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Bina Elisabeth Mohn

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Beschreibung

Kamera-Ethnographie ist ein filmischer Ansatz zur Gestaltung der Wahrnehmungs- und Wissensprozesse beim ethnographischen Forschen. Dabei wird im Unterschied zur Logik der Aufzeichnung angenommen, dass Forschungsgegenstände zunächst noch gar nicht sichtbar sind. Kameraführung, Schnitt und Montage tragen als experimentelle Praktiken zur Beobachtbarkeit und Sichtbarkeit epistemischer Dinge bei. Bina Elisabeth Mohns repräsentationskritische Programmschrift zeigt, wie die Methode der Kamera-Ethnographie auch nonverbale Praktiken in ihren Choreographien und bildhaften Figuren in den Blick rückt. Eine situierte Methodologie und reflexive Pragmatik leiten zum positionierten Hinschauen und Sehenlernen an und binden selbst das Publikum in eine forschende Rezeption ein.

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Bina Elisabeth Mohn

Kamera-Ethnographie

Ethnographische Forschung im Modus des Zeigens. Programmatik und Praxis

Diese Publikation wurde von dem Graduiertenkolleg 1769 „Locating Media“ und dem Sonderforschungsbereich 1187 „Medien der Kooperation“ – Projektnummer 262513311 – durch Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NoDerivatives 4.0 Lizenz (BY-ND). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, gestattet aber keine Bearbeitung. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by-nd/4.0/deed.de)

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Erschienen 2023 im transcript Verlag, Bielefeld © Bina Elisabeth Mohn

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Umschlagabbildung: »Luftraum«, Pit Arens 2004 (Foto-Collage mit Zeichnung)

Innenlayout und Satz: Ulrike Künnecke, Berlin

Korrektorat: Jan Wenke, Leipzig

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-3531-7

PDF-ISBN 978-3-8394-3531-1

EPUB-ISBN 978-3-7328-3531-7

https://doi.org/10.14361/9783839435311

Buchreihen-ISSN: 2703-0210

Buchreihen-eISSN: 2703-0229

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

Einleitung

IEPISTEMISCHEN DINGEN GESTALT GEBEN

1.Blickschneisen

Prämisse des (noch) nicht Sichtbaren

Suchbewegungen mit der Kamera

Leibhaftiges Beobachten

Beobachten im Medium

Hier könnte was sein! Filmen als Ortungsversuch

Intermezzo 1: Blickarbeit in sieben Phasen

2.Schnittstellen

Zerlegen als Präparieren

Praktiken und ihre Choreographien

Praktiken und ihre Figuren

Ab jetzt und bis dann. Schneiden als Zeitversuch

IIEXPLORATIVES ZUSAMMENSTELLEN

3.Verknüpfungen

Zusammensetzen als Experimentieren

Wortlose Praktiken grammatisch betrachtet

‚Gucken‘ – ein Versuch

Wie könnte es noch sein? Montieren als Ordnung auf Probe

4.Forschende Rezeption

Bildkommunikation als soziales Ereignis

Blicklaboratorien

Blickwerke

Blicke im Labor

Welche Blicke? Rezipieren als situiertes Erblicken

Intermezzo 2: Orte der Worte

IIIREFLEXIVE PRAGMATIK

5.Die vier Spielarten des Dokumentierens

Beobachtungstheoretische Grundlage

Alltagswissen

Nichtwissen

Reflexives Wissen

Prozesswissen

6.Situierte Methodologie

Forschungssituationen und ihre Uneinheitlichkeit

Pragmatische Registerwechsel

Differenz des Situativen

Welches Wissen? Reflektieren als Kompass im Differenzraum

Ausblick

 

Dank

Literatur

Filme und Installationen

für Anton

Einleitung

Repräsentationskritik – und dann?

Die in den 1980er bis 1990er Jahren in Kulturanthropologie und Wissenschaftssoziologie geführten Debatten zu einer Krise der ethnographischen Repräsentation haben dazu beigetragen, den Status und die Autorität ethnographischer Wissensgenerierung kritisch zu hinterfragen. In diesem Zusammenhang wurden sowohl abbildungstheoretische als auch wahrheitstheoretische Begründungen des Dokumentierens und Beschreibens alltäglicher Situationen und Lebenswelten einer Revision unterzogen. Ethnographische Forschungsergebnisse, zumeist Texte, wurden auf ihre konstruktiven und sozialen, politischen, strategischen und poetischen Anteile hin dekonstruiert, Unmittelbarkeit und Authentizität als Ideologien enttarnt, ein naturalistischer Datenbegriff in Frage gestellt und Reflexivität verordnet. All dies gilt seitdem als erkenntnistheoretisch geklärt. Doch bei der Hinwendung zu einem konkreten Gegenstand des Forschens und den Versuchen, ihn zur Darstellung zu bringen, lassen sich weder Praktiken des Dokumentierens noch eine realistische Rhetorik in der Praxis vermeiden. Insbesondere ist es der Kameragebrauch, an dem sich ein Auseinanderklaffen von Erkenntnistheorie und Forschungspraxis zuspitzt und wie in einem Brennglas zeigt.

In sozial- oder kulturanthropologischen, ethnologischen, soziologischen und sozialwissenschaftlichen Disziplinen wird der Markt audiovisueller Methoden weitgehend von zwei Weisen des Kameragebrauchs beherrscht: technische Aufzeichnung und filmische Dokumentation. Ein an technischer Aufzeichnung orientiertes Verständnis von videogestützter Ethnographie ist in soziologischen und sozialwissenschaftlichen Forschungszusammenhängen bis heute weitverbreitet. Sogenanntes ‚natürliches Datenmaterial‘ wird benötigt, um daran ethnographisch informierte Videoanalysen oder sequenzanalytische Rekonstruktionen durchzuführen. Anders verhält es sich bei den dokumentarfilmischen Strategien, die in ethnologischen und sozialanthropologischen Kontexten als Visuelle Anthropologie und Medienethnographie eine lange Tradition haben; hier reicht das Spektrum vom klassischen Dokumentarfilm bis hin zu Erweiterungen dieses Genres durch experimentelle, evokative und reflexive Strategien, zu denen auch die Kamera-Ethnographie zählt. Dabei wird die Kamera stets an eine interagierende, wahrnehmende und zur Empathie fähige Person gekoppelt. Doch so unterschiedlich audiovisuelle Aufzeichnungen und filmische Dokumentationen auch sein mögen, sie haben beide einen Hang dazu, sich in den Dienst einer Sache zu stellen, von der angenommen wird, dass sie mit einer Kamera ‚eingefangen‘ und festgehalten, also repräsentiert werden könne. Diese Annahme steht jedoch – epistemologisch betrachtet – durchaus in Frage.

