Sex - André Comte-Sponville - E-Book
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Beschreibung

Was ist Sexualität? Was sagen Philosophen darüber? Was lehrt uns die Erotik über uns selbst und über das Leben? Das sind die Fragen, die sich André Comte-Sponville in diesem Buch stellt. Er sucht das Metaphysische im Physischen und sorgt damit beim Leser für mehr Lust an der Lust.

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Seitenzahl: 208

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André Comte-Sponville

Sex

Eine kleine Philosophie

Aus dem Französischen vonHainer Kober

Zweiter Essay aus der 2012 bei Éditions Albin Michel, Paris,

erschienenen Originalausgabe: ›Le sexe ni la mort‹

Copyright ©2012 by Éditions Albin Michel

Die deutsche Erstausgabe erschien 2015 im Diogenes Verlag

Das Motto stammt aus folgender Ausgabe:

Saint-John Perse, Das dichterische Werk, Bd.2,

Heimeran Verlag, München 1978, S.131

Covermotiv: Illustration von Anna Keel,

›Rote Birnen‹, San Felice, 2002

Copyright ©Anna Keel

Für Sylvie

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright ©2017

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24407 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Der Falke der Begierde zerrt an seiner Lederfessel. Die Liebe mit gespannten Brauen krümmt sich ¸ber ihrer Beute. Und ich, ich sah dein Antlitz sich verwandeln, Plünderer!

Saint-John Perse, See-Marken

[7] Inhalt

Aus dem Vorwort zur französischen Ausgabe  [9]

Einleitung  [10]

Was ist Sexualität?  [12]

Eher eine Funktion als eine Fähigkeit  [14]

Eher ein Trieb als ein Instinkt  [16]

Das Obszöne und das Obskure  [17]

Körper und Seele  [21]

Einige Philosophen und die Sexualität  [26]

Die Scheu der Philosophen  [27]

Montaigne – Von der Wollust zur Trägheit  [32]

Schopenhauer – oder die List der Sexualität  [48]

Feuerbach – oder der geschlechtliche Gott  [58]

Nietzsche – Vom Krieg der Geschlechter zum Tanz  [64]

Kant – Von der Sache zur Person  [80]

[8]Die Erotik  [93]

Vergewaltigung, Prostitution, Pornographie  [94]

Erotik und Transgression  [100]

Das Begehren genießen  [106]

Natur und Kultur: Erotik macht das Wesen des Menschen aus  [110]

Scham und Schamlosigkeit: Sex als Schandtat  [116]

Sex als Schauspiel  [121]

Die Erotik: eine paradoxe und transgressive Eigenheit des Menschen  [126]

Erotik und Mysti  [132]

Eine weltliche Erotik  [137]

Das Begehren – Abgrund und Antrieb  [142]

Begehren, Abneigung und Gleichgültigkeit  [143]

Die Lust begehren oder den anderen begehren?  [147]

Gelebtes Begehren  [153]

Der Sex besiegt den Tod  [159]

Die Relativität des Begehrens  [166]

[9]Aus dem Vorwort zur französischen Ausgabe

Dieser Aufsatz war ebenso wie derjenige über die Liebe (Liebe. Eine kleine Philosophie) ursprünglich für den mündlichen Vortrag bestimmt. Das Referat über das Thema Sexualität habe ich erstmals im Juni 2004 vor Medizinern gehalten, anlässlich des 29. Kongresses der Société française de sexologie clinique. Ich habe es für die Buchform sorgfältig durchgesehen und Verbesserungen vorgenommen, wo sie mir angebracht erschienen. Trotzdem blieb der ursprüngliche mündliche Charakter erhalten – mit allen Schwächen, aber vielleicht auch gewissen Vorzügen, die daraus resultieren. Man sollte keinesfalls schreiben, wie man spricht, und noch viel weniger sprechen, wie man schreibt. Aber diese beiden Äußerungsformen können sich gegenseitig befruchten.

