Kann denn Liebe Zufall sein? - Lilac Mills - E-Book
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Kann denn Liebe Zufall sein? E-Book

Lilac Mills

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Beschreibung

Aus alt mach neu

Gracie liebt es alte und ausrangierte Kleidungsstücke aus Applewells Wohltätigkeitsladen zu retten, sie umzuschneidern und dann in ihrem kleinen Laden zu verkaufen. Dann taucht ein gewisser Lucas im Charity Shop auf mit Plänen zur Veränderung und bringt damit Gracies Geschäft in Gefahr. Sie lässt sich nicht anmerken, dass sie Lucas eigentlich sehr nett findet und schon bald fliegen zwischen den beiden die Fetzen. Als Lucas' Nichte das Hochzeitskleid seiner Schwester zerschneidet, gibt es nur eine Person, die ihm helfen kann. Wird Gracie mit ihren Nähkünsten das große Fest retten und dabei auch für ihr Herz ein neues Nähkästchen finden?

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Liebe Leserin, lieber Leser,

Danke, dass Sie sich für einen Titel von »more – Immer mit Liebe« entschieden haben.

Unsere Bücher suchen wir mit sehr viel Liebe, Leidenschaft und Begeisterung aus und hoffen, dass sie Ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern und Freude im Herzen bringen.

Wir wünschen viel Vergnügen.

Ihr »more – Immer mit Liebe« –Team

Über das Buch

Aus alt mach neu

Gracie liebt es alte und ausrangierte Kleidungsstücke aus Applewells Wohltätigkeitsladen zu retten, sie umzuschneidern und dann in ihrem kleinen Laden zu verkaufen. Dann taucht ein gewisser Lucas im Charity Shop auf mit Plänen zur Veränderung und bringt damit Gracies Geschäft in Gefahr. Sie lässt sich nicht anmerken, dass sie Lucas eigentlich sehr nett findet und schon bald fliegen zwischen den beiden die Fetzen. Als Lucas' Nichte das Hochzeitskleid seiner Schwester zerschneidet, gibt es nur eine Person, die ihm helfen kann. Wird Gracie mit ihren Nähkünsten das große Fest retten und dabei auch für ihr Herz ein neues Nähkästchen finden?

Über Lilac Mills

Lilac Mills lebt mit ihrem sehr geduldigen Ehemann und ihrem unglaublich süßen Hund auf einem walisischen Berg, wo sie Gemüse anbaut (wenn die Schnecken sie nicht erwischen), backt (schlecht) und es liebt, Dinge aus Glitzer und Kleber zu basteln (meistens eine Sauerei). Sie ist eine begeisterte Leserin, seit sie mit fünf Jahren ein Exemplar von Noddy Goes to Toytown in die Hände bekam, und sie hat einmal versucht, alles in ihrer örtlichen Bibliothek zu lesen, angefangen bei A und sich durch das Alphabet gearbeitet. Sie liebt lange, heiße Sommer- und kalte Wintertage, an denen sie sich vor den Kamin kuschelt. Aber egal wie das Wetter ist, schreibt sie oder denkt über das Schreiben nach, wobei sie immer an herzerwärmende Romantik und Happy Ends denkt.

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Lilac Mills

Kann denn Liebe Zufall sein?

Aus dem Amerikanischen von Petra Knese

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Grußwort

Informationen zum Buch

Newsletter

1. — Lucas

2. — Gracie

3. — Lucas

4. — Gracie

5. — Lucas

6. — Gracie

7. — Lucas

8. — Gracie

9. — Lucas

10. — Gracie

11. — Lucas

12. — Gracie

13. — Lucas

14. — Gracie

15. — Lucas

16. — Gracie

17. — Lucas

18. — Gracie

19. — Lucas

20. — Gracie

21. — Lucas

22. — Gracie

23. — Lucas

24. — Gracie

25. — Lucas

26. — Gracie

27. — Lucas

28. — Gracie

29. — Lucas

30. — Gracie

31. — Lucas

32. — Gracie

33. — Lucas

34. — Gracie

35. — Lucas

36. — Gracie

37. — Lucas

38. — Gracie

Epilog

Lucas

Gracie

Impressum

1.

Lucas

Die vertraute leidige Angst befiel Lucas Grainger, als er am Ortsschild von Applewell vorbeifuhr. Vor langer, langer Zeit hatte er das Dorf gar nicht schnell genug verlassen können. Nun kehrte er zurück, nach siebzehn Jahren. Wird aber auch Zeit, hätte Effron gesagt, wenn er noch gelebt hätte.

Er hatte Effron versprechen müssen, eines Tages zurückzukommen, doch das war nicht der einzige Grund für seine Rückkehr. Mal ehrlich, wohin hätte er sonst gehen sollen? Noch dazu hatte er hier eine Menge wiedergutzumachen.

Obwohl Applewell zwei Meilen von der walisischen Küste entfernt lag, hatte Lucas beim Herunterlassen des Wagenfensters sofort den salzigen Geruch der Irischen See in der Nase. Frische, klare Luft flutete den Wagen – kein Vergleich zu dem Großstadtmief, aus dem er gerade kam. Umgeben von sanften Hügeln und Ackerland hatte sich der Ort nicht verändert.

Etwas anderes hatte er auch nicht erwartet; genau wegen dieser tristen Eintönigkeit hatte er Applewell ja verlassen. Nur hätte er nicht ausreißen dürfen, damit hatte er seiner Familie sehr wehgetan. Und dafür würde er sich wohl Zeit seines Lebens schlimme Vorwürfe machen.

Nachdem er den Stadtrand passiert hatte, steuerte er auf das kleine rote Reihenhaus seiner Mutter im Herzen von Applewell zu, in dem er aufgewachsen war, und –

Ach du meine Güte!

Lucas stieg in die Eisen und der Wagen kam schlitternd zum Stehen.

Von den Fenstern im Obergeschoss hing ein Banner, das sich für alle gut sichtbar über die gesamte Hausfront zog.

WILLKOMMEN ZU HAUSE

Wie in dem Film, den er neulich im Fernsehen gesehen hatte, in dem ein Mann gerade aus dem Knast entlassen worden war …

Seine Mutter Vivien wartete schon vor dem Haus auf ihn. Und mit ihr ein Großteil der Nachbarschaft.

Lucas’ Augen wanderten von seiner Mutter zu seiner Schwester Nora. Als sich ihre Blicke trafen, nickte Nora ihm kaum merklich zu. Das kleine Mädchen auf ihrem Arm sah ihn mit großen Augen an und schien den Tränen nahe, was er ihr nicht verdenken konnte. Ihm war selbst zum Heulen zumute.

Das war’s dann wohl mit der klammheimlichen Rückkehr.

Auf die Neugier der Dorfbewohner war er gefasst gewesen, auch auf ihre wohlmeinenden Kommentare, aber hierauf? Seine Mutter schmiss doch tatsächlich eine Willkommensparty für ihn! Am liebsten würde er wenden und mit Vollgas zurück nach London brausen. Doch er schaltete in den ersten Gang, fuhr zuckelnd durch die Straße und parkte den Wagen.

Bedächtig stieg er aus und streckte sich ausgiebig. Die fünf Stunden Fahrt saßen ihm in den Knochen, aber vor allem wollte er Zeit schinden.

Doch es half nichts.

Schon hatte ihn seine Mutter mit einem Aufschrei in die Arme geschlossen. Als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und sich ihm um den Hals warf, spürte er, wie sie zitterte.

