Kampf der Supermächte - Elmar Theveßen - E-Book
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Elmar Theveßen

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Beschreibung

Joe Biden richtet die USA auf einen großen Konflikt mit China aus, es geht um nicht weniger als um die Vorherrschaft in der Welt. Das Buch analysiert die Felder, die entscheidend sind für diesen Wettlauf der Weltmächte, der nach der Ukraine-Krise in einen weiteren, viel schlimmeren Krieg ausarten kann. Mit welchen Maßnahmen wollen die USA am Ende die Nase vorn haben bei Wirtschaft und Technologie, in Kultur und Bildung, im Militär? Bleibt die NATO so geschlossen wie im Konflikt mit Russland? Entscheiden sich die Europäer auch im Ringen mit China gegen Autoritarismus und für Demokratie?

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Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Vorbemerkung zur Taschenbuchausgabe

Prolog Amerikas bester Feind

Die Lehre aus Putins Krieg

Mit überraschender Klarheit

Wahrnehmung und Wirklichkeit

Quellen und Perspektiven

1 Amerikas Angst: Warum China das große Feindbild ist

Die rechten Stimmungsmacher

Abneigung in der Bevölkerung

Bedrohung für die Weltordnung

Hang zum Autoritarismus

Amerika am Scheideweg

Erosion der Werte

China kauft ein

Ablenkung von Problemen

Machtverlust für Amerika

Angekratztes Selbstbewusstsein

Amerika auf Gegenkurs

Keine Medikamente ohne China

Medikamente als Waffen

Trumps gemischte Signale

Die »gelbe Gefahr«

China als Weltversöhner

Showdown in Alaska

Der chinesische Konter

Unverhohlene Drohungen

Eine ganz andere Sicht

Ehrlich währt am längsten?

2 Des Pudels Kern: Wie China die Welt täuscht

Enttäuschte Hoffnungen

Wandel durch Handel?

Ende des Honeymoons

Chinas neue Linie

Sicherung der Macht

Chinas »friedliche Entwicklung«

Nationalistische Selbstgewissheit

Ein neuer Anführer

Die totale Kontrolle

Das Leid der Uiguren

Rassismus und Totalitarismus

Xis Doppelstrategie

Das Ende der Zurückhaltung

Chinas Schweizer Messer

UN als Werkzeug

Teile und herrsche

Wettbewerbsvorteile für China

Chinas aktive Führungsrolle

3 Moment mal, ihr Amis! – eine Denkpause

Autoritarismus ist »erfolgreich«

Gefahr der Selbsttäuschung

Chinas Einflussoperationen in der Welt

Chinas ganzheitlicher Ansatz

Gebrochene Versprechen

4 Verdeckte Einflussnahme: Wie China die Amerikaner manipuliert

Nur nichts Negatives

Freiwillige Unterwürfigkeit

Die Schwarze Liste

Globale Medienkampagne

Stars für die Propaganda

Bezahlte Beilagen

Manipulation à la Konfuzius

Die Kunst des Weglassens

Nur Freunde dürfen rein

Ein Heer von Handlangern?

Bedrohung der nationalen Sicherheit

Opfer einer Hexenjagd?

Hacken für das Regime

Ein Netzwerk von Freunden

Gleichgültigkeit ist gefährlich

5 Strategie des Säuberns: Wie Amerika seine Wirtschaft entkoppelt

Aus eigener Kraft

Der Amerikanische Traum

Amerika am Abgrund

Die Wende nach Asien

Das Decoupling beginnt

Ein schärferes Schwert

Team Telecom

Kampf gegen Huawei

Deutschland steigt aus

Biden macht weiter

Trumps Scherbenhaufen

Investition in die Zukunft

Investition in Menschen

Rohstoffe aus eigener Förderung

Ein klimaneutrales Amerika

Eine neue Chance

Buy American

6 Gekaufte Freundschaften: Wie Rivalen Verbündete sammeln

Ein Kontinent im Aufbruch

Hilfe mit Nebenwirkungen

Historischer Skandal

Build Back Better World

B3W gegen BRI

Begegnung auf Augenhöhe

Afrika weiß, was es will

Ausbreitung des Autoritarismus

Schlacht um die Mobilfunknetze

Angriff auf Australien

Am Tropf Chinas

Kampf an allen Fronten

Angriffe auf Konzerne

Chinas Coronastrategie

7 Tödliche Spirale: Wie Supermächte für den großen Krieg rüsten

Gefährliche Vernetzung

Alles nur harmlos?

Jahrtausendealte Strategie

Was geschah in Wuhan?

Amerika verliert

Kann China siegen

Die größte Marine

Drohungen per Funk

Bündnis der Demokratien

Ohrfeige für Biden

Chinas Plan

Atom-U-Boote für Australien

Schwimmende Kampfbasis

Hightech aus Amerika

Blauäugiges Europa

8 Teile und herrsche: Chinas Europa-Strategie

Europas Chinafreunde

Chinas wahre Absichten

Chinas europäischer Wirtschaftsklub

Kritische Forschung unerwünscht

»Christlich« und »illiberal«

Bremsklotz in der EU

Streit in der EU

China gegen Özil

Chinesischer Einfluss in Deutschland

Chinesisch-tschechischer Filz

Chinas europäische Freundschaftsgruppen

Der lange Hebel der EU

Handel vor Wandel

Augen zu und durch

Richtungswechsel in der Industrie

9 Zeitenwende: Luftnummer oder neue Chance?

Neustart für die Bündnisse?

Geschichtsfälscher am Werk

Geplatzte Allmachtsfantasien

Xi ist verunsichert

Kritik von innen

Rote Linien aus Amerika

Der Fall Litauen

Wende mit Hindernissen

China eiert weiter

Klare Kante gegen Putin?

Wende in Berlin?

Zweifel an Deutschland

Rechtfertiger des Zauderns

Russland als Tankstelle

Deutsche Leisetreterei

Amerika zweifelt

Deutschland muss Farbe bekennen

Lieber mit als gegen China

Epilog Krieg und Frieden

Amerikas Demokratie am Abgrund

Die »Holy shit«-Momente

Kein Raum für Beschwichtigung

Neue Bündnisse

Entscheidung in Amerika

Nachbemerkung zur Taschenbuchausgabe

Danksagung

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Vorbemerkung zur Taschenbuchausgabe

Szene 1 – Ein eiskalter Wind bläst an diesem Morgen im Oktober 2023. Wir stehen mit laufendem Motor an der Einfahrt zur CLEAR Space Force Station in der Mitte von Nirgendwo im US-Bundesstaat Alaska, und noch wissen wir nicht, ob wir wirklich auf das Gelände gelassen werden. Für die zwei Amerikaner in unserem vierköpfigen Team gibt es zumindest eine mündliche Zusage, nicht aber für die zwei Deutschen, also meinen Kamerakollegen und mich. Nach etwa zwanzig Minuten Wartezeit hält ein Allradfahrzeug neben uns. Wir sollen folgen, bekommen kurz danach die Tagesausweise, verbunden mit dem Hinweis, dass wir nur das filmen dürfen, was uns ausdrücklich erlaubt wird. Denn vieles in CLEAR unterliegt strengster Geheimhaltung.

Mitten im Schnee steht eine riesige quaderförmige Anlage mit einer schräg abfallenden Seite – das Frühwarnsystem späht in Richtung China und Russland. In einem Gebäudekomplex gleich daneben schieben amerikanische Soldaten Wache – 24 Stunden im Schichtdienst. Hier an der Westflanke der NATO halten Lieutenant Elizabeth Kowal und ihre Kameraden den europäischen Verbündeten gewissermaßen den Rücken frei. Ihr Auftrag ist die Überwachung des nordwestlichsten Aufklärungsradius einschließlich aller Objekte im Weltall. Im Trainingszentrum simulieren sie den Ernstfall.

Plötzlich Alarm. Jeder weiß genau, was zu tun ist. Erste Meldung an die Vorgesetzten. Elizabeth sorgt dafür, dass die Signale nach Cheyenne Mountain gelangen, dem unterirdischen Hauptquartier der Space Force in den Rocky Mountains von Colorado. Die Daten sind verifiziert – ein Objekt gefährlich nah am amerikanischen Staatsgebiet. Ein Abgleich mit anderen Aufklärungsdaten ergibt keine unmittelbare Gefahr. Entwarnung.

»Das ist unser tägliches Geschäft hier«, sagt Major Robert Nelson, Operationschef von CLEAR, »wir halten Ausschau nach Raketenstarts aus China, Russland und von allen anderen Gegnern, die Nordamerika angreifen wollen.«

Auf dem Gelände stehen noch die Soldatenunterkünfte aus den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Damals, im Kalten Krieg, hielt man Atomkonflikte für jederzeit möglich, aber die Welt wirkte irgendwie übersichtlicher, zweigeteilt. Heute ist sie multipolar, fühlt sich viel gefährlicher an als damals. »Wir haben jetzt zwar andere Herausforderungen, weil sich die Technologie weiterentwickelt hat«, so Major Nelson, »aber die Liste der Gegner ist noch länger geworden, und wir tun unser Bestmögliches, um auf jedes Szenario vorbereitet zu sein.«

Auf das Szenario von Anfang Februar 2023 war das US-Frühwarnsystem in CLEAR offenbar nicht so recht vorbereitet. Ein riesiger Ballon drang in den amerikanischen Luftraum über Alaska ein und driftete quer über die gesamten Vereinigten Staaten. Tagelang waren die US-Aufklärungsstellen nicht sicher, ob es sich wirklich um einen Spionageballon handelte, obwohl unter dem Objekt ein Konstrukt mit zahlreichen Gerätschaften hing. Als es in die Nähe der Malmstrom-Atomwaffenbasis in Montana kam, waren US-Kampfjets kurz davor, den Ballon aus China abzuschießen. Um Menschen am Boden nicht zu gefährden, erfolgte der Abschuss aber erst dann, als der ungewöhnliche Eindringling die Atlantikküste erreicht hatte.