[10]Einleitung

»Dem Tod kann man ebenso wenig fest ins Auge sehen wie der Sonne«, schreibt La Rochefoucauld.1 Was das Geschlecht betrifft, so ist das inzwischen anders: Nur wenige Männer und Frauen versagen sich oder scheuen heute den offenen Blick darauf. Warum hat sich mir beim Thema Sexualität trotzdem diese Formulierung so sehr aufgedrängt, dass ich sie hier zu Beginn zitiere? Vielleicht weil sich in den drei Fällen – Geschlecht, Tod, Sonne – das Wesentliche dem Blick entzieht oder ihn blendet, ihn aber trotzdem – oder gerade deshalb – fasziniert. Das Wesentliche? Nicht die Agonie, sondern der Tod als Nichts oder Geheimnis. Nicht das banale Gestirn, sondern die Sonne als das, was uns leuchtet und uns blendet, als Wärme und Energie, ohne die wir nicht wären. Nicht das Geschlechtsorgan, sondern die Sexualität als Funktion, als Trieb, als Abgrund.

Die Sexualität oder das Begehren? Das eine oder das andere: Beides, sagt Spinoza, das Erstere ist eine Kategorie oder Erscheinungsform von Letzterem – es sei denn, hätte Freud vielleicht entgegnet, es verhält sich umgekehrt.

Aber was ist Sexualität? Was können uns die [11]Philosophen dazu sagen? Was lehrt uns die Erotik über uns selbst? Welche Lebensweisheiten oder Erkenntnisse können wir aus ihr gewinnen? Das sind in etwa – und in dieser Reihenfolge – die Fragen, die ich hier untersuchen möchte.

[12]Was ist Sexualität?

Weder Sexualität noch Tod beginnt mit uns: Letzterer ist offenbar fast so alt wie das Leben; Erstere weit jünger (das Leben war anfangs über Jahrmillionen ungeschlechtlich), jedoch viel älter als die Menschheit. Sterblichkeit und Sexualität sind zunächst einmal objektive Gegebenheiten, die auf die meisten Arten zutreffen. Aber erleben kann man sie nur subjektiv. Das gilt für den Tod (nicht die Art stirbt, sondern die Individuen) und in noch höherem Maße für die Sexualität: Nicht die Art zeugt, kopuliert, begehrt – dazu sind nur die Individuen fähig.

Was ist Sexualität? Im Französischen taucht das Wort im 19.Jahrhundert auf.2 In ihren verschiedenen Erscheinungsformen ist die Sache selbst viel älter als die ältesten Sprachen. Aus biologischer Sicht können wir alles als Sexualität bezeichnen, was die geschlechtliche Fortpflanzung betrifft. In diesem Sinne sprechen Botaniker gelegentlich von pflanzlicher Sexualität, wenn mir diese Ausdrucksweise auch etwas fragwürdig erscheint. Für die menschliche Sexualität wäre diese Definition dagegen zugleich zu eng und zu weit: Viele unserer sexuellen Handlungen oder Phantasien haben [13]nichts – oder allenfalls indirekt – mit der Fortpflanzung zu tun. Bestimmte Formen der künstlichen Befruchtung (vom Klonen nicht zu reden) können in Raum und Zeit vollkommen abgekoppelt sein von dem, was wir normalerweise unter Sexualität verstehen. Geschlechtsakt und Befruchtung mögen zwar physiologisch eng zusammenhängen, sind aber trotzdem theoretisch und praktisch zwei sehr verschiedene Vorgänge. Das ist nicht nur eine Errungenschaft der Wissenschaft, sondern auch eine Gegebenheit, die seit je die Sexualität des Menschen bestimmt. Heute können wir Kinder zeugen ohne Zeugungsakt. Mit ein bisschen Pech oder Glück war es schon immer möglich, Sex zu haben, ohne Kinder zu zeugen. Da fällt mir ein sehr alter Witz ein, der einer jungen Katholikin folgendes Gebet an die Mutter Gottes in den Mund legt: »Oh, heilige Jungfrau Maria, die du empfangen hast, ohne zu sündigen, lass mich sündigen, ohne zu empfangen!« Das Dogma von der unbefleckten Empfängnis, das uns so antiquiert erscheint (und über das Christus, nebenbei gesagt, kein Wort verlauten lässt), weist paradoxerweise eine Gemeinsamkeit mit der Empfängnisverhütung auf: Es handelt sich um zwei Strategien zur Entkoppelung von Beischlaf und Befruchtung. Nur verwunderlich, dass die Kirche darin in dem einen Fall ein Wunder und in dem anderen eine Sünde erblickt. Egal. Das Dogma und der Fortschritt bestätigen beide, wenn auch auf unterschiedliche Weise – Erstere mythologisch, Letztere wissenschaftlich–, dass Fortpflanzung und Sexualität zwei verschiedene Funktionen sind, die man nicht durch die jeweils andere definieren kann.