»Lucas, mein Lucas«, rief sie. »Du bist zurück!«

»Aber nicht für immer, Mum«, entgegnete er.

Sie rückte von ihm ab und sah ihn prüfend an. »Aber fürs Erste.«

»Ich werde nicht bleiben.« Irgendwie musste er das noch einmal klarstellen, denn er wollte keine falschen Hoffnungen wecken. Dieses Banner machte ihn fertig. »Ich werde wieder zurück nach London gehen.« Schließlich war sein Leben in London und nicht in Applewell.

Seine Mutter verzog das Gesicht. »Weiß ich doch. Aber jetzt bist du erst mal hier und das allein zählt.«

Abermals nahm sie ihn in die Arme und drückte ihn so entschlossen an sich, als wollte sie ihn nie wieder von zu Hause weglassen.

Zu Hause. Was für ein bedeutungsschwerer Ausdruck. Schon lange hatte er bei Applewell nicht mehr an ein Zuhause gedacht. Lügner, flüsterte ihm eine leise innere Stimme zu, die er aber geflissentlich überhörte.

Schließlich löste seine Mutter die Umarmung, hielt ihn aber noch mit einem Arm umfasst und zerrte ihn zu dem Grüppchen, das sich vor dem Haus eingefunden hatte. Elf Leute wohnten der Rückkehr des verlorenen Sohns bei. Sie lächelten ihm zu und klopften ihm auf die Schulter.

Bestimmt fühlten sie sich in ihrer Überzeugung bestätigt, dass er eines Tages zurückkehren würde. Dass er nicht für immer wegbleiben könne. Und leider behielten sie damit recht: Sein halbes Leben hatte Applewell ihn gerufen, und schließlich war er diesem Ruf gefolgt.

»Nora.« Vor seiner Schwester blieb er stehen.

»Lucas.« Ihr Ausdruck verriet keine Emotion. Sie blickte demonstrativ auf das Kind in ihrem Arm. »Kannst du dich noch an Ruby erinnern?«

Wie sollte er seine Nichte vergessen haben? »Ganz schön groß geworden.«

»Das haben Kinder so an sich.«

Schwang da ein leichter Vorwurf mit? Verdenken könnte er es ihr nicht, hatte er seine Nichte seit ihrer Geburt doch nur zweimal gesehen. Inzwischen war die Kleine bestimmt schon drei Jahre alt. Lucas erschrak. Hatte er etwa ihren Geburtstag verschwitzt? Nein, sie war im Juni geboren.

Ruby verbarg das Gesicht in der Halsbeuge ihrer Mutter, sodass er bloß eine Pausbacke, lange dunkle Wimpern und einen Teil des Munds mit dem Daumen darin sehen konnte.

Lucas hätte ihr gerne über die Wange gestreichelt, ließ es aber bleiben. Dazu hatte er nicht das Recht. Noch nicht. Ruby kannte ihn ja kaum, doch das wollte er unbedingt ändern. Seine Nichte besser kennenzulernen, war eines der Dinge, auf die er sich freute. Und seine Schwester, wenn sie es zuließ.

»Komm doch rein.« Seine Mutter zog ihn durch die Haustür. »Ich habe ein kleines Büffet mit Dips vorbereitet. Du bist bestimmt hungrig.«

Obwohl er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, verspürte Lucas keinerlei Hunger. Ihm war eigentlich während der gesamten Fahrt über schlecht gewesen. Dreimal hatte er angehalten und jedes Mal einen doppelten Espresso getrunken, was seinem rebellierenden Magen nicht unbedingt gutgetan hatte.

Er betrat das Wohnzimmer und betrachtete den Esstisch, der von Speisen überquoll.

»Ich wusste nicht, auf was du Lust hast, da habe ich ein wenig von allem besorgt.« Seine Mutter reichte ihm zaghaft einen Teller.

»Hast du was dagegen, wenn ich mich vorher kurz frisch mache?«, fragte er. Hinter ihm stauten sich schon die übrigen Gäste.

»Natürlich nicht. Tut mir leid, daran hätte ich denken …«

»Ich will mir nur kurz mal die Hände waschen.« Lucas hielt sie hoch, als strotzten sie vor Dreck.

»Dahinten durch.« Seine Mutter zeigte Richtung Küche, biss sich aber sofort auf die Lippen. »Ich Dummerchen, das weißt du ja.«

Lucas wäre lieber oben ins Bad gegangen, aber Hauptsache, er war mal einen Moment für sich. Er eilte durch die Küche in den winzigen Flur, rechts war die Toilette, geradeaus ging es weiter in den Garten. Im Vorbeigehen fiel ihm auf, dass sich dort seit seinem letzten Besuch etwas getan hatte.

Lucas verschwand im Badezimmer lehnte sich gegen die Tür und atmete tief durch.

Mann, war das hart.

Im Grunde hatte er nichts anderes erwartet. Nicht die Feier, aber die Betretenheit, das Gefühl, zu Hause ein Gast, ja fast schon ein Fremder zu sein. Es würde sicher eine Weile dauern, bis seine Mutter und er nicht mehr vorsichtig umeinander herumschlichen, wobei es garantiert nie wieder so werden würde wie früher.

Wie auch? Er war längst kein Kind mehr. Die Jugend hatte er mit sich nach London genommen und dort gelassen. Nachdem er von zu Hause ausgerissen war, hatte er sich erst wieder als erwachsener Mann zurückgetraut. Da war er an Erfahrung weitaus reifer gewesen als an Jahren.

Lucas wusch sich die Hände und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Dabei vermied er den Blick in den Spiegel, denn er wollte sich nicht in die Augen schauen.

Wohl oder übel stürzte er sich dann wieder ins Getümmel.

»Dein Lucas ist ja ein richtiger Kraftmeier«, sagte eine ältere Dame, die seiner Erinnerung nach zwei Häuser weiter lebte.

›Kraftmeier‹, diesen Ausdruck hatte er schon lange nicht mehr gehört. Aber die alte Dame hatte recht, er war kräftig gebaut. Durch das regelmäßige Training im Fitness-Studio waren Schultern und Brust noch breiter geworden. Dazu joggte er, sodass er schlank blieb und kräftige Beine hatte.

Hochgewachsen und muskulös zu sein, war auf der Straße von Vorteil.

»Wenn ihr mich fragt, sieht er gut aus«, sagte ein Nachbar, und ein anderer fügte hinzu: »Du musst überglücklich sein, dass er wieder zu Hause ist.«

Zwar konnte Lucas das Gesicht seiner Mutter nicht sehen, doch ihrer Körperhaltung war anzumerken, dass sie sich unwohl fühlte. Sollte er eingreifen und die Leute bitten zu gehen?

Allerdings war dies nicht sein Haus, diese Menschen waren nicht seine Nachbarn und er lebte nicht hier.

Schlagartig verstand er, warum seine Mutter so ein Gewese um seine Rückkehr machte: Sie wollte aller Welt signalisieren, dass sie sich nicht für ihn schämte. Und noch etwas wurde ihm bewusst: dass sie damals, als er weggelaufen war, schon tief beschämt – und verletzt – gewesen sein musste. Mit der Willkommensfeier wollte Vivien zeigen, dass sie einen Sohn hatte, auf den sie stolz war.

Wurde auch endlich mal Zeit.

