Kämpfen für die Demokratie - Hermann Heller - E-Book

Kämpfen für die Demokratie E-Book

Hermann Heller

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Beschreibung

Der Staatsrechtslehrer Hermann Heller war einer der weitsichtigsten politischen Denker seiner Epoche. Von Beginn an verteidigte er die Weimarer Verfassungsordnung und setzte sich reformerisch für eine Umgestaltung der Wirtschaftsordnung ein, um den Weg von der liberalen zur sozialen Demokratie zu ebnen. Für Heller beruht Demokratie auf geteilten Werten, "sozialer Homogenität" und Rechtsstaatlichkeit. Gleichzeitig muss sich der demokratische Staat entschlossen gegen seine Feinde wehren, wie Hellers zeitige Warnungen vor einem "autoritären Liberalismus" und der drohenden faschistischen Diktatur auf bewegende Weise in Erinnerung rufen. Als Antipode Carl Schmitts, der den sogenannten "Preußenschlag" juristisch zu legitimieren versuchte, vertrat Heller vor dem Reichsgericht die preußische SPD-Landtagsfraktion. Die Herausgeber Hubertus Buchstein und Dirk Jörke zeigen die Aktualität eines lange vernachlässigten Demokratietheoretikers, dessen politischer Scharfsinn und schriftstellerische Brillanz sich in dieser Auswahl seiner politischen Schriften wiederentdecken lassen. Hermann Heller (1891–1933) zählt zu den bedeutenden Juristen der Weimarer Republik, er betrieb "Staatsrecht als Wirklichkeitswissenschaft" und verschrieb sich einem engagierten sozialdemokratischen Reformismus. Als Professor für Öffentliches Recht wurde er 1933 von den Nationalsozialisten abgesetzt. Er starb am 5. November 1933 als Emigrant in Madrid. Zu seinen wichtigsten Werken zählen "Sozialismus und Nation" (1925), "Die Souveränität" (1927), "Europa und der Fascismus" (1929), "Staatslehre" (1934). Diese Auswahl der wichtigsten politischen Schriften von Hermann Heller lädt zur Wiederentdeckung eines großen sozialdemokratischen Theoretikers ein, der sich unermüdlich für soziale Gerechtigkeit und demokratische Wehrhaftigkeit in der Weimarer Republik einsetzte. Seine frühen Analysen von Autoritarismus und Faschismus wirken angesichts gegenwärtiger rechtspopulistischer Gefahren bestechend aktuell. Heller forderte die Umgestaltung des formalen Rechtsstaats zum sozialen und demokratischen Staat als einzig gangbaren Weg aus der Krise. Die spätere Bundesrepublik hat aus dieser Diagnose die Konsequenzen gezogen und sie geradezu zum Staatsdogma erhoben.

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Hermann Heller (1891–1933) zählt zu den bedeutenden Juristen der Weimarer Republik, er betrieb „Staatsrecht als Wirklichkeitswissenschaft“ und verschrieb sich einem engagierten sozialdemokratischen Reformismus. Als Professor für Öffentliches Recht wurde er 1933 von den Nationalsozialisten abgesetzt. Er starb am 5. November 1933 nur 42-jährig als Emigrant in Madrid. Zu seinen wichtigsten Werken zählen Sozialismus und Nation (1925), Die Souveränität (1927), Europa und der Fascismus (1929), Staatslehre (1934).

Hubertus Buchstein, geb. 1959, seit 1998 Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Greifswald. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen: Enduring Enmity. The Story of Otto Kirchheimer and Carl Schmitt, Bielefeld 2023; Demokratie und Lotterie. Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU, Frankfurt/M. 2009.

Dirk Jörke, geb. 1971, seit 2014 Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Darmstadt. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen: Die Größe der Demokratie. Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation, Berlin 2019; (mit Veith Selk) Theorien des Populismus zur Einführung, Hamburg 2017.

Hermann Heller

Kämpfen für die Demokratie

Kleine politische Schriften

Herausgegeben vonHubertus Buchstein und Dirk Jörke

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book (EPUB)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2023

Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

Alle Rechte vorbehalten.

EPUB: ISBN 978-3-86393-655-6

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

ISBN 978-3-86393-167-4

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeischeverlagsanstalt.de

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Inhalt

1. Grundrechte und Grundpflichten

2. Sozialismus und Nation

3. Politische Demokratie und soziale Homogenität

4. Rechtsstaat oder Diktatur?

5. Freiheit und Form in der Reichsverfassung

6. Der Beamte im sozialen Volksstaat

7. Genie und Funktionär in der Politik

8. Ziele und Grenzen einer deutschen Verfassungsreform

9. Bürger und Bourgeois

10. Autoritärer Liberalismus

Nachwort: Hermann Hellers Wille zur Demokratievon Hubertus Buchstein & Dirk Jörke

