Woran glaubt ein Atheist? - André Comte-Sponville - E-Book

Woran glaubt ein Atheist? E-Book

André Comte-Sponville

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Beschreibung

Was die Religion dem Gläubigen bereithält, muss dem Atheisten nicht verwehrt sein. Werte, Spiritualität und Trost gibt es auch jenseits von Gott. Ein Buch, das den Nerv der Zeit trifft und all jenen, die nicht glauben möchten oder können, neue Wege eröffnet.

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André Comte-Sponville

Woran glaubt ein Atheist?

Spiritualität ohne Gott

Aus dem Französischen von Brigitte Große. Mit einem Vorwort des Autors

Diogenes

{9}Vorwort

In den letzten Jahren war eine Wiederkehr der Religion von beeindruckendem, manchmal besorgniserregendem Ausmaß zu beobachten. Dabei denkt man zunächst an die muslimischen Länder. Aber es deutet alles darauf hin, dass der Westen gegen dieses Phänomen, auch wenn es anders auftritt, keineswegs gefeit ist. Eine Wiederkehr der Spiritualität wäre nur zu begrüßen. Eine Wiederkehr des Glaubens kein Problem. Aber eine Wiederkehr des Dogmatismus, des Obskurantismus, des Fundamentalismus, ja des Fanatismus? Nichts wäre schlimmer, als ihnen das Terrain zu überlassen. Der Kampf für die Aufklärung geht weiter, und er war selten so dringlich, denn die Freiheit steht auf dem Spiel.

Gegen die Religion kämpfen? Nein, das wäre der falsche Gegner. Besser für die Toleranz, für die Trennung zwischen Kirche und Staat, für die Freiheit des Glaubens und des Unglaubens. Den Geist kann niemand für sich allein in Anspruch nehmen. Die Freiheit auch nicht.

Ich wurde christlich erzogen und bin darob weder verbittert noch böse, im Gegenteil. Dieser Religion, also auch dieser Kirche (in meinem Fall der katholischen) verdanke ich einen Großteil dessen, was ich bin oder zu sein versuche. Meine Moral hat sich seit der Zeit, da ich noch gläubig war, kaum verändert. Mein Empfinden auch nicht. Selbst {10}mein Atheismus ist vom Glauben meiner Kindheit und Jugend geprägt. Warum sollte ich mich dessen schämen? Es gibt ja gute Gründe dafür. Es ist meine oder, besser gesagt, unsere Geschichte. Was wäre das Abendland ohne das Christentum? Was wäre die Welt ohne Götter? Atheismus heißt nicht Gedächtnisverlust. Der Glaube gehört zur Menschheit, der Unglaube auch, und keins von beiden ist allein ausreichend.

Obskurantismus, Fanatismus und Aberglauben dagegen sind mir ein Greuel. Nihilismus und Lauheit ebenso. Spiritualität ist eine viel zu wichtige Angelegenheit, um sie den Fundamentalisten zu überlassen. Und Toleranz ein zu kostbares Gut, um sie mit Gleichgültigkeit oder Nachgiebigkeit zu verwechseln. Nichts wäre schlimmer, als in einem tödlichen Stellungskrieg zwischen dem Fanatismus (welcher Glaubensrichtung auch immer) der einen und dem Nihilismus der anderen Seite eingekesselt zu werden. Besser an allen Fronten kämpfen, ohne sie durcheinanderzubringen oder ins jeweilige Gegenteil zu verfallen. Unser Kampf soll dem Laizismus dienen. Die Atheisten müssen nur noch die passende Spiritualität erfinden. Dazu soll dieses Buch beitragen. Es ist bewusst kurz und zugänglich gehalten, um schneller zum Wesentlichen zu kommen und möglichst viele Menschen zu erreichen. Das scheint mir dringend geboten. Gelehrsamkeit und wissenschaftliche Debatten können warten; die Freiheit des Geistes nicht.

Was ist das Wichtigste? In Hinblick auf die Spiritualität scheinen mir drei Fragen bedeutsam: Kann man auf Religion verzichten? Gibt es Gott? Wie könnte eine Spiritualität für Atheisten aussehen? Fehlen nur noch die Antworten. {11}Darum geht es auf den folgenden Seiten. Atheisten haben nicht weniger Geist als andere. Warum also sollten sie sich weniger für das spirituelle Leben interessieren?

{13}IKann man auf Religion verzichten?

{15}Fangen wir mit dem Einfachsten an. Gott steht per definitionem über uns. Für die Religionen trifft das nicht zu. Sie sind menschlich – allzu menschlich, wie manche meinen – und als solche der Erkenntnis ebenso zugänglich wie der Kritik.

Gott, falls es ihn gibt, ist transzendent. Die Religionen sind Teil der Geschichte, der Gesellschaft, der Welt (also immanent).

Gott gilt als vollkommen. Keine Religion könnte das je sein.

