ließ das trockene Laub an den Bäumen rascheln.

Dominik hörte Stimmen hinter sich, drehte sich um und fing das Ende eines Satzes auf. »… Weihnachtscrosslauf in Borgholzhausen anmelden?« Das kam von einem der Overalls, Sascha Sudhölter, der in Dominiks Laufgruppe für den letzten Hermannslauf trainiert hatte. Neben ihm stand ein mittelgroßer, schlanker Mann mit ebenmäßigen Zügen und kurzem, dunklem Bart, den Dominik auf vierzig Jahre schätzte. Mit seinem Trenchcoat, den er über einem Anzug trug, sah er aus, als wäre er einem Fünfzigerjahre-Krimi entsprungen, es fehlte nur noch der Hut. Vermutlich der Neuzugang. Es hieß, der wäre vor einiger Zeit aus Hannover nach Bielefeld gewechselt. Dominik kannte den Mann vom Sehen. Vor zwei Monaten war Dominik ihm das erste Mal im Bürotrakt des KK11 begegnet – ohne zu wissen, dass es sich um einen Kripo-Kollegen handelte.

Sudhölter übergab dem Neuen jetzt eine durchsichtige Tüte mit etwas Weißem drin, und Dominik ging auf die beiden zu. Der Kriminaltechniker machte ihn mit Roman Nolte bekannt.

»Roman, wenn’s recht ist.« Nolte lächelte und hielt die Tüte hoch. »Die Spusi hat unter dem Laub ein Papiertaschentuch gefunden.«

»Das ist doch schon ein Anfang. Bist du schon im Bilde, was die Rechtsmedizinerin …«

»Klar, ich bin schon seit einer halben Stunde am Fundort.«

Ehrgeizig und attraktiv. Schon zwei Gründe für den Kollegen Frank, der attraktive Männer in der Regel als Konkurrenz betrachtete, Nolte zu hassen. Und was war mit Nina? Diesen Stefan, der sich nicht mehr meldete, hatte sie vermutlich schon abgeschrieben. Das konnte interessant werden …

»Und nach Spurenlage ist es definitiv nur der Fundort – keine Blutspuren außerhalb der Leiche, keine Zeichen eines Kampfes«, warf Sudhölter ein.

Dominik nickte. »Vielleicht findet ihr ja noch was.«

»Einerseits fehlt uns die Kleidung des Opfers für mögliche Spuren, und ob auf der Leiche noch Faserspuren oder Ähnliches gesichert werden können, nachdem sie in der Erde gelegen hat, ist fraglich. Andererseits kann sich hier unter jedem vertrockneten Blatt etwas verbergen.« Sudhölter verzog den Mund. »Das wird eine lange Nacht.«

»Und kalt dazu.« Dominik blickte in den Himmel. Die Nacht über dem Teutoburger Wald war sternenklar, doch außerhalb der grellen Scheinwerfer herrschte Finsternis. Um diese Jahreszeit gingen nur noch selten Wanderer den Hermannsweg. Es war reiner Zufall, dass jemand diese Leiche entdeckt hatte.

»Geiler Wagen übrigens, Nol… Roman.«

Roman Nolte grinste.

Samstag, 26. Oktober

Ein warmer Wind wehte ihm ins Gesicht, während sie die kurvenreiche Straße an der felsigen Küste entlangfuhren. Das Meer weit unter ihnen hob sich silbrig schimmernd vom tiefblauen Himmel ab. War die Frau neben ihm am Steuer dieses Cabrios wirklich Grace Kelly? Der Seidenschal, den sie sich um den Hals gebunden hatte, flatterte ihr ins Gesicht, sodass er es nicht erkennen konnte, und sich fragte, ob sie die Straße noch sah. Im nächsten Augenblick hörte er das Quietschen von Bremsen, der Wagen schlingerte, und sie flogen aus der Kurve, fielen den Abhang hinunter, stürzten dem Meer entgegen …

Dominik schreckte mit klopfendem Herzen hoch und fand sich in seinem stickig-warmen Schlafzimmer wieder. Das graue Licht der Morgendämmerung rahmte bereits das Dachfenster-Rollo, der Wecker zeigte 6:45 Uhr an. Er reckte sich, stand auf und öffnete das Fenster. Frische, kalte Luft strömte herein und vertrieb die Reste des Albtraums aus seinem Bewusstsein.

Durch das lange, nächtliche Telefonat mit seiner Tochter hatte er vergessen, die Heizung runterzudrehen. Wenigstens ging es ihr gut. Die Mutter einer Mitschülerin arbeitete bei der Polizei in Auckland und hatte Lissa beim Barbecue offenbar in den schillerndsten Farben ausgemalt, wie toll ihr Beruf sei. Hm.