Im Unterschied zum Repräsentationalismus, der uns über oder außerhalb der Welt ansiedelt, auf die wir angeblich nur reflektieren, hebt ein performativer Ansatz das Verständnis des Denkens, Beobachtens und der Theoriebildung als Praktiken der Auseinandersetzung mit der Welt, in der wir existieren, und als Teil dieser Welt hervor. (Barad 2018 [2012]: 9)

Wenn Repräsentationskritik kein Lippenbekenntnis sein soll, dann besteht nach wie vor Bedarf an einer praxistauglichen, gegenstandsbezogenen und repräsentationskritischen Methodologie des forschenden Umgangs mit audiovisuellen Medien. Diesbezüglich kann von einer Marktlücke gesprochen werden, auf die die Kamera-Ethnographie mit dem Angebot einer zeigenden Ethnographie, reflexiven Pragmatik und situierten Methodologie reagiert.

Im Unterschied zu Aufzeichnung oder Dokumentation setzt Kamera-Ethnographie die Sichtbarkeit des Forschungsgegenstandes nicht voraus, sondern formuliert stattdessen eine Prämisse des (noch) nicht Sichtbaren als Ausgangspunkt für forschende Beobachtungs- und Bildgebungsprozesse.

Bild 1: Luftraum. Fotocollage mit Zeichnung: Pit Arens (2004)

Auf der Fotocollage des Buchdeckels sind zwei ältere Häuser, eine Bau-lücke und die Vision einer Möblierung solcher Lücken zu erkennen. Häuser als methodologische Schulen und eine Lücke als Marktlücke zu verstehen ist eine der möglichen Lesarten.

Forschungsprozessgestaltung mit der Kamera

Mit dem Ziel der Hervorbringung epistemischer Dinge nimmt der kamera-ethnographische Ansatz Bezug auf die wissenschaftssoziologischen Laborstudien der 1980er und 1990er Jahre (vgl. Amann, Knorr Cetina, Latour, Lynch u.a.) sowie auf die wissenschaftshistorischen Arbeiten Rheinbergers zu Experimentalsystemen. Mit epistemischen Dingen sind Erkenntnisdinge gemeint, deren Merkmal es ist, dass sie noch nicht sichtbar sind, sonst würden sie nicht zum Gegenstand von Forschung werden. Genau an dieser Stelle eine Kamera ins Spiel zu bringen und das Filmen dem Forschen weder als Datenerhebung vorzuziehen noch als Verfilmung von Ergebnissen nachzuordnen, macht die Rahmung kamera-ethnographischer Methodologie aus: Kamera-Ethnographie betreibt mit filmischen Mitteln Forschungsprozessgestaltung und widmet dabei den Positionierungsoptionen des forschenden Blicks ihre volle Aufmerksamkeit. In diesem Zusammenhang gewinnen das Filmen, Schneiden und Montieren die Qualität experimenteller epistemischer Praktiken.

Zur Kamera-Ethnographie gehört eine radikale Akzentverschiebung vom Geschriebenen und Gesprochenen zum Audiovisuellen und Nonverbalen und zu einer Orientierung an den bildhaften Figuren, raumzeitlichen Choreographien und akustischen Profilen alltäglicher Phänomene und Praktiken. Als zeigende Ethnographie ist die Kamera-Ethnographie in den vergangenen 25 Jahren auf Interesse gestoßen und wurde durch wechselnde Forschungskollektive bislang in Feldern der Wissenschaftssoziologie, ethnographischen Unterrichtsforschung, Theaterpädagogik und Kindheitsforschung erprobt und dabei kontinuierlich weiterentwickelt.

Ein weiteres Merkmal der Kamera-Ethnographie besteht darin, die praktische Relevanz der erkenntnistheoretischen Überlegungen (des späten) Wittgenstein aufzeigen zu können. Der Wittgenstein-Lesart von Griesecke1 (vgl. Griesecke 2021; Griesecke/Kogge 2022) folgend, bedeutet dies ein experimentell arrangierendes statt ableitendes Forschen, das über Schnitt und Montage hervorragend angegangen werden kann. Im Ergebnis zielt das kamera-ethnographische Forschen auf ein dichtes Zeigen (in Abwandlung der dichten Beschreibung nach Geertz) bzw. auf übersichtliche Darstellungen (nach Wittgenstein) von Praktiken in ihren gelebten Zusammenhängen und gestaltbaren Möglichkeitsräumen.

Bevor ich einen Ausblick auf Inhalt und Aufbau des Buches gebe, gehe ich auf den Entwicklungsprozess der Kamera-Ethnographie ein und hebe dabei die konkreten zeitgeschichtlichen, sozialen – darunter auch autobiographischen – Voraussetzungen und Rahmenbedingungen hervor, die eine methodologische Innovation nahelegen und möglich machen.

