Kann Kapitalismus moralisch sein? - André Comte-Sponville - E-Book

Kann Kapitalismus moralisch sein? E-Book

André Comte-Sponville

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Beschreibung

Kann Kapitalismus moralisch sein?? Diese Frage geht uns alle an. Und zwar nicht nur in Zeiten der Rezession. Denn ob wir es wollen oder nicht: Mit unserer Arbeit, unseren Wertschriften und Bankkonten und mit unserem Konsum sind wir Teil eines ökonomischen Systems, das die einen zu Gewinnern, die anderen zu Verlierern macht. André Comte-Sponville geht den unterschiedlichen Einstellungen zum Thema Unternehmungsführung nach und unterzieht die Mechanismen der Wirtschaft sowie der Moral einer Analyse. André Comte-Sponville stellt die brisanten und fundamentalen Fragen."

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Seitenzahl: 368

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André Comte-Sponville

Kann Kapitalismusmoralisch sein?

Aus dem Französischen vonHainer Kober

Titel der 2004 bei Éditions Albin Michel, Paris,

erschienenen Originalausgabe:

›Le capitalisme est-il moral?‹

Copyright ©2004, 2009 by Éditions Albin Michel

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2009 im Diogenes Verlag

Der vorliegende Text entspricht der 2009 in Frankreich

erschienenen erweiterten zweiten Auflage

Umschlagillustration:

Paul Klee, ›Revolution des Viaduktes‹, 1937

Für Monique Canto-Sperber

und Jean-Pierre Dupuy

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright ©2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24063 4 (2. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60617 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Vorwort  [9]

Kann Kapitalismus moralisch sein?

Einleitung  [13]

I Die Rückkehr der Moral  [17]

1. Zwei Generationen, zwei Irrtümer  [18]

2. Der »Triumph« des Kapitalismus  [33]

3. Der »Tod Gottes«  [37]

4. Die Mode der »Unternehmensethik«  [45]

II Das Problem der Grenzen und die Unterscheidung der Ordnungen  [53]

1. Die technowissenschaftliche Ordnung  [53]

2. Die rechtlich-politische Ordnung  [58]

3. Die Ordnung der Moral  [66]

4. Die ethische Ordnung  [75]

III Kann Kapitalismus moralisch sein?  [79]

1. Moral und Wirtschaft  [79]

2. Marx' Irrtum  [90]

3. Das Goldene Kalb  [94]

[6]IV Verwechslung der Ordnungen: Lächerlichkeit und Tyrannei, Blauäugigkeit oder Barbarei  [101]

1. Lächerlichkeit und Tyrannei nach Pascal  [101]

2. Die Tyrannei des Niederen: die Barbarei  [109]

Technokratische oder liberale Barbarei  [110]

Politische Barbarei  [115]

Moralisierende Barbarei  [120]

Eine ethische Barbarei?  [121]

3. Die Tyrannei des Höheren: Blauäugigkeit  [123]

Politische oder rechtliche Blauäugigkeit  [123]

Moralische Blauäugigkeit  [126]

Ethische Blauäugigkeit  [127]

Religiöse Blauäugigkeit  [128]

4. Verantwortung und Solidarität  [131]

Verantwortung  [132]

Handel und »Respekt vor dem Kunden«  [135]

Großzügigkeit oder Solidarität?  [137]

Liberalismus oder Ultraliberalismus?  [149]

Schlussfolgerung  [153]

Fragen an André Comte-Sponville

Ist es moralisch, Arbeitsplätze zu schaffen?  [167]

Gewinn oder Wohlstand schaffen?  [170]

Ist der Sozialismus moralisch?  [171]

Gleichheit  [173]

Linker oder Rechter?  [176]

Linke Blauäugigkeit, rechte Barbarei?  [181]

Moral und Politik  [186]

Verantwortung der Arbeitgeber  [188]

Gemeinsame Werte und »Ethik-Charta«  [191]

[7]Das Unternehmen – eine »moralische Person«?  [194]

»Corporate Citizenship«  [195]

Liebe im Unternehmen  [199]

Moral oder Soziologie?  [201]

35-Stunden-Woche  [204]

Der »Wert der Arbeit«  [209]

Arbeit und Würde  [212]

Globalisierung  [213]

Die amerikanische Hegemonie  [220]

Schizophrenie oder Schnittstelle?  [224]

Eine allgemeine oder besondere Analyse?  [231]

Der Ort der Moral im Unternehmen  [233]

Ein Kapitalismus ohne Eigentümer?  [242]

Zielsetzung des Eigentümers, Zielsetzung des Unternehmens  [246]

Risikobereitschaft  [248]

Die Börse  [248]

Pensionsfonds  [250]

Ende der Geschichte?  [250]

Moral und Ethik  [252]

Ist Gott die Liebe?  [256]

Die Sinnfrage  [257]

Der Wohlfahrtsstaat  [262]

Statt eines Schlussworts: Tragik und Politik  [265]

Antworten an Kritiker

Antwort an Marcel Conche  [269]

Antwort an Lucien Sève  [276]

Antwort an Yvon Quiniou  

[9]Vorwort

Es wird viel über Komplexität geredet, und das zu Recht: Sie ist ein Kennzeichen der modernen Zeit, sowohl intellektuell (Komplexitätstheorien) als auch wirtschaftlich und politisch (Globalisierung). Kein Grund zur Verwirrung, im Gegenteil: Wo die Komplexität zunimmt, wachsen die Ansprüche an Klarheit und Unterscheidungsvermögen. Darauf baut das vorliegende Buch auf. Es möchte helfen, klarer zu sehen, Entscheidungen zu treffen, berufliche, moralische, politische Verantwortung zu übernehmen angesichts der vielfältigen Herausforderungen, vor die wir uns in der heutigen Welt gestellt sehen. Mithin ist es vor allem zukunftsgerichtet. Aber es hat auch eine Geschichte. Es ist aus zahlreichen Vorträgen hervorgegangen, die ich, häufig unter demselben Titel, vor sehr unterschiedlichen Zuhörern gehalten habe: vor Studenten und Lehrern an Wirtschafts- und Managementhochschulen (in Nantes, Reims, Le Havre, Orléans…), vor den Mitgliedern einiger Gesellschaften und Verbände (vor allem der Gesellschaft Progrès du management) oder vor den Führungskräften verschiedener Unternehmen. Oft wurde ich um den Redetext gebeten. Hier ist er, aber sorgfältig durchgesehen und erheblich erweitert. Trotzdem bewahrt das Ergebnis den Charakter des Gesprochenen, mit den Grenzen, aber auch den Vorzügen, die ihm eigen sind. »Die fruchtbarste und natürlichste [10]Übung unseres Geistes«, sagte Montaigne, »sind nach meiner Meinung Gespräch und Diskussion.«1 Ich denke, das gilt auch für die öffentliche Rede. Im Übrigen kommt auch die Diskussion zum Zuge: Wir werden es im zweiten Teil des Buchs sehen, wo ich einige der Gespräche wiedergebe, zu denen es bei diesen Begegnungen wirklich gekommen ist.

