KANDLBINDER UND DER TOD DES MANNEQUINS - Christian Dörge - E-Book

KANDLBINDER UND DER TOD DES MANNEQUINS E-Book

Christian Dörge

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Beschreibung

München, 1966. Das Fotomodell Nadine Bernstein wird brutal ermordet - erstochen mit einer Schere. Zu Lebzeiten hatte sie häufig wechselnde Männerbekanntschaften, dennoch scheint aus diesem illustren Kreise niemand als Mörder in Frage zu kommen. War es ein Mord ohne nachvollziehbares Motiv? Nadine Bernstein war indes keine Unbekannte für Privatdetektiv Jack Kandlbinder. Und gerade aus diesem Grund bringt es ihn in eine unbehagliche Situation, als ihn Nadines Vater beauftragt, den Mörder zu jagen und zu finden... KANDLBINDER UND DER TOD DES MANNEQUINS von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien EIN FALL FÜR REMIGIUS JUNGBLUT, DIE UNHEIMLICHEN FÄLLE DES EDGAR WALLACE und FRIESLAND, ist der siebte Band der Roman-Serie um den Münchner Privatdetektiv Jack Kandlbinder.

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CHRISTIAN DÖRGE

 

 

KANDLBINDER UND

DER TOD DES MANNEQUINS

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

Der Autor 

KANDLBINDER UND DER TOD DES MANNEQINS 

Die Hauptpersonen dieses Romans 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Impressum

 

Copyright © 2023 by Christian Dörge/Signum-Verlag.

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg

Cover: Copyright © by Christian Dörge.

 

Verlag:

Signum-Verlag

Winthirstraße 11

80639 München

www.signum-literatur.com

[email protected]

Das Buch

 

 

München, 1966.

Das Fotomodell Nadine Bernstein wird brutal ermordet - erstochen mit einer Schere. Zu Lebzeiten hatte sie häufig wechselnde Männerbekanntschaften, dennoch scheint aus diesem illustren Kreise niemand als Mörder in Frage zu kommen. War es ein Mord ohne nachvollziehbares Motiv?

Nadine Bernstein war indes keine Unbekannte für Privatdetektiv Jack Kandlbinder. Und gerade aus diesem Grund bringt es ihn in eine unbehagliche Situation, als ihn Nadines Vater beauftragt, den Mörder zu jagen und zu finden...

 

Kandlbinder und der Tod des Mannequins von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Ein Fall für Remigius Jungblut, Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace und Friesland, ist der siebte Band der Roman-Serie um den Münchner Privatdetektiv Jack Kandlbinder. 

Der Autor

 

Christian Dörge, Jahrgang 1969.

Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.

Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989:  Phenomena (Roman), Opera (Texte).  

Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung  

eigener Werke,  u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014). 

1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.

Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993). 

Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017). 

Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.

2021 veröffentlicht Christian Dörge mehrere Kriminal-Romane und beginnt drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland. 

2023 erscheinen seine neuen Alben Kafkaland und Lycia, sich entfernen. 

 

Künstler-Homepage: www.christiandoerge.de

KANDLBINDER UND DER TOD DES MANNEQINS

 

  Die Hauptpersonen dieses Romans

 

 

Ludwig 'Jack' Kandlbinder: Privatdetektiv aus München, 40 Jahre alt.

Nora Brecht-Dubois: Schriftstellerin und Kandlbinders Geliebte.

Korbinian Russenschluck: Jacks Partner in der Detektei Kandlbinder und Russenschluck.

Sandra Büchner: Kandlbinders Sekretärin. 

Erik Winterhammer: Hauptkommissar bei der Münchner Kriminalpolizei. 

Nadine Bernstein: Fotomodell. 

Karin Apalius: Nadines Freundin. 

Karl-Friedrich Bernstein: Nadines Vater. 

Gert Weißbach: Künstleragent. 

Benno Mahler: Schauspieler. 

Norbert Schäffler: Philologe. 