[14]Eher eine Funktion als eine Fähigkeit

Ich werde eine andere Definition der Sexualität vorschlagen, eine, die enger ist, insofern sie sich auf eine Art konzentriert (die Menschheit, was nicht heißen soll, dass unsere Sexualität nichts zu tun hätte mit den tierischen oder pflanzlichen Spielarten der Sexualität), und zugleich umfassender, insofern sie eine Vielzahl von Phänomenen einschließt. Die Sexualität in dem Sinne, wie wir das Wort gewöhnlich verwenden, betrifft weniger die Fortpflanzung als eine Reihe von Begierden (diejenigen, die ein Mensch für einen anderen in seiner fleischlichen und geschlechtlichen Wirklichkeit empfindet) und eine Reihe von Lustempfindungen (diejenigen, die uns die Geschlechtsorgane und andere erogene Zonen verschaffen). Es geht weniger um Fruchtbarkeit als um Sinnlichkeit, weniger um Fortpflanzung als um Genuss, weniger darum, die Art zu erhalten, als Lust zu empfangen oder zu schenken. Der Sex ist nicht in erster Linie dafür da, für künftige Generationen zu sorgen. Das wissen die Liebenden. Und die Vergewaltiger auch.

Was ist Sexualität? Die Gesamtheit der Affekte, Phantasien und Verhaltensweisen, die verknüpft sind – und sei es nur in der Vorstellung – mit der Lust am Körper eines anderen oder dem eigenen, insoweit er geschlechtlich ist. Es ließe sich einwenden, diese Definition sei zirkulär (da sie das Geschlecht in die Definition der Sexualität einbezieht); aber dieser Zirkelschluss ist vorgegeben durch die Natur (die unsere: den Körper), von der alles kommt, auch die Kultur, und der sich nichts und niemand entziehen kann. Die Geschlechtlichkeit des menschlichen Körpers ist eine [15]Tatsache. Dank der Sexualität können wir mit dem Körper spielen und Lust empfinden, ihn nutzen oder auch nicht. Sie ist weniger eine Fähigkeit als eine Funktion, weniger ein Instinkt als ein Trieb.

Was ist der Unterschied zwischen einer Fähigkeit und einer Funktion? Zwar haben die beiden Begriffe durchaus miteinander zu tun, doch der erste bezeichnet ein paar mehr oder minder effiziente Mittel, die es anzuwenden gilt; der zweite betont stärker den Zweck (eher nicht zielgerichtet: Darwin), auf den diese Mittel ausgerichtet sind. So gibt es die Funktion der Ernährung oder der Fortpflanzung; und die Fähigkeit, die man hat oder nicht, sich zu ernähren oder fortzupflanzen. Die Funktion ist der Art eigen und bleibt abstrakt oder virtuell, solange kein Individuum die Fähigkeit aufbringt, sie zu verwirklichen. Die Fähigkeit dagegen besitzt das Individuum in stärkerer oder schwächerer Form: Die Gesamtheit der – beispielsweise organischen – Mittel befähigen es, die eine oder andere Funktion zu erfüllen, mit anderen Worten, dieses oder jenes zu machen (lateinisch facultas – Fähigkeit – kommt von facere –machen, tun), beispielsweise zu denken, zu wollen, Lust zu erleben. Die Fähigkeit ist eine »Kraft« (Locke)3, ein »Vermögen« (Kant)4, ein »tätiges Vermögen« (Leibniz)5. Die Funktion [16]bleibt erhalten, und sei es als Defizit, wenn wir nicht oder nicht mehr können.