»Du sagst ja gar nichts, Papa. Du gehst doch voll auf in deinem Beruf, oder? Ehrlich gesagt, glaube ich, dass Mama deswegen ausgezogen ist …«

»Deine Mutter … Betty … das ist zum Beispiel einer der Nachteile. Die Work-Life-Balance, wie man so schön sagt, die kannst du komplett vergessen. Heute zum Beispiel ist Samstag, und ich muss trotzdem arbeiten …«

»Aber es macht dir doch Spaß.«

Spaß? Er musste an die junge Frau in dem Erdloch denken. Wie sollte er Lissa erklären, dass sie es in diesem Beruf permanent mit Abgründen zu tun hatte? Ihm kam eine Idee. »Mord und Totschlag sind nicht immer spaßig, Lissa. Warum redest du nicht mal mit Frank darüber?« Sein Freund und Kollege war nicht gerade übermotiviert und würde ihr sicher abraten.

»Wie geht’s Frank denn so mit dem Gipsbein? Kommt ihr Kerle klar oder bleibt das Putzen an dir hängen? Ich meine, mal unter uns, Robin ist ’ne alte Schlampe.«

»Er ist … kein Putzteufel. Stimmt.« Dominik grinste. Sein jüngster Sohn interessierte sich ausschließlich für seine Freundin, seinen politischen Blog und die nächste politische »Aktion«. »Lissa, wir haben doch jetzt eine Putzfrau. Seitdem ist alles klinisch rein. Kaum sind wir zu Hause, feudelt sie schon hinter uns her.«

»Ich hab’s ja immer gesagt, wir brauchen ’ne Putze.«

»Putze?«

Sie stöhnte. »Raumpflegerin, Reinigungskraft, Wischiwaschifachfrau … Hauptsache, es ist sauber. Hat Frank schon eine Wohnung in Aussicht, oder musst du ihn adoptieren?«

»Ja also … genau genommen hat er noch gar nicht angefangen zu suchen …«

»Ist ja auch voll krass, so plötzlich wegen Eigenbedarfs rauszumüssen.«

»Ganz so plötzlich … ach egal, er findet schon was.« Frank hatte die dreimonatige Kündigungsfrist verpennt, um dann für kurze Zeit bei Nina und schließlich bei ihm unterzukommen. Angeblich »übergangsweise«.

»Bestimmt. Tschüss, Glucken-Papa. Und ruf nicht wieder an.« Lissa lachte.

Dominik lächelte in der Erinnerung und stieg die Treppe hinunter. Im Bad rumorte Frank. Das konnte dauern. Es war vermutlich schwierig, mit Gips zu duschen. Zum Glück gab es noch ein zweites Badezimmer.

Ein Dreiviertelstunde später zwängte sich Frank umständlich auf die Beifahrerseite von Dominiks Wagen.

Sie waren schon eine Weile gefahren, als Dominik bemerkte: »Ich habe übrigens heute Nacht von Grace Kelly geträumt.«

Frank grinste. »Bist noch nicht von Betty geschieden und träumst schon von Grace Kelly. Dummerweise hat die bei einem Unfall den Löffel abgegeben. Wäre aber heute – ich weiß nicht – hundert oder so?« Er klappte die Blende mit dem Spiegel runter und kämmte sich sein fusseliges, blondes Haar mit den Fingern.

»Bis zur Scheidung ist es ja nicht mehr lange. Aber … die Kelly ist bei einem Unfall ums Leben gekommen? In einem Cabrio vielleicht?«

»Nee, im Rover, hab ich mal gelesen. Sag mal, wie ist denn der Neue so?«

»So alt wie du, nur gut aussehend und ohne Midlife-Crisis. Ehrgeizig, sportlich und …«

»Reicht schon, danke!«

Dominik unterdrückte ein Lächeln und beschleunigte den Wagen hinter dem Ostwestfalendammtunnel.

Frank gähnte laut. »Mann, bin ich fertig. Und dann in aller Herrgottsfrühe wieder Besprechung. Habe ich dir überhaupt schon erzählt, dass wir die Tote identifiziert haben?«

»Nein, wie auch, du redest ja grundsätzlich nicht beim Frühstück.«

»Bin eben kein Morgenmensch, Dodo. Also, nachdem die Fundort-Fotos reingekommen waren, bin ich gestern Nacht noch die Vermisstenmeldungen durchgegangen …« Frank machte eine Kunstpause.

»Du hast dich verausgabt, spätnachts …«

»Spotte nur, aber immerhin haben wir jetzt einen Namen: Das Mädel heißt Charlotte Campmann und wird seit dem 18. Oktober von ihrer Mutter vermisst. Sie ist fünfzehn.«

»So jung?« Vielleicht lag es an dem Make-up auf ihrem Gesicht, dass er sie älter geschätzt hatte.

Das graue Wetter ließ die Farben des Besprechungsraums noch kühler wirken, als er es ohnehin schon war: weiße, U-förmig aufgestellte Tische, grauer Teppich, eine weiße Magnettafel, mit der Bent Andersen den Flipchart ersetzt hatte. Dort hing ein Foto mit einer lächelnden, jungen Charlotte Campmann, die zu Lebzeiten ausnehmend hübsch gewesen war. Schweigend tranken Dominik und Frank ihren Kaffee, als Bent hereinkam, mit kleinen Augen und umso größeren Augenringen. Roman Nolte, der ihm folgte, wirkte dagegen frisch und tatkräftig. Er ging sogleich auf Frank zu, um sich vorzustellen und ihm die Hand zu schütteln. Frank machte ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Vielleicht übten sie schon, wer kräftiger zudrücken konnte. Kleine Truppe, dachte Dominik, wenn wenigstens Nina hier wäre … Auf viel Entlastung durften sie nicht hoffen, da noch zwei andere Fälle die Kripo Bielefeld in Atem hielten.