Walter Löwenberg: Komponist. 

Claudia Löwenberg: seine Frau. 

Edgar Merowinger: Kommissar bei der Münchner Kriminalpolizei. 

Harry Quantz: Inspektor bei der Münchner Kriminalpolizei. 

Arno Engelbrecht: ein reicher Playboy. 

Susanne Engelbrecht: seine Schwester. 

Lorenzo Santini: ein Gangster. 

 

 

Dieser Roman spielt in München des Jahres 1966.

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Hallo, Schätzchen!«

Das waren immer die ersten Worte, mit denen er sie am Telefon ansprach.

Nora Brecht-Dubois drückte den Hörer fester ans Ohr und erkannte wieder einmal mit eher gleichgültigem, nur leicht überraschtem Amüsement die Stimme und das übliche Grußzeremoniell ihres geheimnisvollen Anrufers. Diese eindeutig verstellte Stimme hatte sie nun insgesamt sechsmal gehört, auf eine Zeitspanne von doppelt so vielen Wochen verteilt. Als sie das erste Mal erkannt hatte, um was für eine Art von Anruf es sich handelte, hatte sie eigentlich mit den Obszönitäten eines unberechenbaren Sexkrüppels gerechnet. Aber erstaunlicherweise konnte nicht die Rede davon sein. Stattdessen bekam sie eine ganze Serie von höflichen Komplimenten zu hören, in sorgfältig gesetzten Worten eines Mannes mit literarischer Bildung und ungewöhnlicher Feinfühligkeit, ein Loblied auf ihre Schönheit.

Das erste Mal hatte sie sich natürlich gefragt, wer das sein mochte, der mit ihr so übers Telefon sprach, aber diese seltsamen Liebeslieder verlangten keine Antwort ihrerseits, wurden sogar durch ihr Schweigen in immer verstiegenere Wortschwelgereien getrieben. Irgendein unlauterer Beweggrund schien nicht damit verbunden zu sein. Wenn ein Mann für seine Komplimente das Telefon benutzte, hatte Nora sich gesagt, so tat er es vermutlich, weil es ihm auf diese Weise leichter fiel, ihr seine Bewunderung auszudrücken, und weil er Hemmungen hatte, dies in persönlichem Kontakt zu tun.

Ach was, hatte sie sich gesagt. Wenn es ihm Spaß macht, dann soll er sein bescheidenes Vergnügen am Telefon haben.

Sie kannte unangenehmere Zeitgenossen.

Aber Jack hatte sie kein Wort von den Anrufen berichtet. Jack war Privatdetektiv – ein Mann, der schon aus beruflichen Gründen Geheimnisse verabscheute. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass auch er so kühl und überlegen auf diese merkwürdigen Anrufe reagieren würde wie sie selbst – kühl und überlegen, aber auch ein wenig geschmeichelt durch solche überschwänglichen Ausbrüche der Bewunderung.

An jenem Nachmittag hörte sie dem Unbekannten etwa eine Minute lang zu und versuchte aufgrund der Stimme oder bestimmter, mit Vorliebe verwendeter Worte herauszubringen, wer von ihren Bekannten hinter den Anrufen stecken mochte, bis eine besonders närrische Phrase ihr deutlich machte, wie absurd das Ganze war. Sie lachte ziemlich respektlos und legte auf. Was für ein Spinner! Jawohl, ein richtiger Spinner! 