Eher ein Trieb als ein Instinkt

Welcher Unterschied besteht zwischen Instinkt und Trieb? Auch diese beiden Begriffe haben miteinander zu tun: Beide lassen sich dem Oberbegriff der angeborenen Verhaltenstendenzen zuordnen. Doch der Instinkt ist eine Tendenz mit eingebauter Bedienungsanleitung, ein Wissen, das biologisch weitergegeben wird. Der Trieb dagegen enthält keine Bedienungsanleitung, kein angeborenes Wissen: Er drängt uns dazu, in einer bestimmten Weise zu handeln (und ist infolgedessen eine Verhaltenstendenz), aber ohne dass er mit seiner genetischen Botschaft ein explizites Ergebnis anstrebt noch uns die Mittel in die Hand gibt, es zu erreichen. Vögel können Nester bauen und Spinnen Netze weben, ohne es lernen zu müssen. Das sind instinktive Verhaltensweisen, für die die Gene genügen. Der Mensch ist in dieser Hinsicht ziemlich benachteiligt, denn er wird nur mit wenigen Instinkten geboren (Saugen, Greifen…), zu denen die Sexualität definitiv nicht gehört. Wir erhalten sie ohne Bedienungsanleitung. Deshalb interessieren sich Kinder so vehement für Zweck und Funktion der Genitalien (lesen Sie nach, was Freud über die sexuelle Neugier schreibt), und die Erwachsenen kaum weniger. Das sexuelle Begehren lehrt uns nicht, was wir beim Geschlechtsakt zu tun haben, nicht, was der andere begehrt, und noch nicht einmal immer, was wir selber begehren. Der Koitus? Ein [17]Trieb drängt uns zu ihm. Kein Instinkt lehrt ihn uns. Daher die Unwissenheit in den Jahren der Kindheit, dann die Unruhe, die Phantasien, später die Vorbereitungen, die Entdeckung, die Improvisation, die tastenden Versuche, die Initiation, die Lehrzeit, schließlich eine gewisse Virtuosität, zumindest zeitweise, die uns aber nicht gegen Ungeschicklichkeit feit, gegen Scheitern, mangelnde Befriedigung, Ängste… Die Harmonie der Geschlechter gibt es nicht von Natur aus. Die Organe entsprechen sich nur ungefähr. Die Begierden, Phantasien, Verhaltensweisen nicht immer. Deshalb ist alle Erotik kulturell. Wir sind Tiere, kein Vieh.