Bent kam nach einer kurzen Begrüßung zur Sache. »Marianne Campmann hat ihre Tochter nach der Obduktion gestern Nacht identifiziert. Sie hatte eine Art Zusammenbruch und bekam ein Beruhigungsmittel. Vielleicht geht es ihr inzwischen besser, und wir können sie heute befragen.«

Nolte nickte ernst.

»Manchmal hat’s auch Vorteile, nur der Aktenführer zu sein«, flüsterte Frank Dominik ins Ohr.

Nolte räusperte sich. »Das könnte ich tun, falls das … in deinen Plan passt, Bent.«

»Schön … ja. Aber das sollten zwei von uns machen, Dominik wird dich begleiten. Die Todesursache war übrigens Ersticken. Die Jugendliche ist erwürgt worden. Den Bericht mit weiteren Einzelheiten kriegen wir heute Nachmittag.«

»Ihre Verletzungen deuten auf ein Sexualverbrechen hin, oder?«, fragte Dominik.

Bent nickte. »Es könnte sich um einen Sexualmord handeln oder aber um einen Verdeckungsmord, bei dem der Täter eine Vergewaltigung vertuschen wollte. Am Fundort konnten die Kollegen trotz des teilweise matschigen Bodens übrigens noch einen Sohlenabdruck mit Hilfe von Gips sichern. Sonst wurde nur ein benutztes Papiertaschentuch gefunden, das bereits ins Labor gegangen ist zur DNA-Analyse. Mehr dazu heute Nachmittag. Viel Erfolg bei Marianne Campmann!«

»Na, Lust, ’ne Tour mit dem ›geilen Wagen‹ zu machen?«, fragte Roman Nolte, während sie den Besprechungsraum verließen.

Dominik lächelte. »Na klar.«

Unterwegs erzählte Roman von seiner kurzen Dienstzeit in Münster, wo er nach Hannover gelandet war und in erster Linie Fahrraddiebstähle und Einbrüche aufzuklären seien.

»Klingt so, als wäre dir langweilig geworden. Also auf nach Bielefeld, wo mehr los ist, wie?«

»Hier ist mehr los, ja. Aber deshalb habe ich mich nicht hierhin beworben.«

Dominik grinste. »Das beruhigt mich jetzt. Weshalb dann?«

»Der Liebe wegen. Ist aber schon wieder vorbei. Wie das eben so kommt.« Roman lachte. »Dominik, du bist Herrmannsläufer, habe ich gehört?«

Während sie sich im dichten Verkehr die Detmolder Straße entlangschoben, ging es um diverse Läufe, Zeiten, Läufergruppen und die richtigen Läden fürs Lauf-Equipment. Schließlich bogen sie auf die Otto-Brenner-Straße ab, und nach kurzer Zeit kamen Hochhäuser in Sicht. Sie hielten auf einem Parkplatz neben alten Möbeln, halb verrosteten Einkaufswagen und einer Mülltonne, aus der die gelben Säcke quollen. Einer der Säcke war aufgerissen, und der Wind verteilte seinen Inhalt über einen angrenzenden Grünstreifen.

Ein Graupelschauer erwischte sie, während sie auf eines der Hochhäuser zugingen. »Am Prinzipalmarkt ist es hübscher, was, Roman?«

»Münster hat auch Problemviertel.«

Sie beschleunigten ihre Schritte. Es dauerte eine Weile, bis sie Marianne Campmanns Schild unter den sechzig Klingelschildern gefunden hatten und die Mutter des Mordopfers auf ihr Klingeln reagierte. Roman wollte lieber auf eine Fahrt in dem engen Aufzug verzichten. »Irgendwie riecht es hier komisch.«

Dominik grinste. »Man kann nicht früh genug mit dem Herrmannslauftraining anfangen.«

Im zehnten Stock öffnete ihnen eine füllige, kleine Frau um die sechzig mit grauen Haaren, die sie zu einem Schwanz gebunden trug. Sie wischte sich über ihr blasses, rotfleckiges Gesicht.

Dominik zeigte ihr seinen Dienstausweis. »Wir …«

»Kommen Sie rein«, sagte sie mit müder Stimme.

Sie folgten ihr in ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer, in dem nicht ein Flachbildschirm, sondern ein Tisch mit einer Nähmaschine, angefangener Näharbeit und ausgebreiteten Stoffen dominierte.

»Haben wir Sie beim Nähen gestört?« Roman lächelte.

