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Ein Mord kommt selten allein ....
Vor drei Jahren wurde Fabio "Flaco" Lozano auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Kriminalinspektor aus dem Dienst gemobbt. Jetzt schlägt er sich als Sicherheitsmann mehrerer Hotels durch. Langeweile kommt dabei nicht auf, denn immer wieder muss er seine kriminalistischen Fähigkeiten unter Beweis stellen. Ganz gleich, ob es sich dabei um das rätselhafte Verschwinden einer wohlhabenden älteren Dame, den tödlichen Sturz eines Gastes vom Balkon oder um die geheimnisvolle Vergangenheit eines Padres handelt – unkonventionell, mutig und gewitzt kann Flaco jeden noch so schwierigen Fall lösen.
Enthält die sechs Kurzgeschichten: »Piña Colada und ein Mord«, »Barracuda«, »Nur eine kleine Rache«, »Wo ist Señora Molinero?«, »Estebans Geheimnis« und »Der Maskenmann«.
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Seitenzahl: 226
Veröffentlichungsjahr: 2025
Eric Berg zählt seit vielen Jahren zu den erfolgreichsten deutschen Autoren. Seit seinem spektakulären Krimidebüt »Das Nebelhaus«, das es auf Anhieb auf die SPIEGEL-Bestsellerliste geschafft hat und fürs Fernsehen verfilmt wurde, hat der Erfolgsautor über eine Million Kriminalromane im deutschsprachigen Raum verkauft und seine Leser*innen und Kritiker*innen immer aufs Neue begeistert. Neben seinen Ostsee-Krimis hat er mit »Roter Sand« und »Rote Sonne« das beliebteste Urlaubsziel der Deutschen zu seinem Schauplatz gemacht: die Kanarischen Inseln.
Vor drei Jahren wurde Fabio »Flaco« Lozano auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Kriminalinspektor aus dem Dienst gemobbt. Jetzt schlägt er sich als »Butlerguard« einer exzentrischen Hotelbesitzerin durch. Doch Langeweile kommt dabei nicht auf, denn immer wieder muss er seine kriminalistischen Fähigkeiten unter Beweis stellen. Ganz gleich, ob es sich dabei um das rätselhafte Verschwinden einer wohlhabenden älteren Dame, den tödlichen Sturz eines Gastes vom Balkon des Luxushotels oder um die geheimnisvolle Vergangenheit eines Padres handelt – unkonventionell, mutig und gewitzt kann Flaco jeden noch so schwierigen Fall lösen. Hier ist Spannung garantiert!
Eric Berg
Der Maskenmann / Barracuda / Piña Colada und ein Mord / Wo ist Señora Molinero? / Nur eine kleine Rache/ Estebans Geheimnis
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Covergestaltung: © Daniel Schlereth/DAV unter Verwendung des folgenden Motivs © Marcin Krzyzak/Shutterstock.com, nach einer Idee von www.buerosued.de
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-32706-4V001
www.blanvalet.de
Eric Berg
Blanvalet
Als ich am Flughafen Köln–Bonn landete, wartete bereits meine Mutter auf mich. Aus dem Gewirr von Menschen hob sie sich durch ihren knallroten Schopf hervor, und ihre wild fuchtelnden Hände und gellenden Juhu-Schreie taten ein Übriges. Wir hatten uns fast zwei Jahre nicht gegenübergestanden, hatten uns immer nur über Skype gesehen, aber sie ist nicht der »Ich-hole-dich-ab-Typ«. Ihren Frisiersalon lässt sie so gut wie nie alleine, obwohl sie mehrere Mitarbeiterinnen hat, und es war Mittwochnachmittag.
»Du bist groß geworden, Goliath.«
»Ja, vor etwa fünfzehn Jahren. Damals habe ich meine hundertvierundachtzig Zentimeter erreicht.«
»Irgendwie kommst du mir größer vor.«
»Na ja, dem Pudel erscheint die Dogge wie ein Ochse. Oder so.«
Sie drückte den Kopf gegen meinen Brustkorb. Noch immer trug sie diese ausladende, lockige Frisur, die in den Achtzigern modern gewesen war, in einem schwer zu beschreibenden changierenden Rotton. Es ist ihr Geheimnis, wie sie die Farbe zusammenmischt, und ich kann mich an keinen Tag meines Lebens erinnern, an dem ihre Haare anders ausgesehen haben. Wie so oft fragte ich mich, wie es je dazu hatte kommen können, dass sich ein ernsthafter, ehrgeiziger und ordnungsliebender Typ wie mein Vater in diese unangepasste, burschikose Frau verliebt hatte. Vielleicht über die Optik. Meine Mutter war, alten Fotos und Videos nach zu urteilen, damals schon recht üppig gewesen, und die rauchige Whiskystimme verleiht ihr etwas Verruchtes.