Das Obszöne und das Obskure

Hüten wir uns vor dem übereilten Schluss, dass der Mensch keine Natur hätte, oder gar, dass ihm nichts Natürliches eigen wäre. »Der Mensch hat keine Instinkte«, wurde behauptet, »er schafft sich Institutionen.«6 Mag sein, zweifellos gehört die Ehe dazu. Nicht aber die Sexualität: Sie ist kein Instinkt und noch weniger eine Institution. Sie geht jeder Entscheidung, jeder Regel, jeder Kultur voraus. »Der Mensch ist ein Tier, das im Begriff ist, die Art zu plündern.«7 Zugegeben, aber er hat es nie geschafft. Sonst gäbe es keine Menschheit mehr. Wir sind kein Vieh, das stimmt, aber wir sind Tiere und werden es immer bleiben. Das ruft uns die [18]Sexualität immer wieder ins Gedächtnis, weshalb sie so beunruhigend, aufwühlend, schockierend, so angenehm ist. Sie ist die wahre Erbsünde (»…und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren«8), allerdings keine Sünde, sondern ein Trieb, der verknüpft ist mit der Furcht, die er in uns weckt (»Ich… fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich…«9), als müsste man sich schämen, nur ein Tier, nur dieser geschlechtliche Körper zu sein. Vielleicht ist das der Punkt, wo der Verstand beginnt, in der Scham, der Beklommenheit, dem Verbot (besonders dem Inzestverbot), die uns die Sexualität entrücken – durch Kleidung, Erziehung, Ehe – und sie dadurch nur umso begehrenswerter, verlockender, faszinierender machen. »Das griechische Wort phallos heißt auf Lateinisch fascinus«, berichtet Pascal Quignard;10 und kaum jemand wird leugnen, dass das Adjektiv »faszinierend« genauso auf das Geschlecht der Frauen zutrifft. Was bedeutet das? Faszinieren heißt zugleich bezaubern und blenden, verlocken und lähmen, verführen und bannen. »Der fascinus fesselt den Blick so sehr, dass dieser sich nicht losreißen kann… Faszination ist die Wahrnehmung des toten Winkels der Sprache.«11 Genau das bringen Vulgärsprache und Scham zum Ausdruck: Die Quasi-Unmöglichkeit, normal, gelassen, höflich das zu sagen oder zu zeigen, was wir sind, was uns antreibt oder anzieht und was wir gelegentlich ablehnen. »Die [19]Begierde fasziniert«12: Sie ist fasziniert von ihrem Objekt und faszinierend für ihr Subjekt. Wie nähert man sich ihm ohne Schrecken oder Scham? Es ist, als wäre das Geschlecht von Natur aus obszön, oder vielmehr, als wäre es trotz seiner extremen Banalität dasjenige Element der Natur, das die Kultur nie ganz akzeptieren, integrieren, reduzieren kann, ein Übermaß an Abgrund,13 das Schwarze Loch der Begierde oder des Lebens. Wir denken an Buñuel: »Dieses obskure Objekt der Begierde…« Und sein Subjekt ist sicherlich nicht weniger obskur. Obszön, obskur: Möglicherweise haben die beiden Wörter denselben etymologischen (rätselhaften) Ursprung,14 als müsse das, was es zu verbergen gilt (das Obszöne – obscenus bedeutet auf Lateinisch zunächst »unheilvoll«), im Schatten (obscurus) bleiben, selbst wenn wir es enthüllen und zu zähmen trachten. Die Philosophen tun gut daran, für die Aufklärung zu streiten. Doch wenn sie glauben, sie könnten diese Nacht (die [20]»sexuelle Nacht«, wie Quignard sagt15), ohne die es ihre Zunft gar nicht gäbe, gänzlich vertreiben, täuschen sie sich.

In einem 1972 veröffentlichten Buch kritisierte Françoise Sagan, selbst eine sehr freie und sehr schamhafte Person, die filmische Darstellung der Sexualität, die damals gerade in Mode kam (auch durch Filme, die nicht ausgesprochen pornographisch waren) und dies auch weiterhin ist: »Was haben sie gemacht mit der Tollheit der Nächte, den geflüsterten Worten im Dunklen, dem ›Geheimnis‹, diesem ungeheuren Geheimnis der körperlichen Liebe? Gewalt, Schönheit, Lust, wo seid ihr geblieben… Diese Massen, Tonnen menschlichen Fleisches, die man uns heute vorwirft, gebräunt, bleich, stehend, sitzend, liegend, wie langweilig!«16 Doch wäre die Langeweile wirklich so groß, wie ließe sich dann erklären, dass die Filme so erfolgreich sind und dass die Filmindustrie immer noch mehr Streifen dieser Art produziert? Was im Übrigen nicht besonders schlimm ist. Erstaunlich ist dabei nur, dass das Geheimnis fast unangetastet bleibt und sich jeder denkbaren Zurschaustellung widersetzt – als wohne der Sexualität etwas inne, das man nicht ganz enthüllen kann–, weder indem man es darstellt, noch indem man es ausspricht oder selbst stundenlang darüber redet. Das belegen [21]pornographische Filme auf paradoxe Weise: Niemand weiß, was die Darsteller empfinden (selbst die Ejakulation ist kein Beleg für Lust, für Gefühle, für sinnliches Erleben, all die Dinge, die allein zählen), am allerwenigsten die Darsteller selbst. Und unser Privatleben bestätigt das: Kein Mensch weiß, wie seine Freunde Sex praktizieren (es sei denn, er wäre beteiligt gewesen), welche Gefühle oder Lusterlebnisse dabei in ihnen geweckt werden, noch wie kühn oder schamhaft sie zu Werke gehen. Weder Sex noch Tod lässt sich angemessen mitteilen. Woher soll ich wissen, was ein Mensch fühlt, den ich im Augenblick seines Orgasmus oder Todes umarme? »Aber in demselben Maße, in dem wir beginnen, als Einzelne das Leben zu versuchen«, sagt Rilke, »werden diese großen Dinge uns, den Einzelnen, in größerer Nähe begegnen.«17 Das gilt auch für die körperliche Liebe: das »ungeheure Geheimnis« widersteht selbst der freiesten Liebe.