Zwischen Marianne Campmanns Brauen bildete sich eine steile Falte. »Was denken Sie denn? Meine Tochter ist ermordet worden, und ich nähe hier munter vor mich hin, ja? Nein, ich hab nur früher für Charlotte genäht, weil sie sich diese topmodischen Sachen nicht kaufen konnte, und da hab ich versucht …« Sie brach ab, hob die Arme und ließ sie wieder fallen, starrte ins Leere. Ihre Augen wurden feucht. »Die Klamotten braucht sie ja nun nicht mehr.« Sie presste die Lippen aufeinander. »Wie schön, dass die Polizei nun tatsächlich mal reagiert. Jetzt, wo alles zu spät ist!«

Roman sah ihr in die Augen. »Frau Campmann, ich bin sicher, wir werden den Mörder Ihrer Tochter finden.«

Er klang wie eine Figur aus einem amerikanischen Fernsehkrimi und wirkte dabei vollkommen authentisch. Dominik hatte sich einmal zu einer ähnlichen Bemerkung hinreißen lassen, war sich der Möglichkeit des Scheiterns jedoch nur allzu bewusst gewesen und ließ es seitdem lieber. Roman Nolte hingegen schien von keinerlei Zweifel angekränkelt zu werden. Ein selbstbewusster Kollege. »Dürfen wir uns setzen?«, machte Roman weiter.

»Bitte.« Marianne Campmann wies auf zwei Sessel und ließ sich auf der Couch nieder. Ihre Schultern fielen nach vorn, alle Streitlust schien von ihr abgefallen zu sein.

»Haben Sie eine Idee …?«, begann Dominik.

»Nein.« Sie straffte sich. »Leider.«

»Hat sich Ihre Tochter in letzter Zeit anders verhalten als sonst?«, machte Dominik weiter.

»Es war immer ein Auf und Ab. Und ich weiß nicht mehr, mit wem sie ausging. Sie hat mir früher alles erzählt, aber dann nicht mehr. Das ist wohl die Pubertät, nicht wahr?«, sagte sie tonlos.

»Was ist mit Schulfreunden?«

»Nur Miriam. Miriam Breipohl. Mit den anderen aus der Klasse hatte Charlotte keinen Kontakt mehr außerhalb der Schule. Nach den Weihnachtferien war sie einige Wochen lang krankgeschrieben, und danach herrschte Funkstille. Tja, so schnell kann es in dem Alter gehen, dass man nicht mehr angesagt ist.«

»Sie haben Ihre Tochter am Freitag, dem 18. Oktober, als vermisst gemeldet. Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«, fragte Dominik.

»Am Freitagmorgen. Da ist sie wie sonst zur Schule gefahren.«

Und dort angekommen? Dominik und Roman sahen sich an. Der Kollege schien das Gleiche wie er zu denken.

»Ich habe mit ihrer Klassenlehrerin telefoniert. In der Schule war sie wohl bis zum späten Vormittag, aber danach … « Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte an dem Tag Spätdienst. Es ist durchaus möglich, dass Charlotte noch mal nach der Schule nach Hause gefahren ist, aber als ich um 21 Uhr hierher kam, war sie jedenfalls nicht mehr da. «

»Gut zu wissen. Dürfen wir uns ihr Zimmer mal anschauen?«, fragte Roman.

»Tun Sie das. Es ist die Tür vom Flur aus gegenüber.« Sie schaute auf ihre Hände, die gefaltet in ihrem Schoß lagen.

Roman sprang auf. Dominik zögerte. »Ich gehe schon mal vor«, sagte Roman.

Dominik nickte und wandte sich wieder an Frau Campmann. »Sie sagten, nach den letzten Weihnachtsferien hatte Ihre Tochter keinen Kontakt mehr zu den jungen Leuten aus ihrer Klasse. Ist da nach Weihnachten irgendetwas vorgefallen?«

»Wenn ich das bloß wüsste. Charlotte war … sie wirkte fast depressiv. So habe ich sie noch nie erlebt. Wissen Sie, früher war sie ein Schlüsselkind und übernahm nach den Hausaufgaben das, was im Haushalt liegen geblieben war. Wenn ich Spätschicht hatte, bin ich abends völlig erledigt nach Hause gekommen, aber Charlotte hat sich nie beklagt, war trotz allem immer fröhlich und außerdem gut in der Schule. Auf dem Gymnasium anfangs auch.«

»Und später begannen die Probleme?«

»Am Anfang bekam sie noch Geburtstagseinladungen von ihren neuen Mitschülern. Mit der Zeit ließ das nach, vermutlich, weil sie die nie erwidert hat. Sie schämte sich wohl für ihr Zuhause. In den Ferien, wenn die anderen mit ihren Eltern Urlaub machten, jobbte sie, um sich Markenklamotten und ein teures Handy leisten zu können. Doch am Ende konnte sie nicht mithalten mit den Töchtern und Söhnen von Anwälten, Ärzten und Bauunternehmern.«

»Also … irgendwann in den Weihnachtsferien begannen Charlottes Depressionen?«

»Nach Silvester, ja. Sie hatte Magenprobleme, vielleicht ging es ihr einfach deshalb nicht gut, jedenfalls kam sie morgens kaum noch aus dem Bett, und als die Krankschreibung endete, fing sie an, die Schule zu schwänzen, fälschte Entschuldigungen …« Frau Campmann schüttelte den Kopf. »Ich hab Charlotte nicht wiedererkannt. Ich hab versucht, mit ihr darüber zu reden, aber sie brauste schon auf, wenn ich auch nur eine einzige Frage stellte.«