Sie genoss diesen Ausdruck geradezu, der nicht aus ihrem eigenen Vokabular stammte, und versuchte wieder einmal ohne Erfolg, sich zu dieser Stimme, zu den Phrasen ein Gesicht vorzustellen. Nach dem ersten Anruf hatte sie nie länger als ein paar Sekunden zugehört, weil sie entweder zu sehr beschäftigt oder auch nicht geneigt war, das Ganze zu weit auszudehnen, andererseits aber einfach nicht die Kaltschnäuzigkeit aufbrachte, ihm die Rede mit ein paar bösen Worten abzuschneiden. Heute hatte sie den Anruf mit einer Art von wissenschaftlichem Interesse länger ertragen als sonst, aber das Ergebnis war dennoch dürftig geblieben. Immerhin konnte man eines aus dem Gespräch folgern: Der Spinner musste sie persönlich kennen. Er beschrieb ihr Äußeres in Details, die er nicht aus der Luft gegriffen haben konnte, wenn sie auch nur vage mit der Wirklichkeit übereinstimmten. Und obendrein war ihre Telefonnummer gar nicht im Münchner Telefonbuch eingetragen; er musste sie sich also an anderer Stelle besorgt haben.

Nora hatte sich schon überlegt, ob sie bei der Post eine andere Nummer beantragen sollte, aber dazu nahm sie die Anrufe doch nicht ernst genug – und obendrein hätte Jack dann natürlich den Grund dafür erfahren müssen. Abgesehen davon konnte man aus bestimmten Bemerkungen des Spinners erkennen, dass er sich zumindest intensiv mit ihr beschäftigt hatte – und in diesem Fall würde es ihm vermutlich nur geringe Mühe machen, auch die neue Nummer schnell herauszufinden.

Aber wer konnte es sein? Nora ging alle ihre Freunde und Bekannten im Geiste noch einmal durch. Die Sache verwirrte sie doch mehr, als sie angenommen hatte, wenn auch von Angst nicht die Rede war. Eine Zeitlang hatte sie den Sohn des Hausmeisters verdächtigt. Der Junge starrte sie immer mit so hungrigen Augen an, dass es ihr aufgefallen war. Als sie sich eines Nachmittags oben ohne auf dem Balkon gesonnt hatte, war der Bursche auf den Speicher gekrochen, um von dort aus zu spionieren – aber so etwas war im Grunde völlig normal. Vor einem Monat musste der Junge wieder ins Internat in die Schweiz, die Ferien waren zu Ende – und die Anrufe wurden fortgesetzt. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein leicht erregbarer Schuljunge mit einer Überproduktion von Hormonen sie über eine Distanz von Hunderten von Kilometern anrief – es sei denn, der Bursche war komplizierter und verkorkster, als sie es sich vorgestellt hatte, vielleicht hatte er eine besondere Schwäche für ältere Frauen... Aber nein, die Stimme am Telefon ließ nach Wortwahl und Tonlage viel eher eine reifere Persönlichkeit vermuten.

Also doch ein Sexkrüppel, aber ein harmloser, einer, der sogar so etwas wie Charme besaß.

Vergiss ihn, Süße, hatte sie sich gesagt, und nachdem sie sich auf diese Weise gewaltsam freigemacht hatte, ging sie zu ihrer Arbeit zurück, wenn auch nicht mit voller Begeisterung, denn die Fahnenkorrektur ihrer Bücher hielt sie seit jeher für eine langweilige, unkreative Arbeit, die man nur tat, weil sie eben getan werden musste.

Nora war etwas größer als der Durchschnitt, ziemlich hübsch, ohne sich dessen allzu sehr bewusst zu sein, und in der Mitte des dritten Lebensjahrzehnts, wobei es ihr allerdings im Gegensatz zu den meisten ihrer Alterskolleginnen an dem typischen übersteigerten Selbstbewusstsein mangelte. Ihre Zuversicht beruhte in erster Linie auf der goldenen Kombination aus beruflicher und persönlicher Erfüllung. Das leuchtendrote Haar, das ihr Gesicht umrahmte und oben auf der Stirn gerade abgeschnitten war, erinnerte in der Form an einen Sturzhelm. Diese Frisur aber verdeckte ein wenig das Schema des Gesichts, das im Grunde viel zu rund war und dennoch perfekt in einer Weise, die alle Symmetrie-Begriffe ad absurdum führte. Über ihren hohen Wangenknochen sah man große, wundervolle Augen, deren Farbe ein unbestimmbares Geheimnis blieb. Der Mund darunter war voll und üppig.