1. Grundrechte und Grundpflichten

I. Geschichte

Dem Mittelalter war der zentralisierte, nach innen und außen souveräne und über alle Mitglieder gleichmäßig herrschende Staat unbekannt. Dennoch bewegte sich das damalige gesellschaftliche Leben in weit festeren Formen als heute, in Formen, in die der einzelne durch Geburt und Beruf gebunden wurde. Es gab keine freie, nur auf sich selbst gestellte Persönlichkeit, nicht den ‚Menschen an sich‘, sondern jeder war und fühlte sich als Glied einer ihn mehr oder weniger schützenden, aber auch beschränkenden Gemeinschaft, die ihm sein äußerliches und innerliches Gepräge verlieh. Der Sensenmann des Holbeinschen ‚Totentanzes‘ tritt nicht den Menschen schlechthin an, sondern den Bauern, Bürger oder Edelmann, den Abt, Bischof oder Papst usw. Selbst das wirtschaftliche Leben war durch die Zugehörigkeit zu einem Geburtsstande bestimmt und in Gilden und Zünften verfaßt, die das freie wirtschaftliche Ausleben des Individuums verhinderten. Die verschiedenen Stände lebten unter verschiedenem Recht und Gericht und waren alle, wenn auch in höchst verschiedenem Maße, durch das anerkannte Gesetz der Kirche, des Staates und Standes, der Gilden und Zünfte in der Freiheit ihres Tuns und Denkens beschränkt, sowie durch Abgaben und Dienste an Höhere in sehr ungleicher Weise belastet. Diese mittelalterliche Welt der vielgestaltigen Autoritäten wandelt sich seit der Renaissance immer mehr und auf immer weiteren Gebieten in unsere moderne Welt der individuellen Autonomie. Die Autonomie der religiösen Überzeugung, der Moral, wie des Denkens überhaupt und die liberal-demokratische Autonomie in Politik und Wirtschaft sind der Ausdruck ein und derselben Bewegungsrichtung der neuzeitlichen Geschichte, die in den Glaubenskämpfen des 17. Jahrhunderts protestantische Freiheit verlangt und die in der Französischen Revolution in den Ruf ‚Freiheit und Gleichheit‘ ausbricht, die Kants Staatslehre und seinen kategorischen Imperativ formuliert, durch Herder und Pestalozzi ‚allgemeine Menschenerziehung‘ fordert und die schließlich auch die ‚Menschen- und Bürgerrechte‘ in der politischen Kultur zu verfassungsmäßiger Anerkennung gebracht hat. Ihr Entstehen verdanken diese letzteren aber nicht einer politischen Revolution, sondern der religiösen Reformation und dem nie erloschenen Bewußtsein von der ‚teutschen Libertät‘, der ständischen Freiheit.

Während des ganzen Mittelalters hatten Kirche und Staat um die weltliche Vormacht gekämpft. Im Denken des mittelalterlichen Menschen war aber, wie auch das Märchen ‚Vom Fischer und seiner Frau‘ zeigt, die Kirche dank ihrer größeren Kulturbedeutung dem weltlichen Herrscher dauernd übergeordnet. Seit dem 13. Jahrhundert beginnt die kirchliche Macht stetig zu sinken, und der absolutistische König errichtet seine Souveränität nach außen gegen Papst und Kaiser, nach innen gegen die Macht der ‚Stände‘, dadurch die Voraussetzung für ein gleiches Staatsbürgertum schaffend. In diesem Kampfe kann und will der absolute Monarch selbst vor der im Gewissen der Untertanen eingepflanzten Macht der Kirche nicht haltmachen: insbesondere dann nicht, als sich nach der Reformation die verschiedenen christlichen Glaubensbekenntnisse innerhalb seines Gebietes bekämpften. Gegen den Satz: cujus regio, illius religio1 empört sich die dem Menschen von Gott oder ‚Natur‘ eingeborene Gewissensfreiheit. Der irdischen Macht wird die ursprüngliche, vom Staate nicht verliehene, also auch nicht entziehbare Freiheit entgegengehalten, ein allgemeines, angeborenes, unverletzliches ‚Naturrecht‘ behauptet. In den Religionskämpfen der englischen und schottischen Kongegrationalisten und Independenten wird die religiöse Bekenntnisfreiheit zum erstenmal als Naturrecht gefordert. Rechtlich verwirklicht wurde sie zuerst von den, in eben diesen Kämpfen aus dem Mutterlande vertriebenen nordamerikanischen Kolonisten, die eingedenk des eigenen Schicksals bereits im 17. Jahrhundert in ihren Staaten das allgemeine Menschenrecht der Gewissensfreiheit verkünden. Solche Freiheitsforderung blieb nicht auf das religiöse Gebiet beschränkt. Aus den Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Kampfes, den vor allem der aufstrebende Bürger gegen wirtschaftliche Beschränkungen, gegen geburtsständische Vorrechte, gegen den Absolutismus und für seine geistige und gesellschaftliche Autonomie führen mußte, aus dem Kampfe der industriellen gegen die feudale Wirtschaftsverfassung erwuchs die umfassende, vornehmlich von Locke und Blackstone formulierte Lehre von den natürlichen Rechten, die dem Schutze von Leben, Freiheit und Eigentum des Individuums dienen und die der Staatsgewalt unübersteigbare Schranken setzen sollten; es entsteht die geschlossen individualistisch-atomistische Weltanschauung des Naturrechts, die noch in einem zweiten Sinne Freiheit, politische Autonomie forderte. Jene Freiheit des Gewissens, der Meinung, des Eigensinns usw. war die gegen den Staat gerichtete Forderung von Seiten der Untertanen, die der absolute Monarch beherrschte; die Freiheit der Regierten. Die fast gleichzeitig auftretende zweite Forderung richtet sich unmittelbar gegen das monarchische Prinzip, geht auf die Freiheit, sich selbst zu regieren, Anteil zu haben an der Herrschaft. Die erstere heißt bürgerliche, liberale Freiheit, Freiheit vom Staate, die zweite politische, staatsbürgerliche, demokratische Freiheit, Freiheit über den Staat; die erstere ist nur der Moderne eigentümlich, auf die letztere war schon der Demos von Athen stolz. Auch die demokratische Forderung der Neuzeit hat ihre Wurzeln in der Reformation. Calvin hatte gelehrt, daß die Kirchengewalt in der Gemeinde ruhe, und die Puritaner und Presbyterianer hatten diese Lehre auf das politische Gemeinwesen, auf the common wealth of England angewandt. Die englische Revolution hatte den König demokratisch-parlamentarisch beschränkt und das englische self government begründet, die nach Nordamerika ausgewanderten Puritaner aber hatten die ersten streng demokratischen Republiken der Neuzeit gegründet. Auch diese Freiheit der Mitbestimmung über den Staat wird als dem natürlichen Wesen des Menschen anhaftend, als Menschenrecht behauptet.