[11]

[13]Einleitung

Über einige Lächerlichkeiten und Tyranneien unserer Zeit

Zweifellos ist gleicher Besitz für alle gerecht, aber…

BLAISE PASCAL (Gedanken, 81–299)

Zur Titelfrage dieses Vortrags – »Kann Kapitalismus moralisch sein?« – möchte ich einige Überlegungen anstellen, die sich mit den Beziehungen zwischen Moral und Wirtschaft erklären.

Es bedarf keiner langen Vorreden, um die Wahl dieses Themas zu rechtfertigen.

Erstens, weil sich die moralische Frage (»Was soll ich tun?«) jedem stellt, egal, welchen Beruf er hat und ob er Aktionär oder Chef eines Unternehmens ist. Gleiches gilt natürlich für das, was man die ökonomische Frage nennen könnte (»Was kann ich besitzen?«). Weder die Reichsten noch die Ärmsten unter uns können sich der Moral oder dem Kapitalismus entziehen: arbeiten, sparen, konsumieren – so ist das nun mal, das heißt, wir sind ein Teil des Systems, ob wir es wollen oder nicht; und das gibt uns wohl das Recht, nach seiner Moral zu fragen.

Zweitens, weil sich diese moralische Frage, die sehr verschiedene Bereiche betreffen kann, mit besonderem Nachdruck in Bezug auf die Wirtschaft stellt, besonders in der [14]Unternehmenswelt, der Geschäftswelt, wie man so sagt, auch in der abfälligen Doppelbedeutung, die das Wort »Geschäft« hat. Das Gute (in der moralischen Bedeutung des Wortes) und die Güter (in der wirtschaftlichen Bedeutung) kommen nicht immer gut miteinander aus. Ein Grund mehr, darüber nachzudenken.

Und drittens und letztens, weil diese moralische Frage seit einigen Jahren an zusätzlicher Aktualität gewinnt. Zum Teil wegen der »Geschäfte«, von denen die Rede war, aber auch allgemeiner, weil sie der Entwicklung der Einstellungen entspricht, dem, was man den Zeitgeist, die Grundhaltung einer Generation nennen könnte. In der Presse ist seit einigen Jahren viel von der Rückkehr der Moral die Rede. Ich erinnere mich an einen Artikel von Laurent Joffrin in der Tageszeitung Libération, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, der sogar den Begriff der »moralischen Generation« bemühte, um die jungen Leute von heute, sagen wir, der achtziger und neunziger Jahre, zu beschreiben – im Unterschied oder im Gegensatz zur unmittelbar vorhergehenden Generation, der sechziger und siebziger Jahre. Ich hatte übrigens schon 1986 dasselbe Thema in derselben Zeitung angesprochen: Mir schien, dass die Mobilisierung der Schüler und Studenten in jenem Herbst (gegen das Gesetz von Devaquet) aus einem ganz anderen Geist erwuchs als dem, der uns achtzehn Jahre zuvor, spektakulärer, aber vielleicht auch naiver, auf die Straße getrieben hatte. Bei uns trat die Utopie an die Stelle der Moral; während bei ihnen eher die Moral die Utopie ersetzte.2 Es war mir nicht sofort [15]klar, dass sie auch die Politik zu verdrängen drohte und dass darin eine erhebliche Gefahr lag. Ich werde gleich darauf zurückkommen. Sagen wir einfach, dass sich die Moral im Laufe der achtziger Jahre ins Zentrum der Debatten eingenistet hat. Nebenbei gesagt, mein Petit traité des grandes vertus (deutsch: Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben, Reinbek, Rowohlt, 1996) hatte seinen ungewöhnlichen Erfolg Mitte der neunziger Jahre nicht zuletzt dem Zeitpunkt seines Erscheinens zu verdanken: Unabhängig von den Vorzügen, die das Buch möglicherweise besitzt, setzt ein solcher Erfolg immer ein gewiss unvorhersehbares, aber keinesfalls zufälliges Zusammentreffen des Interesses von Autor und Publikum voraus.

Mit einem Wort, die Moral ist seit den achtziger Jahren eine aktuelle Frage. Seltsamerweise hat sie es zum Modethema gebracht. Doch wie fast immer, wenn die Mode ins Spiel kommt, ist der Preis dafür ein gewisses Maß an Verwirrung. Angesichts dieser Gefahr soll meine Rede zunächst und vor allem Klarheit bringen.

Dazu werde ich in vier Schritten vorgehen.

Zuerst werde ich versuchen zu verstehen, wie es zu dieser Rückkehr der Moral kam; und ich werde drei verschiedene, einander ergänzende Erklärungen vorschlagen, die in diesem Fall drei verschiedenen Stufen angehören – drei verschiedenen Zeitebenen, wie ein Historiker sagen würde.

Dann werde ich das behandeln, was ich das Problem der Grenzen oder der Ordnungen nenne (wobei ich »Ordnung« in der pascalschen Bedeutung verwende, als Synonym von »Bereich« oder »Ebene«).

Das führt mich zu meinem dritten Teil, wo ich versuchen [16]werde, die Titelfrage zu beantworten: »Ist der Kapitalismus moralisch?«

Schließlich werde ich mich in einem vierten Schritt gegen die Verwechslung der Ordnungen wenden, wobei ich von den Pascalschen (aber auf unsere Zeit angewendeten) Begriffen des Lächerlichen und der Tyrannei ausgehen werde.

[17]I

Die Rückkehr der Moral

Machen wir uns zunächst klar, wovon die Rede ist. Wenn ich von der Rückkehr der Moral spreche oder wenn davon in den Medien die Rede ist, heißt das nicht, dass die Menschen heute tugendhafter wären, als es ihre Eltern oder Großeltern waren. Es geht im Wesentlichen um die Rückkehr der Moral in den Diskurs. Die Menschen sind nicht tugendhafter geworden, sie sprechen nur häufiger über Moral, und es lässt sich zumindest die Hypothese aufstellen, dass sie umso mehr über Moral sprechen, je rarer diese sich in Wirklichkeit – im menschlichen Verhalten – macht… Das ist durchaus möglich. Aber immerhin wird über Moral gesprochen. Ihre Rückkehr ins Zentrum des Diskurses ist ein gesellschaftliches Phänomen, das einer näheren Betrachtung wert ist.

Warum diese Rückkehr der Moral? Ich habe drei einander ergänzende Erklärungen angekündigt, die drei verschiedenen Zeitebenen angehören… Die erste Erklärung, die ich Ihnen vorschlagen möchte, gehört einer Zeitebene an, die ein Historiker brève durée, kurze Dauer, nennen würde – zwanzig, dreißig Jahre, der Zeitraum einer Generation.

[18]1. Zwei Generationen, zwei Irrtümer

Mir scheint nämlich, dass wir diese Rückkehr der Moral mit besonderer Klarheit erkennen, wenn wir ein wenig Abstand nehmen, vor allem, wenn wir die jungen Menschen von heute, die, die in den achtziger und neunziger Jahren um die zwanzig waren, mit den jungen Leuten vergleichen, die wir – einige von uns – vor dreißig, fünfunddreißig Jahren waren, sagen wir, um ein Bezugsdatum zu nennen, die 1968 um die zwanzig waren. Das ist die Generation, die man die »Achtundsechziger« nennt. Ich gehörte dazu; und wenn diese Zeit auch kein Anlass zu Stolz oder Scham ist, so verdanke ich ihr doch einige meiner schönsten Erinnerungen. Allerdings darf die Nostalgie, wenn es denn Nostalgie ist, nicht das Denken ersetzen.