Die Existenz Gottes ist ungewiss (das ist Gegenstand des zweiten Kapitels). Die der Religionen nicht. Daher sind die Fragen, die sie aufwerfen, weniger ontologischer als definitorischer und soziologischer Natur: Nicht, ob sie existieren (leider machen sie manchmal den Eindruck, als täten sie es nur allzu sehr!), ist die Frage, sondern, was sie sind und ob man darauf verzichten kann. Mir liegt besonders an dieser letzten Frage. Sie lässt sich allerdings nicht beantworten, ohne dass man die andere wenigstens streift.

{16}Was ist Religion?

Der Begriff »Religion« ist so umfassend und heterogen, dass es schwer ist, zu einer vollkommen befriedigenden Definition zu kommen. Was haben Schamanismus und Buddhismus, Animismus und Judaismus, Taoismus und Islam, Konfuzianismus und Christentum miteinander gemein? Ist es womöglich falsch, dasselbe Wort auf all diese Erscheinungen anzuwenden? Ich denke es fast. Viele dieser »Religionen«, besonders die orientalischen, scheinen mir eher eine Mischung aus Spiritualität, Moral und Philosophie zu sein als eine Religion in dem Sinne, wie wir das Wort gewöhnlich verstehen. Sie haben weniger mit Gott zu tun als mit dem Menschen oder der Natur. Weniger mit Glauben als mit Meditation; ihre Praktiken sind eher Übungen oder Aufgaben als Riten; ihre Anhänger bilden eher Schulen des Lebens oder der Weisheit als Kirchen. Das trifft besonders auf Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus zu, zumindest in ihrer reinen oder gereinigten Form, das heißt, frei von dem Aberglauben, der sich in jedem Land dem Corpus der Lehre anlagert und sie manchmal fast unkenntlich macht. In diesem Zusammenhang war schon von atheistischen oder agnostischen Religionen die Rede, und so paradox dieser Ausdruck in unseren Ohren auch klingen mag, spricht doch einiges für ihn. Buddha, Lao Tse oder Konfuzius sind weder Götter, noch berufen sie sich auf irgendeine Gottheit {17}oder eine Offenbarung, einen personalen oder transzendenten Schöpfer. Sie sind nichts anderes als freie oder befreite Menschen – Weise oder spirituelle Lehrer.

Nun, ich bin weder Ethnologe noch Religionshistoriker. Ich stelle mir als Philosoph die Frage nach der Möglichkeit, ohne Religion gut zu leben. Das setzt voraus, dass man weiß, wovon man spricht. Eine Definition also, und sei sie noch so annähernd und vorläufig. Oft zitiert, weil sehr erhellend, wird Durkheims Definition der Religion im ersten Kapitel seiner Elementaren Formen des religiösen Lebens: »Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.« Einige Punkte könnte man diskutieren (das Heilige ist nicht nur abgesondert und verboten, sondern auch verehrungswürdig; nicht jede Gemeinschaft von Gläubigen ist notwendig eine Kirche, usw.), nicht aber die allgemeine Richtung. Auffallend ist, dass hier nicht explizit von einem oder mehreren Göttern die Rede ist. Das kommt daher, dass nicht alle Religionen Götter haben, wie Durkheim anmerkt, der atheistische Jainismus beispielsweise oder der Buddhismus, »eine Moral ohne Gott und ein Atheismus ohne Natur« (ein von Durkheim zitierter Ausdruck Eugène Burnoufs, eines großen Orientalisten des 19. Jahrhunderts). Jeder Glaube an Gott ist religiös; aber nicht jede Religion beinhaltet den Glauben an Gott.

Durkheims Definition, die um die Begriffe des Heiligen und der Gemeinschaft kreist, umreißt etwas, was man als {18}weitere, soziologische oder ethnologische Bedeutung des Wortes »Religion« bezeichnen könnte. Da ich aufgrund meiner Geschichte in einem monotheistischen Universum, genauer gesagt, im Feld der abendländischen Philosophie verankert bin, möchte ich eine engere, weniger ethnologische als theologische oder metaphysische Bestimmung vorschlagen, die eine Art Untermenge bildet. Eine Religion ist in unseren Ländern fast immer das Bekenntnis zu einer oder mehreren Gottheiten. Wenn man also die beiden Bedeutungen des Wortes verbinden will, ohne sie zu verwechseln, wozu die Sprache drängt, ergibt sich die folgende Definition, die jene Durkheims aufgreift und erweitert: Ich nenne »Religion« jedes auf heilige, übernatürliche oder transzendente Dinge (das ist der weitere Sinn des Wortes), insbesondere auf einen oder mehrere Götter (das ist der engere Sinn) ausgerichtete organisierte Ganze aus Glaubensinhalten und Riten, die jene, die sich in ihnen wiedererkennen oder sie praktizieren, in ein und derselben moralischen oder spirituellen Gemeinschaft vereinen.