Körper und Seele

Die Kultur will sich über die Natur erheben und gehört doch zu ihr, genauso wie die Menschen das Tierhafte überwinden wollen und doch Tiere bleiben. Das heißt, das Tierhafte besteht fort, einerseits verändert (durch Zivilisation, Sprache, Verstand) und andererseits intakt (im Körper). Der Dualismus ist zwar ein metaphysischer Irrtum, scheint aber unserer Erfahrung zu entsprechen. Wie soll ich denn [22]ganz Körper sein, da ich ihn doch steuere, ihm widerstehe, ihn beherrsche oder mich von ihm hinreißen lasse? Mein Körper ist das, was ich bin, ohne es ganz zu sein, da ich ihm nicht immer folge, sondern ihm auch vorauseilen, ihn zwingen, ihm sogar gelegentlich Gewalt antun kann. Folglich muss ich – zumindest unter einem bestimmten Blickwinkel – auch etwas anderes sein: eine Seele. Sie ist es, die das Gleichgewicht verliert durch ein Stück Haut, das unser Blick erhascht, die sich einer Phantasie hingibt, durch ein Streicheln außer sich gerät, sich in den Zuckungen des Körpers verliert! Zumindest empfindet man eine gewisse Scham: »Der Seelen Tod in schimpflicher Zerstörung/ist Lust in Tat«, heißt es bei Shakespeare.18 Zweifellos eine Formulierung, die in ihrer Übertreibung eine puritanische Erziehung verrät. Doch wer von uns empfindet nicht im Rückblick angesichts der eigenen Tollheiten so etwas wie Überraschung oder Scham, so dass es schwierig ist, sie in normaler Gemütsverfassung anders als scherzhaft zu erwähnen, und köstlich, sie in äußerster und zärtlichster Intimität zu beschwören? Shakespeare war weder so töricht noch so prüde. »[D]aß der Geist und der Körper ein und dasselbe Ding sind«19 – diese Überzeugung teile ich mit Spinoza, zumal sie nach den Ergebnissen der modernen Neurowissenschaften immer wahrscheinlicher wird. Aber der sexuelle Charakter dieser Angelegenheit sorgt in der Seele ständig für Verstörung, Aufregung, Staunen und Befangenheit. Die Seele wundert sich über den Körper und [23]empfindet ihn gelegentlich als peinlich. Wer glaubt, nur die Religion (zumal die jüdisch-christliche) könne diese Scham erklären, ist reichlich naiv! Ich würde eher meinen, diese Scham erkläre die Religion, zumindest teilweise. Nicht nur der Tod macht Angst, und nicht nur die Welt ist verwunderlich. Aber wenn sie die Scham nur durch die Verbote erklärt, die die Sexualität betreffen, »wird die Frage selbst als Lösung ausgegeben«20. Denn wie erklären sich diese Verbote? Gleiches gilt für den Versuch, diese Verbote durch die Religion zu erklären. Warum sucht sie die Schuld vor allem bei den Genitalien und dem Sex und nicht bei anderen Organen oder Funktionen? Offenbar hat die Sexualität von Natur aus etwas ganz Besonderes und Beunruhigendes, das von der Religion beschrieben oder angeprangert, aber von ihr alleine nicht erklärt werden kann – egal, um welche Religion es sich nun handelt. Die Welt hat allerdings nicht auf das Christentum warten müssen, um die Merkwürdigkeit der Sache zu erkennen. Selbst die Griechen, die doch so frei in ihren Sitten waren, zeigten eine große Zurückhaltung,21 sogar eine gewisse »Unruhe« und »Besorgnis«,22 wenn sie über Sexualität sprachen. Sogar die [24]Angehörigen von unbekleidet lebenden Völkern verbergen sich, um sich zu begatten (was Menschenaffen fast nie tun). Woraus folgt, dass wir nicht die Nacktheit als Problem empfinden, sondern das Begehren. Nicht die Sexualorgane, sondern die Sexualität als Trieb, als Funktion, als Manifestation des Tierhaften. Des Tiers in uns, das uns zu Menschen macht (in der biologischen Bedeutung des Worts) und uns zur Weiterentwicklung zwingt (im normativen oder kulturellen Sinne). Weder die Sexualität noch der Tod entgeht der Biologie oder lässt sich auf sie reduzieren.