Um im politischen Kampfe eine urkundliche Waffe in der Hand zu haben, ließen sich die Engländer ihre überlieferten ständischen Freiheitsrechte in den Bill of Rights (1689) verbriefen. Die neuen Freiheitsrechte der nordamerikanischen Einzelstaaten werden ebenfalls aufgeschrieben (Virginia 1776) und bilden nun den Bestandteil der ersten geschriebenen ‚Verfassung‘ im modernen Sinne, die für alle späteren kontinentalen Verfassungsurkunden vorbildlich sind. Die revolutionäre Konstituante, die 1789 die berühmten Menschen- und Bürgerrechte erklärte, war von Lafayette mit den nordamerikanischen Verfassungen bekannt gemacht, den französischen Vorbildern folgte Belgiens Verfassung von 1831, und dieser wurden die Grundrechte der Frankfurter Verfassung von 1849, sowie die Preußische Verfassung von 1850 nachgebildet.

II. Wesen der Grundrechte

Die das 17. und 18. Jahrhundert beherrschende Weltanschauung des Naturrechts hatte den Gesellschaftsbau gedanklich vom Individuum aus konstruiert. Das logisch, wenn auch durchaus nicht immer geschichtlich erste war ihr das von Natur freie, mit Rechten begabte Individuum, das sich mit andern zum Staate verbindet und dadurch den Naturzustand verläßt. Die Absolutisten (Hobbes, Rousseau) behaupteten, durch diesen Vertrag hätte sich das Individuum aller seiner ursprünglichen Rechte zugunsten des Monarchen (Hobbes) oder der Gesamtheit (Rousseau) begeben, die Vertreter der liberalen Idee dagegen behaupteten die Unveräußerlichkeit gewisser Menschenrechte.

Diesem naturrechtlichen Idealismus gegenüber betont unser kritisch-evolutionistisches Zeitalter die geschichtliche Unmöglichkeit des Staatsvertragsgedankens und Naturzustandes der Freiheit. Für das gesamte Naturrecht war die gesellschaftliche Organisation, der Staat, eine Beschränkung der ursprünglichen Freiheit gewesen. Unserem Zeitalter erscheint der Staat gerade als die soziale Form, in die der Mensch aus wilden Anfängen durch Jahrtausende der Kultur hineingewachsen ist und durch die Freiheit erst ermöglicht wird. Die Freiheitsrechte erkennen wir deshalb heute nicht mehr als Naturrechte, sondern als Kulturrechte, nicht mehr als ursprünglich dem Individuum anhaftend, sondern als durch die Entwicklung der politischen Kultur ihm von der Gemeinschaft zugewachsen. Erst durch die schützende Macht des Staates wird die gleichmäßige Freiheit der einzelnen gewährleistet. Weil wir nicht mehr das Individuum als allein werthaft anerkennen, vielmehr dem die Generationen überdauernden Staate Eigenwert zuschreiben, gehen wir bei Betrachtung der menschlichen Verbände nicht ausschließlich vom einzelnen aus, kennen wir nicht allein die politischen Grundrechte, sondern auch Grundpflichten des Deutschen von der gleichen Würde.

Die einzelnen Sätze des so überschriebenen Verfassungsteiles haben eine verschiedene juristische Bedeutung. Im Ganzen muß dieser Abschnitt als ein „Niederschlag der deutschen Rechtskultur“2 aufgefaßt werden, als die programmatische Bekenntnisgrundlage des Deutschen Reichs. Es sollten, wie sich der Berichterstatter bei der Verfassungsberatung ausdrückte, „gewisse elementare Wahrheiten unserer Rechtskultur für würdig gehalten werden, aus dem Alltag der gewöhnlichen Gesetzgebung herausgehoben zu werden an die feierliche Stelle der Verfassung“.3 So kommt es, daß einige dieser Grundrechte tatsächlich ‚nur‘ sittliche Grundsätze und kein Recht zum Inhalt haben;4 andere sind lediglich Grundsätze für das Handeln des Gesetzgebers, die dem einzelnen an sich noch keinen juristischen Anspruch gegen den Staat verschaffen;5 wieder andere zwar Grundrechte, die den Gesetzgeber zum Erlaß eines entsprechenden Gesetzes juristisch verpflichten, dem einzelnen aber ebenfalls noch keinen Anspruch darauf gewähren.6 Der Gesetzgeber aber wird durch einen Verfassungszusatz insofern rechtlich verpflichtet werden, als er ein diesem Satz widersprechendes Gesetz ohne Verletzung der Verfassung nur dann erlassen kann, wenn er den erschwerten Weg der Verfassungsänderung beschreitet (Art. 76). Echte Grundrechte und Grundpflichten sind diejenigen, die dem Individuum juristisch Ansprüche auf ein Tätigwerden oder Unterlassen der Staatsgewalt verleihen.7 Wie eine Verfassungsbestimmung im Einzelfalle juristisch zu bewerten ist, ob sie lediglich eine Anweisung an den Gesetzgeber oder bereits geltendes nur objektives oder subjektives Recht ist, kann zweifelhaft sein. Eine Anzahl von Grundrechten sind nicht nur Rechte der ‚Deutschen‘, sondern auch der in Deutschland sich aufhaltenden Ausländer.8