Ich war nicht überrascht, als sie mich, statt zu ihr nach Hause oder in den Salon zu fahren, erst mal in eine Flughafenbar dirigierte. Zwei Tage zuvor am Telefon hatte sie äußerst geheimnisvoll und dringend getan. Was immer es war, sie wollte es wohl so schnell wie möglich loswerden. Da sie sich als Autofahrerin eher wie eine Autoscooter-Pilotin benimmt und dabei mehr mit den Insassen der anderen Fahrzeuge als mit ihrem Beifahrer kommuniziert, war eine Bar mit krächzenden Espressomaschinen und Softjazz, untermalt von Lautsprecherdurchsagen, eine geradezu gemütliche Alternative.
Meine Mutter bestellte ein alkoholfreies Kölsch und ich einen vino tinto. Da die Karte unverständlicherweise keinen kanarischen zu bieten hatte, begnügte ich mich mit einem Rioja.
»Danke, dass du so schnell gekommen bist, Flaco. Ich wusste nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte. Hat das olle Schrapnell von deiner Chefin dir also freigegeben?«
»Doña Esmeralda hat mir sogar Sonderurlaub bewilligt. Spanische Chefs sind sehr entgegenkommend, wenn es um die Familienangelegenheiten ihrer Mitarbeiter geht. Das macht es ihnen leichter, in allen anderen Belangen wenig entgegenkommend zu sein. Also, Mama, worum geht es? Du sagtest, jemand stellt dir nach.«
»Ach, sagte ich das?«
»Du hast dich aufgeregt und verstört angehört. Gut, aufgeregt hörst du dich eigentlich immer an, aber Konfusionen liegen dir nicht, dabei sieht man blöd aus, und das ist wirklich das Allerletzte, was du willst. Raus damit, was ist passiert? Hast du einen Geist gesehen?«
Als das Kölsch und der vino kamen, ergriff meine Mutter den Wein und kippte ihn in einem Zug halb runter. Nun gut, dann würde eben ich fahren …
»Lass mich raten: Du hast keinen Geist gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Lass mich weiter raten: Du hast gar nichts gesehen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Niemand stellt dir nach.«
Sie schüttelte den Kopf. »Mir nicht.«
»In Ordnung. Ich bin also für jemand anderen Tausende von Kilometern geflogen. Für wen?«
Sie kippte die zweite Hälfte des Weines runter und orderte mit dem Glas Nachschub.
»Du erinnerst dich an Tante Alma?«
Mir klappte die Kinnlade herunter. »Nein.«
»Deine Großtante. Als Kind warst du ein paarmal …«
Ich unterbrach sie. »Ich meinte nicht: Nein, ich weiß nicht, wer Tante Alma ist. Ich meinte: Nein, ich glaube einfach nicht, dass du mich wegen Tante Alma quer durch Europa scheuchst. Willst du damit sagen, sie lebt noch? Es gibt nicht mehr viele Frauen, die sich erinnern, in welchem Kino sie Rudolph Valentinos letzten Stummfilm gesehen haben.«
»Sie ist dreiundneunzig, Flaco, und wohnt noch immer in ihrem Häuschen. Allerdings ist sie geistig ein wenig … nicht mehr so ganz frisch. Deswegen hat sie auch eine jüngere Mitbewohnerin bei sich aufgenommen. Und natürlich habe ich dich nicht wegen Tante Alma kommen lassen.«
»Da bin ich ja beruhigt.«
»Sondern wegen der Mitbewohnerin. Sie hat einen Mann gesehen, einen Mann mit Maske, mitten in der Nacht in ihrem Schlafzimmer. Schon zweimal.«
Dankbar nahm meine Mutter den Rioja in Empfang und trank ihn, wie den ersten, sogleich zur Hälfte aus. Mir war auch nach einem vino, und zwar mehr denn je. Stattdessen nippte ich am Kölsch und dachte: reingefallen, Flaco.
