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André Comte-Sponville

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Beschreibung

»Ein interessanteres Thema als die Liebe gibt es nicht«, sagt André Comte-Sponville und fächert ein Panorama von philosophischen Ideen auf, das hilft, das große Wort »Liebe« besser zu verstehen – in all seinen Facetten. Gedanken werden leicht, klug und humorvoll dargestellt, so dass der Leser auch Rat und Anregung für sein Leben findet.

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Seitenzahl: 198

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André Comte-Sponville

Liebe

Eine kleine Philosophie

Aus dem Französischen vonHainer Kober

Erster Essay aus der 2012 bei Édition Albin Michel, Paris,

erschienenen Originalausgabe: ›Le sexe ni la mort‹

Copyright ©2012 by Éditions Albin Michel

Die deutsche Erstausgabe erschien 2014 im Diogenes Verlag

Das Motto stammt aus folgender Ausgabe:

Saint-John Perse, Das dichterische Werk, Bd.2, München, Heimeran, 1978

Covermotiv: Illustration von Anna Keel, ›Französische Tulpe in Vase‹, Sils, Hotel Waldhaus, Februar 2004

Copyright © Anna Keel

Für Sylvie

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright ©2017

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24406 9

ISBN E-Book 978 3 257 60426 9

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Liebe, Liebe, die du so hoch hältstden Schrei meiner Geburt.

Saint-John Perse, See-Marken

[7]Inhalt

Aus dem Vorwort zur französischen Ausgabe  [11]

Einleitung  [13]

Ist die Liebe eine Tugend?  [14]

Die Liebe ist keine Pflicht  [16]

Die Moral ahmt die Liebe nach  [19]

Das Recht und die Höflichkeit ahmen die Moral nach  [27]

Wann hören wir auf, so zu tun als ob?  [33]

Die drei Formen der Liebe: Eros, Philia, Agape  [35]

Eros oder die leidenschaftliche Liebe  [38]

Das Paradox des Gastmahls  [40]

Die Rede des Aristophanes: Die Illusionen der Liebe  [43]

Die Erfahrung widerlegt Aristophanes  [49]

Die Rede des Sokrates: Die Wahrheit über die Liebe  [54]

Die Liebe als Mangel  [57]

»Es gibt keine glückliche Liebe«  [59]

Drei Beispiele  [62]

[8]Vom Mangel zur Langeweile  [68]

»Die rechte Art, sich auf die Liebe zu legen« (nach Platon)  [73]

Was Platon nicht erklärt  [83]

Philia oder die Freude an der Liebe  [84]

Die Liebe dessen, was nicht fehlt  [84]

»Lieben heißt sich freuen«  [87]

Die Begierde als Macht  [89]

Das Glück zu lieben  [94]

Eine spinozistische Liebeserklärung  [98]

Mit dem besten Freund ins Bett gehen?  [105]

Kann die Leidenschaft dauern?  [107]

Die Wahrheit des anderen  [112]

Liebe und Einsamkeit  [118]

Agape oder die uferlose Liebe  [122]

Was kann das für eine Liebe sein, die Gott ist?  [123]

Nächstenliebe  [127]

Liebe als Rückzug (Simone Weil)  [128]

Elternliebe  [131]

Die Schöpfung und das Problem des Bösen  [135]

Sanftmut oder Nächstenliebe in der Paarbeziehung  [139]

Die Selbstliebe  [141]

Begehrende Liebe oder schenkende Liebe?  [145]

Die uferlose Liebe  [147]

[9]Schluss  [149]

Nehmen oder geben  [149]

Universalität der Liebe?  [154]

Gott und die Liebe  [157]

Woher kommt die Liebe?  [160]

[11]Aus dem Vorwortzur französischen Ausgabe

Dieser Aufsatz ist ursprünglich ein Referat über die Liebe, das ich schon oft gehalten haben und um dessen Text man mich immer wieder gebeten hat. Ich habe es für die Buchform sorgfältig durchgesehen und Verbesserungen vorgenommen, wo sie mir angebracht erschienen. Trotzdem blieb dem Geschriebenen der ursprüngliche mündliche Charakter erhalten – mit allen Schwächen, aber vielleicht auch gewissen Vorzügen, die daraus resultieren. Man sollte keinesfalls schreiben, wie man spricht, und noch viel weniger sprechen, wie man schreibt. Aber diese beiden Äußerungsformen können sich gegenseitig befruchten.