Nora Brecht-Dubois war so etwas wie eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens geworden, nachdem sie vier erfolgreiche Romane und einige kritische Betrachtungen geschrieben und herausgebracht hatte. Die Romane riefen vor allem den Respekt der an sauberer Arbeit interessierten Kritiker hervor, da sie sich fern von allen literarischen Modeerscheinungen bewegten, und die Verkaufszahlen waren annehmbar, wenn sie auch nicht den verwirrenden Effekt eines Bombenerfolgs auslösten. Nora hatte einen wohlentwickelten Sinn für literarische Individualität und genoss es, nur das zu tun, wozu sie Lust hatte.

Ihr Leben mit Jack Kandlbinder war eine ganz andere Sache, eine bedeutend vielschichtigere, wie einige ihrer engsten Freunde meinten. Gewiss konnte man auf den ersten Blick sagen, ihre Affäre mit dem Privatdetektiv sei eine unwahrscheinliche, fast ein wenig sensationelle Angelegenheit, aber wenn man sich Noras wahren Charakter und den ihres Freundes vor Augen hielt, war diese Verbindung gar nicht so unwahrscheinlich. Als sie noch allein wohnte, hatte er sich, als er eines Tages ziemlich übel zugerichtet war, mit dem Instinkt einer nach Hause zurückkehrenden Brieftaube in ihre Wohnung geschleppt, und nachdem er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, war es für Nora eine Selbstverständlichkeit gewesen, dass sie sich ihm hingab. Und von dem Augenblick an war es auch schon zu spät gewesen, sich zurückzuziehen, obwohl sie das damals vielleicht noch nicht geahnt hatte. Gleichwohl war sie immer sehr geschickt, wenn es galt, Umstände zu erkennen und Handlungen daraus zu bestimmen; und mochte es noch so gut oder schlecht sein – das Leben mit Jack war für beide zu einer Notwendigkeit geworden. Als er einmal ganze sechs Wochen nicht ein einziges Mal angeschossen worden war, hatte sie ihn allen Ernstes gefragt: Glaubst du, unser Verhältnis kann solche ruhigen Perioden auf die Dauer ertragen?

Nora arbeitete eine geschlagene Stunde an ihrer Korrektur, stellte mit Erleichterung fest, dass die Setzer gute Arbeit geleistet hatten, die Fehler daher selten und geringfügig waren, und wollte gerade abbrechen, als das Telefon wieder klingelte. Es war Jack.

»Hallo, Prinzessin«, sagte er.

»Hallo, Schnüffler. Wie geht’s?«

»Müde und langweilig. Die Arbeit eines Privatdetektivs kann manchmal ausgesprochen fad sein.«

»Und worin besteht der Grund deines Anrufs?«

»Ich habe ein paar Ahnungen – gute und schlechte.«

»Du immer mit deinen Ahnungen! Aber sie sind eigentlich mit das Beste an dir. Erzähl mir die guten.«

»Ich glaube, ich werde heute noch mit dieser Sache fertig.«

»Aha. Wenn das die Summe deiner guten Ahnungen war, dann möchte ich jetzt die schlechten hören. So, als ob ich sie nicht schon längst wüsste.«

»Es hat zu regnen angefangen. Und es kann spät werden.«

Sie seufzte philosophisch. »Na ja, ich hoffe, ich werde es überleben. Schließlich bin ich in solchen Dingen wie Warten auf dich nicht untrainiert.«

»Hör zu: Wenn ich nicht bis gegen sieben aufkreuze, schlage ich vor, du machst dich ohne mich auf den Weg. Wir treffen uns dann bei Nadine.«

»Was ist das eigentlich für ein Fall, den du gerade bearbeitest?«

»Reine Routinesache. Nicht viel mehr als Klinkenputzen und Treppensteigen.«

»Warum hast du ihn dann angenommen?«

»Er hat ganz interessante Obertöne. Abgesehen davon ist mir mein Klient so sympathisch.«