Entstehung der Kamera-Ethnographie

Die Verwicklung menschlichen Lebens äußert sich in der gleichzeitigen Koexistenz vieler verschiedener Denkkollektive und in den gegenseitigen Einflüssen dieser Kollektive aufeinander. Der moderne Mensch gehört – zmindest in Europa – nie ausschließlich und in Ganzheit einem einzigen Kollektiv an. [...] Auf diese Weise ist das Individuum Träger der Einflüsse eines Kollektivs auf das andere. In ihm kreuzen sich bisweilen widersprechende, manchmal sorgfältig voneinander isolierte Denkstile (vgl. einen Physiker, der religiös ist), sie übertragen manchmal Elemente von einem zum anderen Stil, sie geraten aneinander, unterliegen der Modifikation, assimilieren sich. Die äußeren Einflüsse werden zu einem der Faktoren, die jenes schöpferische Chaos schillernder, sehr verwandelbarer Möglichkeiten ergeben, aus dem später durch die stilisierende Wanderung innerhalb des Kollektivs eine neue Gestalt, eine neue ‚Entdeckung‘ entsteht. (Fleck 1983 [1936]: 114)

Aus welchem „schöpferische[n] Chaos“ an Einflüssen und Modifikationen heraus ist die Kamera-Ethnographie entstanden? Als Forscherin mit mehrfacher Kollektivzugehörigkeit blicke ich im Folgenden auf Vorgeschichten und Etappen der Entwicklung der Kamera-Ethnographie zurück und beschreibe anhand von sechs Differenzerfahrungen das Zusammenwirken von autobiographischen Entscheidungen und einer langjährigen Einbindung in wechselnde Forschungskollektive und ihre Denkstile.2 Im Sinne „gegenseitiger Einflüsse dieser Kollektive aufeinander“ wird dabei die konkrete Gestalt und Ausrichtung der Kamera-Ethnographie nachvollziehbar.

1 – Agitprop und going native als Differenzverlust

Dokumentarisches Filmmaterial begegnete mir – als Oberstufenschülerin – zu Beginn der 1970er Jahre in einem politischen Zusammenhang, als ein Freund der Familie mich nach London zur Filmgruppe Cinema Action einlud. Am 16mm-Schneidetisch nahm ich Einblick in eine mir fremde Welt der britischen Arbeiterbewegung und lernte durch working class films andere Stimmen, Lieder und Parolen kennen, Gesichter, Aktionsformen, politische Standpunkte und ein Englisch abseits schulischer Lehrbücher: The Miners. Fighting the Bill! Shiftwork and overtime. Es waren Dokumentarfilme, die mich mit anderen Realitäten in Kontakt brachten.

Dieses Filmschaffen zielte nicht auf die Untersuchung von Lebenswelten oder Alltagskulturen, sondern auf strategisch-propagandistische Dokumente, den (historisch) richtigen Standpunkt der filmischen Darstellung als Beitrag zur gesellschaftlichen Veränderung – es ging um Kampagnenfilme. Das Medium Film sollte denen, die nicht an der Macht sind, zur Verfügung stehen und ihren Stimmen Gehör verschaffen. 1974 gründeten wir das Filmkollektiv Arbeit Und Film (AUF).3 Filme der Arbeitenden sollten dabei herauskommen, nicht ‚Autorenfilme‘: „Ein Film der IGM-Vertrauensleute der VFW-Fokker, Speyer. Unter Mitarbeit von Arbeit Und Film“ heißt es im Abspann des 1977 fertiggestellten Dokumentarfilms Wachsam Tag und Nacht, aus dem Kampf der VFW-Belegschaft um ihre Arbeitsplätze. Ohne von der Visuellen Anthropologie gehört zu haben, die zeitgleich den wissenschaftlichen Kommentar verabschiedete und durch die Stimmen der Beforschten ersetzte, experimentierten auch wir mit filmischen Formen der Partizipation. Doch die dogmatische Suche nach dem historischen Subjekt erschwerte das wahrnehmende Beobachten, blockierte einen neugierigen Blick auf den bundesdeutschen Arbeitsalltag dieser Zeit und förderte stattdessen die Bereitschaft zum Ausschluss Andersdenkender. Sprung in die Gegenwart:

Auch das ethnographische Forschen lässt sich politisch rahmen, mit kritischem Denken verknüpfen und ist dabei sicherlich nicht immer frei von Dogmatik. Doch hat Ethnographie in vieler Hinsicht mit einer Umkehrung der Ideale, Haltungen und Praktiken zu tun, die in einem Agitpropkontext gepflegt werden: Nicht felsenfeste Positionen, sondern eine Fragilität von Wissen und Nichtwissen ist im Rahmen ethnographischer Forschung richtungsweisend. Dies impliziert einen irritierbaren und eher weichen statt harten Gestus. Anstelle von Linientreue tritt Neugier auf Differenzen zwischen dem eigenen und dem anderen, sowie die Bereitschaft, dies ein- statt auszuschließen.

Im Anschluss an die Agitpropaktivitäten – nach dem Abitur – nahm ich mir ideologische Zurückhaltung vor und begab mich dorthin, wo die ‚historischen Subjekte‘ morgens um 7:00 Uhr hingehen: zur Arbeit. Frauen eroberten damalige Männerberufe, dies lag im Trend der Nach-1968er-Jahre, in denen das Streben nach Emanzipation mit dem Infragestellen der Grenzziehungen zwischen Geschlechtern und Generationen einherging. Ich erlernte den Beruf der Feinmechanikerin und verbrachte sieben Jahre in der Metallindustrie. Allerdings liegt die Gefahr eines going native auch im Verlust an Differenz. Bei dem Versuch, zu jener Welt zu gehören, die Gegenstand unserer Filme gewesen war, schwanden gleichermaßen beobachtende Distanz zur industriellen Arbeitswelt und Nähe zur eigenen bildungsbürgerlichen Herkunft, beides mit dem Potential einer Destabilisierung von Selbst- und Fremdwahrnehmungen. Auf eine eigenständige Positionierung im Miteinander zu achten und Differenz in der Begegnung wertzuschätzen ist eine Lehre daraus, die meinen folgenden Werdegang als Ethnographin geprägt hat. Agitpropstrategien hinter sich zu lassen und stattdessen ein wahrnehmendes Beobachten zu praktizieren, bilden eine stabile Grundlage für die heute erkennbare durchaus politische Zielsetzung der Kamera-Ethnographie, durch eine filmisch zeigende ethnographische Forschung zum Wissen um Vielfalt und Diversität in gestaltbaren Möglichkeitsräumen beizutragen.