III. Gliederung

Der zweite Hauptteil der Verfassung bildet die politische Gesinnungsgrundlage des Deutschen Reiches, wie sie im Laufe der geschichtlichen Entwicklung aus den Kämpfen der gesellschaftlichen Ideale und Interessen herausgewachsen ist. Als Ausgleich historisch gewordener Gegensätze sind die Grundrechte einer abstrakt logischen Gliederung nicht zugänglich: Wir können die an ihnen waltende Vernunft nur dadurch erkennen, daß wir ihrem Wege in der Geschichte bescheiden nachgehen. Dann sehen wir in der Entwicklung des modernen Staates seit dem Absolutismus hintereinander vier Ideen, vier Bewegungsrichtungen der Geschichte sich auswirken: die liberale, demokratische, nationale und soziale Idee. Diese nicht transzendenten, sondern der Entwicklung immanenten Ideen sind abzulesen sowohl an ihrer politischen wie wirtschaftlichen, künstlerischen, religiösen, wissenschaftlichen, mit einem Wort gesellschaftlichen Auswirkung; diesen heute lebendigen und in dem Grundrecht zum Ausdruck gelangenden Ideenkreisen sind die Grundrechte einzuordnen.

Die liberale Idee, in ihrer geschichtlichen Auswirkung bereits oben kurz gekennzeichnet, entspricht dem einen Grundzuge der ‚gesellig-ungeselligen Natur‘ der Menschen,9 seiner individualistisch-kosmopolitischen Tendenz. Die Kultur muß nach einer Richtung aufgefaßt werden als ‚Prozeß der Umwandlung des Rassenmäßigen zum Reflektierten‘.10 Der sich von den ursprünglichen Kollektivvorstellungen loslösende, zu autonomem Bewußtsein gelangende Mensch kommt zur Überzeugung, daß seine geklärte Vernunft, sein gereinigtes Gefühl, sein Sittlichkeits- und Rechtsbewußtsein nichts andres als seine Menschennatur sei, menschliche Allgemeingültigkeit besitze. Es entsteht die Vorstellung vom allgemeingültigen Sittengesetz und Naturrecht.

Der liberale Gedanke, die natürliche Freiheit des Individuums vom Staate, meist bürgerliche Freiheit genannt, erfährt seine Verwirklichung wesentlich durch den politischen und wirtschaftlichen Aufstieg des Bürgertums, das sich in Deutschland gegen die bevormundende und nicht selten vergewaltigende Macht des absoluten Polizei- oder Wohlfahrtsstaates zur Wehr setzt und die Beseitigung der Reste der feudalen Gesellschaft und Wirtschaft fordert. Die bürgerliche Gesellschaft, in erster Linie als Wirtschaftsgesellschaft mit ihren revolutionären kapitalistischen Wirtschaftsformen, verlangt Freiheit vom bevormundenden Absolutismus, vom merkantilistischen Staat. Der Staat soll, so lautet die Forderung Wilhelm v. Humboldts, des berühmtesten Wortführers der liberalen Idee, die Ordnung des Zusammenlebens grundsätzlich dem ‚freien Spiel der Kräfte‘11 überlassen und um „keinen Schritt weiter“ die Freiheit der Individuen beschränken, „als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst, und gegen auswärtige Feinde notwendig ist“.12 Es war das Ideal des liberalen Rechtsstaates im Sinne eines Staates, der lediglich Recht setzt, Recht spricht und Schutz nach außen gewährt, alles andere aber der freien Übereinkunft der einzelnen überläßt. Ein Ideal, von dem nur ein kurzer Weg zur Bestreitung der Notwendigkeit auch dieser Staatsaufgaben, zum Anarchismus, führt.

Kraft dieser liberalen Idee ist jeder Mensch als Mensch rechtlich frei. Diese, eine rechtliche Sklaverei ausschließende freie Persönlichkeit ist ein Zustand des Menschen, der die Grundlage aller seiner sonstigen Rechte und Pflichten bildet. Der Liberalismus allerdings forderte nicht absolute Freiheit vom Staate, sondern, wie schon Humboldt sagt, „Sicherheit“, „Gewißheit der gesetzmäßigen Freiheit“,13 eine Rechtsschranke gegen willkürliche Gebote oder Verbote der Organe des Polizeistaates; er fordert den Rechtsstaat im Sinne eines Gemeinwesens, in dem alle Organe nur auf Grund eines Gesetzes dem Bürger befehlen dürfen, das sog. Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Wenn die Bindung der Verwaltung an Gesetze eine Freiheitsgarantie bedeuten sollte, dann mußte gefordert werden, daß die gesetzgebende Gewalt an ein anderes Organ zu übertragen sei, wie die Verwaltung, die rechtsprechende Gewalt aber von beiden möglichst unabhängig sein solle (Montesquieus Gewaltverteilungslehre). Denn alle Freiheitsrechte können den einzelnen immer nur gegen ungesetzliche Eingriffe der Verwaltung und Rechtsprechung schützen, nicht aber gegen den das bestehende Recht (auch Verfassungsrecht durch qualifizierte Majorität) abändernden Gesetzgeber. Allerdings ist die Gewalt des modernen Staates als einheitliche zu denken; ihre drei Funktionen sind aber dem Grundsatze nach an verschiedene Organe verteilt, so daß jeder Bürger einen Anspruch darauf hat, daß die Staatsorgane nur dann und nur soweit in seine persönliche Freiheit eingreifen, als das Gesetz die Organe dazu ermächtigt.