»Da ist er ja!« Donald Mousel schlug ihm auf den Rücken. »Willkommen zu Hause, mein Junge.«

»Hallo, Donald, wie geht’s dir?« Was war der Mann gealtert! Donald war schon damals alt gewesen, aber für einen Siebzehnjährigen waren wohl alle über fünfundzwanzig alt. Nun war er aber wirklich alt, wahrscheinlich Ende sechzig oder Anfang siebzig.

Fast hätte er gelacht. Wenn Effron ihn jetzt hören könnte, würde er ihm gehörig die Leviten lesen, jemanden in den Siebzigern als alt zu bezeichnen. Effron schien schon alt auf die Welt gekommen zu sein und das hatte sich zeitlebens nicht geändert. Nicht einmal, als es mit ihm rapide bergab gegangen war und er in sich zusammengefallen war wie ein schwarzes Loch. Da Effron sich für den Weltraum und das Universum immer sehr begeistert hatte, war das ein treffender Vergleich.

Plötzlich kamen Lucas die Tränen. Er vermisste ihn schrecklich! Im Gegensatz zu seinem richtigen Vater war Effron für ihn dagewesen. Lucas hätte die ersten Wochen auf der Straße nicht überlebt, wenn Effron, der schon seit seiner Jugend obdachlos gewesen war, ihn nicht unter seine Fittiche genommen hätte. Ihm hatte er es zu verdanken, dass er noch am Leben und bei Verstand war.

»Bestimmt bist du froh, wieder zurück zu sein.« Donald hielt einen Pappteller in der Hand, auf dem sich das Essen türmte.

Lucas war keineswegs froh. Wenn, dann empfand er Schuld und Scham … Aber das würde er niemandem auf die Nase binden, damit musste er allein fertig werden. Im Lauf der Jahre hatte er gelernt, seine Gefühle zu verbergen, deshalb nickte er bloß und lächelte höflich, bevor er sich entfernte.

Weit kam er allerdings nicht.

Offenbar wollte das halbe Dorf ein paar Worte mit ihm wechseln. Zumeist sagten ihm die Leute, wie sehr sie sich freuten, ihn zu sehen, wie glücklich Vivien doch sein müsse und dass er schon bald das Gefühl haben würde, als wäre er nie weggewesen.

Besonders der letzte Kommentar machte ihm zu schaffen. Was glaubten sie denn, warum er weggelaufen war?

Ja, was dachten die anderen eigentlich, warum er damals verschwunden war? Welcher Klatsch hatte die Runde gemacht? Was hatten sich die Dorfbewohner hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert, während sie seiner Mutter mitleidige Blicke geschenkt hatten? Auch wenn er seine Mutter regelmäßig angerufen hatte, um ihr Bescheid zu geben, dass es ihm gut ging (wenigstens das hatte er getan), hatte es in der Gerüchteküche sicher mächtig gebrodelt.

Andererseits hatte er keine Zweifel, dass das Mitgefühl der Dorfbewohner für seine Mutter echt war und dass sie sich ihrer angenommen und sie nach Kräften unterstützt hatten. In dieser Hinsicht war auf die Einheimischen Verlass, aber das war auch der Grund, warum Lucas es in Applewell nicht länger ausgehalten hatte: Jeder kannte jeden und nichts blieb geheim, es gab nichts zu tun, keine Abwechslung … und keine Zukunft.

Er war ins andere Extrem geflüchtet. In die Anonymität, wo sich keiner um den anderen scherte, wo es zur Genüge Abwechslung gab. Manchmal mehr, als er verkraften konnte.

Doch obwohl er die ersten Jahre auf der Straße gelebt hatte, hatte er sich eine Zukunft aufgebaut, die Frage war bloß, ob er diese Zukunft noch wollte. Um das herauszufinden, war er nach Applewell zurückgekommen – in sein altes Zimmer, in den Schoß der Familie und in die allzu vertrauten Arme des Dorfes, vor denen er als Jugendlicher bei der erstbesten Gelegenheit geflohen war.

2.

Gracie

Ich sollte wirklich mal kochen lernen, dachte Gracie Stewart jedes Mal, wenn sie Eleri Jones’ Café betrat. Aber wenn sie ehrlich war, hatte sie keine Lust. Lieber schwang sie die Nähnadel als den Kochlöffel. Jeden Tag essen zu gehen, war teuer, aber der ganze Aufwand des Kochens lohnte sich für eine Person kaum. Außerdem war es auch schön, mal eine Pause von der Arbeit zu machen.

»Was steht heute auf der Tageskarte?«, fragte Gracie wie jeden Tag, obwohl es mit Kreide auf der Tafel hinter dem Tresen geschrieben stand.

»Pasta mit Pesto und Hähnchenbrust.« Eleri, die damit beschäftigt war, Muster in den Milchschaum zu machen, schaute auf. »Wie geht’s dir? Bist ja spät dran heute.«

Das stimmte. Normalerweise aß Gracie zwischen ein und zwei Uhr zu Mittag, doch jetzt war es schon fast vier, sodass es Mittagessen und Abendbrot in einem wurde. Kein Wunder, dass ihr Magen schon eine Weile rumorte. »Ich habe Tischsets und Untersetzer für eine Hochzeit genäht und wollte unbedingt fertig werden, bevor ich eine Pause mache. Beim Ändern der Kleider für die Brautjungfern war so viel Stoff übrig geblieben, dass die Braut mich gebeten hat, daraus eine Tischdekoration zu machen. Sie wollte, dass alles zusammenpasst.«

»Du scheinst ja gut zu tun zu haben.«

»Ja.« Gracie strahlte. Den Laden zu eröffnen, war ein ziemliches Wagnis gewesen – nicht nur finanziell, sondern auch emotional. Bislang schien es sich auszuzahlen, obwohl sie so schrecklich schüchtern war und es ihr vor fremden Menschen graute. Solange sie noch in ihrem winzigen Wohnzimmer genäht hatte, war das mit dem Publikumsverkehr kein Problem gewesen, dennoch hatte sie sich dafür entschieden, ihren Laden namens A Stitch in Time aufzumachen, und es bisher noch nicht bereut. »Pasta klingt gut. Gibt’s denn noch welche?«

»Ich habe vorsorglich für dich eine Portion aufgehoben. Setz dich schon mal, ich bring sie dir gleich. Wasser oder Orangensaft?«

»Wasser, bitte.«

Gracie setzte sich ans Fenster und schaute hinaus. In ihrem Laden saß sie auch zum Nähen am Fenster, weil das Licht da besser war und sie gerne die Leute auf der Straße beobachtete.

Gracie winkte Tony zu, dem Inhaber von Pins to Elephants, der nebenan im Supermarkt verschwand, und sie schnitt eine Grimasse, als der kleine Morgan Hargreaves mit seiner Mutter auftauchte. Der Junge streckte ihr die Zunge raus und Gracie kicherte. Eigentlich sollte sie ihn nicht noch ermuntern, aber er war so niedlich – und ein wahres Energiebündel. Der Kleine hielt seine Mutter Lottie garantiert auf Trab.

»Hast du schon das Neueste gehört?« Eleri stellte einen dampfenden Teller vor ihr ab und reichte ihr Serviette und Besteck.

»Nein, was denn?« Gracie wickelte Messer und Gabel aus und legte sich die Serviette auf den Schoß.

»Lucas Grainger ist zurück.«

»Wer?«

»Viviens Sohn.«

»Ich hatte ganz vergessen, dass sie überhaupt einen Sohn hat«, sagte Gracie und ließ es sich mit großem Appetit schmecken.