2 – Umherziehen als Differenzerfahrung

In den 1980er bis 1990er Jahren stand mit der Writing-Culture Debatte (vgl. Marcus/Cushman 1982; Clifford/Marcus 1986; Geertz 1990 u. a.) eine Krise der ethnographischen Repräsentation auf der Tagesordnung universitärer Kolloquien. So auch am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie in Frankfurt a.M. (Ina-Maria Greverus), meinem Studienort und neuem Umfeld. Zeitgleich entstanden in der soziologischen Wissenschaftsforschung eine Reihe von Laborstudien, bei denen naturwissenschaftlicher Forschungsalltag ethnographisch untersucht wurde (vgl. Latour 1979; Latour/Woolgar 1979; Knorr Cetina 1984; 1988; Lynch 1985; Amann/Knorr Cetina 1988; Lynch/Woolgar 1990 u.a.). Kulturanthropologische Repräsentationskritik und wissenschaftssoziologische Reflexivitätsdebatte haben zu neuen Anforderungen an das ethnographische Forschen geführt; die Reflexion der eigenen Zugehörigkeit und Perspektive sowie eine besondere Behutsamkeit im Umgang mit dem othering gehören dazu.

Othering bezeichnet die Einsicht, dass die Anderen nicht einfach gegeben sind, auch niemals einfach gefunden oder angetroffen werden – sie werden gemacht. (Fabian 1993: 337)

Zufälle mögen erscheinen, als seien sie Teil eines Drehbuches: Durch einen Umzug bedingt kam ich Anfang der 1990er Jahre mit der ethnographisch orientierten Wissenschaftssoziologie an der Universität Bielefeld in Kontakt und wurde Teil des dortigen kultursoziologischen Kolloquiums, auch Laborstudienkreis genannt.4 Mein daraufhin an zwei Disziplinen und Studienorten ausgerichtetes Doppelstudium sorgte für weitere Differenzerfahrung: In Kulturanthropologie und Soziologie glichen sich weder der Ethnographie- noch der Laborbegriff und auch nicht die bevorzugten Forschungspraktiken. Sammeln und bloßes Beschreiben5 hinter sich zu lassen und stattdessen eine Wende zur interpretativen Forschung und zum Dialog zu vollziehen, war im kulturanthropologischen Kontext das aktuelle Anliegen und ein Grund dafür, den Begriff ‚Ethnographie‘ (damals) nicht allzu hochhalten zu wollen. Im Gegensatz dazu boomte in der Soziologie ein Ethnographiebegriff mit avantgardistischer Konnotation. Infolge der ethnographischen Studien in Physik- und Biologielaboratorien, die in den 1980er und 1990er Jahren auf internationale Anerkennung stießen, wurden in der Soziologie Laboratorien als zentrale Orte der Produktion wissenschaftlichen Wissens entdeckt. Mal mehr und mal weniger verknüpft mit den Errungenschaften und Anregungen aus den Jahren der Repräsentationskritik waren Beobachtungen und Aufzeichnungen in der Soziologie die angesagten ethnographischen ‚Datenerhebungsstrategien‘ – wie sie es nannten und nennen. Im Unterschied dazu stand und steht in kulturanthropologischen und ethnologischen Zusammenhängen das Beobachten latent unter Verdacht, zu distanziert, zu wenig partizipativ und zu mächtig zu sein. Ethnographische Interviews, Erfahrungsberichte der Ethnograph:innen und ein partizipatives Forschen und Filmemachen genießen dort weitaus größere Sympathien.

Mittlerweile liegt die Gründung von Forschungslaboratorien auch in der Sozial- und Kulturanthropologie im Trend; doch damals war der Laborbegriff tabuisiert, vorrangig mit Versuchen an Mensch und Tier assoziiert, und so wurde mein Vorhaben, als Studentin des eigenen Faches ausgerechnet den Forschungsalltag in einem Biologielabor ethnographisch beobachten zu wollen, mit Befremden aufgenommen. Dass Begriffe hier und jetzt etwas anderes bedeuten mögen als dort und dann, dies kann anhand der Sprachspieltheorie Wittgensteins sinnvoll bearbeitet und auch im Rahmen der Kamera-Ethnographie mit Erkenntnisgewinn weiter ausgebaut werden, wie in diesem Buch gezeigt werden wird.

3 – Blickdifferenz als Grund des dichten Zeigens

Raffinierter hätte ein Krisenexperiment6 zum Sichtbarmachen der Voraussetzungen von ‚Sehen‘ kaum ausgeheckt werden können: Klaus Amann (Wissenschaftssoziologe)7 lädt mich – als eine Studentin mit Dokumentarfilmerfahrung und Interesse an Visueller Anthropologie – Anfang der 1990er Jahre zu einem Gastaufenthalt in sein langjähriges Forschungsfeld ein, ein molekularbiologisches Labor. Einer Idee von Karin Knorr Cetina folgend starteten wir ein reflexives Methodenexperiment zur ethnographischen Visualisierung (vgl. Mohn 1993; Mohn/Amann 1998). Eine Studentin der Kulturanthropologie gewinnt ihre initialen Erfahrungen im ethnographischen Forschen ausgerechnet in einem wissenschaftssoziologischen Feld. Auch dies birgt für die Entwicklung der Kamera-Ethnographie grundlegende Erfahrungen und Einsichten in sich.

Mit einer Kamera im molekularbiologischen Labor ethnographisch forschen zu wollen ist eine besondere Herausforderung: Materialien, Substanzen und Apparaturen, über die es sich geradezu stolpern lässt, verstellen die Sicht und lenken den Blick von dem ab, worum es hier geht: molekularbiologische (noch) nicht sichtbare Erkenntnisgegenstände. Wo im Sucher der Kamera schlichtweg eine Apparatur mit zwei Glasplatten erscheint, blicken Biolog:innen des Laborteams scheinbar mühelos durch ein solches Glas hindurch auf Phasen ihres Experimentes, Mausmodelle oder ein potentielles Foto im Rahmen ihrer Versuche. Anhand von Vorstellungsbildern und wissenden Gesten, Visualisierungstechniken und Betrachtungsroutinen meistern sie die Unsichtbarkeit ihrer epistemischen Dinge virtuos. Wie sie dies tun, wird schließlich zur Forschungsfrage meiner damaligen Kamerabeobachtungen – doch erst nach einschlägigen Irrungen und Wirrungen. Zunächst erwies sich die Kamera als ein Instrument der Oberflächen, das nichts als flache Bilder liefert.