»Aber diese Miriam Breipohl hat Ihre Tochter noch getroffen?«

»Die Freundschaft war mal viel enger. Miriam wohnt nebenan, ihre Mutter ist auch alleinerziehend. Da läuft man sich zwangsläufig auch außerhalb der Schule über den Weg, mehr war es aber wohl nicht mehr. Nach einigen Monaten ging Charlotte wieder aus, offenbar nicht mit den jungen Leuten aus ihrer Klasse, so viel habe ich noch von ihr erfahren. Aber mit wem und wohin, das wollte sie nicht sagen.«

»Dann ging es Ihrer Tochter also wieder besser?«

»Schwer zu sagen, sie ließ die Schule weiterhin schleifen. Aber sie hat wieder mehr Wert auf ihr Äußeres gelegt, Stunden im Bad verbracht, um sich zu schminken, obwohl sie das gar nicht nötig hatte. Schön und intelligent, ich hab immer gedacht, wem wenn nicht ihr stehen alle Türen offen …« Marianne Campmann biss sich auf die Lippen, ihre Augen wurden feucht. »Ehrlich gesagt, ich war oft erschöpft. Ich werde wohl einfach zu alt für diese Arbeit. Der Rücken, wissen Sie, typische Altenpflegerkrankheit. Ich hatte abends schlicht keine Kraft mehr zu weiteren Auseinandersetzungen mit Charlotte.« Sie wischte sich über die Augen. »Ich frage mich die ganze Zeit über, ob ich das hätte verhindern können …«

»Sie dürfen sich nicht die Schuld geben!«, entfuhr es Dominik.

Sie zuckte kraftlos mit den Achseln und starrte vor sich hin.

»Frau Campmann?«

»Wollen Sie sich noch Charlottes Zimmer ansehen?«, fragte sie leise und stemmte sich aus dem Sofa hoch.

»Gerne.«

Sie begleitete ihn in das Zimmer ihrer Tochter, wo Roman gerade einen Laptop in einen Karton packte. »Den müssen wir mitnehmen, Frau Campmann.«

»Bitte.«

Das Zimmer erinnerte Dominik an das Zimmer seiner eigenen Tochter. Auch Lissa hatte mal für The Twilight und Robert Pattison geschwärmt, aber Plüschtiere waren schon lange verschwunden. Charlotte hatte offenbar auch einen anderen Geschmack in puncto Kleidung: In einer Ecke lagen dunkelrote High Heels, und auf einem Bügel am Schrank hing ein spitzenbesetztes, rotes Minikleid.

Dominik betrachtete ein Foto in einem Regal, das eine strahlende, braun gebrannte Charlotte mit ihrer lächelnden Mutter auf einer sonnigen Terrasse zeigte. Die beiden saßen an einem Tisch und prosteten dem Fotografen zu. Im Hintergrund schimmerte das tiefblaue Meer.

»Das war letztes Jahr auf Kreta«, erklärte Frau Campmann mit brüchiger Stimme. »Hardy … das ist mein Freund … er hat das Bild gemacht. Wenn ich gewusst hätte, dass das unser letzter gemeinsamer Urlaub sein würde.«

Dominik suchte nach tröstenden Worten, doch alles, was ihm einfiel, kam ihm plump und oberflächlich vor. Also nickte er nur und wandte sich an Roman. »Hast du ein Handy gefunden?«

»Leider nicht.«

»Ich weiß auch nicht, wo ihr Handy ist«, sagte Frau Campmann. »Das wird sie mitgenommen haben. Sie ging nie ohne Handy aus dem Haus.«

»Tja, dann sind wir hier wohl fertig.« Roman lächelte.

»Ja, ganz großartig, das ging ja schnell.« Frau Campmann trat auf den Flur.

»Verständlich, dass sie sauer auf die Polizei ist«, sagte Dominik leise. »Hast du schon alles durchsucht?«

»Alles. Leider keine Anhaltspunkte, nicht mal ein Tagebuch, nur der übliche Teenie-Kram.«

»Tagebücher sind out, wie? Heutzutage verstecken sich die privaten Geheimnisse hinter Internet-Verläufen. Wer weiß, was wir auf ihrem Rechner entdecken.«

Seufzend packte Nina ihr Duschtuch wieder aus dem Koffer und versuchte dann noch einmal, ihn zu schließen. Dieses Mal klappte es. Zum Glück half Bines Mutter ihrem Bruder und Bine beim Kofferpacken und würde die beiden auch nach Paderborn zum Flughafen fahren. Und wohin jetzt mit dem Duschtuch? In dem Hotel, in dem sie wohnen würden, gab es auch ein Fitnessstudio und einen Saunabereich. Am besten also in die kleine Sporttasche, die sie als Handgepäck mitführen konnte. Während sie in verschiedenen Schränken nach der Tasche suchte, fiel ihr ein, dass sie die im Büro gelassen haben musste.