Vor dreißig, fünfunddreißig Jahren haben wir uns – erinnern Sie sich, wenn Sie es erlebt haben – herzlich wenig um die Moral gekümmert. Damals waren eher der Immoralismus und die Befreiung von allen Zwängen in Mode. Wer philosophisch dachte, berief sich gerne auf Nietzsche: Wir wollten jenseits von Gut und Böse leben. Wer mit der Philosophie nichts im Sinn hatte, begnügte sich damit, die schönen Parolen von damals an die Wände seiner Universität zu sprayen – oder sie dort, nicht selten mit Zustimmung, zu lesen. Sie erinnern sich: »Es ist verboten zu verbieten«, oder auch: »Leben ohne Wenn und Aber, genießen ohne Fesseln«. Wie schön war das, und wie gut wäre es gewesen, wenn es sich hätte verwirklichen lassen! Wir brauchten zwanzig Jahre, um zu begreifen, dass es nicht ging. Man [19]mag sich wundern, dass wir so lange gebraucht haben (wenn es einige auch rascher erkannten als andere) und dass wir – wenn auch nur einen Frühling lang und mit unserer Jugend als Entschuldigung – glaubten, wir könnten uns so radikal von allen moralischen Bedenken befreien. Doch dieser Glaube oder diese Illusion erwuchs daraus, dass damals vor allem in der studentischen Jugend eine besondere Ideologie vorherrschte, die ich gerne die Ideologie der allumfassenden Politik nenne. Das galt nicht nur für die Militanten. Die gaben, weit über ihren kleinen Kreis hinaus, den Ton für die ganze Generation an. Politisches Desinteresse war fast unvorstellbar. Engagement fast selbstverständlich. In den sechziger und siebziger Jahren war alles Politik, wie wir sagten, aber es war nicht nur alles Politik (was im Grunde genommen wahr war und noch immer ist), sondern die Politik war auch alles – was etwas ganz anderes ist (ich glaube noch immer, dass alles Politik ist, aber ich glaube ganz gewiss nicht mehr, dass die Politik alles ist). Doch damals haben wir es so gesehen: Alles war Politik, und die Politik war alles, so sehr, dass uns eine gute Politik als die einzige erforderliche Moral erschien. Eine Handlung erschien uns gut, wenn sie, wie wir sagten, politisch gerechtfertigt war. Militante Moral, voll guten Gewissens und Begeisterung. Aber war das noch eine Moral?

Ich sehe meinen besten Freund jener Jahre vor mir – er bereitete sich gerade auf die Aufnahmeprüfung einer der Grandes Écoles vor–, wie er mit strahlenden Augen sagte: »Ich habe keine Moral, Alter!« Ich nehme an, damit stieg er schlagartig in meiner Achtung… Er war ein liebenswerter Bursche und ist es geblieben. Er hätte keiner Fliege etwas [20]zuleide tun können (ausgenommen einer rechtsradikalen Fliege). Doch die Moral erschien ihm als eine nutzlose und verhängnisvolle Illusion. Er war zugleich Nietzschianer und Marxist, wie viele von uns. Diese doppelt widernatürliche Mischung (ein linker Nietzsche! ein unmoralischer Marx!) entband uns von der Notwendigkeit, uns genauer zu prüfen. Die Moral? Jüdisch-christliche Sklavenideologie. Die Pflicht? Spießbürgerlicher Idealismus. Wir liefen Sturm gegen den Führungsanspruch des Gewissens. Nieder mit dem Moralin, wie Nietzsche sagte, es lebe die Revolution der Freiheit! Naivität der Jugend… Es ist allerdings hinzuzufügen, dass die Älteren, die wir bewunderten, damals kaum Anstalten machten, uns über unseren Irrtum aufzuklären. Sartre selbst hatte auf alle moralischen Vorhaltungen verzichtet. Und Althusser oder Foucault, die uns noch wichtiger waren, entlockte schon das Wort allein ein Lächeln. Deleuze pries Spinoza? Gewiss, und wie brillant! Doch nur, um in ihm vor allem den »Immoralisten« zu ehren…3 Der Zeitgeist war großzügig und paradox: Die Moral – repressiv, kastrierend, kulpabilisierend – erschien uns unmoralisch. Wir brauchten sie nicht. Die Politik ersetzte sie und genügte uns.

[21]Zwanzig, dreißig Jahre später hat sich das Bild erstaunlich gewandelt. Die Politik stößt auf wenig Interesse, vor allem bei jungen Leuten. Wenn sie doch einmal darüber reden, dann meist, um darüber zu lachen – weil sie kaum noch etwas anderes daran wahrnehmen als die lächerliche Seite, die ihnen in Sendungen wie Les Guignols de l'Info4 präsentiert wird. Zugleich aber hat sich ebendiese Jugend, die der Politik so massenhaft den Rücken gekehrt hat, einer Reihe von moralischen Fragen zugewandt, die zwar häufig umbenannt werden (weil das Wort »Moral« ein wenig altmodisch klingt: Die jungen Leute sprechen lieber von Menschenrechten, Humanität, Solidarität…), die aber deswegen nicht weniger moralisch sind.

Einige Beispiele, um das Bild dieser »moralischen Generation« zu verdeutlichen.

In Frankreich finden regelmäßig Befragungen statt, die ermitteln sollen, welche Persönlichkeit in der Wertschätzung der Jugend den ersten Rang einnimmt… Gesetzt den Fall, man hätte eine solche Erhebung vor dreißig Jahren durchgeführt, wären die Antworten der jungen Leute höchstwahrscheinlich auf zwei gegensätzliche Gruppen entfallen: die Gruppe derer, die sich für, sagen wir, Che Guevara ausgesprochen hätten (dessen hübsches Gesicht unzählige Studentenzimmer schmückte), und die derer, die sich eher für General de Gaulle entschieden hätten. Mit einem Wort, die Antworten der Jugend hätten sich in den sechziger und siebziger Jahren auf zwei Persönlichkeiten verteilt, die zwar gegensätzlich, aber beide politisch waren [22](gegensätzlich, weil sie politisch waren: Politik ist definitionsgemäß konfliktträchtig). Doch während der achtziger und neunziger Jahre war die Persönlichkeit, die die Rangliste im Herzen der französischen Jugend anführte, Abbé Pierre. Und zwar nicht der katholische Priester Abbé Pierre, also die religiöse Persönlichkeit, sondern der Abbé Pierre, der als Beschützer der Armen, der Ausgegrenzten wirkte, als wohltätige oder moralische Persönlichkeit. Die Zeiten ändern sich… In zwanzig Jahren sind wir vom Konflikt zum Konsens, von der Politik zur Moral gekommen – von Che Guevara bzw. General de Gaulle zu Abbé Pierre. Lauter respektable Männer, und doch ist es ein weiter Weg, der da zurückgelegt wurde.

Hier noch ein paar Beispiele, um diese »moralische Generation« deutlicher in den Blick zu rücken.