Bilder 2 und 3: Vorstellungssehen. Videostandbilder: Bina E. Mohn (1993), in: Sehstörung, Mohn/Amann, unveröffentlichter Film 1993

Ohne Zugang zum Wissen des Feldes fühlt sich die angehende Ethnographin wie blind unter Sehenden und erlebt eine Sehstörung.8 Beim Versuch, sukzessive etwas davon zu verstehen, gerät die filmende Ethnographin auf die Fährte des Verfolgens technischer Abläufe – eine Sackgasse, denn hierzu bedarf es keiner Ethnograph:innen.

Nach Geertz (vgl. 1983: 21) ist Kultur ein Kontext oder Rahmen, in dem gesellschaftliche Ereignisse, Verhaltensweisen, Institutionen oder Prozesse dicht beschreibbar sind.9 Er sieht das größte Hindernis auf dem Weg einer verstehenden Annäherung in der Fremde in einem Mangel an Vertrautheit mit der Vorstellungswelt, innerhalb derer die Handlungen der Teilnehmenden Zeichen sind (vgl. ebd.: 19f.). Für den späteren Entwurf der Kamera-Ethnographie ist diese Erkenntnis grundlegend und darüber hinaus die Einsicht, dass ein dichtes Zeigen (anstelle von dichter Beschreibung) nur über einen Kameragebrauch gelingt, der sich an Blickdifferenz orientiert und den Glauben an eine Unmittelbarkeit des Sehen- und Dokumentierenkönnens ad acta legt. Dichtes Zeigen hat damit zu tun, eingespielte Blicke vor, aber auch hinter der Kamera in ihrer jeweiligen Eingebundenheit und Professionalität zu begreifen, während sie aneinander sichtbar werden.10

In einem reflexiven Prozess, vom exotisierenden othering der untersuchten Laborforschungskultur (die so ganz und gar anders zu sein schien, als die eigene) bis hin zur Befremdung der eigenen (die daraufhin der anderen ‚Kultur‘ durchaus ähnelte), gelang es schließlich, von Momenten der Irritation auf eigene Normalitätsannahmen beim Forschen zu schließen und diese zu hinterfragen. Das Aufspüren von Analogien und Differenzen zwischen medienethnographischen und laborwissenschaftlichen Praktiken legt es nahe, auch das ethnographische Forschen als eine Arbeit am Sichtbarmachen und Sehenlernen zu rahmen, die in das zu Beobachtende eingreift und ohne die es bei flachen Beschreibungen bzw. Verbildlichungen bleiben würde. Kamera-Ethnographie, damals noch ohne diese Bezeichnung, ist aus dieser Einsicht hervorgegangen.

4 – Gegen den dekonstruktivistischen Trend

Ein weiteres Kollektiv mit Differenzpotential bot sich mir im Zusammenhang eines Promotionsstipendiums des interdisziplinären Graduiertenkollegs Authentizität als Darstellungsform (Universität Hildesheim).11 Als Disziplinen waren Film- und Theaterwissenschaften, Philosophie, Literatur-, Sozial- und Kulturwissenschaften vertreten, jede davon mit eigenen Problemen und Perspektiven, Begriffen, Stilen und Methoden, doch alle damit befasst, Authentizitätseffekte als hervorgerufen bzw. hergestellt zu dekonstruieren.12

Was in einem filmwissenschaftlichen Kontext gerade en vogue ist, kann zur selben Zeit im Kontext ethnographischer Forschung problematisch sein, und umgekehrt. Neben allem Bemühen um Reflexivität und Dekonstruktion sind sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungszusammenhänge auf feldbezogene Erfahrungs- und Wissensprozesse existentiell angewiesen. Nur: Wie kann es gelingen, über einen Gegenstand etwas zu erfahren und dennoch reflexiv zu sein, interpretativ zu forschen und doch zu dokumentieren, an einer konstruktivistischen Methodentheorie zu arbeiten und sich phänomenologische Irritationen zu erhoffen?

Beim Ringen um Antworten haben Geesche Wartemann (Theater der Erfahrung), Christian Strub (Philosophie) und ich (Ethnographie mit der Kamera) über zwei Jahre hinweg als ein ‚Denk-Trio‘ innerhalb dieses Graduiertenkollegs über Authentizitätskonzepte und ihre Effekte nachgedacht. Zusammen mit meiner fortgesetzten Teilnahme am kultursoziologischen Laborstudienkreis (Universität Bielefeld), dem persönlichen Austausch mit Klaus Amann und Stefan Hirschauer sowie regelmäßigen Gesprächen mit Stephan Wolff (Universität Hildesheim), als Betreuer meiner entstehenden Dissertation, hat dies dazu beigetragen, eine Studie gegen den dekonstruktivistischen Trend durchzuführen: Anstelle weiterer Nachweise der Omnipräsenz des Interpretativen beim ethnographischen Forschen wurden Spielarten des Dokumentierens nach der Repräsentationskrise13 mein Forschungsthema. Ergebnis dieser Studie ist eine reflexive Pragmatik audiovisuellen Forschens nach der Writing Culture Debatte (vgl. Mohn 2002), die das Konzept einer situierten Methodologie anbahnt, der beobachtungstheoretischen Grundlage der Kamera-Ethnographie.

