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In ihrem Roman "Kapellendorf" entführt Sophie Hoechstetter die Leser in ein fesselndes Bild des ländlichen Lebens in Deutschland, das durch eine sorgfältig ausgearbeitete Protagonistin und lebendige Beschreibungen geprägt ist. Der literarische Stil, geprägt von einer einfühlsamen Sprache und tiefen psychologischen Einblicken, lässt die Leser die inneren Konflikte und Sehnsüchte der Charaktere hautnah miterleben. Vor dem Hintergrund von Tradition und Wandel thematisiert der Roman universelle Fragestellungen zu Identität, Heimat und der oft schmerzhaften Suche nach Zugehörigkeit, und verknüpft dabei persönliche Geschichten mit gesellschaftlichen Umbrüchen. Sophie Hoechstetter, eine aufstrebende Stimme der zeitgenössischen deutschen Literatur, bringt in "Kapellendorf" ihre eigenen Erfahrungen und Beobachtungen ländlicher Lebensrealitäten ein. Ihre mehrjährige Recherche über die sozialen Strukturen und Traditionen kleiner Dörfer spiegelt sich in der Authentizität ihrer Charaktere und deren Beziehungen wider. Hoechstetter hat sich als leidenschaftliche Erzählerin etabliert, die es versteht, komplexe Emotionen und zwischenmenschliche Dynamiken in berührende Narrative zu verwandeln. Dieses Buch ist ein Muss für Leser, die tiefgründige und emotionale Geschichten schätzen. "Kapellendorf" bietet nicht nur eine fesselnde Erzählung, sondern regt auch zum Nachdenken über das eigene Verhältnis zu Heimat und Identität an. Entdecken Sie das literarische Gespür Hoechstetters und lassen Sie sich von der Atmosphärik des Romans verzaubern. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor. - Interaktive Fußnoten erklären ungewöhnliche Referenzen, historische Anspielungen und veraltete Ausdrücke für eine mühelose, besser informierte Lektüre.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Roman
von
Sophie Hoechstetter
München u. Leipzig bei Georg Müller 1908
Dort, wo immer der Wind weht, ein zärtlicher Sommerwind, der den Thymian berührt und heiße Luftwellen über das reifende Korn streifen läßt, dort, wo Herbst- und Frühlingsstürme die Melodie von Fernweh und Heimweh singen und die einzigen Töne des Lebens zu bringen scheinen — in der weiten Flurhochebene alten weimarischen Landes liegt die Wasserburg Kapellendorf[1].
Ein früher Barockbau von fürstlicher Größe steht geborgen hinter dem Wassergraben. Noch über dem hohen Hause erhebt sich in gerader Einfachheit die Kemenate[2]. Auf der andern Seite schaut der Normannenturm[3] ins Dorf. Vor dem Tor beschatten Pappeln den Weg. Im Burghof schmiegen sich Linden an die Schloßmauern.
In dem kleinen verfallenen Mauergärtlein vor der Kemenate saßen an einem Vorfrühlingsabend zwei Kinder. Man ließ der Fünfzehnjährigen und dem Burschen Klemens dies glückliche Vorrecht gern. Niemand war daran gelegen, ihre Entwicklung zu beschleunigen. Ihnen beiden schien in ihren innersten Gedanken das Erwachsensein für sie selbst wie eine Art von Erniedrigung. Sie hatten es im Instinkt, daß junge Unmittelbarkeit besser ist als die Weisheit derer, die sie verloren.
Klemens rauchte[1q]. Nicht, weil es männlich war, sondern weil es ihm so gut schmeckte wie Äpfel und Birnen. Die gab es noch nicht. Er bot Leonore eine Zigarette an — das Dutzend kostete einen Groschen und die Frühlingsluft verwehte ihre Bitterkeit bald.
„So vor der Konfirmation, es ist ja dumm, das weiß ich. Aber die Großeltern fänden es gewiß ungut.“
„Du bist doch kein Fräulein, Leonore, und der Pastor pafft den ganzen Tag. Als ob es was anderes wäre, Zigaretten zu rauchen als Kaffee zu trinken. Borniert einfach.“
Leonore nahm eine Zigarette. Erstens liebte sie sie ebenso wie Äpfel und Birnen, zweitens konnte sie nicht wohl ihrem Freunde sagen, daß sie nicht immer der Konfirmation und der Religion so überlegen war wie in den Gesprächen mit ihm.