In den Jahren 2023/24 gab es im amerikanisch-chinesischen Verhältnis eine ganze Reihe von Zwischenfällen, die leicht hätten eskalieren können. Wenn Sie dieses Buch lesen, werden sie verstehen, warum das so ist. Seit der Erstveröffentlichung hat sich die Lage nicht entspannt, deshalb habe ich an der Originalausgabe von Kampf der Supermächte nichts verändert. Aber ich will in dieser Vorbemerkung die Ereignisse seit Herbst 2022 in einigen Szenen widerspiegeln, die erahnen lassen, wie viel bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA auch weltpolitisch auf dem Spiel steht. Ein möglicher Krieg zwischen den USA und China wird immer wahrscheinlicher.

Szene 2 – Mit der Hand wischt sich Wladimir Putin nochmal die Nase, obwohl die Welt ihn zwischen den aufschwingenden Goldtüren im Kreml schon sehen kann. Nicht gerade die feine Art für einen Gastgeber. Am anderen Ende des riesigen Saals schreitet Xi Jinping durch ebenfalls goldene Türen. Die beiden Autokraten treffen sich zu Fanfarenklängen auf halbem Weg, posieren für die Kameras zwischen zwei riesigen Fahnen Chinas und Russlands. Sie fühlen sich offenbar nicht nur als Herren der Welt, sie unterzeichnen bald danach eine gemeinsame Erklärung, die eine völlig andere Wirklichkeit abbildet als die, die im März 2023 mitten in Europa zu erleben war.

In ihrem Pamphlet heißt es: »Beide Seiten glauben, dass der Zweck und die Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen befolgt und das internationale Recht respektiert werden müssen.« Wenn Xi und Putin es wirklich ernst meinten, müssten sie also den Artikel 4 der UN-Charta wörtlich nehmen: »Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.« Stattdessen beweisen ihre Taten, dass Russland und China im Gleichschritt die Grundprinzipien der regelbasierten Ordnung untergraben und zerstören. Wladimir Putin führt weiter seinen gnadenlosen Angriffskrieg gegen die Ukraine, wird dabei politisch und wirtschaftlich von Xi Jinping unterstützt, der gleichzeitig in seiner Region mit Gewalt droht, um seine nationalistischen Interessen durchzusetzen.

Szene 3 – Es sieht wirklich so aus, als lege es China auf Eskalation an. Mit gerade mal 130 Metern Abstand schneidet Anfang Juni 2023 ein chinesisches Kriegsschiff den Kurs eines US-Zerstörers in der Straße von Taiwan. Das amerikanische Schiff muss ziemlich abrupt bremsen, um eine Kollision zu vermeiden. Mindestens genauso knapp war es eine Woche zuvor, als ein chinesischer Kampfjet unmittelbar vor einem amerikanischen Aufklärungsflugzeug vorbeizog und die Maschine dabei ins Wanken brachte. Ein halbes Jahr nach dem Zwischenfall mit dem Spionageballon herrscht Eiseskälte zwischen den Supermächten, es gibt keinen direkten Draht zwischen ihren Streitkräften. Stattdessen nur einen Krieg der Worte. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin warnt: »Wir wollen keinen Konflikt oder Konfrontation, aber wir werden nicht zurückweichen bei Schikane oder Nötigung.« Bei einer Sicherheitskonferenz in Singapur schießt der damals neue und mittlerweile verschwundene chinesische Verteidigunsminister Li Shangfu zurück: »Wenn ihr künftige Zwischenfälle vermeiden wollt, meidet die Gebiete rund um China. Kümmert euch um eure eigenen Angelegenheiten.«

Den ganzen Sommer und Herbst über setzen die chinesischen Streitkräfte ihre Provokationen fort, die leicht in einen Krieg ausarten könnten. Am 22. August 2023 blockieren Patrouillenschiffe Chinas die kleine Insel Ayungin Shoal im südchinesischen Meer, die nach internationalem Recht zu den Philippinen gehört. Die kommunistische Führung in Peking beansprucht die winzige Landmasse für sich, genau wie andere Atolle, auf denen sie völkerrechtswidrig chinesische Militärbasen bauen ließ. Seit Jahren halten philippinische Soldaten auf der Ayungin Shaol die Stellung. Die Versorgungsboote, die ihnen Lebensmittel bringen, müssen an diesem Tag die Blockade durchbrechen. Wenn die chinesischen Schiffe das Feuer eröffnet hätten, wäre die Lage im Indopazifik wohl schnell eskaliert.

Szene 4 – Nach all dem Genannten sind es die ausgestreckten Hände, die mich am 15. November 2023 am meisten beeindrucken. Ein US-Marinesoldat hat gerade die Tür der Limousine von Xi Jinping geöffnet, der chinesische Präsident steigt aus, da kommt ihm sein amerikanischer Amtskollege entgegen. Nach dem ersten Händeschütteln folgt Sekunden später ein zweites, bevor Biden und Xi in das ehrwürdige Gebäude in der Nähe von San Francisco gehen. Mit dem Gipfel am Rande der jährlichen APEC-Konferenz der Anrainerstaaten des Pazifiks taut das Eis zwischen den Supermächten zumindest ein wenig an. »Unsere Gespräche sind immer ehrlich, geradeheraus und nützlich«, sagt Präsident Biden zum Auftakt.

Tatsächlich hat er nach dem vierstündigen Treffen ein paar Erfolge zu vermelden: die Zusammenarbeit im Umgang mit Künstlicher Intelligenz und im Kampf gegen den Klimawandel und gegen den Handel mit Drogen. Außerdem die Etablierung direkter Kontakte zwischen den Streitkräften beider Länder, um zu verhindern, dass ein Zwischenfall unversehens in den Ernstfall mündet. Aber all das täuscht über den weiter voranschreitenden Verfall der chinesisch-amerikanischen Beziehungen hinweg.

Das Handelsvolumen – im Jahr 2022 noch auf Rekordniveau – ist ein Jahr später dramatisch abgestürzt. Die US-Importe aus China sind 2023 von knapp 540 Milliarden Dollar um 20 Prozent auf 427 Milliarden Dollar gesunken, sichtbares Zeichen für den Rückzug der amerikanischen Wirtschaft aus China. Die Biden-Administration hat in den Monaten zuvor auch die Ausfuhr amerikanischer Hochtechnologie massiv eingeschränkt und die Verbündeten in Europa dazu gedrängt, Gleiches zu tun.

Tage nach dem Gipfel wird bekannt, dass Xi Jinping dem US-Präsidenten klipp und klar angekündigt hat, Taiwan bald schon wieder mit China zu vereinen. Zunächst werde man es mit friedlichen Mitteln versuchen. Xi schloss die Möglichkeit eines gewaltsamen Anschlusses nicht aus. Der Disput hinter verschlossenen Türen erklärt vielleicht, warum Joe Biden seinen Gesprächspartner nach dem Treffen öffentlich einmal mehr einen »Diktator« nannte.

Das Verhältnis zwischen China und den USA in der ersten Hälfte des Jahres 2024 lässt sich mit einem Fachbegriff aus dem Boxsport umschreiben: Die beiden sind im Clinch. Boxer wenden diesen Klammergriff an, wenn sie sich bis in die kurze Pause nach einer Kampfrunde retten wollen, um danach mit neugeschöpfter Kraft wieder aufeinander loszugehen. Diese Atempause ist gewissermaßen der laufende Präsidentschaftswahlkampf in den USA. Wenn Joe Biden gewinnt, bleiben die Beziehungen wechselhaft. Wenn Donald Trump wieder ins Weiße Haus einzieht, droht eine massive Eskalation. Wie sähe die aus? Was würde das für die Europäer bedeuten? Manches davon lässt sich durch die Lektüre dieses Buchs schon beantworten, da wir durch die Chinapolitik Trumps in seiner ersten Amtszeit bereits einen Vorgeschmack bekommen haben. In der Nachbemerkung am Ende dieses Buches wage ich eine Prognose, wie der Kampf der Supermächte nach der Wahl in Amerika weitergehen könnte.

PrologAmerikas bester Feind

Die beiden Damen mit den Staubsaugern sind penibel, kein Krümel, keine Holzreste, nichts soll das strahlende Blau des Filzbelags verunzieren; alles muss perfekt sein im Innenhof des Königsschlosses in Warschau. Die fleißigen Reinigungskräfte auf dem Podium sind sogar von den Sicherheitsbehörden überprüft worden, tragen eine Akkreditierung um den Hals. »Remarks by President Biden. Warsaw, Poland, March 26, 2022« steht auf dem Kunststoffausweis, im Hintergrund sind die Fahnen der USA und Polens abgebildet. Wir Journalisten haben unsere Kameras auf der Pressetribüne aufgebaut. Die polnischen und amerikanischen Flaggen an den Mauern biegen sich unter einem eiskalten Wind – passend zu den schrecklichen Ereignissen in der Ukraine. Trotzdem, oder gerade deshalb, sind Tausende von Menschen gekommen. Seit Stunden stehen sie vor dem Schloss – dicht gedrängt rund um die Sigismundsäule, die 1944 wie fast die gesamte Stadt Warschau von den Deutschen zerstört wurde. Nun wollen die Polen ihre Solidarität mit den ukrainischen Nachbarn zeigen, die sich in diesen Tagen verzweifelt gegen den barbarischen Feldzug des russischen Potentaten Putin wehren. Die Menschen haben ukrainische Fähnchen, sie tragen Ansteckbuttons mit blau-gelben Herzen, einer schwenkt die Flagge der NATO, ein anderer hält ein Pappschild hoch – unter Putins Foto steht »Zero«, unter dem Bild von Wolodymyr Selenskyj »Hero«.