Was tun gegen Armut? Vor dreißig Jahren hätten die einen geantwortet: Revolution; die anderen: Wachstum, Fortschritt, Beteiligung, was weiß ich. Seit den achtziger Jahren lautet die Antwort vieler junger Menschen – und eines großen Teils unserer Gesellschaft – ganz anders. Was tun gegen Armut? Suppenküchen einrichten. Was tun in der Außenpolitik, gegen den Krieg? Antwort: humanitäre Aktionen, Ärzte ohne Grenzen und so fort. Was tun, um die Probleme der Einwanderung und Integration zu lösen? Organisationen wie SOS Racisme5.

Seit zwei Jahrzehnten ist fast jedes Mal, wenn Probleme auftauchen, die kollektiv, gesellschaftlich, konfliktträchtig – also politisch – sind, eine Vorliebe für Reaktionen zu [23]beobachten, die individuell, moralisch, gelegentlich vielleicht sogar sentimental sind, wenn auf ihre Art auch höchst achtbar (es versteht sich von selbst, dass ich nicht das Geringste gegen Suppenküchen, Ärzte ohne Grenzen oder SOS Racisme habe), die aber ebenso offensichtlich unfähig sind, die gesellschaftlichen, konfliktträchtigen, politischen Probleme, denen wir uns gegenübersehen, zu lösen oder auch nur in ihrer ganzen Tragweite in den Blick zu bekommen.

Ich sagte, vor zwanzig Jahre sei die Politik alles gewesen und eine gute Politik sei uns als die einzig erforderliche Moral erschienen. Heute ist es eher so, dass die Moral vielen jungen Menschen alles bedeutet; und eine gute Moral erscheint ihnen als völlig ausreichende Politik.

Zwei Generationen, zwei Irrtümer.

Natürlich war es vor dreißig oder fünfunddreißig Jahren ein Irrtum zu glauben, die Politik könnte die Moral ersetzen. Doch heute ist es ein ebensolcher Irrtum, zu glauben oder glauben zu machen, die Moral – ob man sie nun in Menschenrechte oder Humanität umbenennt – könnte die Politik ersetzen.

Wenn Sie meinen, die Suppenküchen könnten das Elend beseitigen, die Arbeitslosigkeit und die Ausgrenzung, steht für mich fest, dass Sie sich etwas vormachen. Wenn Sie meinen, humanitäre Aktionen könnten die Außenpolitik ersetzen und Antirassismus die Einwanderungspolitik, so bin ich gleichfalls überzeugt, dass Sie sich etwas vormachen. Moral und Politik sind zweierlei, sie sind beide notwendig, lassen sich aber nicht miteinander vermischen, ohne dass man aufs Spiel setzt, was beider Wesen ausmacht. Wir brauchen sie beide, und wir brauchen ihre Verschiedenheit! Wir [24]brauchen eine Moral, die sich nicht auf Politik verkürzen lässt, wir brauchen aber auch eine Politik, die sich nicht auf Moral verkürzen lässt.

So möchte ich die erste Erklärung, die ich vorschlage, um diese Rückkehr der Moral begreiflich zu machen, empirisch beschreiben, von außen, als den Übergang von einer Generation zur anderen, sagen wir, von der Generation der allumfassenden Politik (der Achtundsechziger) zur Generation der allumfassenden Moral (der »moralischen Generation«, die in Frankreich auch, was eine Art Paradox ist, die »Generation Mitterrand« ist); doch inhaltlich signalisiert das vor allem eine schwerwiegende Krise der Politik. In dem Maße, wie den jungen Leuten heute das Gefühl verlorengeht, sie könnten ihr Schicksal kollektiv beeinflussen – was die eigentliche Aufgabe der Politik ist–, neigen sie dazu, sich in die Privatsphäre ihrer moralischen Werte zurückzuziehen. Deshalb erscheint mir diese Erklärung zutiefst ambivalent. Denn einerseits können wir uns doch nur freuen, dass die Jugend eine Art Rückkehr zu moralischen oder humanistischen Forderungen vollzieht; andererseits ist es beunruhigend, dass dies auf Kosten eines echten politischen Engagements geschieht. Heute ist die Schwachstelle unserer Gesellschaft nicht die Moral, wie manchmal zu hören ist, sondern die Politik. Die guten Gefühle haben Konjunktur; doch die Wahlenthaltungen und extremistischen Stimmabgaben nehmen bei französischen Wahlen unaufhaltsam zu. Unserer Demokratie geht es schlecht; das ist ein beunruhigendes Symptom für unsere ganze Gesellschaft.

Keine Generation ist unsterblich. Mir scheint, dass nun auch diese »moralische Generation« ihrem Ende nahe ist. [25]Was bringt mich zu dieser Annahme? Gewiss nicht die massenhafte Rückkehr zum politischen Engagement! Kurzzeitig sah es zwar so aus, als 2002 zwischen den beiden Wahlgängen der Präsidentschaftswahl die jungen Leute zu Hunderttausenden auf die Straße strömten… Doch da ging es gegen Le Pen, gegen Rassismus, gegen Fremdenfeindlichkeit: Das war ein Kampf, der im Grunde weniger politisch als moralisch war. Das wertet ihn nicht ab, ganz im Gegenteil. Doch es bleibt festzustellen, dass unsere jungen Leute, nachdem Chirac wiedergewählt war, wieder massenhaft in ihr humanitäres und konformistisches Desinteresse an der Politik zurückgefallen sind (was man als »Menschenrechtlerei« bezeichnen könnte). Was die jüngste Bewegung gegen die Rentenreform und Dezentralisierung angeht, so lässt sich da zuallermindest einwenden, dass es ihr, abgesehen davon, dass sie nicht speziell die Jugend betrifft, eher um Bestandssicherung und Interessenwahrung als um einen im eigentlichen Sinne politischen Kampf geht. Im Übrigen ist es kein Zufall, dass die politischen Parteien von diesen Demonstrationszügen in der Regel ausgebuht werden.

Die Leute, die seit einigen Jahren zum Kampf gegen die Globalisierung (oder für eine andere Globalisierung) aufrufen, gehen noch einen Schritt weiter: Sie führen tatsächlich einen politischen Kampf. Doch abgesehen davon, dass sie eine kleine Minderheit darstellen, auch innerhalb der Jugend, ist festzustellen, dass ihre vielfach moralisch und humanitär inspirierte Bewegung gewisse Schwierigkeiten hat, zu einer einigermaßen klaren politischen und programmatischen Linie zu finden… Man mag über Aktivisten wie José [26]Bové denken, wie man will, doch sie sind nur schwerlich mit Che Guevara oder General de Gaulle zu verwechseln.