Sie überlegte. Ihr Flieger ging erst um 21:15 Uhr. Kurz entschlossen stieg sie in ihr Auto. Die Kollegen hatten mit dem neuen Mordfall alle Hände voll zu tun, und sie würde im Präsidium wohl nur Frank antreffen, was ihr ganz recht war, denn sie hatte keine Lust auf einen längeren Plausch. Von ihrer Wohnung im Johannistal brauchte sie trotz des Samstagnachmittagsverkehrs nur fünfzehn Minuten, bis sie auf den fast leeren Parkplatz des Präsidiums einbog. Sie sprintete an einem schicken Cabrio-Oldtimer und Bents Volvo vorbei in das Hauptgebäude, wo sie auf der Treppe zwei Stufen auf einmal nahm. Niemand kam ihr entgegen. Es war ungewöhnlich still, bis sie die Glastür zu ihrem Büroflur öffnete.

»… aus dem Obduktionsbericht. Sie hat viel Blut verloren und wäre wohl verblutet, wenn sie nicht vorher erwürgt worden wäre. Die massiven Verletzungen lassen vermuten, dass sie mit einem stumpfen Gegenstand vergewaltigt worden ist.« Nina hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, doch sie blieb wider Willen stehen. Die Tür zum Besprechungsraum stand offen und gab den Blick auf einen unglücklich dreinschauenden Bent frei. »Leider gibt es keine Spermaspuren. Dafür fanden sich Holzsplitter im verletzten Gewebe. Die Rechtsmedizinerin meint, es könnte sich um etwas wie einen Baseballschläger gehandelt haben …«

Nina entfuhr ein Stöhnen.

»Nina?« Oje, Bent hatte sie bemerkt. »Komm doch rein, wenn du … falls du …«

Und das alles nur wegen dieser blöden Sporttasche. Sie trat ein und lächelte in die Runde, nickte Dodo und Frank zu, begegnete einem Blick aus mandelförmigen, braunen Augen unter kräftigen, dunklen Brauen. Das musste der neue Kollege sein. Dichtes, dunkles Haar, ein kurzer Bart und ein Gesicht, das Entschlossenheit ausstrahlte, Verbindlichkeit. Dominik, der neben ihm saß und mit seinen dunklen Locken und großen, braunen Augen von den Kolleginnen als schönster Mann der Kripo gehandelt wurde, wirkte dagegen weich und melancholisch, fast feminin. Wie erwartet, hatte der Neue, den Bent als »Roman Nolte« vorstellte, einen festen Händedruck. Und er weiß genau, wie gut er aussieht, dachte Nina, während sie sein Lächeln erwiderte.

»Und das ist unsere Kollegin Nina Tschöke«, fuhr Bent fort. »Eine unserer besten Mordermittlerinnen.«

Nina schüttelte verlegen den Kopf.

»Recht hat er.« Dominik zwinkerte ihr zu. »Setz dich doch.«

Frank runzelte die Stirn. »Hey, Nina hat Urlaub. Was machst du überhaupt hier? Ich dachte, du wärst auf Malle.«

»Mein Flieger geht erst heute Abend.«

»Magst du einen Kaffee?« Dominik stand auf, ging zu dem Teewagen und hob die Thermoskanne hoch. »Mit Milch, wie immer?«

»Ja, aber nur kurz …« Sie setzte sich und nahm die Tasse entgegen. Verstohlen musterte sie Roman Noltes Kaschmirpullover, die teure Jeans, die blank polierten, schicken Lederschuhe und tastete unwillkürlich nach ihrem etwas schief geklebten Brillenbügel.

»Schön … ja … wir sind gerade bei dem neuen Fall«, erklärte Bent überflüssigerweise. »Ich mach dann mal weiter. Die Verletzungen an den Innenseiten der Handgelenke des Opfers stammen wahrscheinlich von Handschellen. Sie könnten entstanden sein, als das Opfer versucht hat, sich loszumachen, also Druck ausgeübt hat.«

»Würde man sie dann nicht eher an den Außenseiten vermuten?«, warf Nina ein. »Es sei denn, das Opfer war mit beiden Händen an zwei Bettpfosten oder Haken gefesselt und hing quasi in den Handschellen.«

Bent nickte. »Das ist ein guter Punkt.«

»Klingt nach Sadomaso-Spielen, die aus dem Ruder gelaufen sind«, sagte Frank. »SM scheint ja groß in Mode zu sein. Dieser Fifty Shades of Grey-Schinken geht weg wie warme Semmeln, stimmt’s?«

»Hm«, machte Dominik. »Aber welches fünfzehnjährige Schulmädchen würde freiwillig SM-Spiele mitmachen? Ich tippe darauf, dass sie ein Zufallsopfer war, das der Täter in seine Gewalt gebracht hat. Und so brutal wie das Ganze abgelaufen ist, muss der Mann hochgradig gestört sein.«

Nina nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Der Kaffee war stark. »Ein Täter, der Frauen hasst? Es gibt keine Spermaspuren, nur Holzsplitter. Vielleicht ist er impotent und lässt seine Opfer dafür büßen.«

»Bisher gibt es keinen Hinweis auf weitere Opfer. Ich bin immer für Brainstorming, doch wir sollten uns nicht zu weit von dem entfernen, was wir zurzeit wissen«, sagte Bent.