Einige Hundert Zuschauer dürfen in den Schlosshof, die anderen verfolgen draußen auf einem riesigen Bildschirm, wie Joe Biden unter Jubel an das Rednerpult tritt. Mit den Worten »Danke schön, nehmen Sie Platz« erntet der amerikanische Präsident erst mal fröhliches Lachen, denn es gibt nur Stehplätze, aber dann senkt sich gespannte Erwartung über das Ereignis. Biden redet mitfühlend und eindringlich, berührt die Menschen in ihrer Angst vor dem, was in unserer Welt gerade geschieht.

»Habt keine Angst«, es sind die Worte von Papst Johannes Paul II., die der US-Präsident zitiert. Sie standen auch am Anfang der ersten Rede des Polen Karol Wojtyła als Papst im Oktober 1978. »Im Angesicht eines grausamen und brutalen Regierungssystems«, so Biden weiter, »war dies die Botschaft, die zum Ende der sowjetischen Unterdrückung in Mittel- und Osteuropa vor 30 Jahren beitrug. Es war eine Botschaft, die auch die Grausamkeit und Brutalität dieses ungerechten Krieges überwinden wird.« Und dann bemüht Joe Biden einmal mehr das Narrativ, das er seit seinem Amtsantritt bei jeder Gelegenheit öffentlich wiederholt: »Wir befinden uns aufs Neue in einer großen Schlacht für die Freiheit, einer Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen der rechtebasierten Ordnung und der, die von roher Gewalt bestimmt wird.«

Für die Zuhörer hier, aber auch vor den Fernsehern rund um den Globus wird durch den russischen Überfall auf die Ukraine auf einmal greifbar, was Biden mit seiner These vom großen Kampf zwischen den Systemen eigentlich meint, denn bis dahin fiel es den Amerikanern, den Europäern und vielen anderen schwer, die überall sichtbaren Zeichen als Teil einer großen Umwälzung zu erkennen – weg von demokratischen Grundwerten, hin zum Autoritarismus. Von diesem erhoffen sich offenbar immer mehr Menschen die Erlösung aus den Unsicherheiten, die von den Krisen der vergangenen Jahre geschürt wurden.

Biden stellt in seiner Warschauer Rede die Verbindung her: »Jetzt stehen die Ukraine und ihr Volk in diesem ewigen Kampf für Demokratie und Freiheit an den Frontlinien, um ihre Nation zu retten. Ihr tapferer Widerstand ist Teil eines größeren Kampfes für die unverzichtbaren demokratischen Prinzipien, die alle freien Völker vereinen: die Herrschaft des Rechts, freie und faire Wahlen, die Rede- und Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Glaubensfreiheit und die Freiheit der Presse. Diese Prinzipien sind unentbehrlich in einer freien Gesellschaft.« Beifall brandet auf, und der amerikanische Präsident fährt fort: »Über die letzten 30 Jahre sind die Kräfte der Autokratie weltweit wieder erwacht. Ihre Merkmale kommen uns bekannt vor: Verachtung für die Herrschaft des Rechts, Verachtung für die demokratische Freiheit und Verachtung für die Wahrheit selbst.«

Die Lehre aus Putins Krieg

Warum erzähle ich Ihnen das in einem Buch mit dem Titel Kampf der Supermächte: Amerika und China auf Konfrontationskurs? Weil das, was in diesem Jahr geschieht, eine große und naive Selbsttäuschung der letzten Jahrzehnte entlarvt: dass wir im Umgang mit den großen autoritären Regimen dieser Welt Wandel durch Handel erreichen können.

Ja, amerikanische Präsidenten und deutsche Bundeskanzler von Schmidt über Kohl und Merkel bis zu Schröder und Scholz mögen aus guter Absicht gehandelt haben, und man mag zu dem Schluss kommen, dass es wenigstens den Versuch wert war, Russland und China durch intensive Wirtschaftsbeziehungen in die internationale Gemeinschaft einzubinden. Aber schon vor Jahren hätten wir erkennen müssen, dass die beiden staatskapitalistischen Systeme nicht reformierbar sind, solange eine Führungsriege von rücksichtslosen Autokraten den unbegrenzten Machterhalt über Wohl und vor allem Freiheit der eigenen Bevölkerung stellt. Die Erkenntnis heute ist erschütternd: Gerade durch die engen Wirtschaftsbeziehungen haben wir den Regimen in Moskau und Peking einen Freifahrtschein für ihren Machtmissbrauch, für die Unterdrückung ihrer Bevölkerung, die Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten gegeben. Aufgrund unserer Abhängigkeit mussten sie von der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft keine ernsthafte Kritik oder Gegenwehr und schon gar keine schmerzhaften Konsequenzen befürchten.

Die russischen Aggressionen in Georgien 2008, auf der Krim und in der Ostukraine 2014, die Einkerkerung und Ermordung von Oppositionellen sowie Putins Invasion im Frühjahr 2022 stehen in einer Reihe mit den Taten der Kommunistischen Partei Chinas: die gewaltsame Niederschlagung der Freiheitsbewegung in Hongkong, der kulturelle Völkermord an den Uiguren, die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten, insbesondere der Tibeter, die militärischen Drohgebärden gegen Taiwan, die Xi nach dem Besuch der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi in Taipeh im August 2022 dramatisch eskalierte, und die chinesischen Erpressungsmethoden gegenüber Regierungen, die Kritik an der Führung in Peking wagen. Gleichzeitig haben Putin und Xi Jinping mit den Einnahmen aus unseren guten Geschäftsbeziehungen ihre militärischen Fähigkeiten modernisiert und ausgebaut. Mit wirtschaftlichen und propagandistischen Mitteln haben sie alles darangesetzt, die Spaltung der Wertegemeinschaft voranzutreiben, um von der Schwächung der Demokratien in Europa und Amerika zu profitieren. Vor alldem haben wir die Augen verschlossen, weil wir Angst vor den Konsequenzen einer echten Konfrontation hatten. Das wirft bedrückende Fragen auf: Hätte es die genannten Verletzungen von Völker- und Menschenrechten – auch den Krieg in der Ukraine – nicht gegeben, wenn wir den Autoritarismus nicht aus wirtschaftlichem Eigennutz und politischer Naivität unterstützt hätten? Und wenn Putins Truppen die Ukraine tatsächlich innerhalb weniger Tage überrannt hätten, wäre China dann nicht auch bald schon in Taiwan eingefallen?

Als ich dieses Buchprojekt anging, hatte der russische Aufmarsch an den Grenzen zur Ukraine gerade begonnen. Zu diesem Zeitpunkt im Spätherbst 2021 hätte ich nicht gedacht, dass Wladimir Putin tatsächlich den Angriff auf das zweitgrößte Flächenland Europas befehlen würde. Insofern wäre Russland in meiner Beschäftigung mit der These vom unvermeidbaren Konflikt der Supermächte USA und China zwar an der einen oder anderen Stelle aufgetaucht, hätte aber keine größere Rolle gespielt.

Nun ist das aber anders, denn der Krieg im Herzen Europas ist nicht nur ein eindrucksvoller Beleg für die Bedrohung durch den Autoritarismus, er hat auch erhebliche Konsequenzen für die Beziehungen zwischen China und dem Rest der Welt. Bis dahin fühlte sich der chinesische Präsident von der Schwäche Amerikas und der westlichen Wertegemeinschaft ermutigt, die Vormachtstellung in Asien zu reklamieren und den Einfluss Amerikas rund um den Globus zu brechen. Welche Lehren zieht Xi aus den Ereignissen? Bremsen sie seine Ambitionen, oder befeuern sie sie gar? Welchen Einfluss hat das Beispiel des brutalen Kriegsverbrechers Putin auf die europäische Wahrnehmung des Regimes in Peking? Ist das Ausrufen der »Zeitenwende« durch den deutschen Bundeskanzler nur ein politisches Strohfeuer, genährt von der moralischen Entrüstung über die Grausamkeiten der russischen Streitkräfte, oder dauerhafte Abkehr von der Naivität gegenüber autoritären Machthabern?

Mit überraschender Klarheit

Am Vorabend der Rede von Joe Biden in Warschau, die – so hatten wir schon am Rande des NATO- und G-7-Gipfels in Brüssel gehört – eine große, historische Rede sein soll, sind wir Journalisten zu einem Stehempfang in unserem Hotel geladen. Dabei sollen – angeblich – auch einige »administration officials« vorbeischauen. Ehrlich gesagt, rechnen wir mit Pressesprechern des Weißen Hauses und des US-Außenministeriums, aber während wir noch untereinander plauschen, stoßen auf einmal zwei der engsten Berater des amerikanischen Präsidenten zu uns. Sie nennt man im Sprachgebrauch für mögliche Zitate aus Hintergrundgesprächen dann »senior administration officials«, weil sie zu Joe Bidens Regierungsteam gehören. Ihre Namen und genauen Funktionen dürfen wir öffentlich nicht verwenden. Sie nehmen sich Zeit, beantworten mehr als eine Stunde lang Fragen, wechseln die Gesprächsrunden, nippen zwischendurch an ihren Weingläsern.