5 – Teststrecke

Mehr als ein Kollektiv sind daran beteiligt, das Label Kamera-Ethnographie praktisch zu erproben. In diversen Forschungs- und Anwendungsfeldern entstanden im Zeitraum von 2006 bis 2016 eine Reihe an kamera-ethnographischen (Auftrags-)Studien.14 In kleinen Teams wurden zeitlich begrenzte Forschungsprozesse oft im Eiltempo vollzogen. Bei knapp kalkulierten Aufträgen lauert stets die Gefahr, das Potential einer hervorbringenden Methodologie nicht voll entfalten zu können, denn dies erfordert mehrfache Wechsel zwischen Feld- und Laborphasen und zudem Projektzusammenhänge, in denen über einen längeren Zeitraum hinweg gemeinsam Forschungsfragen aufgeworfen und bearbeitet werden. Das 2002 noch in Form von fünf Phasen publizierte Orientierungsmodell kamera-ethnographischen Forschens wird in diesen Jahren um eine Phase sechs erweitert, da Anwendungsphasen spezifische Herausforderungen an das Forschungshandeln stellen.15

Einige DVD-Produktionen aus diesen Jahren haben dem noch jungen Forschungsansatz den Ruf verschafft, für wissenschaftliche Präsentationen, Lehrveranstaltungen und pädagogische Fortbildungen gut einsetzbare kurze Filme mit einer besonderen Sensibilität für nichtsprachliche Praktiken zu liefern. Parallel dazu boten sich mir immer wieder Gelegenheiten, das Profil der Kamera-Ethnographie sukzessive weiter auszuarbeiten und in Form von Einzelbeiträgen im Rahmen von Herausgeberbänden unterschiedlicher Disziplinen zu publizieren.16 Mittlerweile nimmt die Kamera-Ethnographie einen Platz im Methodenspektrum ein und ist in aktuellen Handbüchern, wie dem Handbuch Filmsoziologie (Geimer et al. 2021) und dem Handbuch soziologische Ethnographie (Poferl/Schröer 2022) vertreten.

Dass sich die Kamera-Ethnographie (vgl. Mohn 2021; 2022) als eigenständiger Ansatz über die Jahre hinweg weiterentwickelt, hängt nicht zuletzt von konkreten Personen und Netzwerken ab, die im Sinne von Denkkollektiven zusammenhalten und dabei ihre Vorlieben und Stile teilen, indem sie beispielsweise auf Geertz, Fleck und Wittgenstein, Maturana, Rheinberger oder Barad Bezug nehmen. Denkkollektive können die Form informeller Kreise annehmen, Schneeballsysteme entfachen, sich über weitgespannte Netze hinweg als verwandt empfinden; sie können Formen langjähriger Zusammenarbeit und Freundschaft zustande bringen und sind in der Lage, sich wie von Urkräften getrieben wellenförmig fortzusetzen, sich zu überlappen, zu verwirbeln und doch zu erhalten – scheinbar ohne Bemühen oder größeren Aufwand. Ohne derartige Verbindungen und Strömungen ist Methodologie-Entwicklung nicht vorstellbar.

6 – Update und Upgrade

Seit 2016 bietet das Forschungsprojekt Frühe Kindheit und Smartphone (Jutta Wiesemann) des Sonderforschungsbereiches Medien der Kooperation (Universität Siegen)17 der Kamera-Ethnographie eine institutionelle Basis mit Passungen, Herausforderungen und Reibungsflächen. Gemessen an den zurückliegenden Erfahrungen mit der Nichtsichtbarkeit epistemischer Dinge in einem molekularbiologischen Labor ergeben sich in diesem Forschungszusammenhang Déjà-vu-Effekte: Der direkten Wahrnehmung entzogen durchdringen digitale Medientechnologien sämtliche Lebens- und Arbeitsbereiche. Nichtsichtbarkeit ist dabei nicht allein eine Frage der Größendimension und Verkettung physikalischer Teilchen, sie ist auch eine der Rechenoperationen und Verknüpfungen im Rahmen digitaler Technologie. Eine Unterscheidung in mediale Repräsentation und Original wird zunehmend substanzlos, im Biologielabor wie auch im Rahmen digitaler Kindheiten, in denen sich die „digitalen Subjekte“ (Reckwitz 2017: 244) der Datengesellschaft herausbilden und anderen gegenüber zu zeigen lernen. Insbesondere sind es Bilder und Filme, manchmal auch Töne, an denen sich das Da- oder Nicht-da-Sein von jemandem oder etwas festmachen lassen.

Digitale Kindheiten, mit ihren Tendenzen zum Zeigen (zeigen, gezeigt werden, etwas zu zeigen haben), lassen sich mit den Mitteln einer zeigenden Ethnographie angemessen untersuchen, gerade auch im Hinblick auf die Materialität und Körperlichkeit von Praktiken in der frühen Kindheit, so die Strategie des von Wiesemann geleiteten Forschungsprojektes. Seit 2016 erproben Pip Hare, Astrid Vogelpohl und ich in diesem Rahmen eine kollaborative Kamera-Ethnographie. Das Zusammentragen und Anordnen filmischer Beobachtungsfragmente mehrerer Autor:innen fördert die Entwicklung neuer Kooperationsweisen, Forschungs- und Präsentationsformate. Auf diese Weise hat die Orientierung der Kamera-Ethnographie an einem arrangierenden Forschungsstil nach Wittgenstein entscheidend an Fahrt aufnehmen können.

Alle Daten und Medien sind kooperativ erarbeitete Kooperationsbedingungen und ihre Praktiken und Techniken entstehen aus der wechselseitigen Verfertigung und Bereitstellung gemeinsamer Ziele, Mittel und Abläufe. (Forschungsprogramm des SFBs Medien der Kooperation)18

Der sozialtheoretisch verstandene Medienbegriff dieses SFBs wird in seinen Teilprojekten auf unterschiedliche Lebens- und Arbeitswelten bezogen. Medien- und Datenpraktiken im Hier und Jetzt ihrer praktischen Durchführung zu verorten ist ein geeigneter Ausgangspunkt für Datenkritik, alternative Positionierungen und auch für ein besseres Verständnis der medialen Aspekte ethnographischen Forschens. Der Datenbegriff wird dabei nicht objektivistisch verstanden.

Ob als Verspätungsminuten im öffentlichen Nahverkehr, Familienfotos auf dem Smartphone, Patient:innendaten oder Social-Media-Likes – Daten müssen selbst als fortwährend hervorgebracht und als Kooperationsbedingungen verstanden werden. (Ebd.)