Man sollte meinen, das Tierhafte zeige sich genauso in der Atmung, der Ernährung, der Ausscheidung… Sicherlich. Daher gehört es auch zum guten Ton, es mit einer gewissen Zurückhaltung und Kontrolle zu praktizieren (wir vermeiden es, allzu laut zu atmen, wir achten auf das, was wir essen und wie wir es essen). Für die Entleerung ziehen wir uns sogar ganz zurück. Aber diese Funktionen vereinnahmen uns nicht so restlos: Unser Verstand kann sie von außen, ruhig, gelassen betrachten oder sogar – während sie stattfinden – an ganz andere Dinge denken. Geben wir zu, dass wir die Sexualität gewöhnlich mit weniger Freiheit, Heiterkeit, Distanz erleben! Es ist der tierische Teil in uns, der uns am meisten packt und der am schwierigsten zu vergessen, zu beherrschen und zu zivilisieren ist. Das macht ihn unter anderem und nicht zuletzt so faszinierend. Wie verstörend und betörend ist es für den Menschen, in sich und dem anderen das Tier wiederzufinden, das keiner von ihnen je aufhörte zu sein! Das ist der Preis, den wir für die Zivilisation zahlen – und die Belohnung, wenn man so will. Selbst die Schimpansen würden uns, wüssten sie es, darum [25]beneiden. Ma bête – »mein Tier« – ist im Französischen ein Kosewort, auf das kein Tier verfallen könnte.

Die Sexualität ist nicht Fähigkeit, sondern Funktion, nicht Instinkt, sondern Trieb. Sie setzt weder Können noch Wissen voraus. Deshalb brauchen wir Sexualerziehung und gelegentlich auch Sexologen. Die Philosophie kann sie natürlich nicht ersetzen. Aber wie könnte uns die Sexologie – selbst wenn es um die Sexualität geht – das Philosophieren ersparen?

[26]Einige Philosophen und die Sexualität

Weder Sexualität noch Tod hängt gewöhnlich von uns ab: Nur selten wählen wir sie, und nie können wir ihnen entgehen. Aber sie verweisen auf unsere entscheidende Abhängigkeit, ohne die es uns nicht gäbe. Leben heißt für den Menschen, abhängig zu sein: von seinem Körper, also der Welt; von sich, also den anderen. Ich habe nicht entschieden, geboren zu werden oder sterblich zu sein; einen Körper beziehungsweise diesen Körper zu haben (oder ich zu sein); ein Geschlecht beziehungsweise dieses Geschlecht zu haben. Ich muss damit leben, wie man so sagt. Selbst Transsexuelle und Eunuchen bleiben nicht davon verschont – egal, ob mit einem anderen Geschlecht oder ohne, auch sie müssen damit leben. Insofern gehören Geschlecht und Tod zwangsläufig zu uns (da wir sterblich und geschlechtlich sind), doch ob wir leben und welchem Geschlecht wir angehören, das ist Zufall. Das ist wie ein Schicksal in der ersten Person. Mir bleibt nichts anderes übrig, als es anzunehmen, in ihm, wenn möglich, einen Spielraum an Freiheit zu gewinnen. Niemand entscheidet sich, geboren zu werden; kein normaler Erwachsener lebt weiter, ohne sich dafür entschieden zu haben. Niemand ist schuld daran, ein Geschlecht zu haben; niemand ist ganz unschuldig an seiner Sexualität.