Natürlich kreist die Diskussion sehr um die aktuelle Lage im Krieg, die Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte, die Hilfe im Umgang mit den Millionen von Flüchtlingen, mögliche Maßnahmen gegen eine drohende Nahrungsmittelkrise in Ländern, die auf Getreidelieferungen aus der Ukraine angewiesen sind, und um die gemeinsamen Sanktionen der Verbündeten, die offenbar so große Schlupflöcher haben, dass Russland zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht zahlungsunfähig ist und Wladimir Putin den Krieg mit unverminderter Brutalität weiterführt. Die meistgestellte Frage des Abends: Was für »exit ramps« gibt es? Mit dem amerikanischen Begriff für »Autobahnausfahrten« sind Vorschläge gemeint, die Putin dazu bewegen könnten, einen Ausweg aus der Krise zu suchen, am besten durch Deeskalation und Verhandlungen.

Ich bin beeindruckt von der Ehrlichkeit, mit der Bidens »Teammitglieder« antworten: Keine »exit ramp« in Sicht, alle Zeichen stehen weiter auf Eskalation. Die größte Hoffnung setzt die US-Regierung offenbar auf eine neue Idee, für die ausgerechnet Putin mit seiner menschenverachtenden Invasion den entscheidenden Impuls gegeben hat und die – wenn erfolgreich – auch in der künftigen Auseinandersetzung mit China unverzichtbar sein könnte.

Bisher hatten autoritäre Regime wie Russland und China die wirtschaftlichen Abhängigkeiten in einer globalisierten Welt genutzt, um die Regierungen anderer Länder zu nötigen und die westliche Wertegemeinschaft zu spalten. Jetzt drehten die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten den Spieß um und nutzten die wirtschaftlichen Abhängigkeiten Russlands, um den Autoritarismus in die Knie zu zwingen. »Das ist ein neues Konzept, ein unglaublich machtvolles Werkzeug, aber es erfordert absolute Geschlossenheit«, sagt mir einer der Biden-Berater auf meine Frage, ob das Vorgehen gegen Putin auch ein Modell für den künftigen Umgang mit Xi Jinping ist, falls China beispielsweise Taiwan angreifen würde. »Wir können die wirtschaftlichen Abhängigkeiten zu unserem Vorteil nutzen, und das kann im Ringen zwischen Demokratie und Autoritarismus sehr nützlich sein.« Ich will wissen, ob sich die Anführer in Europa – auch die Bundesregierung – für so ein Konzept erwärmen können, angesichts der großen Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von China. Mein Gesprächspartner antwortet verhalten optimistisch: »Deutschland und andere Verbündete scheinen der Idee gegenüber offen zu sein.«

Sein Kollege, mit dem ich ein paar Minuten später sprechen kann, geht ein Stück weiter: »Wir haben erkannt, dass wir das nutzen können, um Druck auszuüben, auch auf China.« Ich hake noch einmal nach: »Ist das Vorgehen gegen Putin in der Ukraine-Krise auch eine Art Schablone für einen künftigen Konfliktfall mit Xi Jinping? Und würden Ihre Verbündeten da ebenfalls mitmachen?« Seine Antwort ist kristallklar und heute im Wissen um die Eskalation nach dem Pelosi-Besuch noch bedeutungsvoller: »Anders als im Fall Russland – Ukraine würde der Präsident auch ein direktes militärisches Vorgehen gegen China nicht ausschließen, wenn es Taiwan angreift. Und den wirtschaftlichen Hebel würden wir gemeinsam mit unseren Bündnispartnern anwenden, nicht nur auf die indopazifische Region beschränkt. Die Europäer haben das verstanden.«

Tatsächlich hatte der US-Präsident wenige Tage zuvor mit seinem chinesischen Amtskollegen Xi Jinping ein sehr offenes und gleichzeitig sehr geheimes Gespräch per Videokonferenz geführt, in dem Joe Biden einfach nur aufzählte, welche Bereiche der chinesischen Wirtschaft betroffen sein könnten, wenn die USA und all ihre Verbündeten »secondary sanctions« gegen all jene Staaten verhängen würden, die Russland beim Umgehen der Sanktionen oder gar mit Waffenlieferungen behilflich sein würden. Zu meiner Überraschung flankierte die Bundesregierung den Druck. Sie machte der Regierung in Peking klar, dass die Ukraine Teil Europas sei und eine chinesische Unterstützung der russischen Aggression die europäischen Interessen berühre und schädlich für Chinas Wirtschaft wäre. Dennoch hinterlässt Deutschland in den Wochen nach der Rede von Warschau weiter den Eindruck von Wankelmütigkeit und fehlender Entschlossenheit, sodass die USA und andere Verbündete Zweifel an den deutschen Versprechungen einer »Zeitenwende« haben.

All das zeigt, wie sehr die Krise des Jahres 2022 für die aufziehende Auseinandersetzung zwischen Amerika und China sowohl Vorbote als auch Lackmustest ist. Joe Biden richtet die USA auf den großen Konflikt mit China aus und fordert ein klares Bekenntnis von den Europäern: Auf welcher Seite stehen sie im Kampf zwischen liberaler Demokratie und Autoritarismus? Alles Handeln der Biden-Harris-Administration ist auf dieses Ringen zwischen den Systemen um die Vorherrschaft in der Welt ausgerichtet. Auch ihr knallharter und in der Form beschämender Abzug aus Afghanistan im Sommer 2021 sollte Ressourcen freisetzen für die neue Konzentration auf den Indopazifik. Dieses Buch analysiert die Felder, die entscheidend sind für diesen Wettlauf der Weltmächte, der leicht in Krieg – seien es Stellvertreterkriege oder ein großer Konflikt – ausarten kann.

Wahrnehmung und Wirklichkeit

War früher einmal die Sowjetunion das »Reich des Bösen«, ist es jetzt China. Das erste Kapitel zeigt, wie in den USA systematisch Stimmung gegen die Kommunistische Partei Chinas gemacht wird – von rechtskonservativen Radiotalkern bis zu hochrangigen Politikern der Republikanischen und der Demokratischen Partei. Mehr als 70 Prozent der Amerikaner sehen China als Bedrohung. An allen schlechten Entwicklungen soll Amerikas großer Konkurrent um die Dominanz in der Welt schuld sein. Die Zahl der Gewaltverbrechen gegen asiatischstämmige Menschen in den USA schnellt dramatisch in die Höhe. Die Coronapandemie hat den Hass gegen die Führung in Peking massiv befeuert.

Was ist tatsächlich dran an dem Bild, das Amerikaner von China haben? Stimmen die Vorwürfe? Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, ob sich die USA und ihre Verbündeten über die wahren Absichten der Machthaber in Peking jahrzehntelang täuschen ließen? Diese verfolgen offenbar lange schon einen Plan, der weit über die wirtschaftliche Entwicklung und Stabilität des Reichs der Mitte hinausgeht und die Vorherrschaft in der Welt anstrebt. Verständlich wird dieser Plan in der Analyse der amerikanisch-chinesischen Beziehungen über die vergangenen Jahrzehnte von Nixon und Deng bis zu Biden und Xi. Letzterem geht es nicht in erster Linie um die weltweite Ausbreitung der marxistischen Ideologie, sondern um den Export des leninistischen Autoritarismus, der China den Freifahrtschein zur politischen, wirtschaftlichen und militärischen Dominanz bescheren soll.

Moment mal, mögen Sie sagen. Macht China nicht nur das, was auch die Supermacht Amerika über viele Jahrzehnte getan hat? Haben die USA nicht Länder rund um den Erdball getäuscht, genötigt, erpresst? Sind sie nicht in Staaten einmarschiert, um ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen durchzusetzen? Das dritte Kapitel untersucht, inwieweit die Kritik an China wirklich gerechtfertigt ist oder ob die Amerikaner lieber mal zurückhaltend sein sollten – nach dem Motto: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.

Dass wir darüber diskutieren, zeigt, wie clever China die öffentliche Meinung in den USA und in der ganzen Welt manipuliert. Darum geht es im vierten Kapitel. Chinesische Firmen besitzen große Kinoketten in den USA und bestimmen mit, welche Filme dort nicht laufen dürfen. China ist gleichzeitig ein wichtiger Investor in die amerikanische Filmindustrie und größter Markt für Hollywoodstreifen. Wenn US-Kinofilme beim chinesischen Publikum ankommen, garantieren allein diese Ticketkäufe schon den Erfolg für die Projekte. Ähnliches gilt für die amerikanischen Konzerne, für die der chinesische Markt so verlockend ist, dass sie bereitwillig auf Forderungen der Regierung in Peking eingehen. China nimmt in all diesen Bereichen massiven Einfluss auf die amerikanische Kulturlandschaft, um ein positives Bild zu zeichnen und mögliche Kritik zu unterbinden. Einen ähnlichen Auftrag haben die Konfuzius-Institute an amerikanischen Universitäten, die massiv Geld in das amerikanische Hochschulsystem einspeisen und kulturellen Druck in Bezug auf Meinungsfreiheit und die Polarisierung im Land ausüben. Gleichzeitig erkaufen sie sich Einfluss auf die Forschung bei wichtigen Zukunftsthemen, wie z. B. Biotechnologie und Energiewissenschaft.

Auch deshalb verbannen die USA China Stück für Stück aus allen Wirtschaftsbereichen. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit den Werkzeugen und Folgen dieses »Säuberns«. Es geht um die nationale Sicherheit, den Schutz der wirtschaftlichen Unabhängigkeit, die Integrität der Daten ihrer Bürger und um die Sicherung des technologischen Vorsprungs. Die Chiphersteller Intel und AMD haben ihre Zusammenarbeit mit China beendet, und der chinesische Kommunikationskonzern Huawei steht auf der Schwarzen Liste der USA. Die chinesischen Investitionen in die USA sind in den vergangenen fünf Jahren um 90 Prozent gesunken.