Doch was bedeutet es konkret für die eigene (reflexive) Forschungspraxis, dass ‚Daten‘ nur in situ und in actu zu Daten (von und für etwas) werden? In der Ethnomethodologie, an der sich dieser SFB weitgehend orientiert, wird unter ‚Reflexivität‘ strikt die Reflexivität der Alltagspraxis verstanden, was den Forschungsalltag nicht ausschließt. Die kamera-ethnographische Programmatik macht es in diesem Zusammenhang jedoch aus, die Situierung der eigenen Forschungspraktiken nicht allein von der Situierung der im Feld untersuchten Praktiken zu unterscheiden, sondern darüber hinaus das Zusammentreffen von beidem als konstitutiv für den Forschungsprozess und seine Ergebnisse anzunehmen. Mitunter sind es hartnäckige Konventionen, die eine repräsentationskritisch angelegte Beobachtungspraxis erschweren, etwa ein als Aufzeichnung konzipiertes Videographieren oder ein als Übereinstimmung gerahmtes Verständnis von partizipativer Forschung.

Dem setzt die Kamera-Ethnographie Begriffe entgegen, in denen die Positionierung der Forschenden zum Ausdruck kommt, wie ,Blickschneise‘, ,Beobachtungsschnittstelle‘, ,Blickdifferenz‘ und ,Blicklabor‘. Im Gegenzug werden Ausdrücke wie ,Daten erheben‘, ,Situationen aufnehmen‘ oder ,Ereignisse videographieren‘ in die Mottenkiste verfrachtet. Die zentrale Rolle einer Arbeit am Blick und der Reflexion von Blicken als Blicken in der Kamera-Ethnographie bedeutet eine Rezentrierung menschlicher Akteur:innen in einer digitalisierten Welt, deren Charakteristikum gerade deren Dezentrierung ist. Auch dies stellt eine Herausforderung aktueller Methodologieentwicklung (nicht nur der Kamera-Ethnographie) dar. Es ist spannend, an dieser Stelle Karen Barad ins Spiel zu bringen:

Menschen setzen nicht bloß verschiedene Apparate zusammen, um bestimmte Erkenntnisprojekte zu erfüllen; sie sind selbst ein Teil der fortlaufenden Rekonfiguration der Welt. [...] Menschliche Subjekte haben eine Rolle zu spielen, und zwar eine konstitutive Rolle, aber wir müssen uns über die Eigenart dieser Rolle im Klaren sein. (Barad 2018 [2012]: 75f. und 77)

Ausblick auf das vorliegende Buch

Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Im Teil 1,Epistemischen Dingen Gestalt geben, geht es um den besonderen Zusammenhang von Beobachtung und Bildgebung beim kamera-ethnographischen Forschen und konkret um die Frage, welchen Beitrag ein filmisches Verfahren zur Hervorbringung epistemischer Dinge leisten kann. Die Kapitelüberschriften Blickschneisen und Schnittstellen deuten es an: Es handelt sich beim Filmen und beim Schneiden um eingreifende Praktiken, in denen das Beobachtete nicht unabhängig von den Praktiken und Medien des Beobachtens konstituiert wird.

Aus einem zunächst ungefähren Orten und noch unbestimmten bildhaften Hervorheben potentieller epistemischer Dinge beim Filmen wird am Schnittplatz die Frage, in welchen zeitlichen Einheiten etwas ‚als etwas‘ sichtbar wird. Bei den Versuchen, eine Konstellation als Konstellation, eine Geste als Geste, eine Praktik als Praktik oder eine Choreographie als Choreographie durch Schnitt zu materialisieren und dabei zu unterscheiden und zu identifizieren, spielen kurze Formate wie der Minutenfilm und das Standbild eine besondere Rolle. In Analogie zu Praktiken im Labor wird das Zerlegen audiovisueller Beobachtungsmaterialien in sinnvolle Einheiten als ein ‚Präparieren‘ im Rahmen experimenteller Prozesse beschrieben. Dabei gehen Spurenräume in Datenräume über.

Unter dem Titel Exploratives Zusammenstellen wird im Teil 2 des Buches das Potential eines arrangierenden statt ableitenden Forschens ausgelotet. Die beiden Kapitel Verknüpfungen und Forschende Rezeption befassen sich mit dem Zusammenhang von Arrangement und Betrachtung: Forschungswissen entfalten sich nicht allein in oder an, sondern insbesondere zwischen den (in diesem Fall audiovisuellen) Materialien, wenn sie nacheinander (als Film) oder nebeneinander (als Installation) entsprechend angeordnet werden. Ein arrangierendes Forschen setzt die beim beobachtenden Filmen und präparierenden Schneiden eingeleiteten Prozesse der Hervorbringung von Erkenntnisgegenständen fort und baut darauf auf. Die Idee einer Übertragung des Ansatzes der übersichtlichen Darstellung/grammatischen Betrachtung (Wittgenstein) auf audiovisuelle Fragmente und ihre Verknüpfung in offenen Netzen wird an einem Beispiel von Farocki und Ehmann sowie an zwei eigenen Versuchen im Detail untersucht und durchgespielt und schließlich als Vorhaben einer zeigenden Grammatik skizziert, in der es keineswegs um Überschau oder endgültige Ordnungen geht, sondern um ein Zusammensehen, Unterscheiden, Prüfen und Verknüpfen im Rahmen experimenteller Denkwege und Versuche.

Betrachtende kamera-ethnographischer Arrangements nehmen an der situierten Verfertigung der Ergebnisse teil, in dem sie Gezeigtes in Gesehenes übersetzen. Rezeption wird daher zu einem unverzichtbaren Teil des Forschungsprozesses. Als kommunikatives Format der Kamera-Ethnographie eignen sich öffentliche Blicklaboratorien für das Zusammenführen von ethnographischen Forschungspositionen und gesellschaftlichen Diskursen. Wenn dies gelingt, mündet individuelle Rezeption in kollektiver Debatte. Dabei lassen sich die Perspektiven kamera-ethnographischer Produktionen zusammen mit alternativen Sichtweisen kritisch debattieren.