Der Salon meiner Mutter liegt im Barbaraviertel von Neuss, nahe der Piers, mit Blick auf Kräne, Frachter, Speditionshallen, Containerstapel, Bahngleise, ein Zementwerk und eine riesige, mit Autos zugestellte Betonplatte. Der Rhein ist nur ein paar Steinwürfe entfernt, aber von monströsen Silos verdeckt, in denen was weiß ich lagert. Als wir eintraten, mischte sich das Zischen, Klappern und Hupen von den Piers hinter uns mit dem Dröhnen der Trockenhauben vor uns, und als wir die klapprige Tür mit der alten Schelle hinter uns schlossen, war der Unterschied marginal. Auf Wirtschaftsdeutsch: Der Laden wies einen Investitionsstau auf, und die Trockenhauben machten mehr Lärm als ein Staubsauger aus den Fünfzigern. Nach der Scheidung von meinem Vater vor vierundzwanzig Jahren hatte meine Mutter mit dem ihr ausgezahlten Geld den Salon samt Inventar gekauft und über die Jahre nur wenig erneuert. Die Kunden eingeschlossen. Ich will mich höflich ausdrücken: Meine Mutter hat eine zuverlässige Klientel, ihre Software sozusagen, die zusammen mit der Hardware altert.
Die sechs Plätze waren zu einem Drittel belegt. Einer alten Dame wurden gerade die Lockenwickler entfernt, eine noch ältere döste unter der Trockenhaube. Ich erkannte sie sofort. Tante Almas spitzes, gelbliches und flaches Gesicht, wie eine Stiefelsohle in Größe 49, war mir schon als Kind unheimlich vorgekommen.
Damals dachte ich, dass so ein Gesicht wehtun müsse, so zusammengedrückt, wie es war.
Meine Mutter weckte Großtante Alma und stellte uns vor, aber das alte Mädchen hätte auch einem Zirkusclown oder einem Wolfsmenschen die Hand schütteln können, ohne die geringste emotionale Regung zu zeigen. Sie verstand nicht mehr, was um sie herum vorging, doch körperlich schien sie mir in beachtlich guter Verfassung zu sein, von ihrer Müdigkeit mal abgesehen. Sie döste sogleich wieder ein.
Meine Mutter schickte ihre Mitarbeiterin in den Feierabend. Die Schelle erklang, der Schlüssel wurde umgedreht, und in dem Moment wurde mir klar, dass es sich bei der zweiten alten Dame, deren Lockenwickler erst zur Hälfte herausgedreht waren, um Tante Almas »jüngere« Mitbewohnerin handelte. Ich schätzte sie auf um die achtzig. Sie wurde mir als Lotti vorgestellt. Die Lotti, die einen Maskenmann in ihrem Schlafzimmer erblickt hatte.
Sie war eine recht füllige Dame mit naturroten Wangen, einem weichen Kinn und aufgeweckten, wässrigen Augen, die in früheren Zeiten romantisch geschimmert und so manchem Mann den Kopf verdreht haben mochten. Sie lächelte warmherzig, so wie man es von Damen eines gewissen Alters erwartet. Ihre Stimme hingegen war ein kräftiger Mezzosopran, der andeutete, dass sie sich nicht über den Tisch ziehen lassen würde. Solche Frauen neigen nicht zu hysterischen Halluzinationen. Ich bin seit über drei Jahren kein Polizist mehr, aber was man einmal gelernt hat, geht nie verloren, und auch als Bodyguard versteht man es mit der Zeit, in Gesichtern zu lesen.
In diesem Gesicht entdeckte ich nichts als Apfelkuchenfreundlichkeit, Humor und Intelligenz. Ich hielt Lotti grundsätzlich für glaubwürdig.
»Es hat vor zwei Wochen angefangen, junger Mann. Wie heißen Sie? Flaco?«
»Perfekt, wie Sie das aussprechen.«
»Bitte nicht flirten, junger Mann, das ist eine ernste Sache, ja?«
»In Ordnung, ich höre Ihnen zu.« Ich setzte mich auf einen der Frisierstühle und stellte ihn auf die niedrigste Stufe, um meine Gesprächspartnerin nicht um zwei Köpfe zu überragen. Meine Mutter drehte Lotti unterdessen die restlichen Lockenwickler aus dem silbergrauen Haar.