»Aha. Nun, du sagst ja immer... und von denen gibt es nicht mehr viele hier in München. Ich denk' an dich, Liebling. Bis später!«

 

Ein wenig später – sie dachte gerade darüber nach, was sie anziehen sollte –, schnarrte der Türsummer. Es war Norbert Schäffer, der an der Ludwig-Maximilians-Universität Literatur unterrichtete und mit dem Nora eine im Grunde nur sehr sporadische, aber ansonsten angenehme Beziehung pflegte. Über seinen Besuch war sie allerdings ein wenig erstaunt. Einen Augenblick lang dachte sie tatsächlich, er könnte der Kerl am Telefon gewesen sein. Aber dann erschien ihr der Gedanke wieder verrückt und absurd, denn Norbert war ein gutaussehender, keineswegs neurotischer Typ Anfang Dreißig, vielleicht ein Einzelgänger, aber glücklich verheiratet – ein Mann, der eine überzeugende Atmosphäre von Gesetztheit um sich verbreitete.

»Ich war zufällig in der Gegend«, erklärte er. »Dachte, ich versuch' es ganz einfach mal. Sie verstecken sich anscheinend seit neuestem vor den staunenden Augen der Welt?«

»Ich war mit Jack eine Woche in Italien. Aber es war keine Ferienreise, wenn Sie das meinen. Er hat dort einen Fall an Ort und Stelle bearbeiten müssen. Und als ich zurückkam, lagen schon die Fahnen von meinem neuen Buch zur Korrektur da. Die sind mein augenblicklicher Zeitvertreib.«

Sie zeigte ihm die bedruckten Blätter, und dann unterhielten sie sich über dies und das, bis mehr als eine Stunde verstrichen war. Inzwischen hatte Nora festgestellt, dass Jack es wohl nicht schaffen würde, sie hier abzuholen.

Sie musste ein paarmal auf die Uhr geschaut haben, denn Norbert fragte plötzlich besorgt: »Sagen Sie, ich halte Sie doch nicht irgendwie auf, oder?«

Sie erklärte ihm die Situation. Als sie den Namen Nadine Bernstein erwähnte, machte Norbert einen überraschten Eindruck. Er kannte ihn nur vom Hörensagen, aber es war ein Name, bei dem einem gleich Hunderte von Fotos einfielen, auf denen Nadine zu sehen war, Titelbilder, auf denen sie modische Kreationen trug, die sie vermutlich aus eigenem Antrieb niemals angezogen hätte, wie Nora jetzt amüsiert dachte. Nein, für ein Fotomodell hatte Nadine erstaunlich funktionelle Vorstellungen von weiblicher Bekleidung.

»Dieses Problem ist spielend zu lösen«, sagte Norbert und zeigte sein jungenhaft-attraktives Lächeln. »Sie ziehen sich jetzt um, und wenn Sie damit fertig sind, fahre ich Sie zu Nadine. Wo wohnt sie denn?« Als Nora ihm die Adresse genannt hatte, erklärte er: »Umso besser. Das liegt sowieso auf meinem Weg.«

»Möglicherweise dauert es eine Weile, bis ich fertig bin«, warnte ihn Nora. »Ich kann beim Umziehen und Feinmachen verteufelt weibliche Instinkte entwickeln.«

»Keine Sorge, auf so etwas bin ich gefasst. Vergessen Sie nicht, Sie sprechen mit einem verheirateten Mann.« Er grinste. »Lassen Sie sich also ruhig Zeit.«

Sie reichte ihm die Whiskyflasche, ein Glas, eine Schale mit Eiswürfeln und die Fahne ihres neuen Buches. Dann, während sie unter der Dusche stand, kam ihr wieder der Gedanke, dass Norberts Besuch vielleicht doch nicht ganz so zufällig war, wie es den Anschein hatte. Aber wenn Norbert sie um irgendeine Gefälligkeit bitten wollte, über deren Natur sie sich allerdings ziemlich im Unklaren war, dann hatte er den Vorstoß noch vor sich.