Teil 3,Reflexive Pragmatik, führt anhand der Kapitel Die vier Spielarten des Dokumentierens und Situierte Methodologie noch einmal zusammenfassend in die beobachtungstheoretische Grundlage der Kamera-Ethnographie ein. Im Rahmen einer methodologischen Supervision werden konkurrierende Ideologien des Dokumentierens neu betrachtet und als genau vier Wissenstypen reformuliert, die sich als komplementär statt exklusiv erweisen: Alltagswissen, (noch) Nichtwissen, reflexives Wissen und Prozesswissen (vgl. Mohn 2002). Aus der Streitfrage, wie denn mit Dokumentation und Interpretation den vorangegangenen epistemologischen Debatten entsprechend umgegangen werden kann, wird eine pragmatische Frage: Wann üben welche Spielarten des Dokumentierens im Forschungsprozess einen produktiven Effekt aus und wann wiederum nicht?

Die in diesem Zusammenhang entwickelte Konzeption einer situierten Methodologie des Forschens liefert ein Orientierungsmodell zur reflektierten Gestaltung der Spannung und Dynamik von Prozessen, die sich zwischen Wissen und Nichtwissen abspielen. Methodologische Strategien und epistemische Praktiken sind von Forschungsphase zu Forschungsphase unterschiedlich situiert und daher nicht dieselben. Diese im Forschungsprozess und dessen Situationen situierten Praktiken der Ethnograph:innen sind grundlegend daran beteiligt, die in den beforschten Feldern situierten Praktiken überhaupt bemerken, beobachten und als Praktiken sichtbar machen zu können. An Schnittstellen von Feld und Forschung sowie von Forschungsergebnis und Rezeption wirken somit divers situierte Praktiken produktiv zusammen. Dies begründet eine hervorbringende statt an Repräsentation und Rekonstruktion orientierte Forschung: eine reflexive Ethnographie.

Im Ausblick des Buches greife ich die Metapher der ‚methodologischen Marktlücke‘ noch einmal auf und diskutiere sie im Hinblick auf das kamera-ethnographische Angebot, so wie es sich als Forschungshaltung und Beitrag zu einer medien- und methodenreflexiven Ethnographie verstehen lässt.

1Birgit Griesecke hat als Wissenschaftsforscherin und Phänomenologin seit Ende der 1990er Jahre die methodologischen Aspekte im Werk Wittgensteins systematisch erforscht, ihre Anwendung in ethnologischen, japanologischen und literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen erprobt und der interdisziplinären Forschung zugänglich gemacht. Sie gehört zum Netzwerk der Personen, die die Entwicklung der Kamera-Ethnographie seit vielen Jahren begleiten und inspirieren.

2Im Rahmen seines Textes Das Problem einer Theorie des Erkennens (1983 [1936]: 84f.) entwirft Fleck eine Theorie der Denkstile.

3Arbeit Und Film (1974-1984) wurde von Gernot Steinweg, Enzio Edschmid, Petra Vasile und mir mit dem Ziel gegründet, das Medium Film im Rahmen von Kampagnenfilmen und gewerkschaftlicher Bildungsarbeit für den Erfahrungsaustausch von Arbeitenden und Angestellten zu nutzen.

4Der Bielefelder Laborstudienkreis wurde von Karin Knorr Cetina, später von Stefan Hirschauer und Klaus Amann geleitet und bestand im Zeitraum von 1986 bis 2000. Dieser Kreis kann als ein ‚Denkkollektiv‘ bezeichnet werden, das über diesen Ort und jene Zeit hinaus einen Zusammenhang gebildet hat und bis heute bildet.

5Wittgenstein (und auch Husserl) bezeichnen in einem entgegengesetzten Sinn mit ‚nur beschreiben‘ eine differenzierte phänomenologische Methode.

6Krisenexperimente gehören zum Repertoire ethnomethodologischer Soziologie (vgl. Garfinkel 1967). Mit ihrer Hilfe lassen sich die Sinnkonstruktionen sozialen Handelns, die sich in der Durchführung routinierter Praktiken als unreflektierte Selbstverständlichkeiten verbergen, sichtbar machen.

7Klaus Amann ist als Wissenschaftssoziologe an den ethnographischen Labor-studien jener Zeit und auch an der Entwicklung der Kamera-Ethnographie beteiligt. Zusammen mit Stefan Hirschauer ist er Autor der soziologischen Ethnographieprogrammatik Die Befremdung der eigenen Kultur (1997).

8Sehstörung (Mohn/Amann 1993) lautet der Titel des analog geschnittenen unveröffentlichten Films, der neben der Magisterarbeit (vgl. Mohn 1993) aus dem Gastforschungsaufenthalt im Labor entstanden ist und im Laborteam sowie in weiteren Teams aus Kulturanthropologie, Soziologie und Filmwissenschaften vorgeführt und diskutiert wurde (vgl. Mohn 2008).

9„Ist nämlich Ethnologie dichte Beschreibung und Ethnograph derjenige, der solche Beschreibungen gibt, dann lautet in jedem einzelnen Fall [...] die entscheidende Frage, ob Zwinkern von Zucken und wirkliches Zwinkern von parodiertem Zwinkern unterschieden wird. Wir haben die Triftigkeit unserer Erklärung nicht nach der Anzahl uninterpretierter Daten und radikal verdünnter Beschreibungen zu beurteilen, sondern danach, inwieweit ihre wissenschaftliche Imagination uns mit dem Leben von Fremden in Berührung zu bringen vermag. Es lohnt sich nicht, wie Thoreau sagt, um die ganze Welt zu reisen, bloß um die Katzen auf Sansibar zu zählen.“ (Geertz 1983: 24)

10Goodwin (1994) untersucht die Eingebundenheit von Sehen unter dem Titel „Professional Vision“.

11Es handet sich um das DFG-geförderte Graduiertenkolleg Authentizität als Darstellungsform (Universität Hildesheim, 1995-2001, Leitung: Jan Berg).

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