„Dankmar ist wirklich nett, daß er mit dem Vetter nach Weimar ging. Er langweilt sich doch zum Sterben dabei.“
„Ach, Dankmar. Den haben wir doch gern. Der ist viel ritterlicher als du, Klemens. Da geht er mit diesem unsäglichen Menschen, mit diesem Frauenzimmer von einem Gymnasiasten. Es hätte doch viel besser gepaßt, wenn der statt meiner ein Mädchen geworden wäre.“
„Ja, Leonore, es ist schade, daß du ein Mädchen bist. Mußt einmal heiraten und so — das ist wirklich schade um dich.“
„Zum Heiraten werden doch nur die Prinzessinnen gezwungen, Klemens.“
„Aber weißt du, wenn die Mädchen ein gewisses Alter haben, dann ist es nicht hübsch, sie bleiben ohne Mann. Weil man ihnen doch die Beweggründe dafür nicht ansieht. Viele mögen das mit den kleinen Kindern nicht, das ist begreiflich, völlig begreiflich. Ich möchte es auch nicht.“
„Meinst du vielleicht, alte Junggesellen sind netter als alte Jungfern?“
„Darüber habe ich mich noch nicht besonnen; wenn ich einmal alt bin, möchte ich wohl Söhne haben.“
„Wenn nur die Konfirmation vorbei wäre; weißt du, der hiesige Pastor, der sagt immer in seiner Rede: ‚Und ihr, meine Teuern, denen sich nun die Pforten der Jugend geschlossen haben, meine lieben Jungfrauen, denkt nicht, der Reichtum und die Ehe seien das wahre Glück.‘ Das muß man sich so stillschweigend sagen lassen. Als ob man das vom Leben wollte — Geld — Geld — einen Mann — na.“
„Er sagt es zu den Landmädchen. Vielleicht ist es da nötig, obwohl sie doch tun, was sie mögen. Aber ich finde es gänzlich inopportun, daß man dich von so einem Pfarrer konfirmieren läßt.“ Der junge Landwirt war noch nicht lange vom Gymnasium fort und liebte Worte der Bildung.
„Ja, weißt du, wir müssen Rücksichten auf die andern Leute nehmen. Doch sag mal, Klemens, wenn du schon heiraten müßtest, würdest du da mich heiraten? Ich meine, sehe ich aus wie eine, die mal geheiratet sein will?“
„Aber behüte, nein. Kein bißchen. Und das ist doch sehr einfach: Wir würden einander doch nie heiraten. Ich denke es mir entsetzlich zwangvoll, jemand zu heiraten. Dann schon eine ganz Fremde vor der man sich sowieso geniert. Da geht es dann in einem. Nun stell dir bloß vor, ich gehe weg, wenn du konfirmiert wirst; nein das halt ich nicht aus, wenn du zur Beichte gehen sollst und so. Denk bloß, all das Feierliche. Nein, das könnten wir doch unmöglich miteinander haben. Wir könnten nie mehr einander gern haben, wenn wir so eine Komödie aufgeführt hätten.“
„Du bist auch verpflichtet, jemand zu heiraten, der es gern will.“
„Wieso?“
„Nun, als Kavalier verpflichtet. Das gehört sich. Wenn ich ein Mann wäre, ich würde allen den Hof machen, allen, die beiseite stehen. Weißt du, die Frauen sind so, die wünschen sich das. Sie sind meist so arm. Ich kann mir doch noch eine Zigarette nehmen — ja, die Frauen müssen das haben, sonst kommen sie sich häßlich und armselig vor. Das tut einem doch leid. Das verstehst du noch gar nicht. Du müßtest viel mehr Kavalier gegen Charlottchen sein.“
„Gegen die Tante?“
„Die Tante — die Tante. Sag doch lieber gleich die Muhme, die Ahne. Sobald ich konfirmiert bin, nenne ich sie Cousine.“
„Und die Großmutter nennst du dann wohl dein Enkelein?“