Meine Überzeugung, dass die Zeit dieser moralischen Generation abgelaufen ist, hat einen anderen Grund. Welchen? Nun, es sind dieselben Beispiele, die ich gerade zu ihrer Charakterisierung bemüht habe. Abbé Pierre, die Suppenküchen, Ärzte ohne Grenzen, SOS Racisme… Jede dieser vier Institutionen gibt es noch heute, und das ist gut so, doch ich habe den Eindruck, dass keine mehr die makellose Aura besitzt, die sie einst hatte, oder imstande ist, jene einhellige Begeisterung hervorzurufen, die sie vor zehn oder fünfzehn Jahren wecken konnte. Wir erinnern uns: Die große Zeit von Abbé Pierre waren (die fünfziger Jahre einmal beiseitegelassen) eher die achtziger und der Beginn der neunziger Jahre als die Gegenwart. Und auch die Blütezeit der Suppenküchen, der Ärzte ohne Grenzen oder von SOS Racisme war eher Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre als heute. Kurzum, meine Beispiele sind veraltet. Aber glauben Sie nicht, ich hätte aus Faulheit oder Gewohnheit vergessen, sie zu aktualisieren. Vielmehr habe ich in der jüngsten Zeit keine gefunden, die so überzeugend und beständig wären und in die gleiche Richtung wiesen. Daher die eben geäußerte Hypothese, dass es mit dieser moralischen Generation zu Ende geht. Bleibt die Frage, wer ihre Nachfolge antreten könnte.

Ich bin kein Prophet, sondern kann nur beobachten, was bereits geschehen ist, und vielleicht versuchen, in dieser Richtung weiterzudenken. Versuchen wir also, in der allerjüngsten Zeit ein Phänomen zu entdecken, das die jungen Leute massenhaft fasziniert hat und gleichzeitig von [27]Bedeutung war (ich sage »von Bedeutung war«, weil Ihnen ja sonst die letzte Fußballweltmeisterschaft oder irgendeine Reality-Show in den Sinn kommen könnte, deren enormer Erfolg ja unbestreitbar sein mag, aber deren Bedeutungsgehalt, wenn nicht gleich null, so doch ein wenig begrenzt ist, was Sie mir sicherlich zugestehen werden…). Wenn ich in der allerjüngsten Zeit ein Phänomen suche, das Massen von Jugendlichen mobilisiert hat und gleichzeitig bedeutungsvoll war, so drängt sich mir eines mehr als alle anderen auf, und das umso mehr, als es noch vor dreißig Jahren unvorstellbar gewesen wäre: der erstaunliche Erfolg der Weltjugendtage unter der Schirmherrschaft von Johannes Paul II., zu denen sich 1997 mehr als eine Million Jugendliche in Paris versammelten (wenn ich nicht irre, seit 1968 die größte Versammlung junger Menschen in Frankreich), drei Jahre später zwei Millionen in Rom, 2003 in Toronto zwar nur vierhunderttausend (aber auf protestantischem Boden), und das zu Füßen eines Papstes, der zwar begabt, charismatisch und medienwirksam, aber, wie wir nicht vergessen dürfen, schon recht alt war und die Jugend, um es vorsichtig auszudrücken, nicht gerade mitreißend ansprach.

Ich erinnere mich an einen Artikel in Le Monde, der eine Woche vor dem Weltjugendtag in Paris erschien und über die Sorge der Bischöfe angesichts des »vorhersehbaren Misserfolgs« dieses Events berichtete. Tatsächlich erwies sich der »vorhersehbare Misserfolg« als ein vollkommen unvorhergesehener und spektakulärer Erfolg.

Ich war zu dem Zeitpunkt in Paris. Es war nicht nur die Zahl, die mich verblüffte, sondern auch die Atmosphäre, die Freude, die Heiterkeit, diese neue »ruhige Kraft«…

[28]Meine Hypothese lautet also, dass nach der Generation der allumfassenden Politik (den Achtundsechzigern) und nach der Generation der allumfassenden Moral und der allumfassenden Humanität (der »moralischen Generation«) etwas entsteht, was man als eine »spirituelle Generation« bezeichnen könnte, sagen wir, eine Generation, die die spirituelle Frage, die seit Jahrzehnten obsolet schien, wieder zu ihrer Frage macht.

Was ist die spirituelle Frage?

Die politische Frage ist, sehr vereinfacht gesagt, die Frage nach Recht und Unrecht. Die moralische Frage ist die Frage nach Gut und Böse, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit. Die spirituelle Frage ist die Frage nach dem Sinn, die Sinnfrage, wie es heute heißt, also auch die Frage nach der Sinnlosigkeit. Mir scheint, dass diese Frage seit einigen Jahren wieder einen bevorzugten Platz in den Köpfen oder Herzen unserer jungen Leute einnimmt, das heißt all der jungen Leute (aber manchmal sind es auch dieselben), die noch an etwas anderes denken als Fußball, Big Brother oder die neueste Castingshow…

Ich möchte betonen, dass es sich nur um eine Hypothese handelt. Aber ich könnte weitere Beispiele nennen, um sie zu untermauern.

Wer kommt nach Abbé Pierre? Ich sehe nur einen Menschen, der heute im Herzen der Jungen und der weniger Jungen jene Aura besitzt, die Abbé Pierre vor zehn oder fünfzehn Jahren hatte; das ist der Dalai Lama. Bei dieser Entwicklung verblüfft mich, dass Abbé Pierre, wie ich oben sagte, zwar sehr populär war, aber weit weniger als katholischer Priester denn als Beschützer der Armen und [29]Ausgegrenzten: nicht als spirituelle, sondern als moralische Persönlichkeit. Beim Dalai Lama verhält es sich genau umgekehrt: Er ist weit weniger populär als Verteidiger der Rechte Tibets (als humanitäre Persönlichkeit) denn als spiritueller Meister, der er ja ist. So dass der Wechsel von Abbé Pierre zum Dalai Lama nicht einfach der von einem heiligen Mann zum nächsten ist. Es ist der Wechsel von einer Frage zur nächsten: der Wechsel von einer genuin moralischen Frage (»Was tust du für die Armen?«) zu einer genuin spirituellen (»Welchen Sinn hat dein Leben?«). Natürlich können diese beiden Fragen miteinander verknüpft sein, deswegen sind sie aber doch verschieden.

Anderes Beispiel: Wer hatte Ende der neunziger Jahre den größten literarischen Erfolg in Frankreich? Ein unbekannter Autor aus einem Land der Dritten Welt, ein Buch mit esoterischem Titel, keine Seite Sex, keine Zeile Gewalt… Und dieses Buch blieb mehr als ein Jahr an der Spitze der Bestsellerliste aller Buchkategorien! Wer den Alchimisten von Paulo Coelho gelesen hat, weiß, worum es geht: Es ist nichts anderes als der Bericht über eine spirituelle Suche. Wäre das Buch zehn Jahren zuvor erschienen, hätte es sicherlich niemand beachtet. Gut möglich, dass es in zwanzig Jahren vergessen ist. Doch es ist im richtigen Augenblick erschienen, diesem Umstand verdankt es seinen beträchtlichen und, gemessen an seiner Qualität, etwas unverhältnismäßigen Erfolg. Aber gerade weil es sich um ein nur durchschnittliches Buch handelt (kein Meisterwerk, wie einige behaupteten, aber auch kein grottenschlechtes Buch, wie verschiedene Pariser Intellektuelle in ihrem ewigen Neid auf den Erfolg anderer gar nicht schnell genug [30]urteilen konnten), wird deutlich, dass es sich eher um ein gesellschaftliches als literarisches Phänomen handelt und dass wir daher, zumindest aus dieser Sicht, unrecht hätten, es zu unterschätzen.