In dem Vortrag über die Liebe ging es mir vor allem darum, das Thema des letzten Kapitels aus meinem Buch Petit traité des grandes vertus (deutsch: Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben) wiederaufzunehmen, fortzuführen und etwas lebendiger zu gestalten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass es um dieselbe Problematik geht. Bei der Korrektur des Mitschnitts überraschte mich, dass sich dieser Vortrag in einigen Punkten mit einem Aufsatz überschnitt, den ich vor einigen Jahren unter dem Titel Le bonheur, désespérément veröffentlicht hatte. Das war keine Absicht (in beiden Fällen handelt es sich um frei gehaltene [12]

[13]Einleitung

Parlez-moi d'amour – »Sprich mir von der Liebe« – heißt es in dem Chanson, und genau das wollen wir tun. Wir brauchen keine langen Vorreden, um die Wahl des Themas zu rechtfertigen: Ein interessanteres Thema als die Liebe gibt es nicht. Fast nie. Für fast alle. Zum Beispiel wenn Sie abends mit ein paar Freunden essen gehen. Das Gespräch kann sich mit der politischen Situation beschäftigen, mit dem letzten Film, den Sie gesehen haben, mit Ihrem Beruf, Ihrem Urlaub – das alles kann sehr interessant sein. Doch wenn einer der Tischgenossen auf die Liebe zu sprechen kommt, dann darf er aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem gesteigerten Interesse der anderen rechnen. Das wird von Literatur und Kino bestätigt: Die Liebe in ihren verschiedenen Erscheinungsformen ist auch dort bevorzugtes Thema. Und für das richtige Leben gilt das – von Ausnahmen abgesehen – genauso: Was gibt es Aufregenderes, als zu lieben oder geliebt zu werden? Lassen Sie mich noch hinzufügen, dass jedes andere Thema nur insoweit von Interesse ist, wie wir ihm Liebe entgegenbringen. Stellen wir uns vor, jemand von Ihnen hielte mir entgegen: »Nein, nein, auf mich trifft das keineswegs zu! Mein Hauptinteresse gilt nicht der Liebe, sondern dem Geld!« Natürlich würde meine Antwort lauten: »Das beweist lediglich, dass Sie das Geld lieben!« Auch das [14]ist Liebe… Oder ein anderer sagte mir: »Mich interessiert nicht in erster Linie die Liebe oder das Geld, sondern mein Beruf.« Ich würde ihm antworten: »Das beweist, dass Sie Ihren Beruf lieben!« Die Liebe ist nicht nur das interessanteste Thema, sondern für die meisten von uns ist kein anderes Thema von Interesse, wenn es nicht mit Liebe zu tun hat oder wir ihm mit Liebe begegnen.

Ist die Liebe eine Tugend?

Wenn ich auch die Wahl des Themas nicht zu rechtfertigen brauche, so muss ich doch vielleicht mit einigen Worten erklären, wie ich dazu gekommen bin, von der Liebe zu sprechen. Das war in dem Buch Petit traité des grandes vertus (Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben), das 1995 erschien – einer moralischen Abhandlung, deren letztes Kapitel, das zugleich das längste ist, die Liebe behandelt. Ein solches Kapitel in einem solchen Buch versteht sich nicht von selbst. Ist denn die Liebe eine Tugend?