Die liberale Idee ist an sich noch an keine bestimmte Staatsform geknüpft. Eine absolute Monarchie, die sich streng an den Grundsatz der gesetzmäßigen Verwaltung hält, widerstrebt der liberalen Idee nicht, wohl aber der demokratischen Idee, die Freiheit über den Staat, Teilnahme der Regierten am Regiment fordert, der politischen, staatsbürgerlichen, auch Freiheit der Regierten genannt. Diese fordert, um mit ihrem berühmtesten Vertreter, mit Rousseau zu sprechen, daß das Staatsoberhaupt „aus den einzelnen, aus denen es besteht, gebildet wird“.14 Die demokratische Idee findet ihre Verwirklichung in der Volkssouveränität, die im Gegensatz zur monarchischen Idee alle öffentliche Gewalt vom Volke und nicht von einem durch sich selbst berechtigten Monarchen (,von Gottes Gnaden‘) ableitet. Sie fordert die Republik oder zumindest parlamentarische Monarchie, in der ebensowohl die gesetzgebende Gewalt, sei es mittelbar (durch Volksvertreter) oder unmittelbar (Volksentscheid, Volksbegehr), wie die richterliche Gewalt (durch Geschworene, Schöffen oder gar allgemeine Richterwahl) und administrative Gewalt (Beamtenwahl, Selbstverwaltung, Räte) vom Volke ausgeht. Der soziale Träger auch dieser Idee war in Deutschland bis 1848 etwa das Bürgertum, das vom Absolutismus Mitherrschaft verlangt und mit den bisher allein politisch berechtigten adligen Ständen ‚gleiches Recht‘ haben will. Nachdem das Bürgertum diese Mitherrschaft wenigstens dem Grundsatz nach erlangt, geht die demokratische Forderung an den vierten Stand, an das Proletariat über.

Die Französische Revolution hatte neben die liberale Freiheit die demokratische Gleichheit und die kosmopolitische Brüderlichkeit auf ihre Fahnen geschrieben, zugleich aber den nationalen Imperialismus eines Napoleon gezeugt, dessen Weltmachtsgelüste den europäischen Völkern, insbesondere den Spaniern, Deutschen und Italienern die Bedeutung des Staates für ihre nationale Kultur hart, aber unwiderlegbar bewiesen. Die nationale Idee tritt zum erstenmal in der Geschichte als politische Idee auf, zum erstenmal wird ‚ein Staat, ein Volk‘, Nationalsouveränität als politische Freiheit einer Kulturgemeinschaft nach außen gefordert. Die Nation wird nicht mehr als die Summe der einzelnen, sondern als eine Kulturgesamtheit betrachtet, die zu ihrer Selbstbehauptung der rauen Schale der Staatsmacht bedarf. Diese nationale Idee hat den belgischen, norwegischen, griechischen, die nationalen Staaten der Balkanhalbinsel geschaffen, sie hat Deutschland und Italien geeint, die österreichisch-ungarische Monarchie in Nationalstaaten aufgelöst und Polen, Tschechen und Südslawen zu Staaten verholfen. Sie wirkt im 19. Jahrhundert der liberal-individualistischen Entwicklungsrichtung als der zweite Grundzug der geselligungeselligen Menschennatur entgegen, als autoritär-gemeinschaftliche Entwicklungstendenz. Sie bildet im modernen Nationalstaate die sittliche Grundlage aller dem Gliede von der Gesamtheit auferlegten Grundpflichten. Der soziale Träger auch dieser Idee ist in Deutschland das Bürgertum, das dabei in der ersten Jahrhunderthälfte mit dem partikularen Landesherrn und zum Teil auch mit dem Adel, in der zweiten Hälfte mit der Arbeiterschaft in Konflikt gerät.

Die liberale Idee hatte jedem Individuum eine formalrechtliche Freiheit vom Staate, die demokratische Idee wenigstens jedem die gleiche öffentliche Rechtsmacht zugebilligt, und doch wird das 20. Jahrhundert von der furchtbaren Gefahr der sozialen Revolution bedroht. Das laisser aller, die Freiheit der Wirtschaft vom Staate war als Naturrecht der Vernunft gefordert worden; jedes Wirtschaftssubjekt, meinte man, sollte nur frei seinem Selbstinteresse nachgehen, eine prästabilierte Harmonie garantiere dann schon die Symphonie der Gesellschaft. Was einst Vernunft war, wurde durch die Entwicklung der Maschinenwirtschaft Unsinn, und die einstmalige Wohltat der Freiheit wurde für den wirtschaftlich Schwachen zur Plage. Das Beispiel Frankreich, das von 1789–1815 zehn verschiedene Verfassungen besessen hatte, ohne die wirkliche Gesellschaft wesentlich zu verändern, lehrte die Erkenntnis, daß die soziale Ordnung weniger durch juristisch-abstrakte Verfassungskämpfe, als im materiellwirtschaftlichen Machtkampf hergestellt wird. Die proletarisierte Klasse muß nun notwendig darauf ausgehen, wie Lorenz v. Stein zum erstenmal in Deutschland noch vor Marx erkannt hat, „die Staatsgewalt als Mittel für gesellschaftliche Förderung“, „als Bedingung gesellschaftlicher Freiheit“ zu betrachten, „um vermöge der Staatsgewalt ihre gesellschaftliche Stellung zu einer nicht mehr abhängigen, das heißt ihre Mitglieder zu Teilnehmern am Kapitale der Nation zu machen“.15 Diese soziale Idee ist die folgerichtige Fortführung der politischen zur wirtschaftlichen Demokratie. Die erstere hat die politischen Stände beseitigt, die letztere wendet sich gegen die wirtschaftlichen Klassen. Der gesellschaftliche Träger dieser Idee ist die Handarbeiterschaft, ihr unmittelbarster politischer Gegner ist die liberale „Nachtwächteridee“ des Staates, dessen Zweck die „Bourgeoisie“ lediglich darin erblicke, „die persönliche Freiheit des einzelnen und sein Eigentum zu schützen“.16 Sie will somit den reinen Rechtsstaat zum demokratisch-sozialen Wohlfahrtsstaat dadurch umwandeln, daß sie die ‚Anarchie der Produktion‘ durch eine gerechte Ordnung des Wirtschaftslebens zu ersetzen strebt und zu diesem Ziel das Privateigentum möglichst weitgehend beschränkt. In dieser Entwicklung, die durch den ‚Kriegssozialismus‘ mächtig gefördert und durch die Revolutionen in Rußland, Österreich und Deutschland ihren ersten verfassungsmäßigen Ausdruck gefunden hat, stehen wir mitten drin.