Ein weiteres Beispiel, ebenfalls dem literarischen Leben entnommen: der erstaunliche Erfolg eines echten Meisterwerks, wenn auch mit geringerer Auflagenhöhe: Das Kind, der Engel und der Hund von Christian Bobin. Wer hätte in den sechziger und siebziger Jahren gedacht, dass ein Buch über den heiligen Franz von Assisi sich in Frankreich – mit wenig Presse und ohne Fernsehen – zweihunderttausend Mal verkaufen würde?

Schließlich als letztes Beispiel oder letzte Anekdote der folgende Ausspruch des Philosophen Michel Serres, der wie folgt über seine Lehrerfahrungen berichtet: »Wenn ich vor dreißig Jahren das Interesse meiner Studenten wecken wollte, sprach ich über Politik; wollte ich sie zum Lachen bringen, sprach ich über Religion. Heute ist es umgekehrt: Wenn ich ihr Interesse will, spreche ich über Religion; wenn ich sie erheitern will, spreche ich über Politik…« Das ist mehr als ein Bonmot, da ist viel Wahres dran.

Damit wir uns richtig verstehen: Ich behaupte keineswegs, dass die spirituelle Frage die einzige oder auch nur die zentrale Frage ist, welche die jungen Leute bei uns beschäftigt. Sport und Musik begeistern sie sicherlich in höherem Maße. Und auch auf literarischem Gebiet verdanken die Bücher von Michel Houellebecq oder Catherine Millet ihren Erfolg ganz offensichtlich eher dem Sex als ihrem spirituellen Gehalt (der allerdings durchaus vorhanden ist, vor allem bei Houellebecq: Die Darstellung des Nihilismus ist, [31]sofern mit Talent und Wahrhaftigkeit vorgenommen, eine Möglichkeit, die Frage nach dem Sinn des Lebens – wenn auch negativ – zu stellen). Alles deutet darauf hin, dass nicht nur die politische Frage an Bedeutung verloren hat (in Frankreich seit Anfang der achtziger Jahre mit der Wende zur Austeritätspolitik), sondern auch die moralische und humanitäre Frage (Ende der neunziger Jahre), und dass dafür die spirituelle Frage heute so aktuell ist wie schon seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr.

Darin liegt, wie immer bei Moden, eine gewisse Gefahr der Verwirrung. Wie es in den sechziger und siebziger Jahren absurd war, alle Probleme (auch die individuellen oder existentiellen) politisch lösen zu wollen, so war es in den achtziger oder neunziger Jahren absurd, alle Probleme (auch die gesellschaftlichen und politischen) moralisch oder humanitär lösen zu wollen. Ich erinnere mich an eine Fernsehdebatte, die ich vor einigen Jahren mit einem buddhistischen Mönch führte. »Man kann die Gesellschaft nicht verändern«, sagte er zu mir, »wenn man nicht vorher sich selbst verändert.« Diese offenbar so vernünftige Formel erschien mir gefährlich. Wenn die Menschen warten, bis sie gerecht sind, um für Gerechtigkeit zu kämpfen, wird es nie Gerechtigkeit geben. Wenn sie warten, bis sie ihren Frieden gefunden haben, bevor sie für den Frieden kämpfen, wird es niemals Frieden geben. Wenn sie warten, bis sie (innerlich) frei sind, bevor sie für die Freiheit kämpfen, wird es niemals Freiheit geben. Ebenso gut könnte man auf das Paradies warten, um das Übel hier auf Erden zu bekämpfen… Die Geschichte zeigt jedoch, dass die Veränderung der Gesellschaft eine Aufgabe ist, die weitgehend unabhängig von der [32]Spiritualität oder der Arbeit an sich selbst ist. Nehmen Sie nur die Französische Revolution oder die Volksfront. Allerdings gilt auch die Umkehrung: Es hat noch nie ausgereicht, die Gesellschaft zu verändern, um sich selbst zu verändern. Die Politik kann ebenso wenig die Weisheit ersetzen (im Gegensatz zu dem, was manche vor dreißig Jahren glaubten), wie die Weisheit die Politik ersetzen kann (im Gegensatz zu dem, was manche heute glauben). Jede Mode ist lächerlich. Jede Monomanie ist gefährlich. Doch auch von einer Mode zur anderen zu wechseln, wie wir es gerade tun, birgt seine Tücken.

Im Übrigen wird diese »spirituelle Jugend«, die auf der Suche nach sich selbst ist, auch dann, wenn sie sich am Ende finden sollte, der moralischen Frage weder ihre Bedeutung nehmen noch uns von ihr befreien können. Der Übergang von einer Generation zur anderen und von einem Irrtum zum anderen erklärt nicht alles. Auch wenn das heute hinter uns liegt, müssen wir jetzt noch auf zwei weitere, vielleicht wichtigere, jedenfalls aber nachhaltigere Erklärungen zu sprechen kommen.

[33]2. Der »Triumph« des Kapitalismus

Die zweite Erklärung, die ich vorschlagen möchte, um die Rückkehr der Moral begreiflich zu machen, betrifft die Zeitebene, die ein Historiker als »mittlere Dauer« bezeichnen würde.

Es geht um einen Prozess, der sich über das ganze 20.Jahrhundert erstreckt hat – wobei mich hier vor allem das Ende des Prozesses interessiert, das jüngeren Datums ist: Ich meine den Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks Ende der achtziger Jahre (der aber, wie gesagt, nur einen Vorgang abgeschlossen hat, zumindest vorläufig, der viel früher begonnen hat, sagen wir, um ein Bezugsdatum zu nennen, 1917). Dieses Ereignis wird als der Triumph des Kapitalismus bezeichnet. Der Ausdruck verblüfft mich ein wenig. Nicht dass ich im Geringsten den Zusammenbruch des anderen Systems in Abrede stellen möchte. Doch nichts beweist, dass, wenn zwei Systeme miteinander konkurrieren, der Zusammenbruch des einen der Triumph des anderen ist. Sie könnten beide scheitern: Das wäre sowohl logisch wie auch historisch denkbar. Es ist zwar nur ein Vergleich, und er hinkt wie alle Vergleiche, aber ich möchte trotzdem daran erinnern, dass das Scheitern des Spartakus nicht ausgereicht hat, um das Römische Reich zu retten…

Dagegen ist klar, dass das andere System, nennen wir es den Ostblock, zusammengebrochen ist.

Was hat das mit der Rückkehr der Moral zu tun? Nun, jeder Gegner ist auch eine Projektionsfläche. Während all [34]der Jahre des Kalten Kriegs und dann der friedlichen Koexistenz konnte sich der Kapitalismus, der liberale Westen, die freie Welt, wie es damals hieß, durch seinen Gegensatz zum kommunistischen System aus moralischer Sicht hinreichend gerechtfertigt fühlen. In den Augen aller (die eher für de Gaulle als Che Guevara waren und die die Mehrheit in unserem Lande bildeten) war der Kommunismus, der Kollektivismus, der Totalitarismus das absolute Böse, so dass es für sie nur eine Schlussfolgerung gab: Der Kapitalismus wurde durch seinen Gegensatz zu diesem absoluten Bösen moralisch gerechtfertigt. Das war zwar eine rein negative Rechtfertigung – durch die Verschiedenheit, durch sein Gegenstück–, aber eben doch eine Rechtfertigung. Wie war der Westen schön unter Breschnew! Aber nun gibt es keinen Breschnew, keinen Kontrast mehr, vor dem sich unsere Kultur frisch und prächtig abheben könnte.