»Wie gesagt, es war vor etwa zwei Wochen. Ich habe einen sehr tiefen Schlaf. Nicht von Natur aus, aber ich schlafe bei offenem Fenster, der frischen Luft wegen, und meine Ohren sind inzwischen abgehärtet. Ob Autos, Eulen oder Betrunkene, so schnell weckt mich nichts auf. Meinen Mann hat das immer gestört, er hat so leicht gefroren, der Ärmste, sogar im schönsten Frühling bei zehn Grad in der Nacht, dabei ist das doch nicht kalt, sagen Sie mal selbst. Ach so, Sie sind ja halber Spanier. Wie auch immer, er ist vor vierzehn Jahren an Lungenentzündung gestorben, mein Mann, meine ich, und seither vergeht kaum eine Nacht, in der ich das Fenster nicht öffne. Und vor zwei Wochen wache ich plötzlich nachts auf, aber nicht, weil ich mal muss, nein, etwas anderes hat mich geweckt. Man selbst bekommt das ja nicht so richtig mit in dem Moment. Trotzdem, ich bin mir ziemlich sicher, dass das Bett gewackelt hat. Einmal ganz kurz, als wäre jemand dagegen gestoßen.
Ich schalte sofort das Licht an, und da steht er, der Maskenmann. Zwei Meter von mir entfernt. Erstarrt wie zur Salzsäule.«
Ich sagte nichts, sondern drehte mich auf dem Frisierstuhl im Neunzig-Grad-Winkel nach rechts und links. Die Stange hätte mal geölt werden müssen.
»Jetzt sollten Sie mich fragen wie er ausgesehen hat, junger Mann.«
Ich lächelte. »Wie hat er denn ausgesehen, Lotti?«
»Er hat eine schwarze Jeans und einen schwarzen Pullover getragen. Und in der Hand hielt er etwas Großes, Glänzendes, einen Gegenstand aus Metall, aber ich weiß nicht, was. Er war irgendwie sperrig. Halbrund. Wie ein Bogen, verstehen Sie? Ein Bogen ohne Pfeil. Einen Köcher habe ich auch nicht bemerkt. Ich habe mich eben auf den Einbrecher konzentriert, nicht auf das Werkzeug. Das ist doch verständlich, oder?«
»Das ist es, Lotti. Sind Sie sicher, dass es ein Mann war und ganz bestimmt keine Frau?«
»Absolut. Er hatte da eine Beule, wo ein Mann eine Beule hat, und an den Stellen keine, wo eine Frau ihre Beulen hat.«
»Hatte er noch weitere besondere körperliche Merkmale? War er groß oder klein, dick oder dünn?«
»Weder … noch, er war durchschnittlich. Und ich habe ihn ja nur für vier, fünf Sekunden gesehen, dann ist er aus dem Fenster gesprungen. Wir wohnen im Hochparterre. Beim Springen verletzte er sich am Knie, das weiß ich noch. Er stöhnte. Bevor ich um Hilfe rufen konnte, war er weg. Deshalb habe ich mir das Rufen gespart, bringt ja nichts mehr. Und jetzt wollen Sie sicher wissen, was das für eine Maske war.«
Ich lächelte erneut. »Ja, wieso eigentlich nicht?«
»Es war eine Strumpfmaske. Eher eine Dicke-Socken-Maske, aus Wolle oder so. Und jetzt komme ich zum zweiten Ereignis, das war vor exakt vier Nächten. Nach der ersten Begegnung mit dem Maskenmann habe ich mich vorbereitet: Pfefferspray, Nudelholz und so ein Alarmdings, auf das man draufdrückt und das dann lauter schrillt als ein Wecker, viel lauter. Aber das Beste ist die Schnur zwischen dem Knauf vom Kleiderschrank und dem Knauf von meinem Bett. Zieht man an der Schnur, wird ein Mechanismus in Gang gesetzt, der mir ein Lexikon auf den Kopf fallen lässt. Da sieht man mal, wofür die Dinger gut sind. Ich hatte nur nicht bedacht, wie schwer sie sind. Mitten in der Nacht fällt mir also der Schinken auf den Kopf, ich bin sekundenlang groggy, mache das Licht an, und da steht er wieder, genau wie beim ersten Mal. Man sollte meinen, er hätte inzwischen Übung im Ertapptwerden gehabt, aber nein, er ist fast an derselben Stelle erstarrt. Ich richte also das Pfefferspray auf ihn, drücke ab … und sprühe es mir selbst in die Augen. Ich habe es in der Aufregung leider falsch herum gehalten.«
Diesmal lächelte ich unfreiwillig, es überkam mich einfach. Der weiche, romantische Glanz, den ich in Lottis Augen bemerkt hatte, war womöglich die Nachwirkung des Pfeffersprays.