Natürlich nicht jede Liebe. Stellen Sie sich vor, jemand sagt Ihnen: »Ich liebe das Geld«, »Ich liebe die Macht«, oder gar »Ich liebe Gewalt und Grausamkeit…« Gewiss würde es Ihnen schwerfallen, darin einen Ausdruck seiner Tugend zu sehen, und Sie hätten natürlich recht. Halten wir also fest: Nicht jede Liebe ist tugendhaft. Doch stellen wir uns umgekehrt jemanden vor, der nichts und niemanden liebt: Ihm würde sicherlich eine wichtige Eigenschaft fehlen, eine »Vortrefflichkeit«, wie die Griechen sagten (auf Griechisch hieß »Tugend« arete, was wörtlich [15]»Vortrefflichkeit« bedeutete). Was ist eine Tugend? Eine moralische Eigenschaft, mit anderen Worten, eine Veranlagung, die uns besser macht – »vortrefflicher«, wie Montaigne sagen würde, oder einfach menschlicher. »Nichts ist so schön und unsrer Bestimmung gemäß wie ein rechter Mensch zu sein…«1 Das könnte als Definiton dienen: Eine Tugend ist eine Eigenschaft, eine Vortrefflichkeit, die uns ermöglicht, unsere Menschlichkeit zu verwirklichen (»ein rechter Mensch zu sein«). Dem, der nicht lieben kann, fehlt eine wesentliche Eigenschaft: Ihm fehlt offensichtlich eine Tugend, und nicht die unwichtigste.

Nun weiß aber jeder, dass die Liebe, zumindest eine bestimmte Form der Liebe – ich werde darauf zurückkommen–, eine der drei theologischen Tugenden ist. Es gibt nur drei, die »theologisch« oder »göttlich« heißen, weil Gott ihr Gegenstand ist: Glaube, Hoffnung, Nächstenliebe, wie die Katholiken meistens sagen, oder auch Glaube, Hoffnung, Liebe, wie es die Protestanten bevorzugen – da sowohl »Nächstenliebe« wie »Liebe« als Übersetzung für das griechische Wort agape in Frage kommen, das übrigens den klassischen Griechen unbekannt war (wir finden es weder bei Platon noch bei Aristoteles oder Epikur). Dafür kommt es im Neuen Testament sehr häufig vor, wo es, wie gesagt, die Liebe zum Nächsten bezeichnet (der weder Geliebter noch Freund ist), also eine Form der Liebe, die man kurz und bündig Barmherzigkeit nennen könnte.

[16]Die Liebe ist keine Pflicht

Hier stellt sich allerdings das Problem, dass die Liebe, die gelegentlich eine Tugend ist, keine Pflicht sein kann. Warum? Weil die Liebe, wie Kant in Tuchfühlung mit der Alltagserfahrung erklärt, »eine Sache der Empfindung, nicht des Wollens«2 ist. Doch ein Gefühl lässt sich nicht befehlen. Hören wir noch einmal Kant: »[I]ch kann nicht lieben, weil ich will, noch weniger aber weil ich soll…; mithin ist eine Pflicht zu lieben ein Unding.«3

Betrachten wir ein triviales Beispiel: Sie setzen einem Ihrer Kinder, einem kleinen Jungen oder einem kleinen Mädchen von sieben oder acht Jahren, Spinat vor. Das Kind sagt: »Ich mag keinen Spinat!« Also, wenn Sie wissen, dass es keine Pflicht zur Liebe gibt, wenn Sie wissen, dass sich Liebe nicht befehlen lässt, dann ist Ihnen auch klar, dass es absolut sinnlos ist zu sagen: »Ich befehle dir, den Spinat zu lieben! Das ist deine Pflicht!« Sie können diese beiden Sätze aussprechen, aber sie nicht wirklich denken oder glauben: Sie sind in sich absurd, weil es keine Frage des Wollens ist, Spinat zu lieben oder nicht zu lieben, sondern eine der Empfindung, in diesem Fall des Geschmacks, und der lässt sich nicht befehlen. Unter Umständen können Sie sagen: »Ich befehle dir, den Spinat zu essen!«

[17]Ich sage nicht, dass Sie das tun sollen – das mag jeder für sich entscheiden–, aber auf jeden Fall ist dieser Satz nicht in sich absurd: Spinat essen ist eine Handlung; und eine Handlung kann man befehlen. Aber Spinat lieben ist keine Handlung, sondern eine Empfindung, ein Geschmack, der infolgedessen keinem wie auch immer gearteten Befehl gehorchen kann.