War der ursprüngliche Buddhismus eine Religion in diesem Sinne? Ich bin mir da nicht sicher. Buddha hat nie die Existenz irgendeiner Gottheit behauptet, und es ist zweifelhaft, ob er und seine am wenigsten abergläubischen Schüler Wörter wie »heilig«, »übernatürlich« oder »transzendent« mit irgendeiner Wirklichkeit in Beziehung setzten. Unzweifelhaft ist aber aus dem historischen Buddhismus mit seinen unterschiedlichen Strömungen eine Religion geworden – mit Tempeln, Dogmen, Riten, Gebeten, heiligen oder angeblich übernatürlichen Objekten. Ähnlich verhält es sich mit dem Taoismus und dem Konfuzianismus. {19}Welche Weisheit am Anfang! Welcher Aberglaube im Lauf der Jahrhunderte! Das Bedürfnis, an etwas zu glauben, triumphiert fast überall über den Wunsch nach Freiheit.

Das Mindeste, was sich sagen lässt, ist, dass auch das Abendland dem nicht entgeht. Auch hier gab es Schulen der Weisheit, die bald von einer Religiosität überlagert wurden, die sie ursprünglich fernhalten wollten. Glaube und Vernunft, mythos und logos bestehen nebeneinander – das nennt man Kultur. In unseren Breiten hat man über Jahrhunderte mit der Transzendenz gelebt. Wie sollten wir nicht davon geprägt sein? Der Animismus ist gestorben. Der Polytheismus ist tot. Und ich trauere ihnen nicht nach, ganz im Gegenteil! Das ist, zeigt Max Weber, ein erster Schritt zur Rationalisierung des Wirklichen. Die Natur ist wie entleert von Göttern – es bleibt die Leere der Wüste und »die großartige, allgegenwärtige Abwesenheit«, wie Alain es formulierte. Diese ist allerdings sehr lebendig. Judentum, Christentum und Islam sind eindeutig Religionen im engeren Sinne meiner Definition. Und für die westliche Welt sind diese drei monotheistischen Religionen von herausragender Bedeutung.

{20}Ein persönliches Zeugnis

Kann man auf Religion verzichten? Das hängt natürlich davon ab, von wem oder wovon die Rede ist: Was heißt »man«?

Handelt es sich um Individuen? Da kann ich nur mein persönliches Zeugnis beisteuern: Ich kann sehr gut auf Religion verzichten!

Ich weiß, wovon ich spreche, weil ich vergleichen kann. Ich bin nicht nur christlich erzogen, ich habe an Gott geglaubt, mit einem sehr lebendigen, wenn auch von Zweifeln durchzogenen Glauben, bis ich ungefähr achtzehn war. Dann verlor ich den Glauben, und es war wie eine Befreiung: Alles wurde einfacher, leichter, offener, stärker! Es war, als ob ich aus der Kindheit mit all ihren Ängsten und Schrecken, ihrer Schwüle und ihren Sehnsüchten heraus- und endlich in die reale Welt einträte, in die Welt der Erwachsenen, in die Welt des Handelns, in die Welt der Wahrheit ohne Gnade und Vorsehung. Welche Freiheit! Welche Verantwortung! Welcher Jubel! Ja, ich habe das Gefühl, besser zu leben, seit ich Atheist bin, klarer, freier, intensiver. Das kann aber keinesfalls als allgemeines Gesetz gelten. Zahlreiche Konvertiten könnten das Gegenteil bezeugen: dass sie besser leben, seit sie glauben, ebenso wie viele Gläubige, die von jeher der Religion ihrer Eltern anhängen, bestätigen werden, dass sie das Beste in ihrem Leben dem Glauben {21}verdanken. Was kann man daraus schließen, außer dass wir verschieden sind? Mir genügt diese Welt: Ich bin Atheist und zufrieden damit. Andere, wahrscheinlich ein größerer Teil der Bevölkerung, sind mit ihrem Glauben nicht weniger zufrieden. Vielleicht brauchen sie einen Gott zum Trost, zu ihrer Sicherheit oder als Zuflucht vor Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit (das ist die Bedeutung von Kants »Postulaten der praktischen Vernunft«) oder auch nur, um ihr Leben in einen Zusammenhang zu stellen – weil die Religion ihren tiefsten Gefühlen oder ihrer spirituellen Erfahrung entspricht, ihrem Empfinden, ihrer Erziehung, ihrer Geschichte, ihrem Denken, ihrer Freude, ihrer Liebe … lauter achtbare Gründe. »Unser Bedürfnis nach Trost ist unstillbar«, sagte Stig Dagerman. Auch unser Bedürfnis nach Liebe und Schutz ist unstillbar, und jeder versucht, mit seinen Bedürfnissen halbwegs zurechtzukommen. Barmherzigkeit für alle!