»Hey, das ist nicht lustig.« Sie trat mir gegen das Scheinbein, nicht besonders fest, aber frech war es schon. »Es kam noch schlimmer, junger Mann. Beim Herumfuchteln habe ich auf den Knopf von dem Alarmdings gedrückt. Es machte einen Höllenlärm, ein Nachbar hat geschrien: ›Ruhe, verdammt noch mal!‹. Es war ein einziges Desaster. Und der Maskenmann war natürlich weg. Ich habe dann am nächsten Morgen Gesi angerufen, weil sie mal erwähnt hatte, dass ihr Sohn Detektiv oder so was ist.«
Nun war ich restlos überzeugt, dass Lotti sich das alles nicht aus den Fingern saugte, weder bewusst noch unbewusst. Dafür kam sie einfach zu schlecht weg bei der Geschichte.
Meine Mutter kämmte ihr nun die Haare. »Wir sind dann zusammen zur Polizei, Lotti und ich. Die haben gesagt, es sei nichts gestohlen worden und auch kein Sachschaden entstanden, das Ganze sei höchstens Hausfriedensbruch. Eine Beschreibung des Täters liege nicht vor, Lotti solle künftig nicht bei offenem Fenster schlafen.«
Lotti stöhnte auf. »Was ich seither nicht mehr tue. Ich sterbe beinahe den Erstickungstod, und zwar jede Nacht. Jemand muss den Maskenmann dingfest machen, sonst werde ich meines Lebens nicht mehr froh.«
Ich fasste für mich den Fall noch mal zusammen. Ein maskierter Mann von durchschnittlicher Statur, der nichts gestohlen und nichts beschädigt hatte, raubte einer betagten Dame den Schlaf, und ich war auserkoren, diesen wiederherzustellen. Das hörte sich nicht nach dem Fall meines Lebens an, und wäre ich Polizist im Einbruchsdezernat gewesen, hätte ich mich, ähnlich wie die deutschen Kollegen, zur Hintertür hinausgestohlen, um bloß nicht ermitteln zu müssen. Im Großraum Köln–Düsseldorf kam es fast jede Nacht zu Einbrüchen weit schlimmerer Natur. Aber irgendetwas interessierte mich daran, unabhängig davon, dass ich aus der Nummer sowieso nicht mehr herauskam. Es war kein bestimmtes Detail, das mich fesselte, sondern die Summe der Ungereimtheiten. Erfahrene Einbrecher stoßen nicht an Bettpfosten. Sie erstarren auch nicht. Sie »besuchen« nach einem Fehlschlag auch nicht dasselbe Objekt ein zweites Mal, jedenfalls nicht schon nach wenigen Tagen.
Zudem arbeitete der Maskenmann offensichtlich allein, auch dies war eher ungewöhnlich. Und was hatte es mit dem sperrigen Metallding auf sich, das Lotti erwähnt hatte?
Es ging bei dieser Sache offensichtlich um so wenig, dass die Ermittlung eine hübsche kleine Klamotte zu werden versprach.
Ich fuhr Lotti und Tante Alma nach Hause in den Neusser Stadtteil Vogelsang. Da es schon dunkelte und alle müde waren, verabredeten wir uns für den nächsten Tag, und ich schärfte Lotti ein, dass sie vorerst niemandem von meiner Ankunft erzählen sollte. Tante Alma bekam sowieso nichts mit und sprach kaum ein Wort.
Die Wohnung meiner Mutter liegt nur eine Viertelstunde entfernt, einfaches Mietshaus, erster Stock links, winziger Balkon. Sobald wir ankamen, stellte sie Bier und Wein zur Selbstbedienung auf den Küchentisch, bat mich, im Kühlschrank nach etwas Essbarem zu suchen, und ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Aus den Lebensmitteln, die ich vorfand, hätte ich ein prima Hundefutter zusammenrühren können. Ich entschied mich, das Hack, die Schweinekoteletts und die Kalbsnieren in Ruhe zu lassen, und stattdessen aus den Kartoffeln, Zwiebeln, Eiern und dem tiefgekühlten Spinat eine Tortilla zuzubereiten. Das Gewürzpaprika im Streuer war seit sechs Jahren abgelaufen, es wurde also keine klassische Tortilla. Meine Mutter steht ohnehin nicht so auf klassisch, wie der giftgrüne Jogginganzug mit dem Goofy-Motiv bewies, den sie sich angezogen hatte.
Während die Tortilla noch in der Pfanne brutzelte, setzten wir uns an den Küchentisch, öffneten die Flaschen, schenkten uns ein und stießen an.