Sie mögen denken: »Es gibt zwar Breschnew nicht mehr, dafür aber Bin Laden.« Gewiss. Aber das ist nicht das Gleiche! Zunächst einmal, und das ist keineswegs ohne Bedeutung, weil das Aussehen und das Charisma der beiden Männer grundverschieden sind. Ich kann mir keinen jungen Kommunisten in Frankreich vorstellen, selbst unter den dogmatischsten nicht, der sich ein Foto von Breschnew in sein Zimmer gehängt hätte: Es wäre ihm und allen seinen Freunden als Gipfel der Lächerlichkeit erschienen. Doch ich bin mir sicher, dass Tausende junger Menschen heute bei uns daran denken, sich das schöne, sanfte Gesicht Bin Ladens ins Zimmer zu hängen, und dass es einige Hundert schon getan haben…

Vor allem bleibt da die grundsätzliche Frage. Was [35]Breschnew im Guten oder Bösen (vor allem Bösen!) symbolisierte, war eine soziale, politische und wirtschaftliche Alternative zum Kapitalismus: ein anderes sozioökonomisches – also auch politisches – System, der Sozialismus in der marxistischen Bedeutung des Wortes. Bei Bin Laden nichts dergleichen. Selbst wenn Saudi-Arabien ein offeneres Ohr für die Wünsche Bin Ladens hätte, wenn es, sagen wir, fundamentalistischer oder islamistischer wäre, als es ist, wäre es noch immer ein kapitalistisches Land… Und das mit gutem Grund: Der Islam verurteilt weder den Privatbesitz von Produktions- und Tauschmitteln noch den freien Markt oder die Lohnarbeit, die drei Säulen unseres Systems. Folglich symbolisiert Bin Laden keine soziale oder ökonomische Alternative zum Kapitalismus, sondern andere Werte, andere Ideale, andere Regeln – nicht ein anderes sozioökonomisches System, sondern eine andere Moral, ja, eine andere Kultur. Mithin ist der Wechsel von Breschnew zu Bin Laden für den Westen nicht einfach der Wechsel von einem Gegner zum anderen, sondern wiederum der Wechsel von einer Frage zur anderen: von einer genuin politischen (für oder gegen den Kapitalismus) zu einer eher moralischen oder kulturellen (die, kurz gesagt, die Werte des weltlichen und liberalen Westens denen des islamistischen Fundamentalismus gegenüberstellt).

Der Westen hat gewiss noch Gegner. Der Kapitalismus jedoch nicht; oder doch, er hat auch Gegner, aber diese haben kaum noch einen glaubhaften Gegenentwurf zu bieten, den man an seine Stelle setzen wollte. Sagen wir, dass der Kapitalismus trotz seiner unzähligen Schwächen und Ungerechtigkeiten fast ein ideologisches Monopol genießt. Das [36]ist ein Danaergeschenk: In dem Augenblick, da der Kapitalismus seinen historischen Gegner (den Kommunismus) verliert, verliert er auch die negative Rechtfertigungsebene, die ihm auf dem Tablett serviert wurde. Daher ist der »Triumph« des Kapitalismus eigentlich eher verwirrend. Es regt sich der Verdacht, er könnte umsonst gesiegt haben. Wozu siegen, wenn man nicht weiß, wofür man lebt? Der Kapitalismus stellt sich nicht die Frage. Das ist ein Teil seiner Kraft: Er braucht keinen Sinn, um zu funktionieren. Doch die Menschen schon. Und die Kulturen auch. Hat der Westen der Welt noch etwas zu bieten? Glaubt er hinreichend an seine eigenen Werte, um sie zu verteidigen? Oder vermag er, unfähig, sie zu leben, nichts anderes mehr, als zu produzieren und zu konsumieren – und Geschäfte zu machen, in Erwartung des Endes?

Gesellschaften haben Angst vor der Leere. Nachdem unsere Gesellschaft die negative Rechtfertigung verloren hat, die ihm ihr Gegner darbot, ist sie gezwungen, sich eine andere Rechtfertigung zu suchen, die dieses Mal – mangels einer glaubwürdigen Alternative – wohl eine positive Rechtfertigung sein muss, die sie nur in sich selbst finden kann, in Gestalt von Werten, Idealen, kurz, einer Moral.

Das fällt zeitlich mit der »moralischen Generation« zusammen, von der ich eben sprach, und kann zur Erklärung beitragen. Ein Phänomen von ganz anderer Tragweite deutet folglich in die gleiche Richtung: Auch der Zusammenbruch des Ostblocks verweist uns auf die moralische Frage.

[37]3. Der »Tod Gottes«

Die dritte Erklärung, die ich vorschlagen möchte, um die Rückkehr der Moral begreiflich zu machen, bewegt sich auf der historischen Zeitebene der »langen Dauer«. Ich denke dabei an einen Prozess, der sich über mehrere Jahrhunderte erstreckte. Er hat in der Renaissance begonnen, sich im 18.Jahrhundert unter dem Einfluss der Aufklärung beschleunigt und während des 19. und 20.Jahrhunderts fortgesetzt. Heute können wir, vor allem in Frankreich, beobachten, dass er fast abgeschlossen ist. Es handelt sich um einen Prozess der Laizisierung, der Säkularisierung und damit, zumindest soweit es Frankreich betrifft, der Entchristianisierung. Im Grunde ist es der Prozess, den Nietzsche schon Ende des 19.Jahrhunderts diagnostizierte, als er die berühmt gewordenen Worte schrieb: »Gott ist tot!…Und wir haben ihn getötet.«6 Denselben Prozess hat auf seine Weise der Soziologe Max Weber Anfang des 20.Jahrhunderts analysiert, als er – mit einem anderen berühmten Ausspruch, den unlängst Marcel Gauchet aufgegriffen hat – von der »Entzauberung der Welt« sprach.7

Was soll das heißen?

Betrachten wir, um es kurz zu halten, den berühmteren der beiden Aussprüche Nietzsches – »Gott ist tot«. Sie [38]wissen natürlich, dass der Ausspruch nicht wörtlich zu nehmen ist. Nietzsche ist sich darüber im Klaren, dass Gott, wenn es ihn denn gibt, definitionsgemäß unsterblich ist. Ich möchte hinzufügen, dass er, selbst wenn es ihn nicht gibt, ebenfalls in gewisser Weise unsterblich ist…

Vom Tod Gottes zu sprechen heißt auch nicht – wie ich im Gegensatz zu dem, was Nietzsche gelegentlich zu verstehen gab, finde–, dass es heute unmöglich ist, wahrhaft an Gott zu glauben. Das ist selbstverständlich immer möglich! Gott lebt – hier, jetzt, in diesem Saal – für alle die, die an ihn glauben. Doch im Unterschied zu früheren Jahrhunderten findet dieser Glaube nur noch in der Privatsphäre statt, wie die Soziologen sagen: Wir können nach wie vor individuell an Gott glauben; aber nicht mehr kollektiv mit ihm kommunizieren. Das gilt für jeden Einzelnen von uns und für uns alle gemeinsam. Ein Lehrer kann durchaus an Gott glauben; aber er kann sich nicht auf Gott berufen, um auf welchem Gebiet auch immer sein Wissen oder seine Autorität zu belegen. Der Leiter eines Unternehmens kann durchaus an Gott glauben; aber er kann sich nicht mehr auf Gott berufen, um seine wie auch immer geartete Macht über seine Mitarbeiter und Untergebenen zu rechtfertigen. Ein Politiker kann durchaus an Gott glauben; aber er vermag sich nicht auf Gott zu berufen, um sein Programm und [39]sein Handeln zu legitimieren. Das ist der Preis der Trennung von Staat und Kirche. Der Einzelne kann noch an Gott glauben, unsere Gesellschaft kann ihren Zusammenhalt nicht mehr auf ihn gründen. Dadurch entsteht eine große Leere, die den Gesellschaftskörper schwächt. Das ist die Bedeutung, die Nietzsches Worte heute haben: Gott ist gesellschaftlich tot.