{22}Trauer und Rituale

Was ist die größte Stärke der Religionen? Nicht, wie oft behauptet wird, die Beruhigung der Gläubigen angesichts ihres eigenen Todes. Die Aussicht auf die Hölle ist jedenfalls sehr viel beängstigender als die Aussicht auf das Nichts. Das war übrigens das Hauptargument Epikurs gegen die Religionen seiner Zeit: dass sie dem Tod eine Realität zusprechen, die er nicht hat, und so die Lebenden absurderweise in der Angst vor einer eingebildeten Gefahr (der Hölle) festsetzen, die ihnen jede Freude am Dasein vergällt. Wogegen Epikur lehrte, dass der Tod nichts sei, weder für die Lebenden, weil er nicht da ist, solange sie leben, noch für die Toten, weil sie nicht mehr sind. Furcht vor dem Tod heißt also Furcht vor dem Nichts. Damit ist man die Angst (die unsere Psychiater als Furcht ohne reales Objekt definieren) nicht los, verweist sie aber auf ihren Platz und kann sie besser überwinden. Es ist unsere Phantasie, die erschrickt. Es ist die Vernunft, die beruhigt. Vom Nichts ist, wenn man es genau bedenkt, per definitionem nichts zu befürchten. Was aber ist erschreckender als die Aussicht auf ewige Verdammnis? Viele Christen glauben allerdings nicht mehr daran. Die Hölle wäre dann nur noch eine Metapher, das Paradies hingegen buchstäblich zu nehmen. Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten.

Atheisten haben solche Sorgen nicht. Sie akzeptieren ihre {23}Sterblichkeit, so gut sie können, und bemühen sich, das Nichts zu ertragen. Wird es ihnen gelingen? Sie machen sich darum nicht allzu viele Gedanken. Der Tod wird alles mit sich nehmen, einschließlich der Angst, die er ihnen einflößt. Das irdische Leben ist ihnen wichtiger, und es genügt ihnen.

Bleibt der Tod der anderen, und der ist bei weitem realer, schmerzhafter, unerträglicher. Hier steht der Atheist arm da. Der Tod raubt ihm das über alles geliebte Wesen – Kind, Vater, Mutter, die Gefährtin oder den besten Freund. Und ihm bricht es das Herz. Für den Atheisten gibt es keinen Trost, keine Wiedergutmachung, höchstens ein wenig Linderung bei dem Gedanken, dass der andere wenigstens nicht mehr leiden, das Entsetzliche nicht mehr ertragen muss, diesen Verlust, diese Grausamkeit … Es wird lange dauern, bis der Schmerz allmählich abklingt, erträglicher wird, bis die Erinnerung an den Verlorenen sich aus der anfänglich klaffenden Wunde nach und nach in Sehnsucht, Zärtlichkeit, Dankbarkeit, ja manchmal fast eine Art Glück verwandelt … Erst sagt man sich: »Wie grausam, dass dieser Mensch nicht mehr ist!« Nach ein paar Jahren denkt man: »Wie gut, dass er gelebt hat, dass wir uns begegnet sind, dass wir einander kannten und liebten!« Trauerarbeit: Arbeit der Zeit und der Erinnerung, des Annehmens und Bewahrens. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen. Zuerst ist es nur schrecklich; nur schmerzhaft; und kein Trost weit und breit. Wie gern würde man jetzt an Gott glauben! Wie beneidet man jetzt die Gläubigen! Geben wir zu, dass das die größte Stärke der Religionen ist, hier sind sie fast unschlagbar. Ist das ein Grund zu glauben? Für manche sicher. Für {24}andere, zu denen auch ich mich zähle, ist es eher ein Grund, sich zu verweigern, weil ihnen das zu einfach ist, vielleicht auch, weil Stolz, Wut oder Verzweiflung sie daran hindern. Diese Menschen fühlen sich trotz ihres Schmerzes wie bestärkt in ihrem Atheismus. Angesichts der Katastrophe aufzubegehren kommt ihnen richtiger vor, als zu beten, der Schrecken erscheint ihnen wahrer als der Trost. Der Friede kommt für sie später. Trauern ist schließlich kein sportlicher Wettkampf.

Es gibt noch etwas, das nichts mit dem Denken zu tun hat, sondern mit den Handlungen, die man auf eine spezielle, sehr genau festgelegte Weise gemeinsam vollzieht. Religion kann nicht nur trösten; sie verfügt auch über das nötige Ritual, eine Zeremonie, die beim Tod eines geliebten Menschen auch ohne großes Gepränge wie eine letzte Ehrerweisung wirkt und dabei hilft, sich dem Verlust zu stellen, ihn (seelisch wie gesellschaftlich) hinzunehmen und schließlich darüber hinwegzukommen – denn dahin sollte man gelangen – oder wenigstens mit ihm zu leben. Eine Totenwache, eine Grabrede, Gesänge, Gebete, Symbole, Gesten, Riten, Sakramente – das ist eine Möglichkeit, dem Schrecken beizukommen, ihn zu vermenschlichen, zu zivilisieren, und das ist zweifellos nötig. Man vergräbt einen Menschen nicht wie ein Tier. Man verbrennt ihn nicht wie ein Stück Holz. Das Ritual kennzeichnet diesen Unterschied, unterstreicht ihn, bekräftigt ihn und wird so fast unersetzlich. Was die Hochzeit – sofern man sie braucht – für Liebe oder Sex ist, das ist das Begräbnis für den Tod.