„Du tust so unwissend. ‚Großmama‘ klingt sehr schön. Das ist wie — nun ja, unsere Wasserburg würden wir auch nicht eine Villa heißen. Eine Großmutter ist eine Königin. Aber eine Tante? Das scheint mir gerade, als nennte ich sie eine Kammerjungfer. Es ist würdelos. Frauen müssen Jugend oder Würde haben...“
Klemens fragte ein wenig ängstlich: „Leonore, müssen wir nun hinein zu dem Onkel?“
„Ach, der fragt glücklicherweise nicht viel nach uns, und bald reist er wieder. Sag mal, Klemens, wie kommen denn wir zu solchen Verwandten? Der Onkel, der färbt seinen Bart und sein Haar. Das sieht man, so pechschwarze Haare gibt es gar nicht.“
„Er ist Ire, da gibt es das vielleicht.“
„Nein, er färbt sie. Mir graut es vor dem, ich mag gar nicht essen, wenn er mit am Tisch sitzt. Die Großeltern, die sehen nicht so, wie das ist. Wie den nur eine Tante von uns heiraten mochte?“
„Ja — und besonders, da sie zuerst einen andern lieb gehabt hat.“
„Woher weißt du denn das?“
„Von Papa. Der andere war ein Findelkind, das haben die Großeltern erzogen. Als der Findling Student war, hat er die Tante lieb gehabt. Sie kam aber in eine englische Pension, und da hat sie, glaube ich, auf dem Schiff den Onkel Warren kennen gelernt, den sie dann heiratete. Da war der Student sehr böse und hat sich recht undankbar gegen die Großeltern benommen, und dann ist er fort.“
„Hat dir das dein Papa so ohne weiteres erzählt?“
„Bewahre. Einmal, da sang Papa ein paar Verse.“
„Dein Vater singt?“ fragte Leonore erschrocken.
„Du meinst wohl Choräle und Psalmen?
Mein Vater singt schöne, leise Lieder und spielt auf der Gitarre dazu. Nun, da war einmal ein fremdes Lied — ich habe es wieder vergessen, obwohl es mir so gefiel. Ich fragte, von wem das Lied sei, und da sagte Papa, ein Pflegebruder von ihm hätte es gemacht. Es war ein ganzes Buch voll Verse da, als er fort in die Welt ging. Sie haben nie mehr von ihm gehört; aber das Buch müsse wohl noch hier irgendwo liegen, meinte Papa.“
„Dann werden wir es auch finden. Ich suche morgen. Vielleicht haben wir der unbekannten und verstorbenen Tante ihren schlechten Geschmack zu entschuldigen. — Was sagen wir nun, wenn dieser Enterich von einem Vetter uns fragt, wo wir gewesen sind. Er dachte doch, ich hätte Stunden.“
„Wir mußten uns von dem geistreichen Umgang erholen,“ sprach der Ökonomiepraktikant. „Weißt du, womit mich heute der Vetter George unterhalten hat? Von den Schönheiten der griechischen Sprache. Er ist witzig, auf Ehre. Denn die Schönheiten der griechischen Sprache haben mich von dem Gymnasium erlöst. Hätte ich sie begriffen, so müßte ich heute noch Pennäler sein...“
„Kinder, wo findet man euch denn?“
„Hier, Dankmar.“ — Ein junger Mensch kam raschen Schritts. Er hatte den Kopf voll brauner Locken wie ein Lützowjäger. — „Wie war es denn, Dankmar?“
Dankmar Kurtzen setzte sich auf einen Mauerstein. „Euer Vetter hat mich gefragt, ob ich ein wirklicher Graf sei. Ob ich im Almanach de Gotha stünde. Sonst haben wir nichts geredet. Meint ihr vielleicht, ich gebe mein schüchternes Verhältnis zur englischen Sprache preis? Und noch eine Neuigkeit, Kinder — nächstens kommt eure Cousine Clemence. Für mehrere Monate. Nun müssen wir alle repräsentieren lernen.“
Sie wurden eifrig. O, die englische Cousine kam — und alle sollten wohl nun tun, als seien sie erwachsen! Was sollte man da machen, wie?