Sie wusste nicht viel von ihm, aber sie konnte ihn gut leiden. Seine Studenten, in erster Linie Doktoranden, die er betreute, verehrten ihn und arbeiteten gern mit ihm zusammen. Er selbst befasste sich nebenher ebenfalls mit seiner Promotion. Den Wehrdienst hatte er seinerzeit verweigert, doch er war nicht erst von diesem Zeitpunkt an ein entschiedener Kriegsgegner. Das Haar trug er ziemlich lang, und an jenem Nachmittag hatte er die für das Universitätsleben charakteristischen Blue Jeans an, dazu ein Cowboyhemd und ein braunes, indianisches Kopfband. Seine Kleidung sah allerdings aus wie frisch aus dem Geschäft; es fehlte die übliche Patina. Sein schlanker, muskulöser Körper schien über reichliche Kraftreserven zu verfügen, und die Falten um seine Augen waren für sein Alter ein wenig tief. Sie schienen auf die ernüchternden Erfahrungen hinzudeuten, die er schon mit jungen Jahren machen musste. Nora kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er keineswegs ein Hitzkopf war. Ohne sich besonders ins Licht stellen zu wollen, hatte er eine Reihe von kritischen Artikeln verfasst, die freilich nur bescheidenen Ruhm erlangten, und er selbst urteilte gelassen und nüchtern darüber, was für einen kühlen Kopf sprach – ein Mann, dessen Gedanken nicht ganz einfach zu enthüllen waren.

Sie nahm ihn beim Wort und ließ sich Zeit unter der Dusche. Danach wählte sie einen glatten, schwarzen Kaftan mit Goldstickereien, der auf den Seiten bis zum Knie geschlitzt war, und als sie, damit angetan, ins Zimmer kam, gab Norbert Laute der Begeisterung von sich.

»Wäre ich ein paar Jahre und ein paar Frauen unerfahrener«, erklärte er lachend, »dann hätte ich Sie nicht mehr ohne ein Ja-Wort hier herausgelassen, Fräulein Brecht-Dubois.«

»Ich dank’ Euch, mein Herr, für Euer Kompliment.« Nora lachte ebenfalls. »Wie geht es Cindy?«

»Prächtig. Dabei fällt mir eben ein: Als ich ihr gegenüber erwähnte, dass ich vielleicht bei Ihnen vorbeischauen würde, meinte sie, ich sollte Sie und Jack heute Abend zum Essen zu uns einladen. Ich fürchtete gleich, das sei wohl ein bisschen überraschend...«

»Dennoch – vielen Dank für die nette Idee.«

 

Während Norbert den Wagen lenkte, sprachen sie über Nadine Bernstein.

»Sie muss noch jünger sein als Sie«, sagte er.

»Möglich – aber an Erfahrungen bei weitem reicher. Sie ist das, was die guten Bürger eine – sagen wir, eine sehr freie Natur nennen würden.«

»Freie Natur? Ich verstehe.« Er kicherte. »Ist sie reich?«

»Das nehme ich an. Ihre Eltern hatten ein stattliches Vermögen, aber Geld ist nicht die entscheidende Dimension in ihrem Leben. Ich finde, sie umgibt sich mit einer Art von seelischer Unordnung – einem schrecklichen Durcheinander. Selbst wenn sie als Fotomodell arbeitet, so tut sie das mit einer gewissen Verachtung, als wollte sie sich dafür entschuldigen.«

Er nickte. »Das ist mir auch schon aufgefallen. Ich habe sie einmal daraufhin angesprochen. Sie nannte ihre Arbeit den tiefsten Fall in ihrer Karriere als Mensch und das schlimmste ihrer Laster. Sie macht einen intelligenten Eindruck.«

»Das kann man wohl sagen.«

»Kennen Sie sich schon lange?«

»Nicht sehr. Wir haben uns bei gemeinsamen Freunden kennengelernt. Ich glaube, die kennen Sie auch: Claudia und Walter Löwenberg.«