Ein zweites, gewichtigeres Beispiel. Wenn Sie verstehen, dass es keine Pflicht zur Liebe gibt, so wissen Sie auch, dass an dem Tag, an dem Ihr Partner sagt: »Ich liebe dich nicht mehr«, es absolut sinnlos ist zu antworten: »Aber du musst mich lieben, das ist deine Pflicht!« Denn dann könnte Ihr Partner antworten: »Hör mal, lies Kant: ›Es steht in keines Menschen Vermögen, jemanden bloß auf Befehl zu lieben.‹4 Ich kann nicht lieben, weil ich es will, und schon gar nicht, weil ich es muss; eine Pflicht zur Liebe ist Unsinn…«

Die Liebe ist eine Tugend, keine Pflicht. Diese doppelte Aussage führt zu einer Anmerkung und einem Problem.

Die Anmerkung: Wenn die Liebe eine Tugend ist, ohne eine Pflicht zu sein, bestätigt das – im Gegensatz zu Kant5–, dass Tugend und Pflicht zwei verschiedene, wenn nicht gar voneinander unabhängige Dinge sind. Nicht zufällig habe ich einen Petit traité des grandes vertus (wörtlich: »Kleine Abhandlung über große Tugenden«) geschrieben und keinen Petit traité des grands devoirs (»Kleine Abhandlung [18]über große Pflichten«). Sagen wir, die Pflicht gehört in die Sparte des Gebots, des Befehls, des »Imperativs«, wie Kant sagt (und damit für das Individuum in die des Zwangs und des Gehorsams), während die Tugend mit Eigenschaften wie Fähigkeit, Vortrefflichkeit, Bejahung in Verbindung gebracht wird. Überspitzt ließe sich sagen: Die Pflicht ist ein Zwang; die Tugend eine Freiheit. Schließen wir daraus nicht zu schnell, dass die Pflicht überholt ist! Nur wenn die Tugend siegt. Die Pflicht ist also immer dann erforderlich, wenn es an der Tugend fehlt – mit anderen Worten, in den allermeisten Fällen. Das Neue Testament (das eine Ethik der Liebe ist) vervollständigt das Alte (das eine Moral des Gesetzes ist), aber schafft es nicht ab.6 Das gilt genauso für Atheisten. Nur ein Weiser könnte ohne Moral auskommen. Nur ein Narr könnte danach streben.

Das Problem: Wenn die Liebe keine Pflicht ist, wenn sich die Liebe nicht befehlen lässt, welchen Sinn kann dann das christliche Gebot haben: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«? Es mutet seltsam und abwegig an, dass uns die Evangelien vorschreiben, was sich nicht befehlen lässt. Wer schon das eine oder andere meiner Bücher gelesen hat und daher weiß, dass ich Atheist bin, könnte fälschlicherweise annehmen, dass die Evangelien mich nicht interessieren. Doch Atheist zu sein heißt nicht, dass man keinen Erkenntnisdrang verspürt. Ich würde diese Stelle gerne verstehen, zumal es sich dabei um einen der grundlegenden Texte [19]unserer Kultur handelt. Egal, ob Sie gläubig, atheistisch oder agnostisch sind, und egal, welcher Religion sie angehören – Sie werden der Bibel (dem Alten und dem Neuen Testament) diese Bedeutung nicht absprechen können. Wie könnten wir darauf verzichten, sie verstehen zu wollen? Für Kant, der Christ war (ein sehr frommer, wenn nicht gar pietistischer Lutheraner),7 ist die Frage von entscheidender Bedeutung: Wie kann das »heilige Evangelium« eine Empfindung vorschreiben – nämlich die Liebe–, die sich nicht befehlen lässt?