Doch Leonore wurde abgerufen. Die Trägerinnen der beliebtesten Thüringer Namen: Linda und Lydia Wolgezogen, die Töchter des Kohlenhändlers Wolgezogen, Hildegard Fernkäse, die Tochter des Kaufmanns Fernkäse, und Alieze Schulze, die Tochter des Herrn Lehrers, waren zwecks Erledigung einiger Äußerlichkeiten um eine abendliche Unterredung eingekommen.
Diese Freundinnen ihrer Jugend hatten sich unter den Linden im Schloßhof eingefunden; um diesen Beratungsplatz baten sie ausdrücklich, da es ihnen unter den Augen der Frau Oberförster und Großmutter nicht wohl war. Sie fühlten sich Leonore etwas entfremdet; seit diese nicht mehr in die Schule ging, sondern beim Pfarrer und bei ihrer Tante Unterricht hatte, war das Band innigen Verstehens zwar nicht gerissen, aber doch gelockert.
Linda, Lydia, Hildegard und Alieze unterbreiteten das Anliegen: ob man künstliche oder natürliche Kränze zur Konfirmation tragen sollte, ob die Zopfschleifen schwarz oder weiß zu sein hätten, und ob Leonore etwa einen Umhang anziehen würde, weil der Palmsonntag doch so früh fiele.
Leonore gähnte. Sie sagte, ihre Tante mache ihr das alles, sie nähe ihr auch das Kleid — nein, es sei noch nicht fertig, sie hätten ja diese Woche Besuch gehabt, ach, aber das wäre doch so einerlei mit den Zopfschleifen und so, sie nähme eine rote.
Linda, Lydia, Hildegard und Alieze lächelten ungläubig. „Im Ernst“ möchte Leonore sprechen.
„Nun ja, im Ernst, es ist doch keine Trauerfeier, wenn wir konfirmiert werden, ich nehme eine rote Schleife.“
Hildegard, Lydia, Linda und Alieze lächelten wieder. Aber diesmal glitzerte das Lächeln nur in ihren Augen, geheimnisvoll wie ein Freimaurerzeichen. Und wie es mit den Kränzen sei.
„Ich setze keinen Kranz auf[2q].“
„Was?“ rief Lydia. „Keinen Kranz? Du willst keinen Kranz aufsetzen? Nee, so grad wie e Hund willst du gehn?“
Die Genossinnen erschraken. Drei Augensignale lichterten über Lydia hin.
„Ein Hund ist ein schönes Tier,“ sprach Leonore, „aber ich setze keinen Kranz auf, weil der Pfarrer schon sowieso immer von Brautkränzen redet. Eigentlich könnte mir eine von euch einen Gefallen tun.“
„Gern sind wir dazu bereit.“
„Nun also: Ihr wißt doch, wenn ein Waisenkind dabei ist, so sagt der Pfarrer jedesmal, daß es zu beklagen sei und denen, die sich seiner erbarmt, zu Dank verpflichtet. Ich mag das nicht hören — und selbst darum bitten mag ich auch nicht. Wer tut’s?“
Die Freundinnen blickten einander fassungslos an. Dann erhielt Linda, welche die Klügste war, einen Puff von ihrer Nachbarin. Linda faßte sich: „Die Pfarrer müss’ spreche was in ihren Büchern steht. Da kann ma nichts ändern. Das sind so Bräuche—“
„Gott, doch nicht jedes Wort ist ein Brauch. Das an das Waisenkind soll doch eine Freundlichkeit sein. Ich mag sie aber nicht, denn dann heulen alle, als ob ich ein Verdammtes wäre. Seht ihr denn nicht ein, daß ich das nicht mag?“
Nein, weder Linda noch Lydia noch Alieze, von Hildegard gänzlich zu schweigen, sahen es ein. „Da kann ma sich nicht einmischen.“
„Na, dann tut es mein Vetter.“
Die Freundinnen gaben sich das Freimaurerzeichen. „Ooch — dein Vetter? Der ist wohl dei Bräutgam?“ sagte Alieze, „steckst ja immer mit ihm zusammen.“
„Mein Vetter ist er,“ sagte Leonore hochmütig und kalt.