Eleri zog einen Stuhl heran und setzte sich. Wenn im Café nicht allzu viel los war, leistete sie Gracie gerne Gesellschaft. »Du erinnerst dich bestimmt an ihn. Mit siebzehn ist er von zu Hause ausgerissen. Das ganze Dorf hat damals von nichts anderem gesprochen.«

Gracie hatte den Mund voll und zuckte bloß mit den Achseln. Während sie kaute und schluckte, stiegen nebulöse Erinnerungen in ihr auf. »Ganz vage. Ich muss elf oder so gewesen sein. Aber viel habe ich davon nicht mitbekommen. So wie ich mich kenne, war ich damals mit meinen Tanzstunden beschäftigt. Schade, dass ich zwei linke Füße habe.« Sie seufzte wehmütig. Als Kind hatte sie davon geträumt, Tänzerin zu werden. Davor hatte sie Cowboy werden wollen. Stattdessen war sie jetzt Schneiderin.

»Jedenfalls ist er wieder da. Gerade findet eine Willkommensparty für ihn statt.«

»Warum ist er denn damals weggegangen?«

Eleri verzog das Gesicht. »Keine Ahnung. Natürlich gab es damals Gerüchte, darunter auch sehr unschöne, doch Vivien betonte immer, dass er ein guter Junge war und keinen Ärger hatte. Nun hat er es tatsächlich zu etwas gebracht«, fügte sie hinzu, »arbeitet für eine Wohltätigkeitsorganisation. UnderCover, glaube ich sogar. Aber vielleicht irre ich mich auch.«

»Ob Catrin ihn vielleicht kennt?«

»Kann sein. Ich muss sie mal fragen.«

»Ich wollte gleich noch zu ihr, da kann ich für dich fragen. Morgen erstatte ich dir dann Bericht.«

Für die Touristen, die im Sommer immer reichlich kamen, interessierte sich in Applewell kaum jemand, aber wenn es um einen Dorfbewohner ging, gebärdeten sich die Einwohner wie eine Büffelherde, die ihre Kälbchen gegen einen Löwen verteidigten. Für Außenstehende mochte es wie Neugier oder Einmischung wirken, aber in Gracies Augen war es Gemeinschaftssinn. Man sorgte sich umeinander, und je genauer man informiert war, desto besser konnte man helfen – wenn Hilfe gebraucht wurde.

Irgendwie hatte Gracie den Verdacht, dass Hilfe in diesem Fall nötig war, nur wusste sie nicht, ob Vivien oder Catrin Unterstützung brauchen würden.

***

»Hast du’s schon gehört?«, fragte Catrin, kaum dass Gracie den Charity-Shop UnderCover betreten hatte.

»Meinst du das mit Viviens Sohn? Ja, habe ich.«

»Und weißt du, dass er auch für UnderCover arbeitet?«

»Eleri hat so was angedeutet.«

»Ich habe eine E-Mail von der Hauptgeschäftsstelle aus London bekommen. Die wollen, dass ich ihn ›so gut wie möglich unterstütze‹. Ihre Worte, nicht meine. Wäre schön gewesen, wenn sie gesagt hätten, wobei ich ihn eigentlich unterstützen soll. Und warum.« Catrin biss sich auf die Lippe und legte die Stirn in Falten.

So hatte Gracie ihre Freundin selten erlebt, denn Catrin war der reinste Sonnenschein und strahlte meist bis über beide Ohren.

»Ich frage mich, was das heißen soll«, meinte Gracie.

»Da bist du nicht allein.« Catrin zog die Nase kraus. »Meinst du, die haben ihn geschickt, damit er mich ausspioniert?«

»Glaube ich kaum, aber wenn, dann hätten sie’s wohl kaum gesagt.«

»Stimmt. Aber wobei soll ich ihn denn nun unterstützen?« Catrin riss die Augen auf. »Meinst du, die wollen mich feuern?«

»Spinnst du? Du führst den Laden doch schon seit Jahren mit Erfolg.«

»Vielleicht wollen sie verkaufen? Das Haus mit Grundstück ist bestimmt eine Menge wert.«

»Was sollte das denn bringen? Dann müssten sie doch woanders etwas Neues kaufen oder mieten.«

»Nicht, wenn sie vorhaben, den Laden in Applewell aufzugeben.«

»Aber warum sollten sie das tun? Der Laden läuft doch, oder?«

Catrin nickte, knabberte aber weiter nervös auf der Lippe herum. Sofort empfand Gracie Mitleid. Ihre Freundin arbeitete seit zwei Jahren für UnderCover und war die einzige Festangestellte, ansonsten arbeiteten nur Ehrenamtliche dort. Bestimmt würde Catrin auch in Nullkommanichts einen neuen Job finden, falls sich ihre Befürchtungen bewahrheiten sollten, aber darum ging es ja nicht, denn Catrin arbeitete für ihr Leben gern im Charity-Shop.

»Mach dir keine Sorgen. Bestimmt gibt es eine ganz einfache Erklärung dafür.« Gracie betete, dass es wirklich so war. »Wahrscheinlich macht er nur eine Stippvisite bei seiner Mutter.«

»Aber was sollte dann diese E-Mail, und wieso hängt Vivien ein Willkommensbanner ans Haus? Würde sie das machen, wenn er bloß für ein paar Tage gekommen wäre?«

Darauf wusste Gracie auch keine Antwort. Sie konnte nur wiederholen, was sie bereits gesagt hatte. »Bestimmt gibt’s dafür eine Erklärung.«

»Ja, dass sie den UnderCover-Laden hier schließen und ich meinen Job los bin«, murmelte Catrin verdrossen.

Gracie wünschte, sie könnte ihr die Sorge nehmen. »Das kann ich mir echt nicht vorstellen.«

»Ich habe noch eine Tüte mit Stoffresten für dich«, sagte Catrin. »Die steht hinten. Bin gleich wieder da.«

Gracie trat an einen Ständer mit Kleidern und betastete einen Brokatstoff. Im Vergleich zu modernen Stoffen war er viel schwerer, auch der Schnitt des Kleides entstammte der Mitte des letzten Jahrhunderts. Es war ein Vintage-Kleid und kostete dementsprechend, wobei es in London sicher den drei- bis vierfachen Preis erzielen würde.

Während sie noch mit dem Kleid beschäftigt war, öffnete sich die Tür und ein Mann betrat den Laden. Gracie kannte ihn nicht, wahrscheinlich ein Tourist.

»Catrin, Kundschaft!«, rief sie. »Catrin ist hier die Chefin. Sie kommt gleich wieder, sie ist nur kurz hinten«, sagte Gracie zu dem Mann.

Er nickte abwesend. Seine Aufmerksamkeit galt den Regalen, von ihr nahm er kaum Notiz. Gracie hingegen nahm ihn genauer in Augenschein – und das nicht bloß aus Sorge, er könnte etwas mitgehen lassen. Er war hochgewachsen, hatte breite Schultern und ein Gesicht, das sicher einige Frauenherzen höher schlagen ließ: dunkles Haar, blaue Augen, markantes Kinn.

Ups! Nun hatte er ihren Blick bemerkt, schnell schaute sie weg.

»Hallöchen«, flötete Catrin, als sie zurückkam. Sie hatte eine große Tüte dabei, die sie Gracie reichte. »Ich bin überzeugt, dass du was damit anfangen kannst.« Dann wandte sie sich dem Mann zu. »Kann ich Ihnen helfen oder wollen Sie sich bloß mal umschauen?«

»Ich schaue mich erst mal um«, sagte er.