Die Moral ahmt die Liebe nach

Kants Antwort erscheint mir für die Beziehung zwischen der Liebe und der Moral – oder sagen wir zwischen der Liebe und den anderen Tugenden – äußerst erhellend. Jesus, so sagt er im Wesentlichen, kann uns nur etwas befehlen, was sich befehlen lässt, mit anderen Worten eine Handlung und keine Empfindung. Das bezeichnet Kant als »praktische Liebe«8. Praxis heißt auf Griechisch Handeln. Laut Kant befiehlt uns Jesus also zu handeln. und zwar, wenn möglich, aus Liebe: »Gott lieben, heißt in dieser Bedeutung, seine Gebote gerne thun; den Nächsten lieben, heißt, [20]alle Pflicht gegen ihn gerne ausüben.«9 Allerdings verlagert das nur die Schwierigkeit. »Denn ein Gebot, daß man etwas gerne thun soll, ist in sich widersprechend«, wendet Kant ein. Auch gehe es weniger darum, diese Gesinnung zu haben, als nach ihr zu streben.10 Die Liebe ist ein Ideal und insofern mehr als eine Forderung. Warum erhält sie in der Bibel die Form eines Gebots? Weil es unsere Pflicht ist, dieses Ideal (die Nächstenliebe), wenn nicht zu lieben, so doch zu achten und uns zu bemühen, auf eine Weise zu handeln (denn nur das hängt von uns ab), die das Ideal selbstverständlich voraussetzen würde, wenn wir dazu fähig wären, und die es fordert, da wir es nicht schaffen. Die Liebe befiehlt nur in ihrer Eigenschaft als Ideal; aber dieses Ideal verpflichtet uns, wenn es auch unerreichbar bleibt:

Jenes Gesetz aller Gesetze stellt also, wie alle moralische Vorschrift des Evangelii, die sittliche Gesinnung in ihrer ganzen Vollkommenheit dar, so wie sie als ein Ideal der Heiligkeit von keinem Geschöpfe erreichbar, dennoch das Urbild ist, welchem wir uns zu näheren und in einem ununterbrochenen, aber unendlichen Progressus gleich zu werden streben sollen.11

Lieben? Lässt sich nicht befehlen. Handeln? Gewiss. Also ist es die Liebe, die befiehlt, auch dann – das ist das Paradox des Ideals–, wenn sie nicht vorhanden ist. Das ist der Geist der Evangelien, aber von aller Naivität befreit. Die Liebe [21]und die Heiligkeit sind Ideale. Allein das Handeln hängt von uns ab. Nur das Handeln kann uns befohlen werden. Jesus oder die Moral verlangen von uns lediglich eine bestimmte Art des Handelns: aus Liebe, wenn wir lieben, oder als ob wir liebten, wenn die Liebe nicht vorhanden ist. Wer würde nicht sehen, dass das zweite Glied der Alternative bei weitem das häufigste ist? Wir brauchen die Moral nur, weil es an der Liebe fehlt; deshalb haben wir das Ideal der Liebe so bitter nötig – um entsprechend zu handeln, wie aus Liebe – die sich nicht befehlen lässt, sondern die befiehlt. Wir imitieren in unserem Handeln die Liebe, die es leiten sollte oder die es tatsächlich leitet, allerdings als Ideal und nicht als reale Empfindung. Die Moral ahmt die Liebe nach: Wir müssen so tun, als würden wir lieben. Natürlich ist die Liebe besser: Das Beste für uns alle wäre, zu lieben und aus Liebe zu handeln. Ja, wenn die Liebe vorhanden ist. Aber wenn das nicht der Fall ist? Wenn die Liebe fehlt? Dann bleibt uns nur zu handeln, als würden wir lieben! Und da kommt die Moral ins Spiel: Wenn wir keine Liebe haben, wenn ihre Strahlkraft fehlt, dann ist sie ein Wert nur durch ihre Abwesenheit.

Nehmen wir als Beispiel eine ganz klassische moralische Tugend: die Großzügigkeit. Das ist die Tugend des Gebens. Doch wenn wir lieben, geben wir automatisch: Die Liebe ist großzügig, heißt es. Mag sein. Aber wenn wir aus Liebe geben, ist es keine Großzügigkeit, sondern Liebe. Wenn wir unsere Kinder zu Weihnachten mit Geschenken überschütten, sagen wir nicht: »Was sind wir großzügig«, sondern: »Wie lieben wir sie!«, vielleicht auch: »Wie töricht wir sind!«, aber ganz gewiss nicht: »Wie großzügig wir [22]sind!« Wenn wir lieben, geben wir; wenn wir aus Liebe geben, liegt nicht Großzügigkeit, sondern Liebe vor. Was auf eine sehr erhellende und sehr anspruchsvolle Definition hinausläuft: Die Großzügigkeit ist eine Tugend, die darin besteht, dass wir denen geben, die wir nicht lieben.