Gleichzeitig versucht die US-Regierung, die freie Wirtschaft zur Waffenhilfe im Kampf für die nationale Sicherheit zu gewinnen, ähnlich wie es im Staatswirtschaftssystem Chinas mit Zwang gemacht wird. In Texas wird eine Mine für seltene Erden erschlossen, in Nevada die Gewinnung von Lithium vervierfacht, in Arizona werden riesige Halbleiterwerke gebaut, in Ohio und North Carolina entstehen Batteriefabriken, an einem Provinzcollege wird jetzt erstmals das Fach »künstliche Intelligenz« gelehrt – alles Maßnahmen, um wirtschaftlich und technologisch die Position an der Weltspitze zu verteidigen.

Aber wer den Kampf um die Vorherrschaft gewinnen will, braucht, wie das sechste Kapitel zeigt, Verbündete für mögliche politische oder gar militärische Konflikte. Am Beispiel Senegal erkunde ich vor Ort, wie eine US-Firma das Stromnetz in ländliche Gegenden ausbaut. Die notwendigen Investitionen werden mithilfe der amerikanischen EXIM Bank abgesichert, die erstmals ähnlich gute Konditionen bietet wie Chinas Staatsbank. Das Projekt ist Teil des Wettlaufs zwischen der chinesischen Seidenstraßeninitiative und dem »Build Back Better World«-Programm (B3W), mit dem die G-7-Industrienationen Chinas Einfluss in der Welt eingrenzen wollen. Doch Chinas Projekte in Afrika, Südamerika und Europa haben zahlreiche Länder bereits so gefügig gemacht, dass sie den autoritären Führungsstil aus Peking für sich adaptieren, chinesische Berater für ihre Streitkräfte und ihre Polizei akzeptieren und chinesische Überwachungssoftware gegen Andersdenkende im eigenen Land einsetzen. Wie schnell wirtschaftliche Abhängigkeit in politische Nötigung umschlagen kann, zeigt sich am Beispiel Australiens, das auf seine Exporte nach China angewiesen ist. Seit 2020 wird die Regierung in Canberra von der Führung in Peking massiv beschimpft, bedroht und mit Wirtschaftssanktionen unter Druck gesetzt. Zwei Drittel der Australier halten einen chinesischen Angriff auf ihr Land für wahrscheinlich.

Wie groß ist das Risiko einer militärischen Eskalation zwischen China und den USA? Dieser Frage geht das siebte Kapitel nach. Fast wöchentlich dringen chinesische Kampfflugzeuge in den taiwanesischen Luftraum ein. Die Volksbefreiungsarmee hat eine Überschallrakete getestet, die mit Atomsprengköpfen ausgestattet im Orbit um die Erde kreisen und in ein Ziel hinabgleiten kann. China besitzt jetzt schon die größte Kriegsmarine der Welt und entwickelt autonome Waffensysteme, die in einem Krieg mit den USA die Entscheidung herbeiführen könnten. Tatsächlich trugen die chinesischen Streitkräfte in mehreren Kriegssimulationen des Pentagon den Sieg davon. Der militärische Konflikt USA gegen China ist unvermeidlich.

Das Kapitel analysiert das Wettrüsten der möglichen Kontrahenten und die Entwicklung der Militärdoktrin, die ein solches Szenario immer wahrscheinlicher macht. Das Verteidigungsministerium arbeitet mit der Rüstungsindustrie unter Hochdruck an neuen Waffensystemen. Die modernste Version amerikanischer Mittelstreckenraketen könnte schon bald im Indopazifik stationiert werden. Das neue Militärbündnis mit Großbritannien und Australien, das nun mit atomar getriebenen U-Booten ausgestattet werden soll, ist ein klares Signal an China und gleichzeitig ein Weckruf für Europa, das sich um seine eigene Sicherheit nun mehr kümmern soll.

Das Kalkül Chinas geht auf, wenn die Europäer das Ausmaß der chinesischen Bedrohung nicht endlich erkennen und entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen. Das achte Kapitel analysiert die Abhängigkeiten, in die sich eine Reihe von EU- und NATO-Staaten begeben haben. Ihre beschwichtigende Haltung gegenüber China sät Zwietracht und schwächt die Bündnisse in einer Zeit, in der sie eigentlich entschieden für die gemeinsamen Werte einstehen und kämpfen müssten. Einige Regierungen, allen voran Viktor Orbán in Ungarn, fühlen sich offenbar dem Autoritarismus der kommunistischen Führung in Peking näher als den Prinzipien der liberalen Demokratie. Die muss beweisen, dass sie besser in der Lage ist, Freiheit, Sicherheit und wirtschaftlichen Fortschritt zu gewährleisten als die vermeintliche Konkurrenz aus China.

Unter Einbeziehung der Lehren aus dem aktuellen Ukraine-Konflikt schaut das neunte Kapitel aus der amerikanischen Perspektive auf ein – trotz der Geschlossenheitsfassade der letzten Monate – teils zerstrittenes, verunsichertes, naives und dadurch geschwächtes Europa. Angesichts des Zauderns in Berlin zweifeln manche in Washington an der deutschen »Zeitenwende« und einer klaren, harten gemeinsamen Linie gegenüber China. Xi Jinping hat sich mit Wladimir Putin bei seinem Besuch in Peking zu Beginn der Olympischen Spiele »grenzenlose Freundschaft« versprochen. Doch die wird durch den russischen Angriffskrieg auf die Probe gestellt. Welche Lehren zieht China aus der Krise im Jahr 2022? Welche ziehen wir für den Umgang mit dem Regime der Kommunistischen Partei? Natürlich gibt es auch Themenfelder, die sowohl China als auch die USA und ihre Verbündeten zur Zusammenarbeit zwingen. Der Klimawandel und Pandemien sind existenzielle Bedrohungen für die Welt. Liegt darin eine Chance, einen möglichen Krieg zwischen den Supermächten im 21. Jahrhundert zu vermeiden?

Quellen und Perspektiven

Dieses Buch basiert auf umfangreichen Recherchen und intensiven Gesprächen mit führenden Politikern, hochrangigen Militärs, einflussreichen Wirtschaftsmanagern und Entscheidungsträgern von amerikanischen Regierungsbehörden. Stellvertretend für mehrere Dutzend Gesprächspartner nenne ich den taiwanesischen Außenminister Joseph Wu, den ehemaligen US-Verteidigungsminister und CIA-Chef Leon Panetta, den Generalstabschef der US-Streitkräfte General Mark Milley, den ehemaligen Oberkommandierenden der NATO Admiral James Stavridis, den ehemaligen Kommandeur der US-Armee in Europa General Ben Hodges, die ehemaligen Sicherheitsberater Ben Rhodes und Alexander Vindman, den ehemaligen NSA- und CIA-Direktor Michael Hayden und den früheren US-Sonderbeauftragten für die Ukraine Kurt Volker. Ich konnte auch mit deutschen Spitzenpolitikern von Regierung und Opposition sprechen.

Bei zahlreichen Sachverhalten müssen die Namen von Gesprächspartnern jedoch ungenannt bleiben, weil sie um den Schutz ihrer Identität gebeten haben, darunter Regierungsbeamte und Parlamentarier. Natürlich stammt auch vieles in diesem Buch aus offenen Quellen, die jedermann zugänglich sind, zum Beispiel aus deutschen und internationalen Zeitungen, Zeitschriften, Büchern und wissenschaftlichen Publikationen. Einen Großteil der Informationen habe ich mithilfe der oben genannten Quellen verifizieren können. An manchen Stellen bleibt ein Restrisiko: Informationen, die zwar zu den übrigen Rechercheergebnissen passen, aber nicht unabhängig bestätigt werden konnten. Das betrifft insbesondere Informationen aus nachrichtendienstlichen Kreisen, die wiederum auf Quellen zurückgreifen, die entweder nicht namentlich genannt wurden oder deren Zuverlässigkeit sich nicht unabhängig bestätigen ließ. Natürlich sind manche Angaben, auf die ich mich stütze, auch interessengesteuert. Gerade bei behördlichen Quellen kann es vorkommen, dass das eigene Wirken in einem möglichst günstigen Licht erscheinen soll, während das der anderen kritisiert wird.

Apropos Einseitigkeit. Sie fragen sich sicherlich: Wo sind die chinesischen Gesprächspartner? Hat der Autor auch in China mit Entscheidungsträgern aus Politik, Wirtschaft und Militär gesprochen? Die Fragen sind absolut berechtigt, die Antwort ist höchst unbefriedigend: Nein, ich habe keinen direkten Zugang zu chinesischen Quellen gehabt, weil dies in Zeiten von Corona und politischen Differenzen zwischen den USA und China von Washington aus kaum möglich war. Deshalb zitiere ich an vielen Stellen aus öffentlich zugänglichen Quellen – Reden von Xi Jinping und seinen Vorgängern, Äußerungen von führenden Vertretern der Kommunistischen Partei und des chinesischen Militärs, amtlichen Erklärungen, Dokumenten, publizistischen Essays und Medienberichten. Darüber hinaus nutze ich Bücher von Experten, die chinesische Originalquellen auswerten und analysieren, und Aufsätze von Insidern, die dem Regime den Rücken gekehrt haben.