Nichts hindert die Atheisten, sich etwas Entsprechendes einfallen zu lassen, und das passiert auch. Für die Hochzeit {25}gibt es so etwas seit längerem, mehr oder minder gelungen. Heiraten auf dem Standesamt bietet einen annehmbaren Ersatz, wenn dabei nicht geschludert wird. Es geht immerhin darum, das Intimste, Geheimste, Wildeste offiziell zu machen und mit Familien, Freunden, der ganzen Gesellschaft in Verbindung zu bringen. Das Rathaus mag als Rahmen genügen. Ein Fest kann dazu beitragen. Aber wenn es um den Tod geht? Gewiss gibt es auch rein zivile Begräbnisse: Für eine Beerdigung oder Einäscherung als solche braucht man keine Religion. Die innere Sammlung könnte genügen. Schweigen und Tränen könnten genügen. Allerdings müssen wir einräumen, dass es selten so ist: Laizistische Begräbnisse haben fast immer etwas Ärmliches, Künstliches, Flaches, wie eine Kopie, bei der man ständig ans Original denken muss. Es ist vielleicht eine Frage der Zeit. Zweitausend Jahre Gefühl und Phantasie lassen sich nicht im Handumdrehen ersetzen. Aber es ist sicher noch mehr. Die Stärke der Religion in solchen Momenten ist nichts anderes als unsere Schwäche gegenüber dem Nichts. Das macht die Religion für viele unentbehrlich. Sie könnten zur Not auf die Hoffnung für sich selbst verzichten. Aber nicht auf den Trost und die Riten, wenn ein allzu schmerzlicher Verlust sie trifft. Die Kirchen sind für sie da. Sie werden so bald nicht verschwinden.

»Ich glaube an Gott«, sagte einmal eine Leserin zu mir, »weil es sonst zu traurig wäre.« Das ist sicher kein Argument – »es könnte sein, dass die Wahrheit traurig ist«, schrieb Renan –, will aber dennoch bedacht sein. Ich würde es mir nicht verzeihen, Menschen den Glauben zu nehmen, die ihn brauchen oder einfach besser mit ihm leben. Es sind {26}unzählige. Einige sind bewundernswert (wir sollten anerkennen, dass es unter den Gläubigen mehr Heilige gibt als unter den Atheisten; das ist kein Beweis für die Existenz Gottes, verwehrt es aber, die Religion zu verachten), die meisten respektabel. Ihr Glaube stört mich nicht. Warum sollte ich ihn bekämpfen? Ich bin ja kein atheistischer Missionar. Ich versuche nur, meine Position zu erläutern, zu begründen, und das mehr aus Liebe zur Philosophie denn aus Hass gegen die Religion. Es gibt freie Geister in beiden Lagern. An sie wende ich mich. Die anderen, ob gläubig oder nicht, überlasse ich ihren Gewissheiten.

Kann man also auf Religion verzichten? Aus der Perspektive des Individuums ist die Antwort, wie wir gesehen haben, einfach und vielschichtig zugleich: Es gibt Individuen, zu denen auch ich gehöre, die im Alltag sehr gut darauf verzichten können, und einigermaßen, wenn sie von einem Verlust betroffen sind. Das heißt nicht, dass alle das können oder sollen. Atheismus ist weder Pflicht noch Notwendigkeit. Religion auch nicht. Wir können nichts anderes tun, als unsere Unterschiedlichkeit zu akzeptieren. Toleranz ist auf unsere so verstandene Frage die einzige befriedigende Antwort.

{27}Keine Gesellschaft kann auf Kommunion verzichten …

»Man« kann aber auch ein Kollektiv bezeichnen, eine Gesellschaft oder die Menschheit insgesamt. Damit erhält unsere Frage eine völlig andere, eher soziologische Bedeutung und muss daher lauten: Kann eine Gesellschaft auf Religion verzichten?

Hier geht es nicht darum, von wem man spricht, sondern wovon: Alles hängt davon ab, was man unter »Religion« versteht. Wenn man das Wort in seinem abendländischen, engeren Sinn versteht, als Glaube an einen personalen Schöpfergott nämlich, ist die Frage historisch gelöst: Eine Gesellschaft kann auf Religion verzichten. Konfuzianismus, Taoismus und Buddhismus, die riesige Gesellschaften und wunderbare Kulturen beseelten, darunter die ältesten bis heute existierenden und auch aus spiritueller Sicht raffiniertesten, aber keinen Gott dieses Typs anerkennen, haben das schon lange bewiesen.