Gracie wurde rot, denn er durchbohrte sie förmlich mit seinem Blick. Normalerweise sahen Männer sie nicht an, als wollten sie sie mit Haut und Haaren verschlingen. Eigentlich sahen sie sie überhaupt nicht an. Gracie wurde heiß und kalt und sie ergriff sofort die Gelegenheit, sich zu verabschieden.

»Danke, Catrin. Wir reden einfach, wenn du mehr weißt. Und mach dir keine Sorgen, okay?«

»Ich gebe mein Bestes.«

»Lass uns am Freitag doch einfach im Busy Bumble treffen. Hast du Lust?«, fragte Gracie, bevor sie aus der Tür schlüpfte.

»Klingt gut. Ich besprech’s noch mal mit Gareth und sag dir dann Bescheid.« Catrins Lächeln konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich schreckliche Sorgen machte. Hoffentlich hatte ihre Freundin bald Klarheit.

Gracie trabte zurück in ihren Laden. Sie konnte es kaum abwarten, sich über den Beutel mit den geschenkten Stoffen herzumachen. Für sie gab es nichts Schöneres, als sich zu überlegen, was man aus solchen Resten nähen konnte.

3.

Lucas

Was war das denn gerade gewesen? Verwundert sah Lucas der Frau hinterher, die mit einer riesengroßen Tüte aus dem Laden marschierte. Bezahlt hatte sie dafür jedenfalls nicht.

Allerdings wollte er sich nicht als Erstes mit der Chefin anlegen. Zumindest hatte die Kundin, die gerade gegangen war, ihm insofern einen Gefallen getan, als dass sie diese beim Namen genannt hatte, und er nun wusste, dass er nun Catrin Williams gegenüberstand, die seinen Unterlagen zufolge nicht irgendeine freiwillige Helferin war, sondern die Filialleiterin.

Dass Catrin den Laden einfach unbeaufsichtigt gelassen hatte, missfiel ihm ebenso, aber das würde er ansprechen, sobald sich eine Gelegenheit ergab. Womöglich täuschte er sich ja auch. Die Frau, die mit der Tüte den Laden verlassen hatte, konnte ebenso ehrenamtlich tätig sein. Besser er sondierte erst einmal die Lage, bevor er voreilige Schlüsse zog. Wenn sie eine Ehrenamtliche war, würde er sie früher oder später kennenlernen – in einem kleinen Ort wie Applewell wohl eher früher. Wer war sie überhaupt? War sie mit ihm zur Schule gegangen? Wenn ja, dann war sie sicher einige Jahre unter ihm gewesen, denn sie war eher in Noras Alter.

»Haben Sie etwas gefunden, das Ihnen gefällt?« Catrin schenkte ihm ihr Verkäuferinnenlächeln.

»Hmm.« Er verdrängte die Gedanken an die andere Frau und sammelte sich. Dann machte er einen Schritt auf Catrin zu und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Lucas Grainger, und Sie müssen Catrin Williams sein. Wahrscheinlich wurde Ihnen per E-Mail angekündigt, dass ich kommen würde.«

Catrin schüttelte ihm die Hand. Trotz ihres höflichen Lächelns wirkte sie besorgt. »Ähm, nett, Sie kennenzulernen.«

»Stand auch darin, warum ich hier bin?«

»Nein …«

Lucas war froh, dass sein Chef Jonas es ihm selbst überließ, sich eine glaubhafte Story auszudenken. Wobei es eigentlich keine Story war. Es ging ihm tatsächlich darum, die Verkaufsstrukturen von Grund auf zu verbessern, deshalb war die Filiale in Applewell ideal, um sich einen Einblick zu verschaffen.

UnderCover beschäftigte mehrere Bereichsleiter, die für den reibungslosen Betrieb in ihrer Region zuständig waren, sich aber natürlich vor allem ums Tagesgeschäft kümmerten und nicht das große Ganze im Auge hatten. Lucas hingegen suchte nach Verbesserungsmöglichkeiten außerhalb dieser festen Strukturen. Denn obwohl die meisten Läden von Ehrenamtlichen betrieben wurden, gab es Kosten, die von den Mitteln derer abgingen, denen sie zugutekommen sollten: den Obdachlosen.

»Ich will Ihnen nicht ins Handwerk pfuschen. Ich möchte bloß verstehen, was Sie hier so machen.«

Catrin sah ihn mit unergründlichem Blick an. »Wir bekommen Sachspenden, und die versuchen wir, so gut und so teuer es geht zu verkaufen«, sagte sie langsam.

Lucas wurde klar, dass er die Frage falsch gestellt hatte. »Tut mir leid, Sie müssen mich für total bescheuert halten. Ich möchte mir gerne einen Einblick verschaffen, um Abläufe zu optimieren und die Gewinne für die Organisation zu maximieren.« Als Catrin darauf keine Antwort gab, sagte er: »Wie dem auch sei, ich schaue mich mal kurz um, dann lasse ich Sie wieder Ihre Arbeit machen. Sicher haben Sie viel zu tun.«

Lucas schlenderte durch den Laden, sah sich das Sortiment an und warf einen Blick auf die Preise. Bei UnderCover gab es Preisempfehlungen für bestimmte Artikel, aber letztlich lag es im Ermessen der Filialleiter, weil ja nicht alle Produkte von gleicher Qualität oder gleich gut erhalten waren. Manche Marken waren zudem beliebter, für die konnten höhere Preise verlangt werden.

Neben Klamotten wurde allerlei Krimskrams verkauft, Möbel, Geschirr – im Grunde alles, was die Leute spenden wollten. Fast alles. UnderCover verfügte zudem über ein eigenes Sortiment an Glückwunschkarten, Schlüsselanhängern und anderen Kleinigkeiten, die billig in der Herstellung waren, aber für die Wohltätigkeitsorganisation warben.

Spielzeug war bei den Kunden ebenfalls beliebt. Ganz angetan blieb Lucas vor einer Auslage mit Kuscheltieren stehen. Alle in einen Korb zu werfen, in dem man dann wild herumwühlen musste, hatte ihm noch nie gefallen, deshalb freute es ihn umso mehr, die Tiere in einem Regal angeordnet zu sehen: Bären mit Bären, Hasen mit Hasen und so weiter, dazu gab es noch etliche hübsche Stoffpuppen.

Er nahm eine in die Hand, fühlte den weichen Stoffkörper und bewunderte die leuchtenden Farben. Die Puppe sah brandneu aus, und der Preis war angemessen.

Lucas setzte sie zurück an ihren Platz und ging in die Haushaltswarenabteilung. Was die Leute so alles spendeten, verwunderte ihn immer wieder. Ein tadelloses Tafelservice, vollständig mit Sauciere. Das Dekor war vielleicht ein wenig altmodisch, aber richtig hübsch.

Als Lucas den Blick durch den Laden schweifen ließ, blieb dieser an einem Bild mit einer Flamencotänzerin an einem nächtlichen Lagerfeuer hängen. Wie oft hatte er dieses oder zumindest ein sehr ähnliches Motiv schon gesehen? Einst musste dieses Motiv tausendfach produziert worden sein. Er schmunzelte.