[Zuerst veröffentlicht in: Teubners Handbuch der Staats- und Wirtschaftskunde, 1. Abteilung (Staatskunde), Band 2, Heft 1, Leipzig 1924, S. 1–23 (gekürzt)].

Anmerkungen

1[Wessen Gebiet, dessen Religion].

2[So Adelbert Dühringer, zitiert in: Verhandlung der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 336, Anlage 391, Bericht des Verfassungsausschusses, Berlin 1920. Wortprotokoll der Sitzung vom 28. Mai 1919, S. 370].

3[So Konrad Beyerle, zitiert in: Verhandlung der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328, Berlin 1920. Wortprotokoll der Sitzung vom 11. Juli 1919, S. 1504 B].

4Vgl. Art. 119, Abs. 1; Art. 157 WRV [Weimarer Reichsverfassung].

5Art. 109, Abs. 1; Art. 152, Abs. 1 WRV.

6Art. 109, Abs. 5 und 6; Art. 121 WRV.

7Sogenannte Subjektive öffentliche Rechte und Pflichten, z.B. Art. 111; 123; 135 WRV.

8Z. B. Art. 114; 135 WRV.

9[Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: ders., Werkausgabe Band XI, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1977, S. 38].

10[Jakob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, 3. Auflage, Stuttgart 1918, S. 56].

11[Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792), in: ders., Gesammelte Schriften, herausgegeben von der Königlich-Preußischen Akademie, Band 1, Berlin 1903, S. 113].

12[Humboldt, Ideen, S. 129].

13[Humboldt, Ideen, S. 179].

14[Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag (1762), Stuttgart 2020, S. 21 (Buch 1, Kapitel 7)].

15[Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (1850), neu herausgegeben von Harald Bluhm, Band 1, Berlin 2016, S. 53].

16[Ferdinand Lassalle, Arbeiter-Programm. Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes (1862), mit einer Einleitung von Hermann Heller, Leipzig 1919, S. 65].

2. Sozialismus und Nation

„Freiwillige Abhängigkeit ist der schönste Zustand, und wie wäre der möglich ohne Liebe.“1

I. Vom Wesen des Sozialismus

Warum bin ich Sozialist? Weil es mir schlecht und anderen gut geht? Oder weil mein politisches, sittliches und religiöses Denken nur ein Spiegelbild meiner wirtschaftlichen Lage ist? Gewiß, das mag bei der großen Masse der Menschen richtig sein. Sind es aber die einzigen und wesentlichen Begründungen des Sozialismus? Nein, antwortest du, ich bin Sozialist, weil ich erkannt habe, daß der zwangsläufige Fortschritt der Produktionsverhältnisse zum Sozialismus führen muß. Wie auf die feudale die kapitalistische, so muß auf diese die sozialistische Gesellschaftsordnung folgen. Muß?! Woher diese Gewißheit? Aus der Wissenschaft kannst du sie nicht haben; denn die Wissenschaft kann bestenfalls gewisse Tendenzen, Bewegungsrichtungen der Geschichte aufzeigen, denen gegenüber du dich entscheiden mußt. Sie kann dir weder beweisen, daß du morgen leben wirst, noch, daß die Erde nach den nächsten zwei Stunden existieren wird. Gesellschaftliche Produktionsverhältnisse aber heißen zu deutsch: gesellschaftliche Arbeitsverhältnisse, und diese sind nichts anderes als das Zusammenwirken lebendiger Menschen. Muß deshalb nicht der Mensch sich entscheiden, muß er nicht selbst dazu mitwirken, daß sein seelischgeistiges Verhältnis zur Arbeit sich ändert?