Betrachtet man aber »Religion« im weiteren, ethnologischen Sinn, bleibt die Frage offen. Solange man auch in die Geschichte zurückblickt, nie gab es eine Gesellschaft, die völlig frei davon war. Das 20. Jahrhundert bildet da keine Ausnahme: Auch der Nationalsozialismus beanspruchte Gott für sich (»Gott mit uns!«). Die UdSSR, Albanien oder die Volksrepublik China sind in dieser Hinsicht, vorsichtig {28}gesagt, kaum beweiskräftig, lassen aber durchaus Züge von Messianismus oder Abgötterei erkennen (nicht umsonst wurde der Begriff der »Geschichtsreligion« auch auf diese Systeme angewandt). Da man aufgrund der kurzen Zeit noch nicht von eigenen Kulturen sprechen kann und – glücklicherweise – auch die Kulturen, aus denen sie hervorgegangen sind, noch nicht völlig zerstört sind, bleibt uns nur festzuhalten, dass keine große Kultur ganz ohne Mythen, Riten, Heiliges oder den Glauben an bestimmte unsichtbare oder übernatürliche Kräfte, kurz, ohne Religion im weiteren, ethnologischen Sinne des Wortes, bekannt ist. Lässt sich daraus schließen, dass es auch immer so bleiben wird? Das wäre zu weit oder zu schnell gedacht. Mit der Spiritualität ist es wie mit den Börsenkursen: Frühere Erfolge sagen nichts über künftige Erfolge. Ich neige dennoch zu der Ansicht, dass es in ein paar Jahrhunderten, sagen wir, im Jahr 3000, immer noch Religionen geben wird und immer noch Atheisten. In welchem Verhältnis? Wer weiß. Das ist auch nicht so entscheidend. Es geht mir mehr ums Verstehen als ums Voraussagen.

Die Etymologie, auch wenn oder vielleicht auch weil sie manchmal nicht eindeutig ist, wird uns dabei helfen.

Was ist der den meisten Sprachen des Okzidents gemeinsame Ursprung des Wortes »Religion«? Zwei Antworten konkurrieren in der Ideengeschichte, und die moderne Linguistik kann sich, soweit ich weiß, nicht zwischen ihnen entscheiden. Keine Antwort ist gesichert. Beide sind aber erhellend. Und das Schwanken zwischen beiden bringt uns noch ein Stück weiter.

Die am häufigsten vorgebrachte Antwort scheint mir die {29}zweifelhaftere zu sein. Seit Laktanz und Tertullian vertreten zahlreiche Autoren die Meinung, das lateinische religio (von dem die »Religion« herrührt) stamme vom Verb religare – »anbinden, festmachen«. Diese oft als Selbstverständlichkeit vorgebrachte Hypothese führt zu einer bestimmten Auffassung des Religiösen: Die Religion sei demnach das »Verbindende«. Das beweist keineswegs, dass die einzig mögliche gesellschaftliche Bindung der Glaube an Gott ist. Die Geschichte – das sei hier noch einmal hervorgehoben – hat das Gegenteil bewiesen. Es stimmt aber, dass keine Gesellschaft auf Bindung oder Berührung verzichten kann. Angenommen, jede Bindung wäre religiös, wie diese Etymologie nahelegt, könnte keine Gesellschaft auf Religion verzichten. Quod erat demonstrandum. Das ist aber eher eine Tautologie (wenn »Religion« und »Bindung« synonym sind) oder ein Sophismus (wenn sie es nicht sind) als ein Beweis. Keine noch so abgesicherte Etymologie taugt als Beweis (warum sollte die Sprache recht behalten?), und diese ist zudem zweifelhaft. Vor allem würde man mit der Annahme, dass jede Bindung religiös sei, die Religion zu einem unbrauchbaren, sinnentleerten Begriff degradieren. Der Profit verbindet uns auch, besonders in einer Marktgesellschaft; das ist aber kein Grund, den Profit für heilig zu erklären oder den Markt zur Religion zu machen.

In der Tat sind die Menschen in den verschiedenen monotheistischen Religionen miteinander (sozusagen horizontal) verbunden, weil sie alle das Gefühl haben, mit Gott (also vertikal) verbunden zu sein. Das ist wie Kette und Schuss im Gewebe der Religion. Die Gemeinschaft der Gläubigen – das auserwählte Volk, die Kirche, die Umma – ist {30}umso stärker, je fester dieses doppelte Band ist. Und was bedeutet das konkret für die Humanwissenschaften? Dass sie es hier mit einem menschlichen, das heißt psychologischen, historischen, sozialen Phänomen zu tun haben. Was die Gläubigen miteinander verbindet, ist – von einem außenstehenden Beobachter aus gesehen – nicht Gott, dessen Existenz unbewiesen ist, sondern ihre Kommunion, das heißt ihr Verbundensein in einem gemeinsamen Glauben. Das ist übrigens laut Durkheim und den meisten Soziologen der eigentliche Gehalt bzw. die grundlegende Funktion der Religion: den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, indem sie ein gemeinsames Gewissen und die Befolgung der Gruppenregeln fördert. Es reicht nicht, die Polizei zu fürchten oder den Tratsch. Auch übereinstimmende Interessen genügen nicht. Außerdem sind Befürchtungen und Interessen unbeständig (es gibt nicht immer Zeugen, und die Interessen widersprechen einander mindestens ebenso oft, wie sie zusammenfallen). Man braucht vielmehr einen tieferen, bedeutsameren, dauerhafteren, weil inneren oder verinnerlichten Zusammenhalt. Das nenne ich »Kommunion«. Wie könnte eine Gesellschaft darauf verzichten? Ohne Kommunion gibt es keine Bindungen, keine Gemeinschaft, also auch keine Gesellschaft. Denn die Kommunion schafft die Gemeinschaft viel mehr als umgekehrt: Nicht weil irgendwie eine Gemeinschaft entstanden ist, gibt es Kommunion; sondern weil die Kommunion existiert, entsteht eine Gemeinschaft statt eines Haufens nebeneinander herlebender oder konkurrierender Individuen. Ein Volk ist mehr und besser als eine Horde. Eine Gesellschaft ist mehr und besser als eine Menschenmenge.