»Das Bild habe ich mit einem Haufen anderer Dinge aus einem Hotel in Danyravon bekommen. Hinten im Lager habe ich noch tonnenweise anderes Zeug«, sagte Catrin. »Siebziger-Jahre-Charme, aber mir gefällt es.«

»Mir auch«, meinte Lucas. »Nur der Rahmen ist nicht so mein Geschmack.«

Eine Weile standen sie still nebeneinander und betrachteten das Bild. Doch dann gab Lucas sich einen Ruck. Er hatte seiner Mutter versprochen, bald wiederzukommen, und wollte sich daher auf den Rückweg machen.

Nachdem sich die anfängliche Aufregung gelegt und jeder der Gäste sich am Buffet bedient hatte, waren Viviens Freunde und Nachbarn nach und nach abgezogen, sodass am Ende bloß noch seine Mutter, seine Schwester und seine Nichte übrig geblieben waren. Lucas hatte dann seine Sachen nach oben in sein altes Zimmer gebracht. Als er nach Jahren Applewell das erste Mal wieder besucht hatte, war er froh gewesen, dass nichts im Zimmer mehr an seine Jugend erinnerte. Zum Glück hatte seine Mutter nach seinem Verschwinden kein Museum daraus gemacht.

Nach dem Auspacken hatte er verkündet, dass er sich mal die Beine vertreten müsse. Zum Teil stimmte das sogar. Nach der langen Autofahrt fühlte er sich etwas steif, aber er hatte auch das Bedürfnis gehabt, das Haus zu verlassen.

Wie sollte er es hier bloß die nächsten Wochen aushalten? Seine Mutter tat ihr Bestes, um ihm das Gefühl zu geben, willkommen zu sein. Und er fand es ganz schön mutig, dass sie ganz Applewell wissen ließ, wie sehr sie sich über seine Rückkehr freute. Ihrer Meinung nach hatte er es nicht nötig, mit eingezogenem Schwanz durch das Dorf zu schleichen, doch ihn selbst überforderte alles ein wenig. Irgendwie kam er sich komisch vor, als wäre dem Teenager, der er einst gewesen war, ein älterer Lucas übergestülpt worden. So als hätte jemand die Zeit einfach vorgespult.

Lucas riss sich aus seinen Träumereien.

»Ich habe für den Moment genug gesehen«, sagte er unvermittelt zu Catrin. »Sie machen ja gleich zu, da lasse ich sie lieber in Ruhe.«

Damit ließ er die verblüffte Filialleiterin stehen und marschierte forschen Schrittes aus dem Laden. Draußen zügelte er das Tempo ein wenig, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Davon würde er sicher in nächster Zeit noch mehr als genug bekommen.

Auf den ersten Blick schien sich in Applewells Hauptstraße nicht viel verändert zu haben. Die Metzgerei war noch an Ort und Stelle, genauso wie die Bäckerei, der Supermarkt und das Pins and Elephants – der Laden, in dem man so gut wie alles kaufen konnte.

Als er den Namen über einem Café las, blieb er stehen: Eleri Jones hatte ihren eigenen Laden aufgemacht? Eleri war ein paar Jahre älter als er. Schon als kleines Mädchen hatte sie auf einem behelfsmäßigen Tisch vor ihrem Haus selbst gemachte Limonade und grellbunt verzierte Cupcakes verkauft.

Ob sie wohl noch wie früher aussah? Oder war sie auch gealtert? Kurz überlegte er, ob er für einen Kaffee bei ihr vorbeischauen sollte, entschied sich aber dagegen. Die Buschtrommeln hatten ihr bestimmt schon verkündet, dass er zurück war, da blieb ihm Zeit genug, ihr einen Besuch abzustatten.

Das Café hatte es auch schon vor Eleri gegeben, und es war schon immer eine berüchtigte Gerüchteküche gewesen. Wahrscheinlich hatte sich daran nicht viel geändert.

Im nächsten Augenblick entdeckte er einen Laden, den er noch nicht kannte: A Stitch in Time. Besonders die Person am Fenster weckte seine Aufmerksamkeit. Sie hielt den Kopf gesenkt, dennoch erkannte er die Frau, die eben noch im UnderCover gewesen war.

Lucas blieb stehen und tat so, als interessierte er sich für die Aushänge im Schaufenster des Zeitungsladens nebenan. Ob der Laden wohl immer noch Sid gehörte? Als er dann wieder wie beiläufig nach links schaute, blickte er in ein Paar sensationell blaue Augen. Dazu helle, sommersprossige Haut und wilde braune Locken. Nach einer gefühlten Ewigkeit riss er den Blick los.

Ja, das war sie. Die Frau, deren Gesicht ein wenig zu lange in seinen Gedanken verweilt hatte. Eine klassische Schönheit war sie vielleicht nicht, aber mit ihren strahlend blauen Augen und den Korkenzieherlocken faszinierend. Ein wenig erinnerte sie ihn an die streunende Katze, die eine seiner Exfreundinnen mal aufgenommen hatte. Wenn er sich recht erinnerte, hatte er mehr an der Katze als an der Freundin gehangen. Lange hatte die Beziehung ohnehin nicht gehalten.

Als Lucas sich zum Gehen abwandte, fragte er sich, ob diese Frau, deren Blick er im Rücken spürte, wohl verheiratet war.

Warum bloß dachte er darüber nach? Ebenso gut konnte er sich fragen, ob Catrin verheiratet war. Einen Ring hatte er zwar nicht bemerkt, aber er hatte auch nicht besonders darauf geachtet, weil es ihn nicht die Bohne interessierte.

Die Filialleiterin des UnderCover-Ladens fand Lucas in keiner Weise attraktiv. Die Frau aus dem A Stitch in Time schon.

Schnell verscheuchte er alle Gedanken an sie aus seinem Kopf. Schließlich würde er nicht lange in Applewell bleiben. Im Moment musste er sich um Wichtigeres kümmern, zum Beispiel das Verhältnis zu seiner Mutter und Schwester kitten und seine niedliche kleine Nichte kennenlernen. Eine flüchtige Affäre stand nicht auf dem Programm.

4.

Gracie

Er hatte sie angestarrt – der Mann, der vorhin im Charity-Shop gewesen war. Irgendwie hatte sie diesen forschenden Blick gespürt und von der Arbeit aufgesehen, und da hatte er dann vor dem Zeitungsladen gestanden und sie durch die Scheibe beobachtet. Eigentlich hätte sie es verstören sollen, aber das tat es nicht. Gracie fand es aufregend.

Jedenfalls war es in dem Moment ganz witzig gewesen, bis er den Augenkontakt abgebrochen hatte und gegangen war.

Überhaupt vertrieb sie sich gerne die Zeit damit, Mutmaßungen über Leute anzustellen, die an ihrem Schaufenster vorbeiliefen. Bloß mit fliegender Nadel über die Arbeit gebeugt dasitzen, das gab es bei ihr nicht. Allein schon, um die Augen zu entspannen, blickte sie des Öfteren auf.

Manchmal erwiderten die Leute ihren Blick, doch die meisten bemerkten sie nicht einmal, oft waren sie zu sehr in die Schaufensterauslage vertieft, um die Frau dahinter wahrzunehmen. So war es Gracie aber auch lieber. Wenn ihnen etwas gefiel, kamen sie vielleicht herein und kauften es.

Heute zog schon das zweite Mal Lottie Hargreaves ihre Aufmerksamkeit auf sich. Diesmal war sie nicht bloß in Begleitung von Klein-Morgan, sondern auch ihrer beiden älteren Kinder, als sie auf das A Stitch in Time zusteuerte.