Da wir regelmäßig telefonieren oder skypen, sind wir gegenseitig auf dem Laufenden, was unser Leben betrifft, und da sie mich nicht geholt hatte, um ihr mein attraktives Gesicht vorzuführen, sondern um ein Rätsel zu lösen, kam ich gleich auf das Rätsel zu sprechen.
»Ich brauche noch ein paar Hintergrundinformationen. Was kannst du mir über Tante Alma, Lotti und das Haus erzählen? Leben die beiden dort alleine?«
»Die beiden haben eine tschechische Putzfrau, sie kommt immer montags. Und dann ist da noch Sascha, Tante Almas Pfleger. Er ist mehrmals die Woche für ein paar Stunden da. Ein Milchbart mit Pfadfinderfrisur, Wiener Charme, Puderzuckergrinsen und einem Händedruck wie Knetmasse. Aber mich geht das im Grunde nichts an.«
»Wieso nicht? Du bist doch ihre nächste Verwandte, oder?«
»Ha! Denkste. Schon lange nicht mehr. Früher mal, ja …«
Sie lehnte sich mit halb geschlossenen Augen gegen die Küchenwand. Obwohl sie sich ein Glas eingeschenkt hatte, trank sie nun das Bier aus der Flasche.
»Als ich jung war, so um die zwanzig, da war ich Tante Almas Ein und Alles. Ihre Ehe mit Reinhard war kinderlos, es gab nur mich, die Tochter ihres jüngeren Bruders, und Jochen, den Sohn ihres älteren Bruders. Onkel Reinhard hatte keine Geschwister. Ich verbrachte etliche Sonntagnachmittage bei ihr. Du weißt ja, sie hat dieses verkniffene Gesicht, aber eigentlich ist sie ganz nett, und sie hat mir immer mal einen Zwanziger zugesteckt, einfach so, manchmal auch mehr. Dann habe ich deinen Vater kennengelernt und bin nach Spanien gezogen, das hat sie mir wohl übelgenommen.
Etwa um dieselbe Zeit hat Reinhard sie verlassen, ein grässlicher Spießer mit grünem Filzhut und Rebhuhnfeder, der sonntags zum Halali geblasen hat, oder wie man das nennt, wenn man Rehbraten produziert. Nach Thailand abgehauen ist er, wohin auch sonst! Von einem Tag auf den anderen, schwuppdiwupp war er weg. Jedenfalls war sie plötzlich allein. Nur Jochen war noch da, er wohnt ganz in ihrer Nähe, du bist ihm nie begegnet. Seither sind die beiden ein Herz und eine Seele. Ich darf ihr nur noch die Haare schneiden, seit ich aus Spanien zurückgekehrt bin. Und mir ständig Ich-hab’s-dir-ja-gleich-gesagt-Sprüche anhören. Von wegen, man lässt sich nicht mit Ausländern in der Ferne ein, und so.«
Ich nahm die Tortilla vom Herd und stellte die gusseiserne Pfanne in die Mitte des Tisches.
»Buen provecho, Mama.«
»Buen provecho, Flaco. Hach, ist das schön, mal wieder spanisch zu essen und zu reden.«
Tatsächlich taten wir einige Minuten lang nur das: Tortilla essen und uns auf Spanisch verständigen. Meine Mutter hat damals keine zehn Jahre auf Gran Canaria verbracht, und nach vierundzwanzigjähriger Abwesenheit sind Lücken entstanden, etwa so breit wie die Meerenge von Gibraltar und so tief wie der atlantische Graben. Als ich wieder auf Tante Alma zu sprechen kam, wechselte ich zurück ins Deutsche.