Das zeigt hinlänglich, wie unbefriedigend die Großzügigkeit als moralische Tugend ist, aber auch ihre Größe und ihren Wert. Es wäre besser, aus Liebe zu geben? Gewiss. Aber das ist definitionsgemäß nur möglich, wenn wir Liebe empfinden – das heißt, seien wir ehrlich, nicht sehr häufig.

Wenn wir rückhaltlos lieben, brauchen wir uns um Moral nicht mehr zu kümmern: Es gibt keine Verpflichtung, keine Notwendigkeit mehr, keinen »Zwang«12, wie Kant sagt; die Liebe genügt und ist besser. Beispielsweise habe ich immer gewusst, dass es meine Pflicht sein würde, meine Kinder zu ernähren, solange sie klein sind. Aber als sie geboren wurden, habe ich es nicht ein einziges Mal aus Pflichtgefühl getan. Wie alle Eltern habe ich sie aus Liebe ernährt, und das war besser für sie und für mich. Stellen Sie sich vor, Sie fragen eine junge Frau, die ihr Kleines stillt: »Warum stillen Sie Ihr Kind?« Was würden Sie wohl denken, wenn die Mutter antwortete: »Ich stille es aus moralischen Gründen; ich halte das für meine Pflicht!« Sie würden sagen: »Arme Frau, armes Kind!« Aber das ist kaum zu befürchten. Aller Wahrscheinlichkeit nach stillt sie aus Liebe – zum Glück für sie und zum Glück für das Baby.

»Was man aber aus Zwang thut, das geschieht nicht aus [23]Liebe«13, sagt Kant. Auch das Umgekehrte ist wahr: Was man aus Liebe tut, geschieht nicht aus Zwang. Aus diesem Grund befreit die Liebe von der Moral: Nicht indem sie sie auflöst, sondern – um die Formulierung der Evangelien aufzunehmen – indem sie sie erfüllt.14 Dazu muss man nicht Kantianer oder Christ sein. Nietzsche, der weder das eine noch das andere war, sagte: »Was aus Liebe getan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.«15 Diesen Geist finden wir bereits im Neuen Testament, von Augustinus in einem einzigen Satz genial zusammengefasst: »Liebe und tue, was du willst!«16 Das ist der Geist Christi; der Geist der Liebe, mit oder ohne Gott; auch der Geist der Freiheit: Wenn die Liebe stärker als das Ich ist, brauchen wir uns nicht mehr um Moral, Pflicht oder Gebote kümmern. Dann können wir nur aus Liebe handeln, das genügt.

Ja, wenn die Liebe stark genug ist… Doch das ist selten der Fall. Wie viele Menschen gibt es, die Sie genügend lieben, um ihnen gegenüber von jedem rein moralischen Gebot, jedem Imperativ, aller Pflicht frei zu sein? Gut, da sind die Kinder – für die unter Ihnen, die welche haben–, das ist der einzige wirklich einfache Fall, vor allem, wenn sie klein sind. Für die Älteren unter Ihnen gibt es vielleicht noch die Kinder Ihrer Kinder…

[24]Wer noch? Ihr Ehepartner? Das ist bereits viel komplizierter! Die Paare entdecken rasch, dass die Liebe nicht reicht, dass die Moral wieder zu ihrem Recht kommt und wir zu unseren Pflichten. Ihre Eltern? Auch da genügt die Liebe nur selten. Selbst wenn wir unsere Eltern lieben, muss bei den meisten von uns die Moral gelegentlich für die Unzulänglichkeit der Liebe einspringen: Oft handeln wir auch aus Pflichtgefühl, wenn wir alles tun, was in unserer Kraft steht, um den Eltern zu helfen, um sie zu unterstützen und zu begleiten… Ihre zwei oder drei besten Freunde? Ja, das kann vorkommen. Es sei eine Pflicht, sagt Kant, in der Freundschaft treu zu sein.17 Er hat zweifellos recht, aber bei den besten Freunden, denen, die zum engsten Kreis gehören, erwächst die Treue nicht aus Pflichtgefühl, sondern aus Liebe.