Dominik seufzte. »Wir versuchen nur, uns eine Vorstellung zu machen. Ich bin kein Profiler, aber ich würde sagen, wir suchen einen sexuellen Sadisten, der vermutlich deutlich älter ist als das Opfer, etwa zwischen fünfundzwanzig und fünfzig Jahre alt.«

Roman Nolte zog die Brauen zusammen. »Können wir denn eine Beziehungstat ausschließen? Etwa die Rache eines Ex-Freundes? Oder jemand, den das Opfer abgewiesen oder anderweitig gekränkt hat?«

»Frau Campmann«, Dominik wandte sich an Nina, »das ist die Mutter des Mordopfers, hat keinen Freund oder Ex-Freund erwähnt.«

Roman grinste. »Hast du deiner Mutter in dem Alter alles erzählt, was du so treibst?«

Dominik lachte auf, Bent lächelte. Frank verzog keine Miene. Er hockte tatsächlich so schlecht gelaunt hinter seinem Aktenführer-Rechner, wie Dominik berichtet hatte.

Bent spielte mit seinem Filzstift. »Gut möglich, dass wir es mit einem psychisch gestörten Täter, einem Narzissten oder Sadisten zu tun haben. Andererseits käme auch ein Täter infrage, der den Mord nur wie ein Sexualdelikt aussehen lassen wollte. Immerhin fehlen Spermaspuren. Ich würde sagen, noch ist alles offen.«

Der Himmel verdüsterte sich. Rote Blätter wirbelten am Fenster vorbei, und der Wind pfiff um die Ecken des Präsidiums. Obwohl alle Fenster geschlossen waren, streifte Nina ein kalter Hauch. »Fangen wir doch einfach damit an, die letzten Tage und Stunden im Leben von Charlotte Campmann zu rekonstruieren.« Wir? Hatte sie wir gesagt?

»Genau.« Bent warf den Filzstift auf sein Pult. »Laut ihrer Mutter ist Charlotte am 18. Oktober morgens zur Schule gefahren. Wir müssen den Todeszeitpunkt … ja?«

Frank hatte die Hand gehoben. »Ich habe in ihrer Schule in Sieker angerufen. Charlotte hatte die letzte Schulstunde am Freitag bei ihrer Klassenlehrerin, einer gewissen Frau Schoppe. Wegen der Ferien war schon gegen 11 Uhr Schluss.«

»Schön … Dominik, du befragst Frau Schoppe, und Roman fährt zu dieser Schulfreundin … ähm …«

»Miriam Breipohl«, ergänzte Roman.

Bent nahm seine Mappe mit dem Obduktionsbericht an sich. »Ganz recht. Viel Erfolg. Und dir, Nina, weiterhin einen schönen Urlaub.«

Während die anderen den Raum verließen, gesellte sich Nina zu Frank. »Na, Frank Tillmann Herbst, was macht der Knöchel?«

»Juckt wie die Hölle unter dem Gips. Das habe ich dieser Putzfurie zu verdanken, wischt die Treppe und sagt nicht mal Bescheid. Die Alte hat doch einen Sparren locker.«

»Sind das die Fundortfotos?«

Frank nickte.

Sie griff nach dem Stapel Fotos neben seinem Rechner und dachte in dem Moment, in dem sie einen Blick auf das erste Foto warf, dass sie den Stapel besser hätte liegen lassen sollen.

Das Haus der Schoppes lag in einer ruhigen Seitenstraße in der Nähe des Moorbachtals. Dominik kannte die Gegend: Das sumpfige Gelände, das der Moorbach in einem Wäldchen bildete, war meist der Endpunkt seiner Laufstrecke, bevor es wieder bergab Richtung Schildesche ging. Als er das alte Fachwerkhaus am Ende der Straße erreichte, wusste er, dass er zu weit gefahren war. Über dem Waldstück jenseits der Wiesen türmten sich dunkle Wolken. Dominik wendete, und nach einer Weile entdeckte er das großzügig geschnittene, weiß geklinkerte Haus der Schoppes. Eine einsame LED-Kerze in einer Edelstahl-Standlaterne flackerte vor der hellgrauen Eingangstür. Als er klingelte, begann ein Hund, hinter der Tür zu bellen.

Kurz darauf öffnete eine schlanke Frau in den Fünfzigern mit silberblonden, straff zum kurzen Schwanz gebundenen Haaren die Tür und schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. »Ja bitte?« In der einen Hand hielt sie eine brennende Zigarette, mit der anderen versuchte sie, einen Jack-Russell-Terrier am Halsband zurückzuhalten, der Dominik neugierig beschnüffelte.

»Domeyer. Wir hatten telefoniert. Es tut mir leid, dass ich Sie am Samstagnachmittag belästigen muss, aber …«

»Ich weiß, ich weiß.« Sie nahm einen Zug von ihrer Zigarette, wobei sich die Falten um ihren leuchtend rot geschminkten Mund vertieften, dann schob sie den Terrier zurück in den Flur. »Kommen Sie rein. Ingrid Schoppe«, fügte sie hinzu und streckte ihm kurz ihre Hand hin, als ob sie sich gerade noch der gebotenen Umgangsformen erinnerte. Ihr Händedruck war kühl und schlaff.