All das ändert nichts daran, dass dieses Buch ein Stück weit einseitig ist – ein dezidiert amerikanischer Blick auf eine chinesische Führung, die ihr Volk unterdrückt, um ihre Macht zu erhalten. Dabei ist mir eines unendlich wichtig: Nichts von dem, was ich schreibe, richtet sich gegen die Menschen in China, die auf eine jahrtausendealte Geschichte und Kultur zurückblicken und mit ihrer Kreativität und ihrem Fleiß ein unerschöpfliches Potenzial hätten, wenn sie ihr Leben in Freiheit gestalten könnten.

Auch deshalb stellt Joe Biden an jenem 26. März 2022 im Königsschloss von Warschau das Thema Freiheit in den Mittelpunkt seiner Rede und zieht die Verbindung zur großen Theorie vom Kampf der Demokratien gegen den Autoritarismus: »Lasst uns beschließen, die Stärke der Demokratie zu aktivieren, um die Pläne der Autokratie zu vereiteln. Die Prüfung in der Gegenwart ist Prüfung für alle Zeiten.« Es sind große Sätze, weil viele der Demokratien, die in jenen Monaten ihre Geschlossenheit zelebrieren, in ihrem Inneren schwach geworden sind. Polen, wo die rechtskonservative Regierung Grundprinzipien von Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit abschleift, ist dafür ein ebenso gutes Beispiel wie die USA, wo sich rechtsextreme Trumpisten mit autoritären Fantasien warmlaufen, um die Macht im Kongress und im Weißen Haus zurückzuerobern. Also fügt Joe Biden hinzu: »Es reicht nicht, mit rhetorischen Girlanden zu reden, mit edlen Worten von Demokratie, Unabhängigkeit, Gleichheit und Freiheit. Wir alle, auch hier in Polen, müssen täglich hart an der Demokratie arbeiten. Auch in meinem Land.«

Die Einigkeit der Bündnispartner ist zerbrechlich, weil sie vor allem aus der Angst vor einem verheerenden Krieg in Europa geboren ist, weniger aus der Einsicht. Und zum Krieg konnte es nur kommen, weil viel zu lange die Einsicht fehlte, dass der Autoritarismus Freiheit und Menschenrechte bedroht, wenn die Demokratien ihm nicht gemeinsam die Stirn bieten. Wiederholt sich die Geschichte? Oder besser: Lassen wir zu, dass sie sich wiederholt? Putins Aggression und Xis dramatische Reaktion auf den Pelosi-Besuch in Taiwan zwingen uns zu einer klaren Antwort. Darum geht es in diesem Buch.

1 Amerikas Angst: Warum China das große Feindbild ist

Eigentlich will er nur noch schnell neuen Reis kaufen. Bawi Cung hat seine beiden Söhne, drei und sechs Jahre alt, mitgenommen in den Supermarkt in Midland, Texas. Doch dieser 14. März 2020, ein Samstagabend, wird die drei für ihr Leben zeichnen. Cung geht gerade durch die Fleischabteilung, als ihn ein Schlag am Hinterkopf trifft, dann sticht ihm der Angreifer mit einem Messer ins Gesicht.[1] Während sich Cung unter Schmerzen windet, verletzt der Täter seinen dreijährigen Sohn am Rücken und zieht die Klinge über die Schläfe des Sechsjährigen – vom Augenrand bis hinter das Ohr. Ein Angestellter wirft sich dazwischen, wird ebenfalls schwer verletzt, bevor er den Messerstecher überwältigen kann. »Verschwindet aus Amerika!«, brüllt der am Boden liegende José Gomez. Dem FBI würde der 19-Jährige später erzählen, er habe seine Opfer als »Bedrohung« gesehen, weil sie »aus dem Land kommen, das die Seuche verbreitet hat«. Gomez hielt Bawi Cung und seine Söhne für Chinesen, obwohl der Lastwagenfahrer in Wirklichkeit aus Myanmar stammt. Die Familie und der mutige Supermarktangestellte überleben, aber äußere und innere Narben sind geblieben. Der damals sechsjährige Sohn kann bis heute nicht allein einschlafen. Was ihnen widerfuhr, ist Teil eines schrecklichen Trends in den USA.

»Ihr seid Chinesen! Gott hasst China! Ihr sterbt zuerst, und Ihr werdet nicht zu Gott kommen!«, schreit ein Radfahrer am 3. September 2020 ein asiatisches Ehepaar in New York an. Er bespuckt die beiden und wirft dann sein Fahrrad auf seine Opfer.

Noch dramatischer sind die Bilder einer Überwachungskamera in Manhattan vom 29. März 2021. Eine kleine ältere Frau geht den Bürgersteig entlang, als sie frontal von einem großen, kräftigen Mann im weißen T-Shirt attackiert wird. Er rammt sein rechtes Bein in ihren Oberkörper, die 65-jährige Vilma Kari fällt zu Boden, der Täter tritt mit dem Fuß mit aller Kraft gegen ihren Kopf – einmal, zweimal, dreimal. Dabei beschimpft der 38-jährige Brandon Elliott sein Opfer und ruft: »Du gehörst nicht hierher!« Türsteher des Hauses mit der Überwachungskamera sehen tatenlos zu. Die gebürtige Philippinin Kari lebt seit über 40 Jahren in den USA. Ihre körperlichen Wunden sind verheilt, die seelischen noch lange nicht.

Seit dem Ausbruch der Coronapandemie sind Übergriffe und Straftaten gegen Amerikaner asiatischer Abstammung massiv in die Höhe geschnellt. Die Fälle reichen von Beschimpfungen und Spuckattacken über Geschäftsboykotte, Zutrittsverbote und Vandalismus gegen Ladenlokale bis zu körperlichen Attacken, einige sogar mit Todesfolge, wie bei dem 84-jährigen Vicha Ratanapakdee. Der Amerikaner thailändischer Abstammung wurde am 28. Januar 2021 in San Francisco so heftig zu Boden gestoßen, dass er an seinen schweren Kopfverletzungen starb.

Die Universität von Michigan dokumentiert in ihren Virulent Hate Reports allein für das Jahr 2020 insgesamt 1023 rassistische Vorfälle, die sich gegen Menschen asiatischer Abstammung in den USA richteten, 112 davon beinhalteten Gewalttätigkeiten.[2] Die Zahl solcher Hassverbrechen in Amerikas Großstädten lag um 145 Prozent über dem Niveau des Jahres 2019. Bei Verbalattacken nahmen nicht wenige Täter Bezug auf den damaligen amerikanischen Präsidenten Donald Trump, z. B. mit Äußerungen wie »Trump wird dich fertigmachen, du asiatisches Stück Scheiße«.

Tatsächlich hatten der US-Präsident und seine Büchsenspanner öffentlich immer wieder China die Schuld an der Pandemie gegeben und dabei auch rassistische Worte gewählt. Bei einem Wahlkampfauftritt in Tulsa, Oklahoma, am 20. Juni 2020 redete er vom »chinesischen Virus« (»China-Virus«) und nannte die Erkrankung »Kung Flu« – »Flu« ist das englische Wort für Grippe. Sein Sohn Donald Trump Jr. hatte zuvor per Instagram eine manipulierte Kampfszene aus dem Film Karate Kid mit der Bezeichnung »Kung Flu Kid« gepostet. Bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus im Mai 2020 fuhr Trump meine asiatischstämmige Kollegin Weijia Jiang vom US-Fernsehsender CBS nach einer kritischen Frage mit den Worten an, sie solle das gefälligst in China fragen.

Die Wissenschaftler der Universität von Michigan halten Donald Trump mit seinen Handelskriegen und seiner chinafeindlichen, teilweise rassistischen Rhetorik für den Hauptschuldigen dieser Entwicklung, die es ähnlich in der amerikanischen Geschichte aber auch schon in der Vergangenheit gegeben habe: »Der jüngste Anstieg antiasiatischer Feindseligkeit muss auch vor dem Hintergrund der eskalierenden Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und China interpretiert werden. Historisch gesehen haben Momente des Konflikts und des Wettbewerbs zwischen den USA und asiatischen Ländern die Verletzlichkeit der asiatisch-amerikanischen Bevölkerung verstärkt, deren Angehörige oft als Ausländer wahrgenommen werden, selbst wenn sie die US-Staatsbürgerschaft angenommen haben oder in den Vereinigten Staaten geboren sind.«

Zweifellos rollt mit den Verdächtigungen um den Ursprung des Coronavirus eine Welle der Stigmatisierung von Menschen aus Asien durch die USA, die bis heute vor allem von Politikern und medialen Stimmungsmachern im rechten politischen Spektrum befeuert wird. Die Studie weist aus, dass 96,82 Prozent solcher Äußerungen von Politikern der Republikanischen Partei stammten, nur 3,18 Prozent aus den Reihen der Demokraten. Fast 50 Prozent der Zitate konnten direkt Mitarbeitern der US-Regierung zugeordnet werden, 20 Prozent amerikanischen Kongressabgeordneten. Den absoluten Spitzenwert mit insgesamt 55 Verbalattacken hielt Donald Trump.

Im Ergebnis, das belegen die auch nach Geschlecht und Ethnie aufgeschlüsselten Zahlen sehr eindrucksvoll, handelt es sich bei der Rhetorik von der »gelben Gefahr«, wie die Forscher es in ihrer Untersuchung nennen, in erster Linie um nichts anderes als die einfältige, blanke Angst vor allem konservativer weißer Männer. Diese sorgen mit aller Macht dafür, dass die Vorbehalte gegenüber allem Chinesischen quer durch alle Bevölkerungsschichten in den USA geschürt werden. Sie sind dabei erfolgreich, weil sie die Ängste der Amerikaner vor dem wirtschaftlichen Abstieg und ihre nationalistischen Träume von amerikanischer Größe und Unbesiegbarkeit mit dem Narrativ verbinden, China sei schuld an allem, was in den USA schlecht läuft.