Das wirft eine Vielzahl erheblicher Probleme auf, die fast alle die Frage des Gemeinwesens betreffen. Was bleibt von unserem Gemeinwesen, beispielsweise dem nationalen oder europäischen, wenn wir es nicht mehr auf eine religiöse Gemeinschaft gründen können? Denn aus der Gemeinschaft entsteht das Gemeinwesen und nicht umgekehrt. Nur wenn Gemeinschaft vorhanden ist, gibt es ein Gemeinwesen und nicht einfach ein Konglomerat nebeneinander herlebender oder konkurrierender Einzelwesen…

Doch was ist das für ein Gemeinwesen, wenn es keine Gemeinschaft mehr gibt?

Vor einigen Jahren habe ich Michel Serres gehört, wie er sich mit der Etymologie (oder mit einer der beiden möglichen Etymologien – die Frage wird von Fachleuten diskutiert, ist hier aber ohne Belang) des Wortes »Religion« auseinandersetzte. Nach der Etymologie, für die sich Michel Serres entschied und die auch von den meisten Fachleuten favorisiert wird, leitet sich das lateinische Wort religio von dem Verb religare ab, was »verbinden« bedeutet. Daher kam Michel Serres zu der – vor ihm schon oft getroffenen – Feststellung, dass die Religion das sei, was verbinde. Es liegt auf der Hand, wie das gemeint ist: Die Religion ist das verbindende Element zwischen den Menschen, weil sie sie [40]allesamt mit Gott verbindet. Wenn allerdings die Religion das sei, was verbinde, fügte Michel Serres hinzu – und diese Feststellung war origineller–, dann sei das Gegenteil von Religion nicht der Atheismus, wie gemeinhin angenommen, sondern négligence, »Nachlässigkeit«, von lateinisch neglectio, was ursprünglich Bindungslosigkeit bedeutet habe.

Diese letzte Bemerkung von Michel Serres aufgreifend, möchte ich sagen, dass wir heute von einem Zeitalter verbreiteter Bindungslosigkeit bedroht sind, das heißt schlicht und einfach von der Auflösung aller gesellschaftlichen Bindungen, so dass unsere Mitbürger, unfähig, in irgendeiner Hinsicht miteinander zu kommunizieren, nur noch in der Lage sind, ihre kleine Privatsphäre liebevoll zu kultivieren – was die Soziologen den Triumph des Individualismus oder Cocooning nennen.

Dieser Triumph des Individualismus stellt unsere Gesellschaft als Wirtschaftssystem nicht in Frage. Er ist natürlich mit dem Kapitalismus zu vereinbaren. Vielleicht ist er sogar dessen Ausdruck. Der Individualismus, das Cocooning, bringt gute Konsumenten hervor. Und da man von irgendwas leben muss, bringt der Individualismus, wenn er denn gute Konsumenten hervorbringt, auch ganz ordentliche Produzenten hervor. Von ihm ist unsere Gesellschaft als Wirtschaftssystem also nicht bedroht; sie könnte sehr gut fortbestehen, zumindest eine Zeitlang. Aber sie würde es nicht schaffen, Bindungen und Gemeinschaft herzustellen; sie würde es nicht schaffen, Sinn zu machen, wie man heute sagt. Unsere Gesellschaft könnte fortbestehen, aber das wäre das Ende unserer Kultur. Es gab jedoch noch nie eine [41]Gesellschaft ohne Kultur. Und selten hat eine Gesellschaft ihre eigene Kultur lange überlebt.

Ich befürchte, dass dieser gesellschaftliche Tod Gottes bei uns gleichzeitig der Tod des Geistes ist – das Verschwinden allen spirituellen Lebens, das diesen Namen verdient, zumindest im Westen. So dass wir am Sonntagmorgen nur noch die Supermärkte füllen können, weil die Kirchen sich leeren.

Es wäre ein Fehler, darüber zu frohlocken. Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen als bekennender Atheist sage, dass die Supermärkte nicht die Kirchen ersetzen können. Und dass eine Gesellschaft, die ihrer Jugend nur Supermärkte zu bieten hätte, ihre Zukunft wahrscheinlich schon hinter sich hätte. Die Jugend spürt das übrigens sehr wohl. Mir scheint, dass das auch – vielleicht sogar vor allem – der Grund für den Erfolg des Weltjugendtages ist…

Was hat das mit der Rückkehr der Moral zu tun? Das falle doch mehr in die Zuständigkeit der Spiritualität als in die der Moral, könnten Sie mir entgegenhalten… Es fällt in die Zuständigkeit beider. In die der Spiritualität, weil es eine Frage des Sinns, der Bindung, der Gemeinschaft ist; aber auch in die der Moral, weil es hier um eine Frage von Regeln und Werten geht, wie wir gleich sehen werden.

Was für eine Beziehung gibt es zwischen Gottes Tod und der Rückkehr der Moral? Meiner Ansicht nach die folgende: 2000Jahre lang wurde im christlichen Abendland, um es sehr vereinfacht zu sagen, die Frage »Was soll ich tun?« (die moralische Frage) von Gott beantwortet – durch seine Gebote, seine Priester, seine Kirche–, so dass sich der Einzelne nicht mit ihr befassen musste, war die Antwort [42]darauf doch, eingebettet in eine zutiefst religiöse Kultur, selbstverständlich.8 Bei der Geburt oder während der ersten Lebensjahre erhielt man eine Art Geschenkpackung, eine im Wesentlichen religiöse Packung (»christliches Abendland« genannt), die natürlich auch eine Moral enthielt. Daher war die Moral damals weit weniger ein Problem als eine Lösung.

Ja. Und nun antwortet Gott nicht mehr auf die Frage: »Was soll ich tun?« Oder genauer, nun werden seine Antworten gesellschaftlich immer weniger hörbar – was auch, nebenbei bemerkt, für die wachsende Zahl praktizierender und vor allem junger Christen gilt. Alle Untersuchungen zeigen, dass eine Mehrheit der praktizierenden Christen, insbesondere der unter Fünfzigjährigen, sich nicht mehr an die moralischen Gebote der Kirche oder des Papstes gebunden fühlt: Denken Sie an das Problem der Empfängnisverhütung oder der außerehelichen Sexualität. Wie viele von den Millionen junger Leute, die Johannes Paul II