[27]Die Philosophen schreiben so gern über den Tod, dass sie manchmal des Guten zu viel tun und ihn zur Quintessenz ihres Tuns erklären (»Philosophieren heißt Sterben lernen«23). Bei der Sexualität äußern sie sich häufig zurückhaltender und vorsichtiger oder übergehen sie ganz. Zu viel Emotionalität in ihr, oder in uns, zu viel Egoismus, Gier, Gewalt, vielleicht auch zu viel Dummheit. Das ist unsere Schattenseite. Das Licht der Aufklärung schreckt davor zurück.

Die Scheu der Philosophen

Ich erspare uns die unzähligen Verurteilungen, vor allem unter dem Einfluss der Religion, die wir bei so vielen Philosophen finden. Sogar Platon, der zunächst so nachsichtig gegenüber dem Eros ist, so wohlwollend gegenüber der Päderastie, sofern sie im Wesentlichen geistig bleibt, urteilt streng über »gemeine« Aphrodite, der es nur um die fleischliche Lust geht. Damit wird im Grunde die Sexualität in Bausch und Bogen verdammt, denn sie unterwirft [28]sich nicht den erhabenen Ansprüchen der »himmlischen« Aphrodite (der Platon’schen, wenn auch nicht platonischen, Liebe).24 Diese anfangs nicht allzu heftige Verurteilung im Gastmahl und in Phaidros wird mit der Zeit immer strenger, bis sie in den Gesetzen zu einer Art Puritanismus ausufert. Das sexuelle Begehren? Eine »Raserei«, die den Menschen »durch und durch erglühen« lässt25: Es stürzt so »viele Menschen vielfach in äußerstes Verderben«26, dass man sich besser vor ihm hütet. Wer sich ihm hingibt, der verspürt den Wunsch, »sich daran zu sättigen, ohne dem Charakter der Seele des Geliebten den geringsten Wert beizumessen«27. Dass die Sexualität in der Liebe zu ihrem Recht kommt, mag hingehen. Der Körper muss in Wallung kommen und sich wieder beruhigen. Das Geschlecht oder der Staat muss fortdauern. Aber dann bitte in Übereinstimmung mit der Natur (also unter Ausschluss der Homosexualität) und im Rahmen der Ehe!28 Im Übrigen ist nach Ansicht des alternden Platon die Sexualität selbst in dieser eingeschränkten Form nichts Erstrebenswertes, sondern bleibt ein minderes Übel: Besser wäre es für den [29]Liebenden, er würde »mit dem keuschen Geliebten allezeit ein keusches Leben führen«29.

Und wie steht es mit Augustinus? Er war doch ein genialer Kopf und wusste, wovon er sprach (vor seiner Bekehrung war er schließlich ein Lebemann gewesen), trotzdem sah der Verfasser der Bekenntnisse in der Sexualität nichts als »Schmutz« und »Finsternis der Lust«30, »finstere Liebesabenteuer« und »Sumpf fleischlicher Begierde«31, eine bejammernswerte »Begier, mir durch die Berührung mit dem Sinnlichen Linderung zu verschaffen«32, die aus einem Menschen, der sich ihr hingibt wie der junge Augustinus, ein Geschöpf voller »Hässlichkeit und Unsittlichkeit« macht, das in »Abgründen der Leidenschaft«33 danach strebt, sich »an Höllischem zu sättigen«34! Warum so viel Hass? Weil die Fleischeslust aus der Sünde erwächst, erklärt der Bischof von Hippo, und sie verstärkt.35 Vor dem Fall konnten Adam und Eva sich nämlich auch fleischlich in »reiner Liebe« vereinen, ohne Erregung und Begehrlichkeit: auf den bloßen »Wink des Willens… und ohne den verführerischen Anreiz der Begier, mit voller [30]Ruhe des Geistes und des Leibes«36