Die rechten Stimmungsmacher

Tucker Carlson redet sich gerade wieder in Rage bei seiner allabendlichen Talkshow im rechtskonservativen Fernsehsender FOX News. Hinter dem populistischen Eiferer – oder besser Hetzer – prangt ein großes Foto mit Beuteln voller Fentanyl aus einem Drogenfund der amerikanischen Behörden, im Vordergrund die Schlagzeile »Ernste langfristige Probleme in Amerika«. Carlson tönt: »Es mag alles so aussehen, als gebe es zwischen den Problemen keinen Zusammenhang, aber sie alle eint ein Thema – die systematische Entscheidung durch die mächtigsten Anführer unseres Landes zum Ausverkauf Amerikas an China.« An dieser Stelle wechselt die Schlagzeile zu »Viele unserer größten Probleme liegen an China«, das Bild im Hintergrund verwandelt sich in eine fette Druckschrift: »DIECHINA-BEDROHUNG«, und Tucker Carlson fährt fort: »Die outgesourcten Jobs? Sind nach China abgewandert. Die steigenden Hauspreise? Chinesische Käufer, die alles bar zahlen, tragen dazu bei. Das Fentanyl? Made in China, mit dem Wissen und der stillschweigenden Zustimmung der Kommunistischen Partei Chinas. China ist nicht länger nur ein wirtschaftlicher Rivale der Vereinigten Staaten – es wird zu einem gefährlichen Feind.«

An einem anderen Abend darf Carlsons Studiogast, der damalige Koordinator aller amerikanischen Geheimdienste John Ratcliffe, diese Gefahr genauer definieren. »Da gibt es Leute, die aus politischen Gründen nicht wollen, dass China unsere größte Bedrohung ist; aber die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse lügen nicht – China ist unsere größte Bedrohung.« Auch hier wechselt die Schlagzeile, jetzt steht da: »China beabsichtigt, die Vereinigten Staaten wirtschaftlich, militärisch und technologisch zu dominieren.« Der Geheimdienstchef holt die ganz große Keule raus, mit der er jeden Amerikaner unmittelbar ansprechen will: »Kein anderes Land hat die Fähigkeit, im Kern den Amerikanischen Traum zu rauben. China hat sogar einen konkreten Plan dafür.«

Für Sean Hannity, einen weiteren rechten Stimmungsmacher, ist die Coronapandemie Teil dieses Plans. Auf dem Bildschirm ist hinter ihm in Sperrschrift die Schlagzeile »CORONAVIRUSCOVER-UP« auf einer dunkelroten Flagge mit den Umrissen Chinas eingeblendet. »In Zeiten der Unsicherheit zählen die Fakten«, so Hannity. »Das Virus startete in China, in der Provinz Wuhan […] und die chinesische Regierung versuchte, es zu vertuschen.«

Tatsächlich hatten die chinesischen Behörden in den Wochen nach den ersten Erkrankungen alles getan, um das Ausmaß der Bedrohung durch das Virus herunterzuspielen. Gleiches kann man allerdings auch von Donald Trump sagen, der noch im März und April 2020 trotz eindringlicher Warnungen der Weltgesundheitsorganisation und seiner eigenen Experten die Gefahr dieser Pandemie verharmloste. Aber Sean Hannity und seinen KollegInnen bei FOX News ging es darum, China allein die Schuld für all das zu geben. »Wegen Chinas Taten sind weltweit Tausende tot, Millionen leiden«, so Hannity. »China muss zur Verantwortung gezogen werden.« Laura Ingraham proklamierte in ihrer Talkshow »China hat Blut an den Händen«, und Experte Gordon Chang behauptete auf FOX News, China nutze das Virus als Biowaffe im Kampf um die Vorherrschaft in der Welt; es habe mit allen Mitteln dafür gesorgt, dass sich Sars-CoV-2 rund um den Erdball verbreitet.

Es ist eine wilde Verschwörungstheorie, die ein ehemaliger Berater Donald Trumps ebenfalls gern in Umlauf setzte. Sebastian Gorka sagte mir in einem Interview im Frühjahr 2020: »Am ungeheuerlichsten ist, und das wirft die Frage nach einem kriminellen Verschulden von Hunderttausenden von Toten rund um den Globus auf: Nachdem die chinesischen Behörden wussten, dass es den Ausbruch eines neuen Virus in der Provinz Wuhan gegeben hat, haben sie den inländischen Reiseverkehr eingeschränkt, aber vier Millionen Chinesen aus dieser Provinz erlaubt, während des chinesischen Neujahrsfests international zu reisen. Wenn diese Entscheidung wissentlich gefällt wurde, dann wäre das eine absichtliche weltweite Verbreitung des Virus.«

Es ist eine glatte Lüge, denn mit der Sperrung Wuhans am 23. Januar wurden auch alle Passagierflüge von dort eingestellt. Aber die Trump-Administration und ihre willfährigen Helfer in den rechtskonservativen Medien befeuerten die Welle der Empörung gegen China. Bei großen Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen zahlreicher demokratisch regierter Bundesstaaten tauchte der Vorwurf immer wieder auf. Alex Jones, rechtsextremistischer Radiotalker, fuhr bei solchen Protesten häufig mit einem schwarzen Panzerwagen, geschmückt mit US-Flaggen, herum und tönte aus den Lautsprechern: »Das ist eine chinesisch-kommunistisch-globalistische Biowaffe, um unsere Wirtschaft lahmzulegen.«

Abneigung in der Bevölkerung

Sie mögen noch so weit hergeholt sein, aber solche Thesen treffen in den USA auf eine Stimmung gegenüber China, die in den vergangenen Jahrzehnten immer negativer geworden ist. Im März 2021 veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut Pew Research Center eine bedrückende repräsentative Studie zur Wahrnehmung Chinas in der amerikanischen Bevölkerung.[3] Auf einer Thermometer-Skala von 0 bis 100 sollten die Befragten die Temperatur ihrer Gefühle gegenüber China markieren. 47 Prozent der Amerikaner wählten Werte unter 25 und damit eine »sehr kalte« Einstellung. Addiert man die Befragten hinzu, die China »kalt« gegenüberstehen (Wert zwischen 25 und 50), landet man bei 67 Prozent. Das ist eine dramatische Verschlechterung zu einer vergleichbaren Studie aus dem Jahr 2018, als 45 Prozent ihre Einstellung als »kalt« bis »sehr kalt« (23 Prozent) bewerteten.

Die Wissenschaftler fragten auch ab, was den Menschen als Erstes einfiel, wenn sie an China denken würden. Bei der Auswertung wird auf den ersten Blick klar, dass die nationale und internationale Politik des Regimes in Peking und der wirtschaftliche Wettbewerb zwischen den beiden Supermächten die Einschätzungen prägen. Die jahrtausendealte chinesische Geschichte und Kultur spielen dabei fast keine Rolle. 20 Prozent der Befragten denken im Zusammenhang mit China zuallererst an das Thema Menschenrechte, 19 Prozent an die Wirtschaft, 17 Prozent an das politische System, 13 Prozent sehen in dem Rivalen Amerikas eine Bedrohung, 12 Prozent verbinden ihr erstes Urteil mit negativen Adjektiven wie »gierig«, »eigennützig«, »beängstigend«, vier Prozent mit positiven Beschreibungen wie »schön«, »reich an Kultur«, »Heimat der Pandas«. Nur drei Prozent der Teilnehmer der Studie erwähnen die Menschen in China, also die Bevölkerung. In fast all diesen Punkten sind sich republikanisch und demokratisch orientierte Amerikaner, so das Ergebnis der Untersuchung, weitgehend einig.

Die detailliertere Analyse zum Thema Wirtschaft könnte unter der Schlagzeile »Alles ist heute ›Made in China‹« zusammengefasst werden. In den Antworten schwingen ein Stück Bewunderung für die chinesischen Erfolge und gleichzeitig auch tiefes Bedauern über den Verfall amerikanischer Wirtschaftskraft mit. China sei ein »Kraftpaket der industriellen Produktion« und eine »führende Wirtschaftsmacht«. Ein 28-Jähriger wird mit den Worten zitiert: »Chinas Erfolge kann man nicht leugnen. Die Lebensqualität für das chinesische Volk hat sich über die letzten fünf Jahrzehnte dramatisch verbessert.« Dennoch seien, so die Einschätzung der Befragten, viele Produkte »qualitativ minderwertig« und würden mit »Sklaven- und Kinderarbeit« hergestellt, der Schutz des geistigen Eigentums werde missachtet. 53 Prozent der Befragten bezeichnen den Verlust amerikanischer Arbeitsplätze an China als ein »sehr ernstes Problem«, eben dieses ist für 43 Prozent auch das ewige Handelsdefizit.