Dieser Ton veränderte den Ton der Freundinnen. Lydia sagte: „Dein Onkel aus England das ist ein feiner Herr, sprech’ch. Und so freindlich.“
„Woher kennst du denn meinen Onkel?“
„Gelle Linda, er hat unserer Milda eine Brosche geschenkt. Fein, sprech’ch.“
„Der Milda? Mein Onkel?“
„Ich höre schon, du hast’s nich neet’g so zu schreien; zu meiner Milda hat dein Onkel gesprochen, sie därf nach England kumme, wenn sie will. Das Reisegeld, das schickt er ihr. Weil die Milda so anstell’g is, so ein feines Mädchen. Joe, in seinem Hause, da gäbe es wohl eine Stelle fir meine Milda.“
Linda unterbrach die Schwester. „Dein Onkel hat gesprochen, was die deitschen Mädchen sin, das sin die besten.“
Leonore wurde das Lob des Onkels langweilig. „Na, wißt ihr sonst nichts?“
„Ob du weiße oder schwarze Handschuhe anziehst, möchten wir wissen.“
„Nun ja, an die Rechte einen schwarzen und an die Linke einen weißen, denn sie weiß nicht, was die Rechte tut.“
Hatte die rote Zopfmasche Lydia und Hildegard abgestoßen, der mangelnde Kranz Linda entfremdet, so raubte diese Blasphemie von dem schwarzen und weißen Handschuh Aliezens letztes sympathisches Verstehen. Vier Augenpaare gaben sich das Freimaurerzeichen.——
** *
Gott sei Dank, sie sollte in kein Pensionat kommen. Der Großvater wollte es nicht. Sie könne ja beim Pastor Stunden nehmen und bei der erwarteten Cousine besser Englisch lernen. Und auch, nun müsse sie sich nicht gleich mit Wirtschaften abgeben. Das hätte noch Zeit.
O, was war der Großvater für ein Mann. Drei Tage voll Entsetzen lagen hinter Leonore. Charlottchen hatte sie wieder Tante genannt, die Großmutter alles weniger als verehrt. Denn diesen beiden war es eingefallen, sie in eine Pension tun zu wollen. O was war der Großvater für ein Mann. Und was war Dankmar Kurtzen für ein Freund. Er hatte der Tante und der Großmutter gesagt: Meine Damen, ich könnte Ihnen nie wieder die Hand küssen, wenn Sie Leonore fortschickten. Da mußte die Großmama sehr lachen.
Leonore ging mit gehobenen Empfindungen. Wie erbärmlich fielen doch die Aliezen, Lindas und Hildegards aus dem Dorf ab neben Dankmar. Auch neben Klemens. Der hatte erklärt, er würde in jedes Pensionat einen Warnbrief vor Leonore schreiben, so daß man sie einfach nicht nehme.
Ja, Leonore hatte Ursache, mit gehobenen Gefühlen zu gehen, und sie wanderte hinaus vors Dorf, zu einem kleinen Hause, das ein gebrochenes Dach hatte und das noch einen Freund umschloß: den alten Einwaldt. Er war früher Lehrer gewesen, und Leonore schätzte seine Bildung sehr hoch. Jetzt beschäftigte er sich mit der Bienenzucht und las freigesinnte Zeitschriften, woran er Leonore teilnehmen ließ. Er hatte einen Sohn, doch der war zu Leonores Freude nicht da, sondern gehörte in Berlin einer Gemeinschaft an, die neue Moralen erfand und verfaßte, wie der Lehrer sagte.
Diesem alten Einwaldt mußte die Gefahr, der Leonore entronnen war, mitgeteilt werden. Er war in seinem Garten und trippelte um das Bienenhaus.
„Ach Sie sind’s, Lenorchen, ma hat Sie ja garnich mehr gesehen.“
Leonore erzählte die Gründe. Eifrig, ja geradezu dramatisch trug sie die Gefahr vor, der sie entronnen war.