»Ich wollte dich eigentlich vorhin schon bei Eleri ansprechen«, sagte Lottie und scheuchte die Kinder in den Laden. »Aber da hatte ich keine Zeit, weil ich die Großen noch von der Schule abholen musste. Robin hatte noch Kunst und Sabrina Tanzen. Aber du willst wahrscheinlich gerade zumachen oder?«

»Noch nicht«, antwortete Gracie. Wenn man sein eigener Boss war, im Geschäftlichen wie im Privaten, hatte es den Vorteil, dass man niemandem Rechenschaft schuldig war und auch nicht nach Hause hetzen musste. Es war Fluch und Segen zugleich.

Gracie war gerade dabei, die Tüte mit Klamotten und Stoffresten von Catrin zu sortieren. Manches ließ sich noch ausbessern, einige Teile hatten intakte Reißverschlüsse, die sie wiederverwenden konnte, Knöpfe, die sie abtrennte und aufbewahrte; aus manchen Stoffen konnte noch etwas Neues genäht werden. Weggeschmissen wurde bei ihr kaum etwas. Alles, was nicht fleckig oder fadenscheinig war, wurde wiederverwertet. Sie war voll und ganz in ihre Arbeit vertieft (wenn sie nicht gerade Männer durch die Scheibe anstarrten), und die wollte sie noch beenden, bevor sie nach Hause ging.

»Könntest du mir vielleicht zeigen, wie man Möbel neu bezieht?«, fragte Lottie. »In meinen Kursen sprechen mich die Teilnehmer immer wieder darauf an.«

»Du willst mich wohl arbeitslos machen«, neckte Gracie.

»Nein! Tut mir leid, ganz bestimmt nicht.«

»Ich mache doch bloß Witze. Sehr gerne. Polstern ist zwar nicht ganz mein Metier, aber wenn ich irgendwie helfen kann, klar.«

Lottie strahlte. Auch sie hatte sich erst vor kurzem selbstständig gemacht und gab jetzt Kurse im Upcycling von Möbeln. Gracie unterstützte sie gerne.

»Ich bezahle dich natürlich auch«, fügte Lottie hinzu.

»Ich will keine Bezahlung – zumindest nicht im herkömmlichen Sinn.«

»Morgan, nicht anfassen.« Der Kleine fuhr mit den Händen über Gracies Nähmaschine.

»Kein Problem. Ist nicht eingesteckt.«

»Du wärst überrascht, welche Zerstörungskraft dieses Kind besitzt«, sagte Lottie. »Was brauchst du denn?«

»Könntest du Henry bitten, Ausschau nach einem alten Büffet zu halten? Eines habe ich schon, aber ich hätte gerne noch ein zweites. Die Sachen verkaufen sich besser, wenn sie schön ausgestellt sind.«

Lottie sah zu dem Büffet, das schon im Laden stand. »Hübsch mit all den Flaggen. Im Cath-Kidston-Style. Natürlich frage ich ihn. Solche Teile gibt es immer mal wieder.«

Henry führte einen Wertstoff-Shop in Aberystwyth. Er durchforstete die riesigen Sperrmüllcontainer des örtlichen Recyclinghofs und fischte Dinge heraus, die zu schade für die Müllpresse waren und manchmal auch welche, die es nicht waren. Da kam Lottie ins Spiel, die sich meisterhaft darauf verstand, aus kaputten Möbeln Neues zu schaffen. Und nun gab sie ihr Wissen an andere weiter.

Gracie liebte Tauschhandel, sie fand es viel schöner, als mit Geld bezahlt zu werden, es brachte einfach mehr Spaß. Einmal hatte sie Polsterkissen für Eleris Café genäht und dafür eine Woche lang jeden Tag eine warme Mahlzeit bekommen. Das war ein wirklich guter Deal gewesen.

Das war ja das Schöne an Applewell, hier sorgte sich jeder um jeden. Dabei fiel ihr ein …

»Hast du schon gehört, dass Viviens Sohn wieder da ist?«, fragte Gracie.

»Ich wusste gar nicht, dass sie einen Sohn hat.« Lottie stammte ursprünglich aus Nordwales und war zudem zehn Jahre älter, also konnte es gut sein, dass sie noch nie von Lucas Grainger gehört hatte.

»Ich habe auch gar nicht mehr an ihn gedacht, aber dann erzählte mir Eleri, dass er als Jugendlicher ausgerissen war. Jetzt ist er wieder da und scheint eine Weile bleiben zu wollen. Jedenfalls arbeitet er für UnderCover, und Catrin fürchtet nun, dass er hier ist, um den Laden abzuwickeln.«

»Da braucht sie sich keine Sorgen zu machen, glaube ich«, meinte Lottie.

»Das habe ich ihr auch gesagt.«

Nachdem sie sich noch eine Weile unterhalten hatten, blies Lottie zum Aufbruch: »Los, Kinder, auf geht’s! Ihr seid sicher schon halb verhungert.« Dann versprach sie noch, sich bei Gracie zu melden, sobald der Termin für den Workshop feststand.

Gracie freute sich über die Anfrage, auch wenn sie so etwas noch nie gemacht hatte. Bammel hatte sie natürlich auch, aber es könnte sich als zusätzliches Standbein herausstellen, wenn es gut lief. Sie hatte ihre Finanzen fest im Blick, jetzt noch mehr als damals, als sie sich das Haus gekauft hatte. Gekauft war übertrieben, der Großteil gehörte nach wie vor der Bank, und Gracie achtete penibel darauf, dass sie neben allen anderen Rechnungen auch die Raten für das Haus pünktlich bezahlen konnte.

Mit den Jahren lief ihre Näherei immer besser, sodass sie vor ein paar Monaten allen Mut zusammengenommen und den kleinen Laden in der Hauptstraße gemietet hatte. Wahrscheinlich war es das bislang größte Wagnis ihres Lebens gewesen, nicht bloß in finanzieller Hinsicht. Einen Laden zu betreiben, bedeutete eben auch, es jeden Tag mit vollkommen fremden Menschen zu tun zu haben. Dabei fiel ihr manchmal schon der Kontakt mit Leuten schwer, die sie kannte … Aber sie wusste einfach, dass sie gut war, und das hatte ihr den nötigen Auftrieb für diese mutige Entscheidung gegeben.

Dass sie eine ausgezeichnete Schneiderin war, wurde ihr täglich von den Kunden gespiegelt. Die glücklichen Gesichter und die Komplimente, die sie bekam, entschädigten Gracie für die Gespräche, die sie führen musste. Und zwischendrin bot die Welt des Nähens und Flickens ja immer wieder einen sicheren Rückzugsort.

Nichtsdestotrotz steckte ihr Unternehmen noch in den Kinderschuhen, und sie war auf Catrins Spenden von UnderCover angewiesen, wobei ihre Freundin ihr wirklich immer nur Stoffe und Klamotten gab, die zu verschlissen oder kaputt waren und andernfalls im Müll gelandet wären. Was dachten sich die Leute bloß, einen Rock ohne Knöpfe, einen Bettbezug mit Rissen oder Vorhänge zu spenden, die teilweise so fadenscheinig waren, dass man den einfarbigen Stoff für gestreift hielt?