Zählen wir zusammen: Ihre Kinder oder Enkel, vielleicht Ihr Ehepartner, Ihre Eltern, Ihre zwei oder drei besten Freunde, kurzum, die Menschen, die Ihnen am nächsten stehen, die Sie am meisten lieben… Auf wie viele kommen wir? Fünf? Zehn? Zwanzig Personen, bei denen, die ein sehr großes Herz haben? Dann bleiben etwas mehr als sieben Milliarden Menschen, die wir nicht lieben oder doch so wenig, dass uns ihnen gegenüber nur die Moral bleibt, um uns vom Schlimmsten abzuhalten und gelegentlich zu veranlassen, ihnen ein bisschen Gutes zu tun.

Wenn die Liebe uns trägt, tritt sie an die Stelle der Moral oder befreit uns von ihr. Doch meist genügt die Liebe nicht; dann greift die Moral ein und schreibt uns vor zu handeln, [25]als würden wir lieben. Die Moral ist eine Pseudo-Liebe, könnte man sagen. Soll heißen, dass wir die Moral nur in dem Maße brauchen, wie wir in dieser oder jener Situation unfähig zur Liebe sind. Wir lieben die Liebe, können aber – wenn es nicht um die Menschen geht, die uns am nächsten stehen – nicht lieben. Das verpflichtet uns zur Moral.

Im Idealfall lieben wir und handeln aus Liebe. Doch mit der Liebe sind wir überfordert. So sehr, dass wir die Moral erfunden haben (das ist nicht wörtlich zu nehmen: Die Moral ist weniger das Ergebnis einer Erfindung als einer Selektion in der darwinistischen Bedeutung des Wortes), damit sie uns in allen Fällen, wo es uns an der Liebe fehlt – das heißt in den meisten Fällen–, veranlasst, so zu handeln, als würden wir lieben.

So gesehen, ist die Moral ein selektiver Vorteil, genauso übrigens wie die Elternliebe. Damit ein Baby in der Steinzeit überlebte und ein Kind das Alter erreichte, in dem es sich selbst helfen konnte, musste es tagtäglich mit beispielloser Fürsorge umhegt werden. Wie ließ sich das besser erreichen als durch die Liebe einer Mutter und eines Vaters? Dahinter verbirgt sich natürlich keine Absicht. Eine Menschengruppe, in der die Eltern ihre Kinder etwas mehr lieben, hat einfach bessere Chancen, ihre Gene weiterzugeben, während eine Gruppe, bei der die Elternliebe fehlt, Gefahr läuft, über kurz oder lang auszusterben. Mehr braucht die natürliche Selektion nicht, um die Elternliebe in der Spezies Mensch zu verbreiten (wie übrigens auch in anderen Spezies). Ganz ähnlich verhält es sich mit der Moral: Eine Menschengruppe, deren Mitglieder – zumindest im Inneren der Gruppe – bestimmte Regeln zur [26]Eindämmung blinder Selbstsucht und Gewalt aufstellen, hat bessere Aussichten, ihre Gene weiterzugeben und folglich zu wachsen und sich zu entwickeln. Das reicht der Moral, um sich durchzusetzen (wir kennen keine Kultur, in der sie fehlt) und von nachfolgenden Generationen übernommen zu werden (nach allem, was wir wissen, durch Erziehung und nicht durch Vererbung). Es ist unübersehbar, dass die Selektionsvorteile Liebe und Moral dieselbe Richtung einschlagen, nämlich dass wir die Interessen anderer berücksichtigen. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die Liebe zuerst kommt (was an zahlreichen Tierarten zu beobachten ist). Dass sie gewöhnlich weitergeht – bis zur Selbstaufopferung–, ist eine Erfahrungstatsache. Ebenso wie die Erkenntnis, dass sie nicht ausreicht, sobald wir den Kreis der Familie verlassen. Dann muss die Moral einspringen, indem sie den Altruismus – und sei es als Mittel zum Zweck – über die Familie hinaus ausdehnt. Die Moral ist zwar nicht so stark wie die Liebe, aber sie bezieht sich auf eine größere Anzahl von Leuten. Sagen wir, die Liebe gibt die Richtung vor und die Moral den Weg.

Daher dient die Liebe der Moral als regulierendes Ideal: Es geht darum, zu tun als ob, wohl wissend, dass es fast nie so ist!