Der Alte nahm teil. „Was hätte mich das geschmerzt, wenn Sie fortgemacht wären, Lenorchen.“
„In so dummen Mädchenschulen, was lernt man denn da? Ein Aff’ wird man. Erzählen Sie mir doch weiter, Herr Einwaldt, von neulich, wissen Sie. Wir sind gerade bei dem Archäopteryx stehen geblieben. Ich weiß noch alles. Kommen wir jetzt nicht bald zu den Menschenaffen?“
„Ach du liebe Zeit, Sie haben zu große Eile. Mit den Vögeln hört doch eine Entwicklung auf. Itze müssen wir schon langsam wieder zurückgehn und mit einer andern Familiche anfangen.“
„Sie haben gut reden von Eile. Sie wissen alles, und ich weiß so wenig. Wie heißt das Äfflein, das Tonleitern singen kann und auf zwei Beinen laufen und das aussieht wie ein mageres Seiltänzerkind?“
„Das ist der Gibbon.“
„Nun ja, also, von dem will ich hören, und von den Schimpansen. Die sind fein, die haben so treuherzige Gesichter. Mancher Mensch könnte froh sein, wenn er so aussähe.“
Indessen, der alte Einwaldt war heute nicht auf Schimpansen gestimmt. Die Tageszeitung, die er hielt, hatte ihm einen großen Ärger durch eine okkulte Geschichte gemacht, die in gläubigem Ton erzählt war. Er schob sein Käppchen hin und her, spuckte verächtlich aus und sagte: „Die Menschen wollen oder sollen mit Gewalt wieder dumm werden. Nun fängt man gar von neuem an, an Gespenster und Halluzinationen zu glauben. Ich bin froh, daß ich nicht mehr lang mittun muß.“
„Aber, Herr Einwaldt, es ist doch etwas sehr Interessantes, daß ein Mensch solche Erscheinungen haben kann.“
„Noch keiner hat aber damit etwas anderes gesehen, als was sowieso zu sehen möglich ist. Du liebe Zeit, Goethe hat ja einmal ein hibsches Frauenzimmerchen vor seinem Gartenhause den Weg kehren sehen. Ja, mein liebes Lenorchen, das wird wohl öfter passiert sein, daß ein hibsches Frauenzimmerchen sein Wesen da draußen trieb und seine Bossen mit ihm hatte.“
Das Gespräch ging noch eine Weile. Dann sagte Leonore: „Wissen Sie, Herr Einwaldt, wir machen uns jetzt eine Sternwarte. Graf Kurtzen hat es uns gesagt, wir können im Normannenturm so etwas einrichten, wie der alte Weigel einmal in Jena, so daß man am Tage die Sterne sieht. Das wird fein.“
„Zerbrecht Euch nur nicht Arm und Bein dabei.“
„Wir können alle klettern. Aber nun muß ich heim. Ja. Guten Abend—“
Nach Tisch traf Leonore die Freunde auf dem Mauergärtlein. Klemens war sehr aufgeregt — er hatte das Buch des Studenten gefunden. In der Bibliothek war es in einem Schrank gewesen. Klemens brannte darauf, die Sachen den Freunden mitzuteilen.
Sie sahen das alte Schreibheft an, als wäre es ein Mysterienbuch. In Kapellendorf, hier an dieser Stelle hatte jemand die aufregendsten Dinge erlebt. Eine geheimnisvolle Geburt — eine unglückliche Liebe. Und nun wußte niemand mehr, wohin der Träger dieser Geschehnisse gegangen war. Nur dieses schwarze Heft zeugte noch von seiner Existenz.
Sie blätterten darin: Zigaretten 1,80 Mark, eine Krawatte 2,50 Mark, Bücher 0,50 Mark. — O — es war ein Ausgabebuch? Ja, wirklich, außer solchen Notizen fand sich nur ein schwulstiges Gedicht. Und einige Briefmarken. Eine Thurn und Taxis[4] von gelber Farbe, eine grüne Bayern zu zwölf Kreuzern und ein Wertstück des Kirchenstaates, zweifarbig und so neu, daß es niemand über seine Unechtheit zu täuschen vermochte.
„Ich nehme den Kirchenstaat, wenn wir teilen,“ erbot sich Graf Kurtzen großmütig. Denn er hatte Freude an dem Gedicht. Er nahm das Buch, lehnte sich an die Mauer und sagte: „Meine Herrschaften, ich gestatte mir, Ihnen etwas zu deklamieren.“ Und mit grollender Knabenstimme begann er zu lesen:
Wie rot diese Mitternacht ist.