Er folgte ihr in ein Wohnzimmer, das ähnlich wie das Outfit von Frau Schoppe in Schwarz- und Weißtönen gehalten war. Bücherregale dominierten die Wände. Außerdem schienen die Schoppes eine Vorliebe für die klaren Farben und Formen von Piet Mondrian zu haben, dessen Kompositionen die freien Stellen als Leinwanddrucke zierten.

»Bitte.« Sie deutete auf das weiße Ledersofa, und er setzte sich. Ihre enge, schwarze Lederhose knarrte, als sie ihm gegenüber in einem Sessel Platz nahm. Der Terrier legte sich in seinen Hundekorb neben dem Sofa.

»Ich denke, Sie wissen bereits, worum es geht. Wir versuchen, die letzten Stunden vor dem Mord an Charlotte Campmann zu rekonstruieren. Ihre letzte Schulstunde hatte sie bei Ihnen, nicht wahr, Frau Schoppe?«

Sie nahm noch einen Zug und drückte dann die Zigarette umständlich in einem Aschenbecher auf dem Couchtisch aus. »Richtig. Ich bin ihre Klassenlehrerin und gab in der letzten Stunde Englisch. Obwohl ich in der letzten Stunde vor den Ferien nur einen Film gezeigt habe, war die Campmann wie so oft mehr physisch als mental anwesend.«

»Charlotte wirkte abwesend? Haben Sie eine Ahnung, wieso?«

Ihre Lippen kräuselten sich zu einem süffisanten Lächeln. »Ich sage mal so: Sie interessierte sich mehr für ihre Wirkung auf das andere Geschlecht als für Sachthemen. Das ist in dem Alter ein Stück weit normal, aber bei ihr war das schon sehr ausgeprägt.«

»War sie beliebt bei ihren Mitschülern?«

Sie schlug die Beine übereinander. »Nun, sie erregte Aufmerksamkeit bei den Jungs, das schon, und bei den Mädchen … ich hatte nicht den Eindruck, dass sie beliebt war. In den Pausen sah ich sie öfter allein oder gelegentlich mit Miriam Breipohl.«

»Kam Ihnen Charlotte in letzter Zeit verändert vor?«

»In letzter Zeit …« Sie schürzte die Lippen. »Ihre schulischen Leistungen sind schon seit Anfang des Jahres deutlich abgesackt. Auch mündlich, sie ist stiller geworden. Letztes Jahr wirkte sie aufmerksamer und hat sich mehr beteiligt. Ansonsten kann ich das nicht beurteilen.«

Der Terrier sprang auf und lief schwanzwedelnd zur Tür.

»Mein Mann«, erklärte Frau Schoppe.

Ein mittelgroßer Mann mit markantem Gesicht trat ein und streichelte den Hund. Trotz seiner grauen Haare wirkte er jünger als seine Frau.

»Das ist der Herr von der Kripo.«

Schoppe ging auf Dominik zu. »Norbert Schoppe.« Er hatte ein offenes Lächeln und einen festen Händedruck.

»Er ist wegen Charlotte Campmann hier.« Sie zog ihren cremeweißen Angorapullover zurecht.

Schoppes Miene verfinsterte sich. »Wegen Charlotte … das dachte ich mir schon. Ich kann es immer noch nicht fassen!«

Dominik hob die Brauen. »Sie kannten sie?«

Ingrid Schoppe verschränkte die Arme vor der Brust.

Norbert Schoppe setzte sich neben ihn aufs Sofa. »Ich kannte sie so gut, wie man eine Schülerin kennen kann, die man seit drei Halbjahren in Biologie unterrichtet. Also eher oberflächlich. Trotzdem … schreckliche Geschichte! Sie hatte noch ihr ganzes Leben vor sich.«

»Ja, schlimm so was«, sagte Frau Schoppe und lächelte. »Mein Mann ist sehr empathisch, müssen Sie wissen. Er interessiert sich für seine Schüler und natürlich auch für die Schülerinnen.«

Empathisch? Im Gegensatz zu dir, dachte Dominik. War das Spott in ihren Augen? Aber was wusste er schon von ihr, vielleicht hatte sie ihre Schülerin nicht gemocht. Obwohl oder weil sie sich selbst um Aufmerksamkeit beim anderen Geschlecht bemühte mit figurbetonter Kleidung und ihrem stark geschminkten Gesicht?

»Hat einer von Ihnen Charlotte Campmann nach der letzten Schulstunde noch einmal gesehen?«

»Nein, ich bin gleich danach nach Hause gefahren«, gab Frau Schoppe zurück.

Herr Schoppe schüttelte den Kopf und lehnte sich vor. »Darf man fragen, wie … also … wie ist die arme Charlotte denn …« Er brach ab, denn in diesem Moment ertönte ein Poltern im Raum über ihnen, als wäre etwas Schweres zu Boden gefallen. Es folgte ein Schrei. Frau Schoppe nahm die Arme auseinander und richtete sich auf. »Oh Gott, ich hoffe …«

»Bleib ruhig, Schatz, ich glaube, sie ist einfach nur böse auf mich. Ich hab sie wegen der ständigen Sauerei im Bad angesprochen und …«

»Entschuldigung.« Frau Schoppe sprang auf und eilte aus dem Zimmer.