»Wie lange geht es Tante Alma schon so schlecht?«
»Dass sie plemplem ist, meinst du? Etwa vor acht Jahren hat es angefangen. Damals hat sie Lotti ins Haus geholt. Die beiden haben sich bei einem Kaffeekränzchen-Club kennengelernt.«
»Zahlt Lotti ihr Miete, oder wie geht das vonstatten?«
»Das habe ich mich auch lange gefragt, aber eigentlich war es mir piepe, deswegen habe ich das Thema nie angesprochen. Bis vor einem Monat oder so. Du siehst ja, lange wird das mit Tantchen nicht so weitergehen, sie muss bald in ein Heim. Ich habe mit Jochen darüber gesprochen, wir haben uns schlau gemacht und erfahren, dass Lotti damals beim Einzug die Hälfte des Hauses gekauft hat und zwei, drei Jahre später die zweite Hälfte. Tante Alma durfte es verkaufen, weil es allein ihr gehörte, sie hat es geerbt. Aber jetzt hat sie dort nur noch ein Wohnrecht auf Lebenszeit. Wir sind beide aus allen Wolken gefallen, vor allem Jochen. Er dachte, er würde das Haus erben. Da gab es wohl eine Absprache.«
Ich aß einen letzten Bissen der Tortilla und überließ meiner Mutter den Rest, schob ihr den Teller zu. »Hier, für dich. Wieso hat Lotti das Haus gekauft, was meinst du? Hatte sie nichts Eigenes?«
»Wenn ich es richtig verstanden habe, hat sie all die Jahre zur Miete gewohnt und immer in Vogelsang. Sie wollte auf ihre alten Tage nicht wegziehen, aber alleine leben wollte sie auch nicht länger, und ihre Wohnung war zu klein, um dort eine Wohngemeinschaft zu gründen. Da kam ihr Tante Almas Angebot gerade recht.«
Das hörte sich nach einer durchdachten Methode an, den Lebensabend möglichst angenehm und selbstbestimmt zu gestalten, und ich fand daran nichts, was mich stutzig gemacht hätte. Außer vielleicht die Tatsache, dass Tante Alma den Eigentümerwechsel verschwiegen hatte. Da ich aber weiß, dass die Deutschen – aus mir unerfindlichen Gründen – sogar innerhalb der Familie lieber über eingewachsene Fußnägel und verschleimte Bronchien sprechen als über ihre Finanzen, wunderte mich Großtantchens Verhalten nur kurz.
»Jetzt muss ich noch eines wissen, Mama. Du ahnst die Frage schon?«
»Klaro. Wer hat alles einen Schlüssel? Diejenigen müssen nämlich nicht durchs Fenster einsteigen.«
»Bravo, du gibst eine prima Ermittlerin ab.«
Sie stand auf, schnurrte wie eine Katze und wuschelte mir durch die Haare. »Lotti hat Recht, du bist ein ganz schöner Schleimer.«
Am späten Vormittag des nächsten Tages nahm ich Tante Almas Haus in Augenschein, das ja nun Lottis Haus war. Da ich dabei ungestört sein wollte, lud meine Mutter die beiden Damen auf eine Spazierfahrt ein. Vorher holte ich mir noch die Erlaubnis ab, nach Herzenslust stöbern zu dürfen, wobei ich versprach, die Wäscheschränke nicht anzutasten. Lotti hatte nichts dagegen, und Tante Alma fragte, wann es Essen gebe.
Meine Erinnerungen an das Haus waren so verschwommen, als wäre ich mal im Alptraum hindurchgelaufen. Drinnen war es dunkel und eng und irgendwie miefig. Konnte aber auch an mir liegen. Ich stehe nicht so auf Blümchentapete, dunkelbraune Auslegeware und ausgestopfte Fasane. Würde ich darauf stehen, hätte ich es wahrscheinlich ganz nett gefunden, denn davon gab es hier wirklich jede Menge. Die Küchenschränke waren dieselben wie vor zwanzig Jahren – vermutlich auch wie vor vierzig Jahren, als ich noch nicht geboren war. Sämtliche Schubladen in allen Zimmern quollen über. Hier wurde nichts weggeworfen.
Vielleicht war es genau das, was dem Maskenmann nicht passte. Denn eins war mir nach wenigen Minuten klar: auf Beute im herkömmlichen Sinn war der Eindringling sicher nicht aus gewesen. Das Kostbarste war ein wenig Schmuck in Lottis kleiner Schatztruhe, die praktischerweise gleich neben dem Fenster stand, jedoch laut ihr nicht angerührt worden war. Tante Almas Zimmer war vollgestopft mit Trödel, für den man dem Mann von der Entrümpelungsfirma eines hoffentlich noch fernen Tages sogar noch Geld zahlen musste, damit er den Kram mitnahm. Zwar kann sich auch ein Einbrecher irren und an einen Goldschatz glauben, wo nur Gedöns zu finden ist. Doch schon von außen ist das Haus in einem derart bemitleidenswerten Zustand, dass es – wäre es ein Tier – längst eingeschläfert worden wäre.