Gracie hatte kürzlich bodenlange verblichene Vorhänge aus einem Hotel bekommen, das renoviert wurde. Dafür war sie dankbar. Die neue Besitzerin des Hotels hatte sie eigentlich entsorgen wollen, doch Lotties Mann Henry hatte vorgeschlagen, sie Gracie zu geben.

Gracie hob noch ein paar Stoffstreifen und Nadeln vom Boden auf, bevor sie den Laden schloss, um nach Hause zu gehen.

Das war kein besonders reizvoller Gedanke.

So ungern sie sich das auch eingestand, aber sie fühlte sich einsam. Seltsamerweise hatte sich dieses Gefühl verstärkt, seit sie den Laden hatte. Vielleicht lag es daran, dass sie den ganzen Tag viele Menschen sah und abends in ein leeres Haus zurückkehrte. Dadurch war ihr klar geworden, was ihr fehlte.

Als sie heute Morgen an Viviens Haus vorbeigelaufen war, hatte sie das Banner nicht bemerkt, doch jetzt fiel es ihr auf. Sie sah zum Fenster, in der Hoffnung, einen Blick auf den verschollenen Sohn werfen zu können.

Doch sie wurde enttäuscht. Aus den Augenwinkeln nahm sie bloß eine dunkle Gestalt wahr, von der sie nicht wusste, ob es ein Mann oder eine Frau war. Es hätte genauso gut Vivien selbst sein können.

Kaum war sie zu Hause, pfefferte sie ihre übervolle Tasche auf den Küchentresen und ging nach oben, um sich ihren Schlafanzug anzuziehen. Es war zwar erst sechs und noch hell draußen, aber das war ihr egal: Bequemlichkeit ging vor.

Mit einem Tee bewaffnet ging sie ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein und begann zu nähen. Eigentlich hatte sie sich ja geschworen, es nicht mehr zu tun … Theoretisch hatte sie Arbeit und Privatleben trennen wollen, nachdem sie so lange Zeit in ihrem Wohnzimmer gearbeitet hatte und die Grenzen verschwommen waren. Anfangs war sie noch richtig froh gewesen, am Ende des Tages die Arbeit im Laden zu lassen.

Nur hatte dieses Hochgefühl nicht mal eine Woche angehalten. Nachdem sie nach Hause gekommen war, hatte sie vier Abende in Folge auf dem Sofa gesessen und Däumchen gedreht. Sie hatte nicht wie geplant angefangen, Kochen zu lernen. Hatte sich nicht um das vollkommen verunkrautete Blumenbeet in ihrem schmalen Gärtchen gekümmert. Hatte nicht angefangen, Schuld und Sühne zu lesen, das sie seit ihrem achtzehnten Lebensjahr besaß – nicht einmal zwischen die Buchdeckel hatte sie gelinst. Und sie hatte sich auch nicht den Pinsel geschnappt, um die längst überfälligen Renovierungsarbeiten im Haus zu erledigen.

Stattdessen hatte es sie so in den Fingern gejuckt, wieder nach der Nähnadel zu greifen, dass sie am fünften Tag schwach geworden war und abends wieder zu Hause genäht hatte.

Wahrscheinlich lag das Problem darin, dass sie Nähen nicht als Arbeit betrachtete. Es lag ihr einfach im Blut, es machte sie aus. Und sie war im Grunde nur glücklich, wenn sie Nadel und Faden in der Hand hielt.

Gracie nähte schon, solange sie denken konnte. Ihre Oma hatte es ihr beigebracht, froh, dass wenigstens eines der drei Enkel Interesse gehabt hatte. Über Stickgarne und die verschiedenen Nähfüße der alten Maschine ihrer Oma hatten sie sich rege ausgetauscht. Das schönste Weihnachtsgeschenk, das Gracie je bekommen hatte, war eine Nähmaschine zu ihrem zwölften Geburtstag gewesen, die sie bis heute benutzte.

Damit sie kein allzu schlechtes Gewissen hatte, dass sie nach Feierabend noch nähte, hielt sich Gracie an eine Art Regel. Diese besagte, dass sie keiner bezahlten Arbeit mehr nachgehen durfte. Abends vor dem Fernseher in ihren Ohrensessel gekuschelt, nähte sie ausschließlich für Catrin und UnderCover. Sie fertigte als Dankeschön Stoffpuppen an, die dann im Laden verkauft wurden. Jede ihrer Puppen war ein Unikat, je nachdem, was für Material ihr zur Verfügung stand. Da die meisten Stoffreste ohnehin von UnderCover stammten, war das nur recht und billig.

Diese Vereinbarung kam sowohl ihr als auch der Wohltätigkeitsorganisation zugute: Gracie bekam umsonst Material und UnderCover wunderhübsche Puppen zum Verkauf.

Tatsächlich hätte sie nicht gewusst, wie sie es ohne Catrin schaffen sollte. Wenn sie all die Stoffe und anderen Dinge kaufen müsste, würden die Kosten noch von ihrem schmalen Gewinn abgehen, und ihr Unternehmen wäre nicht mehr rentabel.

Sie befand sich in einer prekären Lage und hoffte – sowohl für Catrin als auch für sich selbst –, dass dieser Lucas Grainger wirklich bloß seine Mutter besuchen wollte.

5.

Lucas

»Na, hast du einen schönen Spaziergang gemacht?«, fragte seine Mutter, als er in die Küche geschlendert kam, wo Nora mit Ruby auf dem Schoß am Tisch saß.

»Ja, danke.«

»Viel hat sich hier nicht verändert, oder?«, fuhr Vivien fort.

»Eigentlich nicht. Ein paar Läden sind dazu gekommen.« Kurz war Lucas versucht, sich nach dem A Stitch in Time und der Frau am Fenster zu erkundigen, ließ es aber bleiben.

»Hast du Hunger? Ist noch reichlich Essen da.« Seine Mutter deutete auf Teller, die mit Frischhaltefolie abgedeckt waren.

»Nein, danke.« Er schlug sich auf den Bauch, als hätte er ihn sich vollgeschlagen, obwohl er bloß etwas von einem Sandwich und ein halbes Würstchen in Blätterteig gegessen hatte.

»Jedenfalls ist noch reichlich da. Oder soll ich dir lieber etwas Warmes machen?«

»Mum, lass ihn.« Nora kniff die Augen zusammen. »Wenn Lucas Hunger hat, kann er sich selbst was nehmen.«

»Weiß ich doch, aber ich freue mich einfach, dass er hier ist.«

»Wie du meinst. Ianto kommt sicher gleich nach Hause, ich gehe dann jetzt mal.«

Lucas kannte den Lebensgefährten seiner Schwester noch nicht.

Nora ließ Ruby vom Schoß gleiten. »Oder willst du ihm auch was Schönes kochen?«, fragte sie verbittert.

Vivien blickte überrascht auf. »Natürlich würde ich das –«

»Spar dir die Mühe.« Nora nahm Ruby bei der Hand. »Gib Oma einen Kuss.« Die Kleine nahm kurz den Daumen aus dem Mund und gab ihrer Oma einen schnellen Schmatzer auf die Wange.

Nora drückte ihre Mutter mit einem Arm kurz an sich. »Bis morgen.«

Vivien nickte. »Ich arbeite bis vier.« Sie warf Lucas einen bangen Blick zu.

»Er ist ein großer Junge. Bestimmt kann er sich ein paar Stunden allein beschäftigen«, sagte Nora.

»Ja, aber …« Vivien biss sich auf die Lippe.

»Arbeitest du noch beim Bäcker?«, fragte Lucas.