Sicherlich ist es richtig, daß das gesellschaftliche Dasein der Menschen ihr Bewußtsein durchschnittlich stärker bestimmt als umgekehrt. Selbst wenn man aber dieses Verhältnis von Sein und Bewußtsein zugibt, so muß man sich gerade an den Persönlichkeiten eines Marx, Engels oder Lassalle die gewaltige Bedeutung eines sittlich gestaltenden Bewußtseins für die Entstehung neuer Gesellschaftsordnungen klarmachen. Sind doch diese Söhne der Bourgeoisie der lebendige Beweis dafür, daß der Sozialismus nicht nur eine Magen- und Massenfrage ist, und daß es gerade die großen Führer sind, die Epoche machen eben deshalb, weil sie ihr sittliches Bewußtsein über ihr gesellschaftliches Dasein zu erheben vermögen. Marx, der Sohn des wohlhabenden rheinischen Rechtsanwaltes, verheiratet mit der Schwester des preußischen Innenministers, ausgestattet mit allen Möglichkeiten eines bequemen gesellschaftlichen Daseins und doch durch sein sittliches Bewußtsein in das Londoner Exil verbannt, wo er einmal seinen Rock versetzt, um Schreibpapier zu kaufen, ein andermal einen Zeitungsartikel nicht schreiben kann: „weil ich den Penny nicht hatte, um Zeitung lesen zu gehen“, am Begräbnistage seines einzigen geliebten Knaben zu benachbarten Franzosen laufen muß, um Geld für die Beerdigung zu pumpen, und dennoch zwei Anträge Bismarcks, die ihm eine gesellschaftliche Existenz hätten bieten können, ohne Besinnen abweisend, in seine Arbeiten gewühlt, mit denen er einen Erdteil umwälzt! Wer vor der Gewalt dieses, das kapitalistische Dasein zermalmenden Führerbewußtseins, wer vor der Größe dieser sittlichen Kraft sich nicht in Ehrfurcht neigt, der hat weder vom Wert und der Würde des großen Menschen einen Hauch verspürt, noch hat er das geringste verstanden von der Bedeutung des großen Führers für das Werden und Vergehen geschichtlich-gesellschaftlicher Lebensformen.

Was uns an dem Bilde eines Marx erschüttert, ist sein leidenschaftlicher Wille zur Gerechtigkeit. Er war der mächtigste Antrieb in ihm, der ihn auf die niedrigen Vorteile eines bequemen Lebens verzichten ließ und ihm die Kraft gab, für die Befreiung eines unterdrückten Menschentums zu kämpfen und zu leiden. Im Bewußtsein eines jeden Menschen sind diese sittlichen Gründe, für oder gegen eine bestimmte Ordnung der gegenseitigen Beziehungen, die entscheidenden. Daß der Sozialismus die unbedingt nützlichere oder die mit naturnotwendigem Zwange eintretende Ordnung ist, kann zunächst einmal niemandem bewiesen werden. Ganz abgesehen davon, daß unter Tausenden immer nur einer sein wird, der das begriffliche Rüstzeug besitzt, um solchen Beweisen folgen zu können, wäre mit solchen Beweisen auch noch sehr wenig gewonnen; denn fraglich wäre es, ob dadurch die gestaltende Tätigkeit vermehrt oder unmittelbar belebt würde, und darauf gerade kommt alles an. Daß aber der Sozialismus die menschenwürdigere und gerechtere Ordnung der Lebensbeziehungen bedeutet, daß die wirtschaftliche Gesinnung und gesellschaftliche Form des Kapitalismus ein Vandalismus ist, mit dieser Erkenntnis können wir sowohl dem vielleicht entmutigten und erschöpften Arbeiter wieder Kraft und Schwung zu seiner Befreiung geben, als auch die gesellschaftlichen Kampfmittel gegen die Verteidiger jener kapitalistischen Lebensformen verstärken. Sittliche Überzeugungen sind gewaltige Mächte! Marx selbst hat an sie immer wieder appelliert, wenn er seine große Anklage schleuderte gegen Unterdrückung, Ausbeutung, Hartherzigkeit, Habgier und Profitsucht und von der ‚großen Pflicht‘ der Arbeiterklasse zur Eroberung der politischen Macht spricht. Die letzte Begründung des wahren Wesens des Sozialismus liegt uns also in der Idee der gesellschaftlichen Gerechtigkeit, in dem Willen zu gegenseitiger Hilfe und gerechter Gemeinschaft, in der sittlichen Gestaltung unserer gegenseitigen Beziehungen.

Weil wir aber wissen, daß der Mensch durch sein gesellschaftliches und insbesonders durch sein wirtschaftliches Dasein durchschnittlich und auf die Dauer stärker beeinflußt wird, als durch sein sittliches, religiöses oder sonstiges Bewußtsein, so müssen wir, wollen wir ganze Menschen schaffen helfen, von der juristisch-formalen Gerechtigkeit fortschreiten zur wirtschaftlich-materiellen. „Man hat“, um mit Fichte zu sprechen, „…die Aufgabe des Staates bis jetzt nur einseitig und nur halb aufgefaßt, als eine Anstalt, den Bürger in demjenigen Besitzstande, in welchem man ihn findet, durch das Gesetz zu erhalten. Die tiefer liegende Pflicht des Staates, jeden in den ihm zukommenden Besitz erst einzusetzen, hat man übersehen. Dieses letztere aber ist nur dadurch möglich, daß die Anarchie des Handels ebenso aufgehoben werde, wie man die politische allmählich aufhebt.“2 In der Gestaltung der Wirklichkeit muß also die Idee der genossenschaftlichen Gerechtigkeit bezogen werden auf das zu gestaltende Material, insbesondere auch auf die Erzeugung und Verteilung der wirtschaftlichen Güter. Ein Idealismus, der in unserer Zeit diese Wirklichkeitswendung zur Wirtschaft nicht mitmacht; ein Idealismus, der, um ganz konkret zu reden, vor der Lohnfrage oder dem Arbeitslosenproblem versagt, ein solch wirklichkeitsfremder Idealismus betrügt entweder sich oder andere und kann uns augenblicklich gestohlen werden. Fichtes Idealismus war aus anderem Holze als der so vieler unserer heutigen Gebildeten. „Der Mensch soll arbeiten“, sagt eines seiner bekannten Worte, „aber nicht wie ein Lasttier, das unter seiner Bürde in den Schlaf sinkt, und nach der notdürftigsten Erholung der erschöpften Kraft zum Tragen derselben Bürde wieder aufgestört wird. Er soll angstlos, mit Lust und Freudigkeit arbeiten, und Zeit übrig behalten, seinen Geist und seine Augen zum Himmel zu erheben, zu dessen Anblick er gebildet ist.“3 Dieser Idealist wußte auch, daß im organisatorischen Aufbau der gerechten Gemeinschaft der Weg vom Materiellen zum Ideellen, von unten nach oben gegangen werden muß: „Die Mitglieder der Regierung, sowie die des Lehr- und Wehrstandes sind bloß um der ersten [der ökonomischen Produzenten] willen da.“4 Wer Fichte kennt, weiß auch, wie weit der Sozialismus trotzdem von einer Verdauungsphilosophie entfernt ist.