»Der Komponist?« Er nickte. »Oh, ja. Jetzt fällt es mir wieder ein. Die beiden waren doch auch bei Ihnen, als Sie Cindy und mich Nadine vorstellten, damals im Gasteig. Nadine hat mich tief beeindruckt, darum erinnere ich mich noch so genau daran. Es war in der Pause. Sie sah so aus, als hätten sie Tschaikowski, der Glanz der Sterne und ihre eigene Jugend in Bann geschlagen.« Er schüttelte den Kopf, als versuche er, Bruchstücke der Erinnerung an den richtigen Platz zu bugsieren. »Wirklich, sie hat mich sehr beeindruckt.«

Nora zog die Stirn in Falten, aber keinesfalls, weil sie der Jüngeren die Komplimente ihres Begleiters neidete, sondern weil vielmehr Norberts wohl formulierte Lobeshymne gar nicht so weit von denen ihres unbekannten Anrufers entfernt war. Aber dann sagte sie sich, dass ihr da wohl die Einbildung einen Streich spielte. Es war töricht gewesen, heute Nachmittag so lange zuzuhören. Norbert Schäffers Stimme hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit der ihres Anrufers. Gleich darauf dachte sie, wie sehr Jack solche durch nichts zu belegenden Gedanken missbilligen würde.

Und in diesem Augenblick fiel ihr etwas Erstaunliches ein: Wieso rief der Unbekannte eigentlich niemals an, wenn Jack im Haus war und möglicherweise den Anruf entgegennehmen konnte? Nun, da es bisher nur wenige Anrufe waren, konnte das auch reiner Zufall sein. Oder der Anrufer besaß die Möglichkeit, herauszufinden, ob sie allein in ihrer Wohnung war oder nicht.

Der Gedanke ließ sie eine Weile nicht mehr los. Wäre sie eine weniger gefestigte Persönlichkeit gewesen, dann hätte sie das Ganze – die anonymen Anrufe, die dunkle Stimme, die Andeutungen des Mannes, die zeigten, dass er sie persönlich kennen musste, die platonische, aber immerhin feurige Bewunderung – durchaus ernsthaft aus dem Gleis bringen können. Immerhin gab es selbst bei ihr schon erste Anzeichen dafür in Form von völlig aus der Luft gegriffenen Spekulationen.

Aber Nora Brecht-Dubois war eine gefestigte Persönlichkeit.

Mach dich nicht verrückt, Süße, ermahnte sie sich.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

USOS Bar. Die Neonschrift von der gegenüberliegenden Straßenseite – auf dem Höhepunkt ihrer Prunkentfaltung hatte sie CARUSOS BAR angezeigt, aber inzwischen waren die ersten drei Buchstaben ausgefallen – erleuchtete nur schwach und in wechselndem Rhythmus das viertklassige Hotelzimmer in der Orleansstraße. Das Hotel selbst war eine Durchgangsstation für Reisende, unter denen sich nur die wenigsten auf dem Weg nach oben befanden, und das Blinklicht von gegenüber erschien ebenso hinfällig und ruiniert wie die Hoffnung derer, die hinter den Fenstern des Hotels für eine Nacht oder auch für viele Nächte Quartier bezogen hatten. Mit der Unterwürfigkeit einer alten Hure lud es die Hotelgäste auf dieser Seite des Hauses ein, die paar Schritte über die Straße zu wagen und in Carusos Bar ein paar restliche Pfennige für einen betäubenden Schluck Obstler oder für ein Bier anzulegen.

Der Mann in Zimmer Nummer 307 betrachtete die Neonschrift eher mit einer Art wissenschaftlicher Neugier und prüfte, bis zu welchem Grad ihr unstetes Flackern das Zimmer zu erhellen vermochte.

Etwas zu hell, fand er nach einer Weile.

---ENDE DER LESEPROBE---