Bedrohung für die Weltordnung

Viele Amerikaner sehen China als Bedrohung. Fast jeder zehnte benutzt zur Beschreibung des politischen Systems Worte wie »totalitär«, »autokratisch« oder »Diktatur«. Ebenso viele nennen explizit die »Kommunistische Partei« oder den »Kommunismus«. »Es ist ein Ort, der seine Bevölkerung in furchterregender Weise überwacht«, so gibt ein 57-jähriger Mann zu Protokoll, »das Leben dort ist großartig, wenn du als Maschine für den Staat arbeiten willst. Ansonsten ist es eine korrupte, Luft abschnürende, totalitäre Gesellschaft.«

Anders als bei anderen Themenfeldern ist die Wahrnehmung Chinas als Bedrohung je nach politischer Orientierung unterschiedlich ausgeprägt – 18 Prozent der befragten Republikaner sehen eine Gefahr, bei den Demokraten sind es nur zehn Prozent. Hier einige Beispiele. Eine über 65-jährige Republikanerin meint: »Die Vereinigten Staaten stehen der chinesischen Weltherrschaft im Weg. China will die technologischen und biomedizinischen Geheimnisse der USA um jeden Preis stehlen. Es versucht mit allen Mitteln, unserer Wirtschaft zu schaden, und wird jeden schmutzigen Trick gegen uns anwenden.« »China ist ein furchterregendes Land, das schreckliche Menschenrechtsverletzungen und Völkermord begeht«, so eine Demokratin im Alter zwischen 30 und 49 Jahren. »Es ist derzeit die größte Bedrohung für den Weltfrieden und hat zu viel Wirtschaftsmacht.« Ein Republikaner in der Altersspanne zwischen 50 und 64 Jahren findet: »Unfaire Handelspraktiken, spioniert gegen die USA, Menschenrechtsverletzungen, Umweltverschmutzung, Kommunismus, Feind der Vereinigten Staaten.« Ein Parteifreund im Alter zwischen 30 und 49 Jahren meint: »Atheistische Regierung, die Kontrolle über alles schätzt. Ein Land, das vorrangig seine Menschen zum Schweigen bringt und tötet, um willfährige Loyalität durch Angst zu erzeugen. Ein Weltführer bei Umweltverschmutzung und CO2-Emissionen, dem man nicht trauen und auch keine Expansion erlauben darf.« »China ist ein faschistisches Land, das eine religiöse Minderheit als Sklaven missbraucht, um Textilien herzustellen«, so eine Demokratin im Alter zwischen 18 und 29 Jahren. Ein Parteifreund im Alter zwischen 30 und 49 Jahren geht noch einen Schritt weiter: »China ist bei Weitem die größte Bedrohung für die Weltordnung seit den Nazis in den 1930er-Jahren. Es hat eine langfristige Strategie, den Westen zu destabilisieren und seine Wirtschaft lahmzulegen, indem es andere Länder von sich abhängig macht. So will es sich die Macht verschaffen, die Welt auf kurze Vorwarnung einfach abzuschalten.«

Interessanterweise finden sich in der Befragung von Pew nur Spurenelemente der pandemiebezogenen Stimmungsmache. Gerade mal sieben Prozent der Amerikaner erwähnen Covid-19, wenn sie nach China gefragt werden, zwei Prozent geben dem Land unabhängig vom genauen Herkunftsort die Schuld an der Pandemie, weil es die Welt nicht früher gewarnt habe. Lediglich ein Prozent der Befragten glauben, dass das Virus absichtlich in einem chinesischen Labor erschaffen wurde, um es als Biowaffe einzusetzen. Im Kontrast dazu äußern einige Amerikaner sogar Bewunderung für den Umgang Chinas mit der Coronakrise: »Trotz der Ausbreitung des Virus war ich beeindruckt, wie schnell sie vorgegangen sind, um es zu stoppen«, so ein über 74 Jahre alter Mann. »Sie haben große Städte dichtgemacht, in nur wenigen Tagen Krankenhäuser gebaut und sind den Regeln gefolgt, die wir hier in den USA haben sollten, z. B. Masken tragen, Abstand halten. Sie sind schneller aus der Krise rausgekommen.«

Hang zum Autoritarismus

Woran liegt diese seltsame Mischung aus tiefer Abneigung gegenüber China und verschämter Bewunderung für vermeintliche Problemlösungsfähigkeiten durch einen autoritären Führungsstil? Sie spiegelt sich auch im Verhalten Donald Trumps und seiner Administration. An Fehlentwicklungen in den USA gab der Präsident schnell der Kommunistischen Partei Chinas die Schuld und stempelte auch seine innenpolitischen Widersacher im Wahlkampf gern als Kommunisten und Chinafreunde ab. Gleichzeitig aber klang aus seinen Worten immer wieder auch Bewunderung für den chinesischen Amtskollegen Xi Jinping.

Trumps Hang zum Autoritarismus findet sich – wie die Ereignisse nach der Wahl 2020 zeigten – auch in weiten Teilen der US-Bevölkerung. Das hat sicher vor allem mit Amerikas Abstiegsangst zu tun, die dem amerikanischen Selbstverständnis von Größe und Unbesiegbarkeit diametral entgegensteht. Auch wenn viele Amerikaner es nicht offen zugeben wollen, haben doch die Traumata der vergangenen 20 Jahre Spuren hinterlassen und Selbstzweifel geschürt. Mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hatten die USA erstmals seit dem Debakel des Vietnamkriegs eine katastrophale Niederlage erlitten.[4] Bis dahin war Amerika die einzige verbleibende Supermacht in der Welt, die in der Zeit seit dem Ende der Sowjetunion am 25. Dezember 1991 so viel Kraft gesammelt hatte wie keine andere Nation vor ihr. Die USA trugen nahezu ein Drittel zum globalen Bruttosozialprodukt bei; sie verzeichneten einen historischen Haushaltsüberschuss und waren von einer Supermacht zur Hypermacht geworden, wie es der damalige französische Außenminister Hubert Védrine bezeichnete. Dann griffen islamistische Terroristen New York und Washington an.

Katalytische oder kathartische Ereignisse der Weltgeschichte – in diese Kategorie fällt Nine Eleven sicher – können manchmal ein komplettes Umdenken bewirken. Der Erste Weltkrieg beispielsweise veränderte die Regeln der Interaktion zwischen den Nationalstaaten. Unter dem Eindruck des Krieges und seiner zahllosen Opfer schufen die USA und ihre Verbündeten den Völkerbund, der allerdings scheiterte und später von den Vereinten Nationen abgelöst wurde. Ein alter Satz Regeln aus einem alten System sollte durch neue Standards ersetzt werden. Genau das Gleiche geschah auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einem zerstörten und mit Schande beladenen Deutschland. Aus einer militaristischen Diktatur ging eine starke und verlässliche Demokratie hervor. Der Schrecken wurde als Chance und das Chaos als Gelegenheit begriffen, um die Welt im Fluss der Ereignisse zu verändern, zum Besseren zu formen. Denn dramatische Vorkommnisse bieten den Akteuren der Politik, aber auch den betroffenen Menschen Möglichkeiten, sich für einen neuen Weg zu entscheiden. Der nächstliegende ist dabei nicht immer der beste – und schon gar nicht der einzige –, um zum Ziel zu gelangen. Wer im dichten Wald an einer Lichtung steht, mag auf den ersten Blick nur die angelegten Wege erkennen, obwohl noch weitere von dort wegführen, die vielleicht nicht so bequem zu begehen und weniger augenfällig sind.

Amerika am Scheideweg

Nun befanden sich die USA unter der Führung von Präsident George W. Bush also nach den Terrorangriffen von Nine Eleven an einem »römischen Moment«, wie es der amerikanische Politikwissenschaftler und Journalist Fareed Zakaria nannte. Ähnlich wie einst das Imperium Romanum in seiner Blütezeit standen die Vereinigten Staaten ohne jeden ernsthaften militärischen Widersacher da. Sie erklärten dem globalen Terrorismus den Krieg, und zahlreiche Länder schlossen sich ihnen widerspruchslos an. Nach einem siegreichen Blitzkrieg in Afghanistan, nach der Aufstockung des Militärhaushalts um mehr als 50 Milliarden Dollar und mit einer, wie erwähnt, bärenstarken Wirtschaft und einem andauernden Höhenflug des Dollarkurses hätte Amerika gelassen in die Zukunft blicken können.

In diesem historischen Moment entschied sich die US-Regierung mit ihrer Doktrin des präventiven Alleingangs jedoch dagegen, Führungsstärke und Verantwortung zu zeigen. Mit dem Angriffskrieg gegen den Irak, basierend auf der Lüge von den angeblichen Massenvernichtungswaffen in den Händen Saddam Husseins, setzte Bush auf das Diktat des Herrschenden ohne jede Rücksichtnahme auf die eigene Verfassung, internationale Standards und die politischen Ratschläge befreundeter Nationen. Die US-Regierung ignorierte, dass andere Länder auch Interessen haben, und behandelte jeden Abweichler als Hochverräter.

Ideologie machte die Reaktion Amerikas auf Nine Eleven zur Selbstüberhebung einer Großmacht, die an ihrem Wesen die Welt genesen lassen wollte. Die Arroganz des Weißen Hauses ließ alle Befürchtungen wahr werden. Nach Abschluss des Irak-Abenteuers war Amerika zwar immer noch eine Supermacht, aber nicht mehr die einzige. Der Antiamerikanismus hatte zugenommen, die Terrorgefahr auch. Dank der USA war der Iran nun seinen größten regionalen Gegner los – Saddam Husseins Irak und den afghanischen Gottesstaat der Taliban. Das Wiedererwachen Russlands unter seinem Präsidenten Wladimir Putin mit Haushaltsüberschüssen und einer Reautokratisierung, der Wandel Asiens zum Finanzier amerikanischer und europäischer Schulden und der Aufstieg Chinas zur neuen Supermacht signalisierten den Beginn einer neuen multipolaren Weltordnung, in der die USA – trotz ihrer ungebrochenen militärischen Macht – nicht mehr die alleinige Hauptrolle spielten und der Westen ernsthaft um seine Überlegenheit fürchten musste.