{31}Bleibt nur noch die Frage, was das ist, »Kommunion«… Hier meine Definition: Kommunion heißt teilen, ohne aufzuteilen. Das erscheint paradox. Wenn es um materielle Güter geht, ist es tatsächlich unmöglich. Die Kommunion eines Kuchens zum Beispiel ist unmöglich, denn die einzige Möglichkeit, ihn zu teilen, besteht darin, ihn aufzuteilen. Je mehr ihr seid, desto kleiner wird der Teil eines jeden; und wenn einer mehr davon abbekommt, bleibt für die anderen weniger übrig. In einer Familie oder einer Gruppe von Freunden dagegen ist es möglich, im Genuss zu kommunizieren, den man beim gemeinsamen Essen eines sehr guten Kuchens erlebt: Alle teilen denselben Genuss, ohne ihn deshalb aufteilen zu müssen. Wenn wir den Kuchen zu fünft oder zu sechst verspeisen, ist der Genuss nicht geringer, als wenn man ihn alleine verdrückt, im Gegenteil, er wird größer: Unter Freunden wird der Genuss jedes Einzelnen durch den Genuss der anderen vervielfacht! Gewiss landet im Magen ein kleinerer Teil. Aber die Seele hat einen größeren Genuss, eine größere Freude, weil diese sich paradoxerweise durch Teilen vermehrt. Deshalb spricht man von einer Kommunion der Seelen – weil nur Seelen zu teilen wissen, ohne aufzuteilen.

Entsprechendes gilt auch für Gesellschaften oder Staaten. Im Staatshaushalt herrscht keine Kommunion, jedenfalls nicht im rechnerischen Sinn: Werden der Landwirtschaft mehr Gelder zugebilligt, fließen weniger in Bildung und Industrie; bekommen die Arbeitslosen etwas, müssen Lohnempfänger und Rentner verzichten. In einer Gesellschaft, wie sie sein sollte, in der es also Demokratie und Zusammenhalt gibt, gibt es Kommunion in der {32}Vaterlandsliebe, in Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität, kurz, man teilt eine gewisse Menge gemeinsamer Werte und verleiht damit dem Haushaltsbudget einen Sinn, der mehr ist als das Ergebnis politischer Kräfteverhältnisse, der Arbeit einzelner Interessenverbände oder der Arithmetik. Und dass eine Vielzahl von Individuen diese Werte teilt, wie es natürlich wünschenswert ist, verringert deren Bedeutung für jeden Einzelnen keineswegs, im Gegenteil! Jeder hängt umso mehr an diesen Werten, als er von anderen, die derselben Gemeinschaft angehören wie er, weiß, dass sie es auch tun. Zugehörigkeitsgefühl und Zusammenhalt lassen sich nicht trennen. Das nennt man Kultur oder Zivilisation: eine – historisch oder sozial determinierte – Kommunion der Seelen im Rahmen eines oder mehrerer Völker. Anders gäbe es kein Volk. Sondern nur Individuen. Anders gäbe es keine Gesellschaft. Sondern nur Massen und Kräfteverhältnisse.

Ein Volk ist eine Gemeinschaft. Das setzt voraus, dass die Individuen, aus denen es sich zusammensetzt, in etwas kommunizieren. Mag diese Kommunion noch so ungleich und relativ, konfliktreich (Kultur ist kein langer ruhiger Fluss), störbar und vorläufig sein (keine Kultur ist unsterblich), so ist sie deshalb nicht weniger nötig, im Gegenteil, nur umso mehr. Ohne sie kann eine Gesellschaft sich nicht entwickeln, nicht einmal überleben. Mit dem Gesetz allein geht es nicht. Mit Repression allein auch nicht. Sonst müsste hinter jedem Individuum ein Polizist stehen. Und wer stünde dann hinter den Polizisten? Demokratie ist eine große Sache. Öffentliche Ordnung auch. Keine von beiden kann die Kommunion ersetzen, weil diese deren Bedingung ist.