Durch Tante Almas Zimmer gelangte ich in den »Garten«, der mit einem Garten genauso viel zu tun hatte wie ich mit einem Gartenzwerg. Ich besitze Handtücher, die größer sind als das Blumenbeet, in dem ein paar Tulpen und eine Hortensie wachsen durften. Die restlichen geschätzt dreißig Quadratmeter bestanden aus einem graubraun gepflasterten Hof, in dem ein paar Küchenkräuter in Töpfen um ihr Überleben kämpften. An drei Seiten war der sogenannte Garten von einem etwa drei Meter hohen Maschendrahtzaun umgeben, hinter dem ein riesiger Miet- und Verkaufshof für Nutzfahrzeuge aller Art in seiner vollen Schönheit lag. Dort herrschte lebendiges Treiben, es wurden Trucks abgestellt, Busse umgeparkt, Tanklaster vorgeführt, und trotzdem wurde man das Gefühl nicht los, nicht der Zuschauer zu sein, sondern selbst auf der Bühne zu stehen. Irgendwelche Fahrer oder Verkäufer, die garantiert eine Fluppe oder eine Thermoskanne in Händen hielten, gafften sicher immer mal herüber. Sonntags – so verriet mir ein Schild – war die Show ebenfalls für Besucher geöffnet, der reinste Horror. Alles in allem ist diese Immobilie nicht gerade das, was man sich vorstellt, wenn man an ein Häuschen im Stadtteil Vogelsang denkt.
Ich machte mich über Tante Almas Schriftverkehr her wie über einen Haufen Legosteine. Fünf Jahre alte Schreiben, zehn Jahre alte Schreiben, Schreiben von letzter Woche in trauter Nähe und Gemeinsamkeit. Dazwischen Postkarten, Werbebroschüren, Rechnungen. Der Naturschutzbund hatte 2013 um eine Spende für den bedrohten Kiebitz geworben. Eine Mahnung von 2015, den Wasserzählerstand zu melden. Die Hausratversicherung, die noch auf Onkel Reinhard lief, teilte die automatische Verlängerung des Vertrages um fünf Jahre bis zum 1. Januar 2026 mit. Ein sechs Jahre alter, ein neun Jahre alter und ein drei Jahre alter Kontoauszug belegten, dass jeden Monat in schöner Regelmäßigkeit zweitausend Euro abgehoben wurden.
Ich war gerade dabei, die Unterlagen in die Kommode zurückzustopfen, aus der sie mir eine Viertelstunde zuvor entgegengeströmt waren, als ich ein Geräusch an der Haustür hörte. Ein Schlüssel versuchte das Loch zu finden, versuchte es erneut, wurde ungeduldig. Der schrille Klingelton ging mir dreimal hintereinander in langen Tönen durch Mark und Bein. Ich stand auf und lief zur Tür. Meine Mutter hatte mir am Vorabend erzählt – und Lotti hatte es bestätigt –, dass so ziemlich jeder aus ihrem Umfeld einen Schlüssel für das Haus besitzt: die tschechische Putzfrau, der Pfleger, meine Mutter und Jochen, außerdem Lottis zwei Kinder. Nicht zu vergessen der Heizungsmonteur, schließlich treten immer wieder Störungen an der Anlage auf. Bei den Nachbarn von schräg gegenüber war Lotti sich nicht sicher gewesen, möglicherweise hatte Alma denen mal …
Ach so, ja, die Amtsvorgängerin der Putzfrau hatte ihren Schlüssel auch nicht zurückgegeben, nachdem sie aufgehört hatte. Eine stattliche Anzahl, fand ich. Man hätte eine Party mit all den Leuten schmeißen können.
Ich öffnete die Tür. Vor mir stand einer der potenziellen Partygäste. Ich erkannte ihn anhand der Beschreibung, die mir meine Mutter geliefert hatte. Der Milchbubi war um die zwanzig Jahre alt, hatte blaue Augen, trug Seitenscheitel, helle Chino, weißes Hemd und darüber einen himmelblauen Sommerpullover mit V-Ausschnitt. Wenn Frau Holle Kinder gehabt hätte, er wäre als ihr Enkel durchgegangen.
»Sie sind Sascha, der Pfleger, richtig?«
»Ja, ich … Und wer sind Sie?«
»Almas Großneffe auf Kurzbesuch. Flaco.«
Wir gaben uns die Hände. Seine waren zart, weich und sauber, als wären sie stundenlang in Lauge eingelegt gewesen.
»Wo sind Lotti und Alma?«
»Meine Mutter fährt sie herum und zeigt ihnen, wo sie seit achtzig Jahre leben.« Mein Blick fiel auf die drei schweren Einkaufstaschen zu seinen Füßen. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Danke, es geht schon, Sehr liebenswürdig.«