Jedes Ideal vermag sich nur im Kampf mit den gegebenen gesellschaftlichen Machtverhältnissen durchzusetzen. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Machtverhältnisse sind verwirtschaftlicht in der Weise, daß einzelne Individuen und Gruppen durch ihre wirtschaftliche Macht zugleich tatsächlich die Herrschaft über den Staat besitzen. Das kapitalistische Unternehmertum organisiert seine privatrechtliche Eigentumsmacht an den Produktionsmitteln in Trusts und Kartellen, mittels welcher es die Staatsmacht auf sehr vielen Gebieten völlig auszuschalten, auf anderen sehr wesentlich zu beschränken vermag. So übt schließlich Agrar-, Industrie- und Finanzkapital – man werfe nur einen Blick auf die Vereinigten Staaten von Amerika –, trotz aller demokratischen Staatsformen, eine weitgehende einseitig wirtschaftliche Herrschaft über die staatliche Gesamtheit aus, deren Gefahr für eine lebendige Kultur kaum überschätzt werden kann. Sozialismus heißt gerechte Herrschaft der Gemeinschaftsautorität über die Wirtschaft. Die Arbeiterschaft im weiten Sinne wird, auch wenn sie die organisierte staatliche Macht verfassungsmäßig in Bewegung zu setzen vermag, den Gedanken der genossenschaftlichen Gerechtigkeit nur dann zur Durchführung bringen können, wenn der Staat und andere öffentliche Körperschaften über wirtschaftliche Eigenmacht verfügen, wenn der Privateigentumsmacht ein öffentliches, sozialistisches, wenn auch nicht notwendig staatliches Eigentum entgegengesetzt zu werden vermag.

Der Sozialismus wendet sich gegen die Klassenherrschaft. Gegen die Klassenherrschaft, in der über den Anteil an Erziehung und Bildung, an gesellschaftlicher Macht und Ehre nicht persönliche Begabung und Fähigkeit in erster Linie entscheiden, sondern vornehmlich äußere, wirtschaftliche Verhältnisse. Die Klassenbildung ist durchaus keine Naturtatsache, wie die liberale Gesellschaftslehre und auch der Nationalsozialismus meinen, sie ist nicht einfach der Ausdruck der persönlichen, natürlichen Ungleichheit der Menschen, sondern ruht auf bestimmten wirtschaftlichen Ursachen – insbesonders auf dem Besitz oder Nichtbesitz der Arbeitsmittel –, also auf gesellschaftlichen Tatsachen, die geschichtlich entstanden und geschichtlich veränderlich sind. Die Gegner, aber auch manch gedankenlose Freunde des Sozialismus sind der Meinung, der Sozialismus bedeute nicht nur Beseitigung der Klassenungleichheit, sondern allgemeine Gleichmacherei. Solchen Unsinn haben Marx und Engels oder sonstige sozialistische Führer nie behauptet. Im Gegenteil: Engels betont mit aller Schärfe, daß der Inhalt der sozialistischen Gleichheitsforderung einzig und allein die Abschaffung der Klasse ist. „Jede Gleichheitsforderung, die darüber hinausgeht, verläuft notwendig ins Absurde.“5 Und Marx sagt: „Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit als natürliche Privilegien an.“6

Der Sozialismus geht also davon aus, daß in und durch die gegenwärtige Wirtschaftsgesinnung und Wirtschaftsform ungeheure Massen „humaner Entwicklung“ (Marx) entzogen, aus dem Zusammenhang der Kultur gerissen sind. Sein Ziel aber ist eine ganze geistige Welt weit entfernt von dem liberalistischen Ideal eines bequemen Nützlichkeitsglückes der größten Zahl. Nicht in einer geruhigen Sattheit sieht er die diesseitige Bestimmung des Menschen, sondern in der individuellen und gesellschaftlichen Steigerung der kulturgestaltenden Kräfte, in der Mehrung der inneren und äußeren Macht des Menschen. Auch dafür kann er sich auf Fichte berufen, der als höchsten sittlichen Vernunftzweck Kultur bezeichnete, und zwar Kultur als ein Herrschaftsrecht eines jeden Menschen über die äußere und innere Natur, als „die fortzuerweiternde Herrschaft über die Natur, die das Recht aller ausmacht …; über die äußere Natur, Verbesserung des Ackerbaus, der Künste und Gewerbe, stets im richtigen Verhältnisse zueinander; über die innere