{33}Es gibt keine Gesellschaft ohne Bindung, also auch keine Gesellschaft ohne Kommunion. Das bedeutet keineswegs, dass jede Kommunion – also auch jede Gesellschaft – den Glauben an einen personalen Schöpfergott voraussetzt, nicht einmal den Glauben an transzendente oder übernatürliche Kräfte. Den Glauben an etwas Heiliges vielleicht? Das ist eine Frage der Definition.

Wenn man unter heilig den Verweis auf etwas Übernatürliches oder Göttliches versteht, dann gilt das bereits Gesagte, und es besteht kein Grund, dass eine moderne Gesellschaft nicht zu ihrem Vorteil darauf verzichten könnte. Wählen ist besser als Weihen; Fortschritt ist besser als Sakramente oder Opfer (im Sinne der Tier- oder Menschenopfer in antiken Kulturen, die unsichtbare Mächte günstig stimmen sollten). Agamemnon opferte seine Tochter Iphigenie, um von den Göttern den richtigen Wind zu bekommen. Was ist das in unseren Augen anderes als ein Verbrechen aus Aberglauben? Die Geschichte ist darüber hinweg, und es ist besser so. Die Aufklärung hat damit aufgeräumt. Zauberei hat für uns weniger mit Spiritualität als mit Aberglauben zu tun; bei Brandopfern denken wir weniger an Religion als an die Schrecken der Geschichte.

Versteht man unter heilig allerdings etwas von absolutem Wert (oder etwas, das so erscheint), ein unbedingtes Gebot, dessen Übertretung Frevel oder Ehrverlust bedeutet (so wie man etwa von der Heiligkeit der menschlichen Person spricht, von der heiligen Pflicht, das Vaterland oder die Gerechtigkeit zu verteidigen, usw.), dann kann wahrscheinlich keine Gesellschaft dauerhaft darauf verzichten. Das so verstandene Heilige kann manchmal auch Opfer {34}rechtfertigen. Es ist nicht mehr das Heilige des Opferpriesters (der andere opfert), sondern das des Helden (der sich selbst opfert) oder das der Tapferen (die bereit wären, es zu tun). Sagen wir, es ist die Dimension des Aufrechten, des Absoluten oder des Anspruchs (je nachdem, was für ein Wort man gebrauchen will) der Menschen, etwas, das uns – dank der Zivilisation – von den Tieren abhebt, uns anders und mehr sein lässt. Das kann uns natürlich nur freuen. Aber dafür bedarf es weder einer speziellen Metaphysik noch eines spezifisch religiösen Glaubens. Menschlichkeit, Freiheit und Gerechtigkeit sind keine übernatürlichen Gebilde. Ein Atheist kann sie mit derselben Berechtigung achten – sich also auch für sie opfern – wie ein Gläubiger. Ein Ideal ist kein Gott. Eine Moral macht noch keine Religion.

Aus alldem schließen wir: Keine Gesellschaft kann auf Kommunion verzichten; nicht jede Kommunion ist religiös (außer wenn man Religion als Kommunion definiert, was eines der beiden Wörter entbehrlich macht); man kann in anderem kommunizieren als im Göttlichen oder im Heiligen. Und genau darum geht es: Eine Gesellschaft kann auf Götter verzichten, vielleicht auch auf Religion; sie kann jedoch nicht dauerhaft auf Kommunion verzichten.

{35}… noch auf ein Bekenntnis

Die andere etymologische Hypothese kommt mir wahrscheinlicher vor. Viele Linguisten meinen wie Cicero, dass religio von relegere stammt, das sowohl »sammeln« als auch »wiederlesen« bedeutet. In diesem Falle wäre Religion nicht oder nicht in erster Linie das Verbindende, sondern das Gesammelte und Wiedergelesene (oder das, was man gesammelt liest): Mythen, Schöpfungstexte, eine Lehre (das ist der Ursprung des hebräischen Wortes Tora), ein Wissen (das bedeutet das Sanskrit-Wort Veda), ein oder mehrere Bücher (griechisch: biblia), eine Lektüre oder Rezitation (arabisch Koran), ein Gesetz (Dharma in Sanskrit), Grundsätze, Regeln, Vorschriften (die Zehn Gebote des Alten Testaments), kurz, eine sowohl individuell als auch gemeinsam akzeptierte, respektierte, verinnerlichte Offenbarung oder Überlieferung (an dieser Stelle treffen sich die beiden etymologischen Hypothesen: Das Wiederlesen derselben Texte, auch wenn es jeder für sich tut, verbindet), alt und doch immer noch aktuell, integrierend (für eine Gruppe) und strukturierend (für das Individuum wie für die Gemeinschaft). Nach dieser Etymologie ist die Religion weniger ein soziologisches als ein philologisches Phänomen: Sie ist die Liebe zum Wort, zum Gesetz, zum Buch, also zum Logos.

Bindung gibt es deshalb nicht weniger, aber zeitversetzt: Sie verknüpft die Gegenwart mit der Vergangenheit, die {36}